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Hiebsch Schluter Willkomm (2009) Sensing the Street-libre

Date post: 12-Feb-2016
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Sensing the street: eine sinnliche Ethnographie der Großstadt
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Sensing the Street Eine sinnliche Ethnographie der Großstadt Maria Elisabeth Hiebsch, Fritz Schlüter und Judith Willkomm Farben, Töne, Gerüche. Die Straße ist nicht nur Verkehrs- und Geschäftsraum, son- dern Ort unserer alltäglichen Erfahrung und Wahrnehmung: Beim Gang durch eine Straße werden Sinneseindrücke, Stimmungen und Empfindungen ausgelöst. Prachtstraßen wie der Kurfürstendamm und die Friedrichstraße, die Ausgehmei- len Kastanienallee, Oranien- oder Simon-Dach-Straße, Strandbars, Clubs und Szenekneipen stehen nicht unbedingt stellvertretend für Berlin und seine Be- wohner. Sie sind spektakuläre Magneten für Reiche und Schöne, Touristen und junge Leute, die das ‚Multikulti-Wunder’ an der Spree bestaunen kommen und somit eher die Bühnen Berlins, die von der Inszenierung der Klischees leben. Doch jenseits der urbanen ‚Catwalks’ zeigt die Hauptstadt ihr alltägliches Ge- sicht an Ampelpfeilern, neben Abfalltonnen, in Hauseinfahrten, unter Parkbän- ken und offenbart Vergangenes in den Mauern der Hinterhöfe eher beiläufig als offensichtlich. Das Forschungsfeld des dreisemestrigen Studienprojekts ‚Sensing the Street. Eine Straße in Berlin’ 1 am Institut für Europäische Ethnologie, das im Frühjahr 2006 begann, waren deshalb die Karl-Marx-Straße in Neukölln, die Adalbertstraße in Kreuzberg und die Ackerstraße in Mitte und Wedding: Drei Straßen, die das alte wie das neue Berlin repräsentieren und zusammen genom- men die vielschichtige Atmosphäre dieser Stadt widerspiegeln. 1 Das interdisziplinäre Forschungs- und Ausstellungsprojekt ‚Sensing the Street. Eine Straße in Berlin’ fand unter der Leitung von Prof. Rolf Lindner und unter Beteiligung von Prof. Wolf- gang Kallinich am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt Universität zu Berlin statt, in enger Kollaboration mit Alex Arteaga, UNI.K – UdK | Studio für Klangkunst und Klangforschung sowie mit dem Institut für Kunst im Kontext unter der Leitung von Wolfgang Knapp an der Universität der Künste Berlin. ‚Sensing the Street’ kooperierte, in regionaler Nä- he den drei Straßen entsprechend, mit den drei Berliner Bezirksmuseen Galerie Saalbau Neu- kölln, KreuzbergMuseum und MitteMuseum am Festungsgraben und gehört zu den Preisträ- gern für innovative wissenschaftlich-künstlerische Projekte des Aktionsprogramms ‚PUSH für die Geisteswissenschaften’ des Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft.
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Page 1: Hiebsch Schluter Willkomm (2009) Sensing the Street-libre

Sensing the Street Eine sinnliche Ethnographie der Großstadt

Maria Elisabeth Hiebsch, Fritz Schlüter und Judith Willkomm

Farben, Töne, Gerüche. Die Straße ist nicht nur Verkehrs- und Geschäftsraum, son-

dern Ort unserer alltäglichen Erfahrung und Wahrnehmung: Beim Gang durch eine

Straße werden Sinneseindrücke, Stimmungen und Empfindungen ausgelöst.

Prachtstraßen wie der Kurfürstendamm und die Friedrichstraße, die Ausgehmei-len Kastanienallee, Oranien- oder Simon-Dach-Straße, Strandbars, Clubs und Szenekneipen stehen nicht unbedingt stellvertretend für Berlin und seine Be-wohner. Sie sind spektakuläre Magneten für Reiche und Schöne, Touristen und junge Leute, die das ‚Multikulti-Wunder’ an der Spree bestaunen kommen und somit eher die Bühnen Berlins, die von der Inszenierung der Klischees leben. Doch jenseits der urbanen ‚Catwalks’ zeigt die Hauptstadt ihr alltägliches Ge-sicht an Ampelpfeilern, neben Abfalltonnen, in Hauseinfahrten, unter Parkbän-ken und offenbart Vergangenes in den Mauern der Hinterhöfe eher beiläufig als offensichtlich.

Das Forschungsfeld des dreisemestrigen Studienprojekts ‚Sensing the Street. Eine Straße in Berlin’1 am Institut für Europäische Ethnologie, das im Frühjahr 2006 begann, waren deshalb die Karl-Marx-Straße in Neukölln, die Adalbertstraße in Kreuzberg und die Ackerstraße in Mitte und Wedding: Drei Straßen, die das alte wie das neue Berlin repräsentieren und zusammen genom-men die vielschichtige Atmosphäre dieser Stadt widerspiegeln. 1 Das interdisziplinäre Forschungs- und Ausstellungsprojekt ‚Sensing the Street. Eine Straße in

Berlin’ fand unter der Leitung von Prof. Rolf Lindner und unter Beteiligung von Prof. Wolf-gang Kallinich am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt Universität zu Berlin statt, in enger Kollaboration mit Alex Arteaga, UNI.K – UdK | Studio für Klangkunst und Klangforschung sowie mit dem Institut für Kunst im Kontext unter der Leitung von Wolfgang Knapp an der Universität der Künste Berlin. ‚Sensing the Street’ kooperierte, in regionaler Nä-he den drei Straßen entsprechend, mit den drei Berliner Bezirksmuseen Galerie Saalbau Neu-kölln, KreuzbergMuseum und MitteMuseum am Festungsgraben und gehört zu den Preisträ-gern für innovative wissenschaftlich-künstlerische Projekte des Aktionsprogramms ‚PUSH für die Geisteswissenschaften’ des Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft.

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1 Sensing the Street. Wissenschaft und Kunst

‚Sensing the Street’ erweitert die Forschung in Stadtethnographie bzw. Kultur-geographie um den wahrnehmungsorientierten Zugang. Als interdisziplinäres Ausstellungsprojekt bildet es einen Schnittpunkt zwischen Kunst und Ethnologie und ergänzt so auch die herkömmliche Veröffentlichungspraxis um Präsenta-tionsformen, die alle Sinne berücksichtigen.

Das Unternehmen einer sinnlichen Ethnographie der Großstadt verlangt zu-nächst, das Wesentliche des urbanen Lebensraums Straße auszumachen, wie er sich allen unseren Sinnen darbietet: Geforscht wird nach den charakteristischen Geräuschen und Gerüchen einer Straße ebenso wie nach den dominierenden Farben und Geschmäckern in Straßenbild, Leuchtreklamen, Auslagen von Ge-schäften, Restaurants und Imbissbuden. Eine Art sinnlicher Kartographie ordnet Balkone, Bushaltestellen und Dönerbuden unter neuen Vorzeichen. Bürgersteig, Häuserwand und Warenwelt werden beispielsweise auf ihre verschiedenen hapti-schen Qualitäten hin untersucht. In enger Zusammenarbeit mit UNI.K und Kunst im Kontext sollten zudem neue Umsetzungsformen für eine Ausstellung ent-wickelt werden, die diese Erfahrungen auch anderen auf sinnlicher Ebene zu-gänglich machen können.

Abbildung 1: Foto von Juan Pablo Díaz Moreno

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1.1 Die Rolle der Sinne in der Stadtforschung

Mit einer gewissen Obsession schienen sich die englischen Bürger des ausge-henden 19. Jahrhunderts den intensiven Geruchserlebnissen auszusetzen, die von den Abfällen, Kloaken und Aborten der Armenviertel ausgingen. Der Gestank als eindeutiges Zeugnis der niederen Moral und Minderwertigkeit der hier leben-den Menschen ist ein wiederkehrendes Motiv in zeitgenössischen Beschreibun-gen des städtischen Szenarios.2 Von Stadtforschern wurde das Potential der sinn-lichen Komponente urbaner Raumerfahrungen jedoch nur spärlich erkannt und aufgegriffen.

Der diesbezüglich wachsam gewordene Geograph J. Douglas Porteous beispielsweise „is critical of the planning literature that pays lip service to the notion of the multisensoriality of the urban landscape, but then quickly descends into a discussion of merely visual aesthetics.“3 Die wissenschaftliche Auseinan-dersetzung mit einer Sinnlichkeit, die gleichwohl einmal „über das Auge hinaus-geht,“4 erschöpft sich dessen ungeachtet weitgehend in kulturgeschichtlichen Aufarbeitungen – in Text und Bild. Protagonisten eines ‚sensuous turn’ in den Geistes- und Sozialwissenschaften wie etwa Regina Bendix, Gernot Böhme oder Mirko Zardini heben neuerdings zwar ausdrücklich die Bedeutung aller Sinne für die Erfahrung der Atmosphäre eines Ortes hervor, doch fehlt es an entsprechen-den empirischen Ansätzen. 1.2 Reflektierte Wahrnehmung

‚Sensing the Street’ versteht sich als ein Unternehmen in sinnlicher Anthropolo-gie: Die schon im Namen der zentralen ethnographischen Forschungsmethode der ‚Teilnehmenden Beobachtung’ fest verankerte Dominanz des Auges wird also explizit um die Dimensionen des Hörens, Riechens, Schmeckens und Tas-tens bzw. Fühlens erweitert. Während ethnographische Daten landläufig aus der direkten Interaktion mit den (interviewten) Akteuren eines Forschungsfeldes gewonnen werden, ging es hier dagegen weniger darum, die Straße als den ge-teilten Lebensraum spezifischer städtischer Subkulturen zu untersuchen. Statt-dessen sollte die Straße zunächst unmittelbar als urbaner Erfahrungsraum be-griffen werden, der Bewohner und Straßennutzer somit zwar nur indirekt, aber doch als wesentliche Gestalter des Lebensalltags auf offener Straße mit ein-schließt.

2 Lindner 2004: 19. 3 Howes 2005: 323. 4 Bendix 2006: 71.

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Der Kulturschock, den die reisenden Völkerkundler der alten Welt im Aufeinan-dertreffen mit einer ‚exotischen’ Kultur von ‚Eingeborenen’ erlebten, wird in der ethnographischen Empirie zunächst als durchaus erwünschte Fremdheitserfah-rung angesehen, da sie intuitives Wissen explizit macht.5 Wenn Europäische Ethnologie heute von der Prämisse der Unbekanntheit „gerade auch jener Wel-ten, die wir selbst bewohnen,“6 ausgeht, so formuliert dies zugleich den An-spruch an die Forschungspraxis, gerade dann eine Kultur nach Möglichkeit so zu betrachten, als würde man sie neu entdecken, wenn sie eigentlich vertraut ist.

Abbildung 2: Foto von Juan Pablo Díaz Moreno

5 Vgl.: Pina-Cabral 1994: 8. 6 Amann / Hirschauer 1997: 9.

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Robert E. Park, Begründer der ‚Chicago School of Sociology’, forderte dazu auf, „das Studierzimmer zu verlassen und sich in das ungesicherte Terrain des ‚wirk-lichen Lebens’ zu begeben, sich, im wahrsten Sinne des Wortes, Erfahrungen auszusetzen.“7 Dabei das ‚Nosing Around’ als eine offene, explorative Erkun-dungsmethode zu kultivieren, sich als Forscher des Alltags zunächst möglichst unvoreingenommen von den Relevanzen des Feldes leiten zu lassen, kann unter Umständen helfen, ‚kleine Kulturschocks’ zu provozieren. Die vorrangige Auf-gabe der Forschungsphase bestand demgemäß darin, neben der nach und nach gewonnenen Sensibilität für die Vielschichtigkeit des urbanen Lebensraums Straße auch die Wahrnehmungsmechanismen selbst zu reflektieren und in der bewussten Irritation gewohnter Beobachtungsstrategien und Verarbeitungssche-mata eine eigene Methodik der Wahrnehmung zu entwickeln.

Die paradigmatische Trennung unseres Wahrnehmungssystems in fünf Sin-ne ist nicht selbstverständlich, wenn Wahrnehmung immer die gleichzeitig mul-tisensorische Erfassung der Wirklichkeit bedeutet. Enge oder Belebtheit einer Straße zu fühlen, resultiert nicht aus der einfachen Addition fünf unterschied-licher Sinneseindrücke, sondern ist ein komplexer Gesamteindruck, der subjekti-ve Empfindungen einschließt. 1.3 „Erst das Auge schafft die Welt“8

In einer Ausstellung die naturgetreue Kopie einer Straße zu präsentieren, ist nicht nur technisch unmöglich, es wäre auch nicht sinnvoll. Die Vorstellung, „das, was das Auge aufnimmt, ist (…) nur ein Bild der Wirklichkeit und nicht diese selbst“9, verweist auf die allen Wahrnehmungsvorgängen immanente Subjektivi-tät. Wir können vielleicht mutmaßen, dass es eine objektive Realität gibt, die keines Auges bedarf, um zu existieren. Zweifelsohne ist eine Welt ohne Betrach-ter aber völlig bedeutungslos. Wir verstehen den subjektiven Blickwinkel des-halb als notwendigen Teil des Ganzen: „Wenn immer ich vom Universum spre-che, spreche ich auch von mir.“10 In Auseinandersetzung mit physiologischen und neurologischen, kognitionspsychologischen oder philosophischen Wahr-nehmungstheorien lässt sich zumindest eines mit Sicherheit feststellen: dass es sich bei Wahrnehmung offenbar um einen unmöglich bis ins Letzte zu durch-dringenden, komplexen Prozess handelt, an dem nicht nur unsere äußeren Sin-nesorgane, sondern auch unser Gedächtnis, unsere Einstellung und Interessen

7 Lindner 2004: 117. 8 Morgenstern 1972: 196. 9 Franke 1959: 25. 10 Foerster 1990: 436.

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und unser Einfühlungsvermögen untrennbar beteiligt sind. So haben wir uns bewusst subjektive Zugänge zur Wahrnehmung der Straße erlaubt und damit Verfremdungseffekte der (objektiven) Wirklichkeit nicht nur in Kauf genommen, sondern sie als Mittel unserer Forschung eingesetzt.

Abbildung 3: Foto von Juan Pablo Díaz Moreno

1.4 Mobilisierung von Erfahrung

Das Unternehmen einer sinnlichen Ethnographie der Großstadt bedarf vor allem der Entwicklung eines urbanen Sensoriums: Die Atmosphäre einer Straße setzt sich nicht nur aus visuellen Eindrücken zusammen, sondern sie ist auch Ge-räuschkulisse, ein ‚Soundscape’, sie ist womöglich unterteilt in Geruchszonen und – zumindest im übertragenen Sinne – eine Geschmackslandschaft. Lässt sich dieses sinnliche Wissen – also auch die eigene Befindlichkeit – nicht nur be-wusst machen, sondern auch festhalten? Und, darüber hinaus, lassen sich diese subjektiven Erfahrungen auch mobilisieren? Bloße Sinnesreize möglichst ver-

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lustfrei medial einzufangen und wiederzugeben, war also nicht die eigentliche Aufgabe von ‚Sensing the Street’: Stattdessen ging es darum, in einer über klas-sische Präsentationsformen hinausgehenden Ausstellung neue Erfahrungsqualitä-ten zu ermöglichen, indem Momentaufnahmen des Alltags wie in einem Kalei-doskop verfremdet werden und somit Auge, Nase, Ohr oder Mund bislang un-entdeckte Lesarten der Straße eröffnen.

Drei ganz unterschiedliche Zugänge zu Seh-/Geh-, Hör- und Geruchserfah-rungen, in erster Linie dadurch verbunden, dass sie sich sämtlich auf die Acker-straße beziehen, sollen dies im Folgenden beispielhaft verdeutlichen: ‚Entde-ckungen um die Ecke. Urbane Lautsphären’, ‚Anders gehen. Ein Selbstversuch.’, und ‚smell the color nine. Ein Erfahrungsbericht’. Sie sind als Bestandteile einer Ausstellung zu verstehen, auf deren Umsetzung und Präsentationsformen ab-schließend eingegangen werden soll. 2 Entdeckungen um die Ecke. Urbane Lautsphären (Fritz Schlüter)

Ausgehend vom Getöse der Großstadt, von der Vielschichtigkeit und Komplexi-tät des urbanen Stimmengewirrs, lässt sich die gemeinhin unterstellte kulturelle ‚Dominanz des Auges’ wirklich halten? Anders gefragt: Bestehen allein auf sinnlicher Ebene entscheidende Vorteile der visuellen gegenüber der auditiven Wahrnehmung? Kann man denn nicht zugleich in alle Richtungen hören, wäh-rend man immer nur in eine Richtung sieht? Und wie erklären sich die so unglei-chen Erfahrungsqualitäten, wenn man zunächst annimmt, dass Licht und Schall nichts anderes als (interpretierbare) Formen von Energie sind?

Sie breiten sich, von ihrer Quelle ausgehend, geradlinig nach allen Richtun-gen aus. Das Licht als elektromagnetische Strahlung (mit Welleneigenschaften) bedarf dazu nicht, wie einst vermutet, eines ‚Äthers’, wohingegen Schall sich nur in den mechanischen Schwingungen eines Mediums fortbewegt, in der Luft oder im Klangkörper eines Instruments. So gehorcht er vergleichbaren Gesetzmäßig-keiten wie Wellen im Wasser, die ein Hindernis gewissermaßen umfließen: Schall kann auch um Ecken gehen, keine Lärmschutzwand führt deshalb zu ei-nem so scharfen ‚Schallschatten’, wie dies beim Licht der Fall wäre. Dennoch werden akustische Ereignisse, wenn auch abgelenkt, zumeist direkt von der Ge-räuschquelle ausgehend wahrgenommen, wohingegen visuelle Eindrücke in erster Linie aus dem von den umgebenden Gegenständen reflektierten Licht bestehen. Eine hohe Sensibilität für reflektierten Schall (Echos oder Hall), mit-unter als Empfindungen auf der Wangenhaut wahrgenommen, dient Blinden zur (auditiven) räumlichen Orientierung. Auch Sehende verfügen latent über diesen

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– keinesfalls mysteriösen – „Fernsinn“,11 der jedoch keine so genauen Rück-schlüsse auf die Beschaffenheit der reflektierenden Oberfläche zulässt wie die visuelle Wahrnehmung. 2.1 Die Augen lenken unsere Schritte Die relative Ungenauigkeit des Gehörs in der Detailwahrnehmung rechtfertigt nicht allein die weit verbreitete subjektive Empfindung, beim Sehsinn handle es sich um eine nach außen gerichtete, ‚aktivere’ Wahrnehmungsweise, wohinge-gen das Hören eher als passives Aufnehmen erscheint. Da (künstliches) Licht fast immer vorhanden ist, können wir uns bei der Orientierung meist auf unsere Augen verlassen, während wir beim Hören immer von unberechenbaren Klang-quellen abhängig sind. Die Augen sind den Ohren insofern meist voraus – und lenken unsere Schritte. Dem Gehör kommt hingegen immer dann eine entschei-dende Rolle zu, wenn es darum geht, zeitliche Vorgänge zu verfolgen.

Abbildung 4: Foto von Juan Pablo Díaz Moreno

11 Domes 1960: 148.

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Es ist eine Sache, dass Sehen augenblicklich mehr Information vermittelt. Die überlegene ‚Aktivität’ des Sehsinns liegt jedoch vermutlich auch in den größeren Wahlmöglichkeiten begründet, etwa die nur den Augen verfügbare Fokussierung auch entfernter Objekte, ohne sich von Ort und Stelle zu bewegen. Dem von allen Seiten heranbrandenden Lärm der Großstadt kann das Ohr sich zudem nicht so elegant entziehen: Wird es dem Auge hier zu bunt, blickt es woandershin. Es ist leichter, willentlich wegzusehen, als etwas zu überhören. 2.2 Die Straße fliegt uns um die Ohren

Was können wir auf offener Straße hören? Die urbane Geräuschkulisse wird in erster Linie von einem nicht abreißen wollenden Strom motorisierter Personen- und Lastkraftwagen bestimmt. Die Reifen klingen anders je nach Asphaltbelag oder Kopfsteinpflaster. Trambahnen gehen kreischend in die Kurven, U-Bahnen versetzen den Gehsteig in Vibration, S-Bahnen donnern über Brücken. Dazwi-schen Fahrräder mit klappernden Schutzblechen und streusandknirschende Kin-derwagen, aus offenen Türen die Hintergrundmusik der Shops und Kneipen, Schritte von Kindern und Erwachsenen auf der Straße, ob sie nun arbeiten, ein-kaufen, essen, feiern, singen, rufen, pfeifen oder in verschiedenen Sprachen telefonieren, die Tierwelt nicht zu vergessen mit Zwitschern oder Gebell und zeitweilig lässt das ohrenbetäubende Martinshorn eines Krankenwagens diese Geräuschkulisse zur schmerzlich vermissten (relativen) Ruhe werden. Das urba-ne ‚soundscape’ – bedeutungsgleich mit ‚paysage sonore’ oder Klanglandschaft, verstanden als die spezifischen Lebenswelten eigene Lautsphäre – differiert nicht nur zwischen Berlin und Lissabon, sondern auch innerhalb einer Stadt, von Stra-ßenecke zu Straßenecke, von Tag zu Nacht... Ist angesichts der Vielschichtigkeit urbaner Klanglandschaften die Suche nach dem „akustischen Profil von Städ-ten“12 wirklich Erfolg versprechend? 2.3 Kulturwissenschaftliche Klangforschung

Noch nie waren mehr Soundjäger auf den Straßen als heute, die ihre Beute an-schließend auf der eigenen Homepage präsentieren. Innerhalb des inzwischen boomenden ‚Hörbuch’-Markts konnte sich das ‚Akustische Stadtportrait’ sogar als neues Genre etablieren. Sind diese oft vielleicht auch wirklich nur „acoustic

12 Böhme 1998b: 158.

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postcards“13 interessiert das Thema offenbar nicht mehr nur ein paar ‚sound freaks’. Setzen Kulturwissenschaftler in der Forschung Tontechnik ein, dann entweder, um ausführliche Interviews (‚oral history’) aufzuzeichnen, oder es handelt sich bei ihnen um Ethnomusikologen. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ‚soundscapes’ als den vernehmbaren Zeugnissen einer bestimmten (Klang)Kultur hat bisher jedoch kaum stattgefunden.

Der Komponist und Musikologe R. Murray Schafer verschrieb sich seit 1970 der systematischen Erarbeitung einer Ökologie der Geräusche und gründete hierzu das ‚World Soundscape Project’ (WSP), das jedoch nur fünf Jahre über-dauerte. Sein 1977 erschienenes Grundlagenwerk ‚The Tuning of the World’14 hätte dennoch die Basis sein können für eine Reihe von Publikationen, welche – empirisch wie theoretisch – Charakter und Wirkung der alltäglichen Geräuschku-lisse untersuchen. Schafer entwickelt darin neben einer Kulturgeschichte der Klänge (von Homer bis zu den ‚post-industrial soundscapes’ der modernen Großstädte) erste Entwürfe zur Notation und eine umfassende Klassifikation zur eindeutigen Beschreibung von Alltagsgeräuschen (I.C3. Rain, II.A7. Humming, III.B4. Middle East15 etc.). Und als aufschlussreicher Kulturvergleich lassen sich ein Spiegel der internationalen Lärmgesetzgebungen und Statistiken über Lärm-beschwerden lesen.

Könnte man hier eine eigene Disziplin ausmachen, wäre sie nicht mehr jung zu nennen. Und tatsächlich existieren mittlerweile sogar historische Vergleichs-studien. Scheinbar widersetzen sich die Alltagsgeräusche jedoch dem streng wissenschaftlichen Zugriff: „compared with documents about speech and music, no systematic corpus of soundscape recordings has so far emerged.“16 Das vom Philosophen und Urbanisten Jean-François Augoyard 1979 gegründete interdis-ziplinäre ‚Centre de recherche sur l'espace sonore’ (CRESSON) als zweites grö-ßeres Forschungsinstitut in diesem Bereich, dessen Schwerpunkt allerdings eher auf dem Hörer, also der „Sonic Experience“17, als auf dem Hörbaren selbst liegt, besteht zwar noch, dennoch ist die Szene recht überschaubar geblieben.

13 Winkler 1999: 6. 14 Schafer 1977. 15 Ebenda: 139ff. 16 Winkler 1999: 8. 17 Augoyard / Torgue 2006.

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2.4 Twenty-four Hours Welthören

Tonaufnahmen von Straßenszenen werden Radiodokumentationen gerne als illustratives Stimmungsbild vorangestellt, was ein Gespür für die Wirkung klanglicher Atmosphären von Räumen oder Orten voraussetzt. Zahlreichen – im weitesten Sinne – künstlerischen Arbeiten mit Tondokumenten des Alltagslebens gelingt es hingegen, dem Medium einen Reiz abzugewinnen, der vergessen macht, dass es nichts zu sehen gibt: angefangen bei Walter Ruttmanns erstem ‚Hörfilm’ (‚Weekend’ 1930), über Tony Schwartz’ beinahe mikrosoziologisch zu nennende ‚field records’ (z.B. ‚New York 19’ 1954) und Peter Leonhard Brauns erste ‚stereophone Dokumentationen’ (etwa ‚Catch as catch can’ 1968), über ambitionierte urbane Portraits wie ‚24 Hours in Public Places’ (Independent Producers in Sound, 1983) bis hin zur alle Kontinente umspannenden akusti-schen Reise ‚Welthören’ (1990, Hansjörg Schmitthenner), um nur einige heraus-ragende Beispiele zu nennen. 2.5 Den Ohren trauen

Die auditive Sphäre erfährt zweifellos stärkere Beachtung, wenn sich das Ge-schehen nicht visuell verfolgen lässt. Das erklärt zum Teil die Faszination, die auch von solchen Tonaufnahmen ausgehen kann, die von jeglichen komposito-rischen Eingriffen frei sind:

„When Chinese people visit a beautiful garden that strikes their imagination because of its ab-sence of design, it is commonly said that its ‘sharawadji’ is admirable.“18

Der ‚Guide to Everyday Sounds’19 bezeichnet ein ungewöhnliches Hörerlebnis, das sich gelegentlich auch angesichts ganz alltäglicher Geräuschereignisse erge-ben kann, daher als ‚sharawadji effect’.20

Umgebungsgeräusche treten besonders dann ins Bewusstsein, wenn sie nicht dem Gewohnten entsprechen. Gerade, wenn sich etwas nicht sofort (be-grifflich) fassen lässt, erhöht sich unsere Aufmerksamkeit für Zwischentöne. Das Alltägliche scheint nicht mehr alltäglich. So lässt sich dem Stimmengewirr frem-der Städte auf Reisen etwas abgewinnen, ohne ein Wort zu verstehen.

18 William Temple: Upon the Gardens of Epicurus, 1685; zit. nach Louis Marin in: Augoyard /

Torgue 2006: 117. 19 Ebenda: 118. 20 Ebenda: 117.

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„There is nothing in sonography corresponding to the instantaneous impression which photo-graphy can create.“21

Ein unbestreitbarer Vorteil – auch gegenüber ‚laufenden Bildern’ – ist indessen, dass Tonaufnahmen der realen Hörsituation sehr viel näher kommen. Dies gilt insbesondere für originalkopfstereophone Aufnahmen, die über Kopfhörer ge-hört werden.

Abbildung 5: Foto von Juan Pablo Díaz Moreno

2.6 Stadtland. Ackerstraße

Das Medium hat natürlich auch seine ganz eigenen Tücken: Mit einigen schnel-len Schnappschüssen ist es nicht getan. Im Rahmen des Studienprojekts ‚Sensing the Street’ entstanden in anderthalb Jahren ‚field recording’ in der Ackerstraße über 15 Stunden Tondokumente. ‚Stadtland. Ackerstraße’ konzentriert das Mate-rial in einer Akustischen Montage von knapp 20 Minuten und war in der Ausstel-lung in einem abgedunkelten Audioraum über drei Kopfhörer zu hören.

21 Schafer 1977: 7.

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Die komplette Aufnahmeausrüstung bestand aus einem MD-Rekorder mit In-Ohr-Stereomikrophon, allerdings so zu beiden Seiten einer Tasche angebracht, dass diese als Trennscheibe für Originalkopfstereophonie fungieren konnte. Dies ist kein ‚high-fidelity-equipment’ gegenwärtigen Standards, was zwangsläufig bedeutete, Abstriche bei der Tonqualität zu machen. Nach Experimenten mit ‚großem Gerät’ bewertete ich jedoch die Mobilität und die Unauffälligkeit dieser Lösung als entscheidender, da sie es mir ermöglichte, die Lautsphäre der Acker-straße weitgehend unbemerkt aufzuzeichnen.

Es handelt sich im Ergebnis weniger um eine wissenschaftliche ‚soundscape study’ als um eine auditive Erzählung: Ich fasste die Ackerstraße zunächst als eigenen Mikrokosmos auf, als alltäglichen Lebensraum, der die Kneipen, den Buddhistischen Tempel, das Altenheim wie das Jugendzentrum und die Häuser der Bewohner22 nicht nur durch ihre topographische Nähe beinhaltet. Das Unbe-kannte „gerade auch jener Welten, die wir selbst bewohnen“23 zu entdecken, hieß auch, das Unhörbare – oder zumindest für gewöhnlich so nicht Hörbare – aufzu-spüren, etwa durch Transposition der Tonspuren:

„Im Zeitraffer verwandelt sich der Lärm des Verkehrs in einen Schwarm surrender Motoren, an- und abschwellend im Rhythmus der Signalanlagen. Umgekehrt, verlangsamt, treten wie in Zeitlupe die Details hervor: das Stampfen und Hämmern arbeitender Antriebsmaschinen.“24

(Feld-)Notizen, die parallel zu den Aufnahmen in erster Linie das festhielten, was nicht zu hören war, bildeten die ersten Skizzen zu den Zwischentexten, die das dokumentarische Tonmaterial jetzt ergänzen. Die Akustische Montage ‚Stadtland. Ackerstraße’ vereint getrennte Hörwelten: Klangaufnahmen der flüchtigen Bewegung auf offener Straße wie vom Innenleben der Häuser zu ihren Seiten verbinden sich zur Geräuschkulisse der Ackerstraße in der Simultanität ihrer alltäglichen Lebenswelten. 2.7 Auditive Essays

Den Widrigkeiten, denen sich eine wissenschaftliche Forschung zu Alltagsgeräu-schen gegenübersieht, zum Trotz: Sind Texte (und Diagramme) die einzig mög-liche Darstellungsform wissenschaftlicher Ergebnisse? Was wir im Alltag hören, die unterschiedlichen, Lebenswelten eigene Lautsphäre oder ‚Phonosphäre’, lässt sich nicht nur als ‚soundscape recording’ festhalten, sondern auch interpretieren 22 In nicht öffentlich zugänglichen Räumen erübrigt sich die Möglichkeit der unbemerkten Auf-

nahme, die somit nur unter Einwilligung erfolgte. 23 Amann / Hirschauer 1997: 9. 24 Textauszug aus ‚Stadtland. Ackerstraße’, in: Arteaga / Knapp / Lindner 2008

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und analysieren. Womöglich ist es weniger erstrebenswert, ein möglichst getreu-es Abbild urbaner Klanglandschaften zu liefern, als sie in klassischer For-schungsarbeit unter einer bestimmten Fragestellung zu untersuchen. Lässt sich von vornherein ausschließen, dass Auditive Essays – als ein Experimentiermo-dus neuer Präsentationsformen – nicht nur zu ‚sharawadji effects’, sondern in der ihnen eigenen Pointierung auch zu Erkenntnissen führen können, die eben nur so und nicht anders zu erlangen sind? Dies würde selbstverständlich beinhalten, „nicht einfach Mitschnitte zu präsentieren, sondern Verdichtungsarbeit und vor allem Komposition zu leisten.“25 Das Potential textfremder Darstellungsformen auf Papier zu demonstrieren, ist vielleicht nicht gänzlich unmöglich: wer aller-dings nicht nur lesen will, muss hören. 3 Anders gehen. Ein Selbstversuch (Maria Elisabeth Hiebsch)

Der Flaneur als literarische Figur taucht zuerst im Paris der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf.

„Flanieren ist ein vom Zufall bestimmtes Gehen, das, was das Erreichen eines bestimmten Or-tes oder das Durchschreiten eines festgelegten Raumes angeht, als richtungs- und ziellos zu verstehen ist, ein Gehen, das dabei zugleich frei über die Zeit verfügt.“26

Was den Flaneur vom Spaziergänger unterscheidet, ist die Umgebung. Anders als der Spaziergänger, der sich unangestrengt im Grünen ergeht, bewegt sich der Flaneur oft durch das Gewühl der Großstadt eher ausweichend als geradlinig.27

Der Soziologe Lucius Burckhardt plädierte in den 1980er Jahren für das Gehen als Mittel zum Erkenntnisgewinn. Die „Schreibtischwissenschaften“ Stadtplanung, Verkehrsplanung und Soziologie sollen um eine Disziplin erwei-tert werden, die den „Ort und das Lebendige“ aufsucht, um einer „menschen-feindlichen“ Stadtplanung entgegenzuwirken.28 Die von ihm in diesem Sinne begründete ‚Promenadologie’ (engl.: ‚Strollology’) versucht, „das Betrachten wiederzuentdecken. Betrachten heißt, neue Blickwinkel erschließen, Sehweisen ausprobieren, Ungewohntes wahrnehmen, störende Elemente aufdecken, Fehler machen und bei sich selbst bemerken.“29 Zu Beginn des Studienprojektes im Frühjahr 2006 fragte ich mich in Unkenntnis all dieser Reflektionen zunächst einmal: Wie gehe ich eigentlich durch die Stra-

25 Böhme 1998b: 159. 26 Neumeyer 1999: 11. 27 Vgl.: ebenda: 12. 28 Burckhardt 1993 zitiert nach: Martin Schmitz Verlag 2006: 2 29 Ebenda.

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ße? Nicht wie sonst musste ich mich also ins ethnologische ‚Feld’ begeben, um in ‚Teilnehmender Beobachtung’ Untersuchungen durchzuführen. Das For-schungsfeld war zunächst einmal die eigene Wahrnehmung meiner alltäglichen Umgebung. Der Ausgangspunkt war eine bloße Vermutung: Auf meinen Wegen durch die Stadt, die ich gerne und oft zu Fuß zurücklege, begleitet mich fast durchgängig mein MP3-Player. Ob ich traurige, fröhliche, ruhige oder aggressive Musik höre, die auditive Erfahrung der ‚Musik im Ohr’ beeinflusst meine visu-elle Wahrnehmung und mein Gehen in der Straße. Aber wie genau? Was wird wichtig, was übersehe ich? Bewege ich mich anders?

Ob bewusst oder unbewusst, ich bewege mich im Rhythmus der Musik. Langsame Musik verursacht eher eine zögernde und tastende Fortbewegungs-weise, wohingegen schnelle, laute und stark rhythmische Musik ein forsches Gehen zur Folge hat, die also mehr die Freude an der Bewegung selbst als das Interesse an meiner Umgebung befördert. Das Ausblenden der Straßengeräusche durch die Kopfhörer verursacht, dass ich mich abgetrennt von meiner Umgebung fühle, wie unter einer Glocke.

„The experience of listening to your Walkman is intensely insular. It signals a desire to cut yourself off from the rest of the world at the touch of a button. You close your eyes and you could be anywhere.”30

Auditiv zwar isoliert, visuell dadurch aber umso achtsamer, kann ich ungestört vom Hupen der Autos oder dem Stimmengewirr der Passanten meinem eigenen Weg folgen.

Mit Hilfe einer Videokamera, die die unter dem Eindruck der Musik verän-derte Bewegung durch die Straße einfängt, versuchte ich meine Erfahrung ande-ren zugänglich zu machen. Der Blick durch den Sucher erschien mir dabei eher hinderlich. Nach mehreren Versuchen fixierte ich die laufende Kamera zwischen Unterarm und Hüfte. Sie sollte nicht eine ‚Erweiterung des Auges’ sein, sondern vor allem die Bewegung meines Körpers beim Gehen möglichst genau festhal-ten.

Im Verlauf der nun beginnenden Streifzüge durch die Ackerstraße wurde neben dem vertrauten Musikhören die für mich neue Geherfahrung immer ent-scheidender: Mein Ziel war plötzlich nicht mehr das Ankommen, sondern das Gehen selbst. Durch Langsamkeit und Zick-Zack-Kurs setzte ich mich von den üblichen ‚Passanten’ ab, die – wie Autos oder Fahrräder – durch ihre Schnellig-keit und den ihnen eigenen Scheuklappenblick zu Elementen wurden, die im

30 Jackson 1994: 15, zit. nach: Du Gay / Hall / Janes et.al. 1997: 143-145.

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Grunde nicht wirklich zur Straße zu gehören schienen, noch verstärkt durch das Gefühl der Isolation, das die Musik über Kopfhörer hervorrief.

Abbildung 6: Foto von Juan Pablo Díaz Moreno

Vor allem aber kam zu der Frage, wie die Musik mein Gehen und meinen Blick beeinflusst, die, wohin ich mich von ihr treiben lasse. Was stößt mich ab, was zieht mich an, wenn ich verschiedene Musik höre?

Je weiter das Projekt voranschritt, desto mehr suchte ich nach Musik, die zu dem für mich ruhigen, manchmal gemütlichen und zuweilen auch schwermüti-gen Charakter der Straße passte. Ich wählte zunehmend langsame Musik, mein Gang wurde bedächtiger, ich blieb öfter stehen, weil mich bestimmte Szenen oder Orte fesselten. So stellte ich mir nach und nach meinen eigenen Soundtrack der Ackerstraße zusammen. Dieser bestand gegen Ende fast ausschließlich aus Musik von Tom Waits, die jene melancholische Grundstimmung der Straße für mich mehr als alles andere ausdrückt.

Die dabei entstandenen wackeligen Aufnahmen der Kamera sind – nach landläufigen Kriterien von Film und Fernsehen – unhaltbar: Versucht man, die Gesamtheit des Bildes zu erfassen, ist man schnell ermüdet. Hört man aber die Musik, während man die Aufnahmen sieht, so rückt der Rhythmus der Bewe-gung in den Vordergrund. Die Laufphasen wechseln sich ab mit stillstehenden

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Bildern. Der Bildausschnitt wurde von mir nicht direkt kontrolliert, sondern von der Laufbewegung bestimmt. So richtet sich der Blick des Betrachters auf Dinge, die er sonst übersieht: Teile und Ausschnitte der Straße. Pflaster, Bäume, Ecken, Treppen, Klingelschilder, Zäune und Mauern sind die Hauptakteure des Films.

Das, was wir sonst unter ‚Straße’ verstehen (Verkehrsweg, Gehsteig mit Passanten, Häuserfluchten) wird nur nebenbei mit aufgenommen und verliert an Gewicht. Die Videosequenz, die ich für die Installation ‚Video.Walk’ ausge-wählt habe, stellt keine persönliche Inszenierung dar, sondern ist aus der Situati-on heraus entstanden: Im Moment, in dem das Lied ‚How’s it gonna end’31 ein-setzt, biege ich von der Straße weg in eine Toreinfahrt ein. Die leicht schwan-kenden Bilder führen den Betrachter durch eine graue, fast menschenleere Hoch-haussiedlung. Bleibt das Bild ab und an stehen, kann man einen Fensterrahmen, einen rostigen Zaun oder eine schmutzige Hinterhofecke en détail betrachten.

Abbildung 7: Foto von Juan Pablo Díaz Moreno

Nur am Schluss des Videos, wenn die Musik langsam leiser wird und ausklingt, sieht man eine alte Frau in einer dunklen Holztür verschwinden. Die Videoin- 31 Tom Waits: „How’s it gonna end”, Album „Real Gone“, ANTI-Records 2004.

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stallation im Museum ist darauf ausgerichtet, der Aufnahmesituation möglichst nahe zu kommen: Die Musik wird über Kopfhörer gehört, der Bildschirm befin-det sich, wie die filmende Kamera beim Gang durch die Straße, auf Hüfthöhe. Es war mir wichtig, dass durch Musik, die Art des Gehens und der zurückgelegte Weg durch die Straße als Gesamtheit an den Betrachter weitergegeben werden.

Das Produkt, das am Ende dieses Wahrnehmungsexperiments steht, ver-mittelt ‚nur’ einen subjektiven Eindruck. Aufgrund des Films kann man kaum allgemeingültige Aussagen über die Straße treffen. Habe ich also überhaupt ein Ergebnis erzielt, das in irgendeiner Weise für andere von Nutzen sein kann? Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich der Blickwinkel auf die Straße durch die von der Musik kreierte Stimmung und durch den irritierenden Fokus auf ‚unwichtige’ Details grundlegend verändert. In der Verfremdung der alltäg-lichen Wahrnehmung offenbart sich eine ungeahnte Vielschichtigkeit des Stra-ßenraums, die wir gemeinhin übersehen, obwohl sie doch stets vorhanden ist. Die Videoinstallation ‚Video.Walk’ ist der Versuch, die subjektive Erfahrung dieses Perspektivwechsels einzufangen und anderen zugänglich zu machen.

Das Projekt lädt somit dazu ein, die Straße mittels des Flanierens neu zu entdecken. Hier steht die Erkenntnis im Vordergrund, dass wir uns im Alltag zwar durch die Straße aber nicht in ihr bewegen. So bestimmt die Art der Bewe-gung durch die Straße auch das Bild, das wir von ihr haben. Sie ist nur so lange eine lineare Strecke von A nach B, wie man unbedingt B erreichen will. Läuft man kreuz und quer, im Kreis und wieder zurück, stöbert in Winkel, Ecken und Hinterhöfe, wird die Straße zu einem vielschichtigen, mehrdimensionalen Raum, der weiter entdeckt werden will.

4 Smell the color nine. Ein Erfahrungsbericht (Judith Willkomm)

Wie riecht eine Straße in Berlin? Oder: Wie riecht man in Berlin? Wie riecht man überhaupt? Natürlich gibt es nicht den einen Geruch der Straße, denn es riecht überall und jedes Mal anders, aber man kann erforschen, was ihr die we-sentliche olfaktorische Prägung gibt: Die Intensität des Verkehrs mit seinen Ab-gasen trägt zur geruchlichen Grundstimmung einer Straße bei. Offene Kneipen- und Ladentüren, Schustereien, die Lüftungsanlagen von Imbissbuden, Restau-rants, Bäckereien und Sonnenstudios hinterlassen flüchtige Duftspuren von Ziga-rettenqualm, Lederwaren, Lösungsmitteln, zubereiteten Speisen, Frittierfett, frischen Brötchen, Bodylotion. In einigen Straßen können Einrichtungen oder Gewerbe, wie zum Beispiel Tankstellen, zu ständig präsenten Geruchsankern werden. Gebäude, Baustellen, Abfälle, der Boden oder Asphalt, Pflanzen, Tiere und ihre Exkremente: alles strömt Gerüche aus. Auch die Menschen haben eine

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geruchliche Präsenz auf der Straße, manche ziehen mit wehenden Fahnen an uns vorbei, andere zwinkern der eigenen Nase ganz unmerklich zu.

Vergleicht man die Ackerstraße mit der ‚laut’ riechenden Karl-Marx-Straße, in der Abgase und die dominanten Parfums der Passanten alles Feinere überla-gern, birgt sie eher sanfte Düfte: Würde man die Ackerstraße als Parfum be-schreiben, hätte es wahrscheinlich einen überraschend hellen, krautigen Ange-ruch32 neben erdigen Akzenten, begleitet von warmen würzigen Akkorden aus Lindenblüten (eventuell noch Prachtspiere, Glyzinien oder Tagetes). Die Herzno-te des Duftes wäre ein durchdringend grüner Ton, der Erinnerungen an Erbsen-suppe, Kohleofen und Waldlichtung weckt, dazwischen die leicht pudrigen Spu-ren warmen Staubes nach einem Sommerregen. Abschließen würde das Ganze ein tief moosiger Fond mit Abgasextrakten.

4.1 ‚Ich riech nix, ich bin nasenblind..’

Ich stehe auf der Ackerstraße, schließe die Augen und atme tief ein… An man-chen Tagen spüre ich nur die Luft, die durch meine Nase strömt: mal kalt, mal warm, mal hart, mal weich, mal leicht, mal schwer. Es gibt Tage, da liegt etwas Bestimmtes in der Luft, und wenn ich der Duftfährte folge, finde ich den Ur-sprung in einer Hofeinfahrt, auf einer Grünfläche, am Boden oder unter einem offenen Fenster. Einige Düfte sind befremdlich, andere wecken positive Erinne-rungen. Aber an ganz vielen Tagen rieche ich einfach … nichts.

Die Suche nach dem Geruch ist immer ein ‚zu viel’ oder ‚zu wenig’ an Ein-drücken, es ist ein Ringen um Worte, ein Mangel an An’schau’ungsmaterial, ein Verlieren in Flüchtigkeiten. In der ersten Forschungsphase steckten wir noch alles, was wir riechen konnten, in Filmdöschen und Plastikbeutel mit Zippver-schluss.33 Jedoch ließen sich nur wenige unserer gesammelten Gerüche auf diese Weise dokumentieren und vor allem konservieren. Vieles verwandelte sich be-reits nach kurzer Zeit in ein trauriges Zeugnis dessen, was ursprünglich mal zu riechen war. Da wir also die erfahrenen Gerüche nicht mitnehmen konnten, gin-gen wir dazu über, Geruchsdaten anhand unserer persönlichen Wahrnehmungen in der Ackerstraße in Form von Beschreibungen und Assoziationen zusammen-zutragen. Errochen wurde oft nur das, was etwas Sichtbarem zugeordnet werden

32 andere Bezeichnung für Kopfnote: als erstes vorherrschende flüchtige Gerüche; Herznote: der

nach Stunden entfaltete Duft; Basisnote (Fond): bleibender Dufteindruck auf Haut und Klei-dung. (vgl.: Jellinek 1992: 166ff.)

33 Die Geruchsforschung in der Ackerstraße habe ich gemeinsam mit meinem Kommilitonen Siegfried Stauber durchgeführt. Der gegenseitige Austausch unserer Eindrücke und Erfahrun-gen war wichtiger Bestandteil des Forschungsprozesses.

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konnte. Ein Geruch schien erst dann im Gedächtnis oder Notizbuch speicherbar, wenn man ihm einen Namen geben konnte, wenn man Worte fand, um ihn zu beschreiben.

Der Besuch bei einem Parfümeur half, unsere ‚Datenerhebungsmethode’ weiter zu präzisieren. Gerüche brauchen Wärme, um sich zu entfalten, deshalb wirkt die Sonne in der Straße oft als Katalysator für jede potentielle Duftquelle. Durch bewusstes Riechen an verschiedenen Substanzen kann man den Geruch-sinn trainieren. Da die Riechfläche der Nasenschleimhaut von intensiven Gerü-chen schnell gesättigt ist, tritt ein maskierender Effekt der Gewöhnung ein: Ge-rüche scheinen zu verschwinden, obwohl sie eigentlich noch vorhanden sind. Man muss sich also immer wieder bewusst neuen Geruchssituationen aussetzen.

Was genau wir auf einer Straße riechen können, entscheidet oft nur der Zu-fall. Er bestimmt, welche ungewöhnlichen, vertrauten, unerwarteten oder sonst irgendwie auffälligen Gerüche uns in die Nase steigen. Schließlich ist dieses Sinnesorgan immer wieder nur begrenzt aufnahmefähig und die Intensität der Geruchseindrücke hängt stark von Wetterbedingungen ab und ist von Tages- und Jahreszeiten geprägt oder bestimmt.

Mit der Zeit entwickelten wir uns zu Geruchsexperten, vielleicht nicht für alle feinen Nuancen eines Parfums, aber für die vielen Facetten im Geruchsalltag einer Großstadt.

Abbildung 8: Foto von Juan Pablo Díaz Moreno

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4.2 ‚Nach gaaaanz viel Licht’

Folgt man dem Verlauf der Ackerstraße im Spätsommer der Nase nach von Sü-den nach Norden, beispielsweise zur Mittagszeit, könnte man sie so umschrei-ben: In der Ackerstraße überwiegt die geruchliche Präsenz von Natur und Mau-erwerk.

Abbildung 9: Foto von Juan Pablo Díaz Moreno

Zwischen der viel befahrenen Tor- und Invalidenstraße erstreckt sich eine Fassa-denfront von sanierten Altbauten: Es riecht nach Mörtel, Bauschutt und frischer Farbe. Auf den Pappelplatz mit Rosenrabatten und dem feuchtigkeitsspendenden ‚Münzzählerbrunnen’ folgt die kleine Geruchswüste einer betonierten Skateran-lage. Dahinter führt die Straße an den Mauern des Sophienfriedhofs und des Kirchhofs der Sankt Elisabeth Gemeinde entlang: Linden stehen am Straßenrand, die eher feuchte Luft ist erfüllt von Blumen-, Gräser-, Moos- und Laubgeruch. Hinter der belebten Mauergedenkstätte beginnt ein Abschnitt der Straße, in den sich kaum ein Tourist verirrt: Hier liegt ein Altenheim, aus dessen Kellerfenstern es nach frischer Wäsche und Großküche riecht. Durch die verkehrsberuhigte

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Wohnsiedlung ziehen süßlich-schwer die Blütenpollen der Bäume und Sträucher, gelegentlich Schwaden von Mittagessen und Bierresten. Die Wohnanlagen im letzten Teil der Ackerstraße schließlich verbreiten höchstens einen muffigen Kellergeruch.

Handelt es sich bei dieser Umschreibung um objektive Gegebenheiten? Der persönliche Erinnerungs- und Erfahrungsschatz spielt bei der olfaktorischen Datenerhebung und der emotionalen Bewertung der Düfte eine entscheidende Rolle. Wie empfinden andere Leute die Gerüche auf der Straße, was riechen sie und wie würden sie es beschreiben? Neben dem Festhalten der eigenen Wahr-nehmung ging ich dazu über, die Passanten auf der Ackerstraße nach ihren mo-mentanen Geruchseindrücken zu befragen und bekam dabei erstaunlich präzise Antworten:

Die Ackerstraße kann „miefig, aber angenehm miefig“, „sumpfig“ oder „ein kleines bisschen brenzlig“ riechen, außerdem „frisch, ein bisschen nach Wald“, „nach nassem Stein“, „nach Würstchen“, „nach Götterbaum“, „nach Autogas – oft!“, „nach Lakritze“, „nach Blumen oder so? Ja! Nach Blumen“, „nach Linden“, „nach Jauche“, „nach 4711 oder Nonchalance“, „nach Bauschutt“, „nach feuchtem Kellerstaub“ und „nach Zitronen“.

Aus den ursprünglich nur zum persönlichen Erkenntnisgewinn angestrebten Straßeninterviews entwickelte sich schnell eine Ausstellungsidee. Anstatt mit Zettel und Stift ging ich mit Mikrophon und Aufnahmegerät ins ‚Feld’. Das tiefe Luftholen der Befragten beim Riechen, das ratlose Schweigen, das Suchen nach Worten, die assoziativen Begriffe, die Vielschichtigkeit der Antworten und die vielen unterschiedlichen Stimmen und Stimmungen sollten für die Ausstellungs-besucher hörbar werden: In der Mitte einer weißen Wand prangt eine schwarze Box. Ein kleines Schild fordert dazu auf, eine Geruchsprobe zu entnehmen. Je weiter man den Deckel der Box anhebt, desto lauter werden, als assoziatives Äquivalent zur Intensität der olfaktorischen Wahrnehmung, die in einer Endlos-schleife ablaufenden Gesuchsaussagen. Die Museumsbesucher sensibilisieren ihre Nasen bei dem Versuch das Nicht-Riechbare zu erriechen und schulen ihre Ohren, indem sie anderen beim Riechen zuhören. 4.3 ‚Also ich rieche … grün!’ Das Forschen nach dem Geruch der Straße war begleitet von einer klaren Vision und ihren deutlichen Grenzen. Ursprünglich wollten wir eine olfaktorische Ent-sprechung der Straße komponieren. Doch unsere Mittel und Möglichkeiten reichten nicht aus, um die Gerüche einer Straße zu konservieren oder zu repro-duzieren. Als wir unsere Nasen mit synthetischen Duftprodukten konfrontierten,

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stellten wir zudem fest, dass diese kaum für das stehen konnten, was uns die Straße an Gerüchen offenbarte. Auf Riechkarten oder in Parfums und Wellness-artikeln enthaltene Duftstoffe sind in ihrer chemischen Konzentration ebenso wie künstliche Aromastoffe nur ein Ersatz für ein natürliches Geruchs- bzw. im letz-teren Fall auch Geschmackserlebnis.

Will man in einer Ausstellung das sinnliche Empfinden (auf) einer Straße erfahrbar machen, möchte man solche Riechstoffe den Museumsbesuchern un-gern unter die Nase reiben, da diese keine wirklich lebhaften Assoziationen an Straßenräume freisetzen würden.

Der Geruch konventioneller Parfums und Pflegeprodukte ist stark belegt mit Vorstellungen von exotischen Pflanzen, fernen Ländern, erotischen oder wohltu-enden Momenten, nicht zuletzt, weil diese Verknüpfungen von der Parfumin-dustrie auch explizit über die Werbung und das Design kommuniziert werden. Farben und Bilder prägen die Idee von einem möglichen Duftempfinden, wenn der Bildschirm gerade nichts Riechbares zu bieten hat. Auf die Etiketten der Flakons gedruckte Adjektive dienen gewissermaßen als geruchliche Orientie-rungshilfe, noch eh der Zerstäuber die hochkomplexe Komposition erlesener Extrakte in alle Winde streuen wird. Aus der konzentrierten Flüchtigkeit wird ein Duft geboren, der später in Worten wieder eingefangen und somit nicht nur be-schreib-, sondern zugleich fassbar wird, auch oder gerade wenn der Geruch nicht mehr präsent ist.

Ausgehend von dieser Überlegung griffen wir auf das zurück, was uns wäh-rend des ganzen Forschungsprozesses begleitet hatte: das Assoziieren der Emp-findungen mit eigenen Vorstellungen oder Bildern und die Übersetzung der Ge-ruchsereignisse in Schrift.

Eine große bedruckte Wand lässt eine Geruchsfährte im Straßenverlauf er-ahnen, die einerseits in Begriffen andeutet, welche Gerüche wir mit welchen Straßenabschnitten verbunden haben, und andererseits die von uns wahrge-nommenen allgemeinen Geruchsnoten in Farbtöne übersetzt. Wörter und Farben werden zu Stellvertretern jener Duftinseln und Dufterinnerungen, die sich un-seren Nasen eingeprägt und das von uns empfundene Geruchsprofil der Acker-straße geformt haben. 4.4 ‚Smell the color nine!’

„Nine's not a color... and even if it were, you can't smell a color, no“, behauptet der amerikanische Sänger Chris Rice am Ende seines Songs.34 Mit derlei Ein-

34 ‚Smell the color nine’ aus dem gleichnamigen Album, Rocketown 2000.

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wänden waren wir oft konfrontiert, als wir unsere Forschungsergebnisse präsen-tierten: Weite hat keinen Geruch, Rot kann man nicht riechen, Licht gibt keinen Duft ab. Doch wie sonst sollten wir unsere Erlebnisse formulieren, es fehlte uns an glaubwürdigen Definitionen und eindeutigen Zuschreibungen. Hanns Hennig unterteilte zu Beginn des letzten Jahrhunderts die olfaktorischen Empfindungen in sechs unterschiedliche Geruchsqualitäten, namentlich in würzig, blumig, fruchtig, harzig, brenzlig oder faulig35 und prophezeite damals noch ganz opti-mistisch, dass „auch auf dem Geruchsgebiete dieselbe Sprachentwicklung ein-setzt wie etwa in der Farbenwelt.“36 Doch das bisher in dieser Richtung zur Ver-fügung stehende Vokabular ist nicht präzise genug, um die feinen Nuancen der geruchlichen Atmosphäre einer Straße zu erfassen, und der umfangreiche Wort-schatz der Parfümeure ist nur wenigen vertraut. Ein Ausweg wäre, neue Namen für Geruchserlebnisse zu finden, vielleicht sogar unabhängig von den Geruchs-objekten, oder andere Entsprechungen, wie zum Beispiel die Entwicklung einer differenzierten assoziativen Verbindung zwischen Gerüchen und Farben.

‚Smell the color nine’ steht bei Chris Rice für ein unmögliches Unterfan-gen; ich empfinde diesen Ausspruch ganz im Gegenteil als explizite Anregung, seine Geruchseindrücke öfter, eindeutiger, offener und wertfreier zu kommuni-zieren.

Nach zwei Jahren Forschungsarbeit wurde am Ende doch eine Rezeptur für den Duft der Ackerstraße in Berlin gefunden: Die Nase beständig den Witte-rungsverhältnissen aussetzen, der Wahrnehmung anderer auf der Spur sein, Far-ben und Formen für Nicht-wieder-Riechbares finden, so führt ein Weg durch das Labyrinth der Düfte. Und aus hundert und einer Meinung wird die Essenz einer Straße destilliert. 5 Umsetzungsstrategien

‚Teilnehmende Beobachtung’ als die primäre Forschungsmethode der Ethnogra-phie setzt immer das direkte Vor-Ort-Sein im Feld voraus. Die Präsentation der Forschungsergebnisse ist dessen ungeachtet zumeist auf Darstellungsformen wie Texte oder klassische Fotoausstellungen beschränkt. Kann man Eindrücke und Erkenntnisse einer eineinhalbjährigen Feldphase nicht umfassender vermitteln? Lassen sich also Erfahrungen des Gehens, Hörens oder Riechens in einem muse-alen Kontext fern der Straße anderen zugänglich machen?

Der sinnlichen Ausrichtung entsprechend, der sich die jeweiligen Teilpro-jekte verschrieben hatten, mussten nicht nur individuelle Strategien der Datener- 35 Henning 1916: 2. 36 Ebenda: 50f.

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hebung, sondern auch unterschiedliche Präsentationsformen gefunden werden. Vor diesem Hintergrund bestand die eigentliche Herausforderung der Forschung darin, bei der Suche nach einer möglichen ‚sinnlichen Identität’ der jeweiligen Straßen ihre charakteristischen Muster und hervorstechenden Eindrücke nicht nur zu identifizieren, sondern sie medial so einzufangen, dass sie für die Besu-cher der Ausstellungen in verdichteter Form erlebbar werden. 6 Sinnliche Identität

Im Zusammenspiel der Eindrücke dreier Straßen, die stellvertretend für ver-schiedene Wesensaspekte der Hauptstadt stehen, sollte gewissermaßen die Berli-ner Straße erlebbar werden. Historisch gesehen repräsentiert die Ackerstraße die Geschichte der alten Industriemetropole und Mietskasernenstadt ebenso wie die überwundene Schneise des Eisernen Vorhangs. Die Nachwirkungen der Teilung ließen sich klischeehaft so umschreiben: Wofür die Labels ‚Berlin-Mitte’ und ‚Wedding’ stehen, das ist in der Ackerstraße vereint. Im ehemaligen Osten schlürfen Photographen und Architekten heute zwischen bunt sanierten Altbau-ten ihren Latte M., im Westen riecht es trotz der Plattenbauten nach Kiez, wenn Manfred B. mit dem ‚Hackenmercedes’ seine Zeitung holt. Der Mittelteil der Straße, beidseitig von Friedhofsmauern und parkenden Autos gesäumt, ist weit-gehend menschenleer. Die ‚sinnliche Identität’ der Ackerstraße hat damit jedoch nur mittelbar zu tun. Anders als die vielstimmige, schreiend bunte Karl-Marx-Straße wirkt die Ackerstraße bodenständig, melancholisch und gemütlich. So zeigt die Ackerstraße heute vielleicht eher das Gesicht eines laubgrünen Refu-giums der Großstadt. Das Kopfsteinpflaster atmet spürbar Wind und Himmel, selbst graue Hausmauern bannen nicht den leisen Schimmer ländlicher Vergan-genheit.

In atmosphärischen Beschreibungen eine bestimmte Vision zu entwerfen, die das Unverkennbare der drei Straßen verbal zu versinnbildlichen sucht, war indes nicht das Ziel des Studienprojekts. 7 Präsentationsformen

Die einzelnen Installationen der Ausstellungen37 ermöglichen die Erfahrung einer Straße, wie sie sich aus unmittelbaren Sinneseindrücken als spezifische Atmosphäre zusammensetzt. Sinnliche Kartographie, Collagen und in der Straße 37 Nähere Informationen und Fotodokumentationen zu den Ausstellungen sowie eine Liste aller

Beteiligten unter www.sensingthestreet.de.

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aufgelesene Fundstücke, nach dem Prinzip des Daumenkinos zusammengefügte ‚Photo.Walks’, Videoaufnahmen im Stile der ‚living camera’ und akustische Montagen liefern hierzu verdichtete, pointierte Perspektiven auf diesen städti-schen Lebensraum und sensibilisieren so für den oftmals etwas versteckten Reiz des Alltäglichen. In den Museen straßenübergreifend angebotene Schablonen zur Markierung von ‚Sensation Points’ fungieren als zusätzliche Klammer von Stra-ßen- und Ausstellungsraum und inspirieren die Besucher zur Auseinander-setzung mit ihrer Wahrnehmung: Sie werden gewissermaßen selbst zu Forschern und Entdeckern.

Solcherart verschriftlichte Ausstellungsbesuche müssen unvollkommen wirken. Anstelle eines klassischen Katalogs ist deshalb eine Publikation erschie-nen, die in Form eines mit unterschiedlichen Materialien bestückten ‚Mini-Kubus’ dem multisensorischen Ansatz Rechnung trägt.38 In Kombination der enthaltenen einzelnen Beiträge wird die Möglichkeit eröffnet, nicht nur an einer Reflektion der Widrigkeiten sinnlicher Forschung sondern zugleich auch an ihren kreativen Lösungen teilzuhaben.

Damit fordern wir dazu auf, sich zukünftig nicht ohne weiteres mit traditio-nellen Darstellungen in Text und Bild zu begnügen, sondern auch im wissen-schaftlichen Kontext in offenen Experimenten mit neuen Medien, Collagetech-niken und Rauminstallationen Präsentationsformen zu entwickeln, die alle Sinne berücksichtigen. Literatur Amann, Klaus / Hirschauer, Stefan (1997): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur

ethngraphischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt am Main: Suhrkamp

Arteaga, Alex / Knapp, Wolfgang / Lindner, Rolf (Hrsg.) (2008): (Sensing the Street)³ - sinnliche Dokumentation einer künstlerischen Stadtforschung. Berlin: Verlag der Universität der Künste Berlin

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38 Vgl.: Arteaga / Knapp / Lindner 2008

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