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Hessische landeszentrale für politische bildung esoterik

Date post: 20-Mar-2017
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ANALYSEN w MEINUNGEN w DEBATTEN 1 Esoterik und New Age Herausforderungen an die Jugend- und Erwachsenenbildung Thomas Ewald/Hans-Gerd Jaschke/ Hartmut Zinser VORWORT Phänomene wie Esoterik und das im New Age begründete neue Denken werden seit einigen Jahren in vielen gesellschaftlichen Bereichen geradezu als Allheilmittel gegen das Unbehagen an der Moderne angesehen. Das Ablehnen von Wissenschaft und Rationalität und das Hinwenden zu esoterischen Vorstellungen und Lebensweisen im Zeichen eines ganzheitlichen, mythologisch-mystischen Denkens sind die entsprechenden Phänomene, die eine erhebliche Breitenwirkung ausüben. Bereits Ende der achtziger Jahre machten Veröffentlichungen im Rahmen des New Age 10% des bundesdeutschen Bücherumsatzes aus, mittlerweile sind es 12%. Aufgabe der Jugend- und Erwachsenen- bildung muß die Information und der Diskurs sowie die Entwicklung von Strategien sein, die dieser verhängnisvollen Renaissance der Irrationalität begegnen. Der vorliegende POLIS-Band ist das Ergebnis einer Fachtagung der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung und der Gesamt-Volkshochschule Kassel im April 1996. Hannelore Janssen, HLZ Thomas Ewald, GVHS
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Esoterik und New Age

Herausforderungen an die Jugend- undErwachsenenbildung

Thomas Ewald/Hans-Gerd Jaschke/Hartmut Zinser

VORWORT

Phänomene wie Esoterik und das im NewAge begründete neue Denken werden seiteinigen Jahren in vielen gesellschaftlichenBereichen geradezu als Allheilmittel gegendas Unbehagen an der Moderne angesehen.

Das Ablehnen von Wissenschaft undRationalität und das Hinwenden zuesoterischen Vorstellungen und Lebensweisenim Zeichen eines ganzheitlichen,mythologisch-mystischen Denkens sind dieentsprechenden Phänomene, die eineerhebliche Breitenwirkung ausüben. BereitsEnde der achtziger Jahre machtenVeröffentlichungen im Rahmen des New Age10% des bundesdeutschen Bücherumsatzesaus, mittlerweile sind es 12%.

Aufgabe der Jugend- und Erwachsenen-bildung muß die Information und der Diskurssowie die Entwicklung von Strategien sein,die dieser verhängnisvollen Renaissance derIrrationalität begegnen.

Der vorliegende POLIS-Band ist dasErgebnis einer Fachtagung der HessischenLandeszentrale für politische Bildung und derGesamt-Volkshochschule Kassel im April1996.

Hannelore Janssen, HLZThomas Ewald, GVHS

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Esoterik - eine historische Betrachtung

Thomas Ewald

,,Ich halte viel von Esoterik. Man sollträumen, man soll ganzheitlich denken. Wennwir unsere Gemeinschaft nach den Gesetzender Natur organisieren, werden wir zu Göt-tern" (zit. n. Ulrich, S. 97).

Diese Sätze stammen nicht von mir,sondern von Michael Kühnen, dem Neonazi-Führer, der vor einigen Jahren in Kasselgestorben ist. Kühnen ist nicht der einzigeRechtsextremist, der eine Vorliebe fürEsoterik hatte. Sowohl historische als auchaktuelle Namen könnten hier in langer Reiheangeführt werden. Ich möchte es an dieserStelle bei zweien bewenden lassen: HeinrichHimmler und Rudolf Heß. Himmler, ,,Reichs-führer SS und Chef der deutschen Polizei",war ein überzeugter Anhänger vieler okkulterPraktiken und ,,Lehren", so pendelte er zumBeispiel und hielt sich für die ReinkarnationKönig Heinrichs. Auch Heß, ,,Stellvertreterdes Führers", war auf vielen Gebieten derEsoterik bewandert, nicht zuletzt in derHomöopathie' die er als die demNationalsozialismus adäquate Form derMedizin betrachtete und entsprechendförderte (Prokop/ Wimmer, S. 245ff).

Die Vorliebe von vielen Rechtsextremistenfür Esoterik ist kein unerklärlichesPhänomen, sondern hat ihre Ursache darin,daß erhebliche Teile der NS-ldeologie vonesoterischen Vorstellungen entscheidend be-einflußt sind. Das heißt nicht, daß Esoterikund nationalsozialistische Ideologiegleichzusetzen sind, es heißt auch nicht, daßEsoteriker nun sämtlich potentielle oderaktuelle Rechtsextremisten sind, aber esheißt, daß esoterisch-okkulte Vorstellungenden Nationalsozialismus, und hierinsbesondere seine Ideologie, wesentlichgeprägt haben. Um dies zu verdeutlichen, istes nötig, einen historischen Exkurs zuunternehmen. Doch zuvor müssen einigeBegriffe geklärt werden, nämlich Irrationalis-mus, Esoterik und Okkultismus.Irrationalismus liegt in unserem Zusammen-hang dann vor, wenn politischeAnschauungen außerhalb von Vernunft und

Rationalität angesiedelt sind unddemgegenüber von Vorurteilen, Emotionen,Lügen oder Halbwahrheiten geprägt sind. DieÄußerung ,,Die Juden sind unser Unglück" isteine typische Wendung des politischenIrrationalismus. Sie knüpft an bestehendeVorurteile an, schürt Angst und Haß und istdurch nichts, aber auch gar nichts zubegründen.

Die Esoterik ist eine Form des Ir-rationalismus, wobei ihre Apologetenallerdings von sich behaupten, Zugang zumÜbersinnlichen zu haben. Das, was sie sagen,wird als Wahrheit der Auserwählten geprie-sen. So ist z.B. die Blut-und-Boden-Ideologieder Nazis nicht nur irrational, sondern auchesoterisch, denn wer von der ,,magischenKraft des arischen Blutes" redet, appelliertnicht nur an Vorurteile und Gefühle, sondernbringt den Bereich des Übersinnlichen mit insSpiel.

Die Begriffe Esoterik und Okkultismuswerden hier synonym gebraucht. DieAnhänger der NewAge-Bewegung redenzwar von der Esoterik als dem hellen undvom Okkultismus als dem dunkeln Bereichdes Übersinnlichen, diese Unterscheidungteile ich allerdings nicht. In Anlehnung anRene Freund (Freund, S. 11 f) wird hierdavon ausgegangen, daß Esoterik okkult istund umgekehrt Okkultismus esoterisch.

Bei der heutigen Esoterik handelt es sichum eine unübersichtliche Mischung ausSpiritismus, Magie, Mythos, neuem Heiden-tum, Astrologie, Ufologie, fernöstlichenWeisheitslehren und pseudomedizinischenHeilmethoden. Dies alles ist - wenn auchnicht auf den ersten Blick - politisch relevant.Die Tradition der Esoterik im Irrationalismus,ihre partielle Nähe zur NS-Ideolgie sowie diedurch sie bewirkte Entpolitisierung vielerMenschen zeigen, daß es sich hier um einsehr ernstzunehmendes gesellschaftlichesPhänomen handelt.

Meine Ausführungen sind den Prinzipiender europäischen Aufklärung verpflichtet.Aufklärung verstehe ich nach wie vor imSinne Kants als ,,Ausgang des Menschen ausseiner selbstverschuldeten Unmündigkeit".Daß es auch eine ,,Dialektik der Aufklärung"(Adorno, Horkheimer) gibt, daß nämlich

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vieles, was den Menschen schadete und scha-det, unter dem Signum der Rationalitätgeschah und geschieht, wird nicht bestritten.Dabei allerdings gilt es, die Verhältnisse zuanalysieren, die den Mißbrauch der Ratio unddie Eliminierung ihres emanzipatorischenGehalts ermöglichen. Der Rückfall in denIrrationalismus vergangener Epochendagegen birgt die Gefahr eines erneutenRückfalls in die Barbarei.

Begeben wir uns nun auf den schonangekündigten historischen Exkurs.

Deutschland ist die verspätete Nation. Esgab keine erfolgreiche bürgerlicheRevolution, die Industrialisierung kam sehrspät und die Demokratie kam vorest gar nicht,denn es war dem Bürgertum nicht gelungen,sich von der Adelsklasse zu emanzipieren.Dennoch wird Deutschland 1871 eineNation, aber diese Nation ist nicht die, die dieRevolutionäre von 1848 gewollt hatten.Bismarck hat es geschafft, ein Bündniszwischen Aristokratie und Bürgertumherzustellen, ohne dabei dem Bürgertum diepolitische Macht zu überlassen. DerObrigkeitsstaat bleibt.

Die Ökonomie jedoch macht enormeFortschritte. Versäumnisse werden nachge-holt, die deutsche Gesellschaft wird zurIndustriegesellschaft. Fabriken schießen ausdem Boden, die Produktion wird allenthalbengesteigert, die Städte wachsen, und es kommtzu den typischen Krisen der kapitalistischenÖkonomie. Kurz: Es geht mit Riesenschriftenin die Moderne.

Doch diese Moderne wird von vielen nichtgemocht. In weiten Kreisen des Bildungs-bürgertums macht sich Unbehagen breit. Eskommt zur emotionalen und ideologischenAbgrenzung gegen die Moderne. Im Zentrumder Angriffe stehen Materialismus undLiberalismus, in denen die Wurzel aller Übelgesehen wird. Gesellschaftliche Veränder-ungen und damit einhergehende Krisenwerden als Sinnkrisen empfunden und ge-deutet. Der Irrationalismus erstarkt, und eskommt zu einer besonderen Form desKonservatismus, dem Kulturpessimismus.Die bekanntesten Vertreter dieser Richtungsind Paul de Lagarde (1827-1891) und JuliusLangbehn (1851-1907). Fritz Stern sieht in

ihnen die Exponenten einer ,,völligwirklichkeitsfremden Geistigkeit" (Stern,5.2). Doch lassen wir zunächst denOrientalisten und Kulturphilosophen Paul deLagarde selbst zu Wort kommen. In seinemHauptwerk ,,Deutsche Schriften" lesen wir:

,,Der Kern des Menschen ist nicht derVerstand, sondern der Wille, denn wie allesGute kommt auch die Erkenntnis durch denWillen, und dessen Flügel heißenEmpfindung und Phantasie, seine Schwung-kraft Liebe" (Lagarde, S.82).

Dieser Satz könnte auch in einer aktuellenBroschüre einer Esoterik-Buchhandlung zufinden sein. Er enthält ein für den gesamtendeutschen Irrationalismus überausbedeutendes Moment: Der Wille wird gegenden Verstand gesetzt. Uns wird dies nochhäufig begegnen.

Lagarde war im übrigen auch einTheoretiker dessen, was heute ,,Ganz-heitlichkeit" genannt wird. Auch dieserBegriff bzw. das, was man darunter versteht,gehört zum Repertoire des Irrationalismus.Lagarde bezieht ihn hauptsächlich auf dieintuitive Form der Erkenntnis. ,,Ich sehe esauf einen Blick ganz, oder ich sehe es nie."Auf diese Art und Weise will er erkannthaben, daß die Hebräer überhaupt keineSeele, die Perser jedoch die größte allerSeelen hätten.

Hier deutet sich bereits eine weiterewesentliche Komponente des Irrationalismusan: Der Antisemitismus. In den Juden sehenLagarde und unzählige seiner Zeitgenossendie Schöpfer von Materialismus, Liberalis-mus, Rationalismus und Marxismus, und alldas hassen sie buchstäblich wie die Pest. ,,DieJuden sind als Juden in jedem Volk einschweres Unglück. Sie sind Träger derVerwesung" (Lagarde, S.40). Hier wirddeutlich, daß der Antisemitismus mit einemorganisch-biologistischen Weltbild begründetwird. Auch dies ein kennzeichnendes Elementdes Irrationalismus.

Lagarde sagt weiter über die Juden: ,,MitTrichinen und Bazillen wird nicht verhandelt,Trichinen und Bazillen werden auch nichterzogen, sie werden so gründlich wie möglichvernichtet" (Lagarde, S. 41). Dies sind dieWorte eines deutschen Gelehrten

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veröffentlicht zu einer Zeit, als Hitler nochein Kind war.

Der andere sehr bekannte Vertreter desirrationalen Kulturpessimismus ist JuliusLangbehn. Er widmete sich hauptsächlichFragen der Erziehung. In dem MalerRembrandt sieht er alle wesentlichenEigenschaften vereint, die den Deutschen zuGröße und Herrschaft verhelfen sollen. SeinHauptwerk heißt: ,,Rembrandt als Erzieher".Langbehns Vorstellung von Erziehung läuftletztlich auf die Ausschaltung des Verstandeshinaus. ,,Nur eine Bildung und eine Kunst,welche das deutsche Herz als höchsteAutorität anerkennt, kann dem inneren Lebender Deutschen eine glückliche Zukunftverbürgen. ( Herzensbildung muß an Stelleder Verstandesbildung treten" (LangbehnS.8). Auch er ist Antisemit, und zwar schoneiner der völkischen Richtung. Darüberhinaus ist er ein glühender Anhänger derRohkosternährung und ein scharfer Kritikerder Schulmedizin. So war er der Auffassung,daß nur die intuitiv-hypnotische HeilmethodeAussicht auf Erfolg habe (Stern, S.161). Diesging soweit, daß er zu dem an Syphiliserkrankten Nietzsche reiste, weil er glaubte,diesen durch magische Kräfte heilen zukönnen. Nietzsche jedoch war noch genug beiSinnen, um ihn hinauswerfen zu lassen.Befürworter der Erlebnispädagogik scheuenim übrigen nicht davor zurück, Langbehn alseinen der Urheber dieser Form der Pädagogiklobend zu erwähnen und ihn zu zitieren(Ewald, Erlebnispädagogik, S.536).

Man ist geneigt zu sagen, bei Langbehnund Lagarde handele es sich um Phantastenohne Realitätsbezug. Das ist sicherlichrichtig, doch beide übten einen ganzerheblichen Einfluß aus. Ihre Werkeerreichten zum Teil 40 Auflagen, und sehrviele Menschen sahen in beiden die wich-tigsten Kritiker des Kaiserreiches und seinerTechnik- und Fortschrittsgläubigkeit, undzwar insbesondere Literaten, Künstler,Studenten, die bürgerliche Jugendbewegungund Teile des Militärs.Lagarde und Langbehn waren Irrationalisten,deren Werke erheblich von esoterischenVorstellungen geprägt waren. Die nächstenVertreter des Irrationalismus, denen wir uns

nun widmen werden, sind sozusagen reineOkkultisten. Ihre Anschauungen führen direktzur Ideologie des Nationalsozialismus.

Bereits im 19. Jahrhundert begründete dieUkrainerin Helena Blavatsky die sogenannteLehre der Theosophie. Hier finden wir zumerstenmal die Verbindung von Okkultismusund Rassismus. Auch das Hakenkreuz tauchthier als Symbol auf. Blavatsky, die alshervorragende Spiritistin galt, arbeitete daran,östliche und westliche Weisheitslehren inVerbindung zu bringen (Freund, S. 12ff). IhreSchriften waren weit verbreitet, und heutenoch kann man in jedem Esoterik-LadenMaterial über sie bekommen.

Der Theosophie folgte die Ariosophie, derjetzt unsere Aufmerksamkeit gilt. DerÖsterreicher Adolf Lanz (1874 - 1954), dersich selbst Jörg Lanz von Liebenfels nannte,ist der Begründer der sogenanntenAriosophie. Es handelt sich hierbei um eineesoterische Geheimlehre, nach der die Arierin der Vorzeit als Gottesmenschen imEinklang mit der Natur lebten. Nach Lanzwaren die Arier die wahren Meister derEsoterik und der Weisheit, was sie dazuberechtigte, die Weltherrschaft auszuüben.Doch irgendwann kam der arischeSündenfall, der darin bestand, daß arischeFrauen Geschlechtsverkehr mit Min-derwertigen, Lanz nennt sie ,,Tschandalen"oder ,,Äfflinge", hatten. Dies wiederum führtedazu, daß die Herrschaft der Arier unter-graben wurde. Doch Lanz ist der festenÜberzeugung, daß durch Reinhaltung derRasse - und damit ist letztlich auch dieVernichtung der ,,Äfflinge" gemeint - der ur-sprüngliche Zustand wiederhergestellt werdenkönnte.

Auf der Burg Werfenstein gründet Lanzden ,,Orden des Neuen Tempels", einenokkulten Geheimbund", der voll und ganz derAriosophie verschrieben ist. Außerdem gibter die Zeitschrift ,,Ostara" heraus, in der erseine ,,Lehren" verbreitet und die zeitweiligeine Auflage von 100.000 Exemplarenerreicht. Lanz tut das, was die meistenOkkultisten tun, er bezeichnet sich alsWissenschaftler, wobei die Astrologie für ihndie wichtigste aller Wissenschaften ist. Vielesvon dem, was die Anhänger der New-Age-

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Bewegung heute propagieren, findet manbereits bei Lanz. Ein kurzer Blick auf seineVeröffentlichungen macht dies deutlich. Hiereinige Titel:- ,,Introduktion in die Esoterik des alten und

neuen Testaments"- ,,Der esoterische Gott"- ,,Anleitung zum Pendeln"- ,,Der ariosophisch-esoterische Gott und

Genesis"- ,,Über Duft, Licht und Geist als Le-

bensnahrung"

Wilfried Daim, Lanz' Biograph, schreibt:,,Wer Lanz liest, kann leicht bemerken,

daß seine Ideen keineswegs rationalenÜberlegungen entstammen. Sachliches, sichauf Tatsachen gründendes Denken, das sichvon Affekten eine wenigstens relative Freiheiterkämpft hat, kann nie ein solchverschrobenes System aufbauen" (Daim,S.235).

Es geht hier nicht um die Konstruktionirgendwelcher Verschwörungstheorien, aberman muß dennoch darauf hinweisen, daßLanz und Hitler aller Voraussicht nach per-sönlich miteinander bekannt waren. Doch istdiese Bekanntschaft in unserem Zusammen-hang nicht das Wesentliche. Fest steht, daßdie Redaktion der Nazi-Zeitung ,,Dervölkische Beobachter" Abonnent der ,,Ostara"war, und darüber hinaus bestanden engepersonelle Verbindungen zwischen demOrden des Neuen Tempels und der MünchnerThulegesellschaft, die wiederum, wie wirnoch sehen werden, die Keimzelle derNSDAP war. Doch das, was Lanz und späterHitler, Himmler und viele andere von sichgeben, ist in den ersten Jahren deszwanzigsten Jahrhunderts längst nicht mehrnur die Auffassung der Mitglieder irgend-welcher okkulter Geheimbünde, sondernschickt sich an, ideologisches Allgemeingutgroßer Bevölkerungsteile zu werden. Lanzkann auch eine ganze Reihe prominenterBewunderer aufweisen. Zu nennen sind derSchriftsteller August Strindberg sowie dieMaler Karl Wilhelm Diefenbach und HugoHöppener.

Ein weiterer Vertreter der Ariosophie seinoch kurz erwähnt: Guido von List. Er

schrieb 1907 das Buch ,,Das Geheimnis derRunen". Auf dem Einband befindet sich einHakenkreuz. List ist der Auffassung, daß mitHilfe der Runen die Geheimnisse der Arier zuentschlüsseln seien.

Auch heute wieder ist das Hantieren mitRunen ein beliebter Zeitvertreib vielerEsoterik-Anhänger, und auch Guido von Listist nach wie vor bekannt, handelt es sich beiihm doch um einen der ,,Meister".

Werfen wir noch einen kurzen Blick aufMünchen, das zu Beginn des Jahrhunderts dasBetätigungsfeld zahlreicher Literaten undPhilosophen ist.,, Der Münchner StadtteilSchwabing ist Anziehungspunkt für all jene,denen die bürgerlich-klein-bürgerliche Weltihrer Heimatstädte zu eng geworden ist. Rundum das Siegestor, in den Gaststätten und Ate-liers treffen sich Lebensreformer undNaturapostel, Mystiker und Okkultisten,Esoteriker und Künstler, Sonderlinge undWeltverbesserer aller Art" (Wilhelm, S.9). Zuden bekanntesten Vertretern dieser Bohemezählen der Schriftsteller Stefan George undder Lebensphilosoph Ludwig Klages. Sie undihre Anhänger geben sich Namen wie ,,DieKosmiker und ,,Die Enormen". Wenn auchlängst nicht alle Personen aus diesem Umfeldbei den Nazis gelandet sind, so haben siedoch viel dazu beigetragen, denIrrationalismus im wahrsten Sinne des Wortessalonfähig zu machen. Klages' Hauptwerkträgt bezeichnenderweise den Titel ,,DerGeist als Widersacher der Seele". Und AlfredSchuler, wie die anderen ein Anhänger desÜbernatürlichen und des Unheimlichen sowieein fanatischer Gegner von Rationalismus undMaterialismus, benutzt das Hakenkreuz als,,strahlendes Symbol" für eine heidnischeErneuerung und Wiedergeburt. So nimmt esnicht wunder, daß Klages und Schuler bereitsim ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts dieJuden als Wurzel allen Übels ausmachen.

An dieser Stelle ist es sinnvoll, das bisherGesagte kurz zusammenzufassen.

Die großen gesellschaftlichen Umbrüchedes ausgehenden 19. Jahrhunderts bewirkeninsbesondere in großen Teilen desBildungsbürgertums die Hinwendung zumlrrationalismus.

Die Kulturpessimisten Lagarde und

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Langbehn werden zu den schärfsten Kritikernvon Rationalität, Fortschrittsglauben,Liberalismus, Materialismus und Marxismus.Ihre Wirkung ist enorm.

Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhundertswird der politische Irrationalismuszusehends esoterisch. Insbesondere dieAriosophie des Adolf Lanz schafft dieGrundlagen für den Rassismus derNationalsozialisten. Aber auch zahlreicheLiteraten und Lebensphilosophen mit ihremHang zu Heidentum, Mystik und

Übersinnlichem bereiten dem politischenIrrationalismus den Weg, und auch hier, inder Boheme Münchens, wird derAntisemtismus bei vielen zu einerSelbstverständlichkeit.

Bevor nun der historische Exkursfortgesetzt wird, will ich anhand einesSchemas die wesentlichen Bestandteile despolitischen Irrationalismus verdeutlichen.

Irrationalisten und Esoteriker denkenzumeist in Gegensatzpaaren, und zwar in denfolgenden:

Erleben, Fühlen, Glauben gegen Geist, Intellekt, DenkenSeele gegen VerstandMythos gegen LogosGanzheitlichkeit gegen wissenschaftliche Analyseorganisch-biologistisches Weltbild gegen Sozialwissenschaftenemotionaler Willen gegen überlegtes Handelnmythische Nation gegen DemokratieRassismus gegen Humanität

Die linke Spalte listet die wichtigstenBegriffe bzw. Schlagworte des politischenIrrationalismus auf, und rechts steht das, wasbekämpft und ausgeschaltet werden soll. Fastall das kann man heute wiederfinden, undzwar bei den Angeboten der modernenEsoterik. Die hier dargestellten Gegensatz-paare bestimmen nach wie vor das Weltbildder Esoteriker, ein Weltbild, in dem Auf-klärung und wissenschaftliche Erkenntnisseliquidiert sind. Leider muß man feststellen,daß vieles von dem bereits Eingang gefundenhat in Teile der Erwachsenenbildung.Insbesondere der völlig unkritische und vonhistorischen Kenntnissen vollkommen un-berührte Umgang mit dem Begriff der,,Ganzheitlichkeit" macht dies deutlich.

Wenden wir uns nun der WeimarerRepublik zu.

Auch die erste deutsche Demokratie istnicht frei von den Einflüssen desIrrationalismus und Okkultismus, imGegenteil. Die folgende Auflistung zeigtlediglich eine kleine Auswahl vonOrganisationen und gesellschaftlichenGruppierungen, deren Denken hiervongeprägt ist und die allesamt zu den Gegnernder Republik gehören:

- Die Thule-Gesellschaft und etwa 100weitere okkulte Geheimbünde

- Die sogenannten lnflationsheiligen- Die Lebensreformbewegung- Die Bündische Jugend- Die Theoretiker der ,,Konservativen

Revolution"- Der völkische Block und die

NSDAP

Diese Gruppen und Organisationen sollenim folgenden etwas näher beleuchtet werden.Zunächst werfen wir einen Blick auf dieThule-Gesellschaft. Dieser Geheimbundwurde 1918 in München gegründet. Mit-glieder des Germanenordens und andererrechtsextremer Vereinigungen unter Führungdes Abenteurers Rudolf von Sebettendorfffinden in der Thule-Gesellschaft nicht nur einBetätigungsfeld für germanische Esoterik undandere okkulte Praktiken, sondern hierentsteht auch ein Zentrum der militantenantirepublikanischen Bewegung. DasFreicorps Oberland z. B. ist eine Gründungder Thule-Gesellschaft. Okkulte Praktikenund völkischer Rassismus sind sozusagen dieMarkenzeichen dieses Geheimbundes.Außerdem, und hier wird die Bedeutung der

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Thule-Gesellschaft für den weiteren Verlaufder deutschen Geschichte deutlich, lesen sichviele Namen ihrer Mitglieder und Gäste wieein Who is Who der späteren NSDAP. AlfredRosenberg, Chefideologe der Nazis, HansFrank, späterer Generalgouverneur in Polen,Gottfried Feder, Wirtschaftsideologe derNazis, Rudolf Heß, Hitlers Stellvertreter,Julius Streicher, Herausgeber des ,,Stürmers",Max Amann, erster Geschäftsführer derNSDAP, Dietrich Eckart, Mystiker,Schriftsteller und enger Vertrauter Hitlers -sie alle gehen aus der Thule-Gesellschaft her-vor.

Es wird deutlich, daß die eingangs anMichael Kühnen aufgezeigte Symbiose vonEsoterik und Rechtsextremismus zahlreichehistorische Vorläufer hat.

Ein äußerlich anderes Bild bieten diesogenannten lnflationsheiligen. Es handeltsich bei ihnen um langhaarige, in wehendeGewänder gekleidete Männer, die ganz undgar nicht zufällig zur Krisenzeit der Inflationdurch die Lande ziehen und allerleiHeilsbotschaften verkünden. Sie propagierenein natürliches Leben außerhalb derZivilisation, wobei ihr Gebaren sehr an dasheutiger Gurus erinnert. Der bekannteste der,,lnflationsheiligen" war Gusto Gräser. Inseinem autobiograhischen Roman ,,Wir sindGefangene" beschreibt Oskar Maria Grafjenen Gusto Gräser und auch die MünchnerBoheme aus dem Blickwinkel des re-volutionären Proletariers, eine im übrigensehr zu empfehlende Lektüre.

Dem irrationalen Zeitgeist ebensozuzuordnen ist die Lebensreformbewegung.Zu nennen ist hier der Bund der,,Artamanen", eine Vereinigung mit dem Ziel,die Landwirtschaft auf ihren ,,arischenUrsprung" zurückführen. Die esoterischeBlut-und-Boden-Ideologie hat hier ihrewichtigste Quelle. Zu den Aktivisten der,,Artamanen" gehören Richard Walter Darre,später Agrarminister unter Hitler, sowieHeinrich Himmler, späterer ,,Reichsführer SSund Chef der deutschen Polizei", und RudolfHöß, von 1940 bis 1943 Kommandant desKonzentrations- und VernichtungslagersAuschwitz.

Wie sehr die bürgerliche Jugendbewegung

von Lagarde und Langbehn beinflußt wurde,ist schon erwähnt worden. DerIrrationalismus hat auch hier seinen festenPlatz. Natürlich gibt es keinen Automatismus,der von der bürgerlichen Jugend zu SA oderHJ führte. Dennoch gibt es personelle undideologische Kontinuitäten, und auch hierfürbildet der Irrationalismus die Klammer.

Auch die Vertreter der ,,KonservativenRevolution" sind in diesem Zusammenhangzu erwähnen. Es sind dies Konservative, diedie Weimarer Republik ablehnen, allerdingsnicht einfach das Rad der Geschichtezurückdrehen wollen, um das Kaiserreich zuerneuern. Ihnen schwebt etwas Neues vor, dasaber jeder klaren Definition entbehrt. Manwill eine höhere Ordnung im Bunde mit dennatürlichen Mächten, um ein für alle mal dieSpuren der Demokratie und des Liberalismuszu beseitigen. Herrschen soll eine Elite, ein,,organisches Führertum". Moeller van denBruck, Edgar Julius Jung und Ernst Jüngersind die bekanntesten Vertreter dieserRichtung. Kurt Sontheimer liefert in seinemWerk ,,Antidemokratisches Denken in derWeimarer Republik" eine ausgezeichneteAnalyse dieser Spielart des politischenIrrationalismus. Er kommt zu folgendemSchluß: ,,Die Ideologie der konservativen Re-volution war politikfremd, weil sie mitIdealen, Träumen, großen Worten arbeitete,nicht aber mit einer detaillierten Kenntnis derpolitischen Verhältnisse und der in ihnenenthaltenen Möglichkeiten" (Sontheimer,S.123).

Kommen wir nun zum National-sozialismus, und hier besonders zu seinerIdeologie. Zunächst zwei notwendigeVorbemerkungen.

Die Hauptursachen für die Macht-übernahme der Nationalsozialisten liegen inder ökonomisch-sozialen Situation in derEndphase der Weimarer Republik. Daran gibtes keinen Zweifel. Es ist jedoch ein großerFehler, die Wirkung der na-tionalsozialistischen Ideologie zu un-terschätzen, was meines Erachtens in derWissenschaft und auch in der politischenDiskussion des öfteren geschehen ist.

Wenn ich mich hier auf die esoterischenBestandteile der Nazi-ldeolgie konzentriere,

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so will ich damit nicht den Eindruckerwecken, als sei der Okkultismus ihreHauptquelle gewesen, denn das ist ganzgewiß nicht der Fall. Es muß aber gleichwohlunmißverständlich betont werden, daß ohnedie Tradition des lrrationalismus und damitauch ohne die Einflüsse des esoterischenGedankenguts die Nazi-Ideologie kaum dieWirkung erzielt hätte, die sie dann erzielt hat.

Es ist sinnvoll, zunächst einmalwesentliche Berührungspunkte zwischen dernationalsozialistischen Ideologie und derEsoterik aufzuzeigen. Es sind dies imwesentlichen:- der immer wieder betonte Gegensatz

zwischen Gefühl und Verstand- die Überzeugung von der Seele als der

bestimmenden Kraft- das Denken in riesigen Zeitabschnitten- das organisch-biologistische Weltbild- das Beschwören von Ritualen- das Zurückweisen der Rationalität und der

Wissenschaft zugunsten der Ganz-heitlichkeit

- die Mißachtung der Bedeutunggesellschaftlicher Verhältnisse

Betrachtet man diese Punkte, so istunschwer zu erkennen, daß die bestimmendenElemente des politischen Irrationalismus inder NS-Ideologie eine Symbiose mitesoterischen Vorstellungen eingehen. DieseSymbiose erzielte erhebliche Wirkungen, wasan der Reaktion von Schriftstellern auf HitlersMachtübernahme exemplarisch beobachtetwerden kann. So kommt Gottfried Benn zudem Schluß, daß das ,,Gehirn ein Irrweg" sei,und Friedrich Blunck ist der Auffassung, derSchriftsteller solle der ,,rechnenden, klugenund klügelnden Ratio (...) kampffreudiger dasGefühl" entgegenstellen und sich ,,alter,magischer Ströme, die Erde, Mensch undHimmel füllen", innefühlen (Loewy, S.51).

Doch nicht alle Schriftsteller beteiligensich an der Zerstörung der Vernunft. ErichKästner stellt fest: ,,Die Seele kocht, und derVerstand erfriert", und Lion Feuchtwangerliefert mit seinem Roman ,,Die BrüderLautensack" eine glänzende Analyse desVerhältnisses von Nationalsozialismus undOkkultismus am Beispiel einer Schlüsselge-

schichte über den Hellseher Hanussen.Wie sehr die Begründer des völkischen

Rassismus lange vor 1933 okkultemGedankengut anhingen, wurde bereits amBeispiel des Adolf Lanz erläutert. Doch auchAdolf Rosenberg, Mitglied der Thule-Gesell-schaft und - daraus hervorgehend - spätererChefideologe der Nazis, liefert mit seinem,,Mythus des 20. Jahrhunderts" ein mitesoterischen Vorstellungen durchsetztesMachwerk des Rassismus. Rosenberg wirdgemeinhin nicht zu der engen Führungscliquedes Dritten Reiches gezählt. Dies istsicherlich richtig, man sollte jedoch nicht denFehler machen, seinen Einfluß zuunterschätzen. Er war Chefredakteur des,,Völkischen Beobachters", Leiter desaußenpolitischen Amtes der NSDAP HitlersBeauftragter für die Überwachung derweltanschaulichen Schulung allerParteigliederungen und schließlich Ministerfür die besetzten Ostgebiete. Sein ,,Mythusdes 20. Jahrhunderts" ist neben Hitlers,,Mein Kampf" das wichtigste Standardwerkder NS-ldeologie.

Rosenberg schreibt:,,Als geborener Herr fühlte der Inder seineEigenseele sich ausdehnen zu dem das ganzeUniversum erfüllenden Lebenshauch, undumgekehrt erfuhr er den Weltenodem inseinem eigenen Busen als sein eigenes Selbstwirken" (Rosenberg, S.29).

Die Seele ist also mit der kosmischenEnergie vernetzt, wie heutige Esoterikersagen würden.

Doch lassen wir Rosenberg selbstweiterreden:,,Das Leben einer Rasse, eines Volkes, istkeine sich logisch entwickelnde Philosophie,auch kein naturgesetzlich sich abwickelnderVorgang, sondern die Ausbildung einermystischen Synthese, einer Seelen-betätigung, die weder durch Vernunftschlüsseerklärt noch durch Darstellung von Ursacheund Wirkung begreiflich gemacht werdenkann" (Rosenberg, S.117).Im Grunde wird hier eine Zusammenfassungvon Grundaussagen des politischenIrrationalismus geleistet. Wieder werdenLogik und Vernunft diskreditiert, und an ihreStelle treten eine ,,mystische Synthese" und

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eine ,,Seelenbetätigung", was immer das auchsein mag. Die Standardwerke der Esoterikbieten heute noch - oder heute wieder - exaktdieselbe Denkungsart. Wohin diese letztlichbei Rosenberg führt, lassen wir ihn selbersagen:

,,Seele aber bedeutet Rasse von innengesehen. Und umgekehrt ist Rasse dieAußenseite der Seele, der Mythus des Blutes,der Glaube, mit dem Blute auch das göttlicheWesen des Menschen überhaupt zu verteidi-gen.

Rosenberg bringt sein Buch 1930 heraus,drei Jahre vor Hitlers Machtübernahme, aberin den Köpfen der Rassenideologen undBlutmystiker wird der Weg nach Auschwitzbereits beschritten.

Der Einfluß des Okkultismus auf denNationalsozialismus bleibt nicht auf dessenIdeologie beschränkt. Am Beispiel derMedizin soll eine der vielen praktischenAuswirkungen geschildert werden.

Auf Himmlers und Heß' Vorlieben für dieEsoterik wurde eingangs schon hingewiesen.Beide bemühten sich dann auch nach 1933,der Schulmedizin von staatlicher Seite her dieNaturheilkunde, oft Biomedizin genannt,entgegenzusetzen. Auf dem Homöopathen-kongreß des Jahres 1936 sagt Heß:

,,Und immer stärker wird die Forderungerhoben, über das Befassen mit den Teilendas Ganze nicht aus den Augen zu verlieren -eine Forderung allgemeingültiger Art, derenBefolgung bereits staatspolitische Früchtegetragen hat. Auf dem Gebiet der Medizinlautet diese Forderung: zur Heilung deskranken Organs mehr als bisher den Wegüber die Einflußnahme auf den Gesamtor-ganismus zu gehen. Die Homöopathie isteine naturnahe Heilweise, die diesen Wegvon eher beschriften hat" (zit. n. Prokop /Wimmer, S.245).

Wäre da nicht der Hinweis auf die,,staatspolitischen Früchte", dieser Text würdein einer heutigen Broschüre kaum auffallen,im Gegenteil - er liegt voll und ganz imSprachduktus der heutigen Anhänger derNaturheilkunde. Insbesondere die,,Ganzheitlichkeit" kommt immer wiedervor, auch bei dem Naturheilkundler Kötschau,der nach der Machtübernahme der Nazis

folgendes sagt:,,Nationalsozialistisch denken und

biologisch denken aber sind eins. Wir findenin der biologischen Medizin wieder dieNatur- und Volksverbundenheit desNationalsozialismus, ebenso finden wir inbeiden das ganzheitliche Denken und dieAblehnung mechanistischer Erklärungen undZerstückelungen (Prokop / Wimmer S.244).

Doch es blieb nicht bei diesen Er-klärungen. Himmler ließ in den Kon-zentrationslagern Dachau und AuschwitzMenschen mit tödlichen Krankheiteninfizieren, um den Beweis zu erbringen, daßdiese Infektionen homöopathisch geheilt wer-den können. Dieser Beweis wurde nichterbracht, die infizierten Häftlinge gingenelend zugrunde.

Himmler jedoch ließ nicht ab von seinemGlauben, allerdings nicht nur hier. So wie erüber die Stiftung ,,Ahnenerbe" dieesoterischen Begründungen für dieÜberlegenheit der arischen Rasse erhaltenund über den Verein ,,Lebensborn" dieZüchtung des Herrenmenschen vorantreibenwollte, so gründlich gingen er und seinezahlreichen Helfer auch bei der Vernichtungder Juden und anderer sogenannter,,Untermenschen" vor. Okkultismus,Ahnenerbe, Lebensborn und Blutmystik sinddie eine Seite der Medaille, die andere ist diegrauenhafte Wirklichkeit von Auschwitz-Birkennau. Und eines sollte klar sein: DieInitiatoren des Völkermordes glaubten an dieRichtigkeit ihres Tuns. Die lange Traditiondes Irrationalismus, die okkulte Vernebelungdes Geistes und somit die Zerstörung derVernunft haften ihre Köpfe dazu fähiggemacht. Ein Phänomen dernationalsozialistischen Wirklichkeit liegtdarin, daß enorme technologischeModernisierungsschübe gepaart sind mitrückwärts gewandten Anschauungen einerirrational-esoterischen Unmenschlichkeit. DieNazis bedienten sich der modernsten tech-nischen Mittel, um ihre barbarischenVorstellungen des Rassenwahns grauenhafteRealität werden zu lassen.

Fassen wir zusammen:Die ,,philosophische Atmosphäre"

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(Stern) des Irrationalen gegen Vernunft,Materialismus und Liberalismus hatte bereitsim 19. Jahrhundert den Nährboden bereitetfür den esoterischen Rassenwahn derAriosophen und der Nazis. In der WeimarerRepublik kommt es dann trotz desdemokratischen Systems nicht zu einemStillstand dessen, was Lukacs die ,,Zerstörungder Vernunft" genannt hat. Die Gegner derRepublik setzen die Tradition des Irrationalenfort, wobei fast überall die Einflüsse derEsoterik auszumachen sind. So ist dann auchdie NS-Rassenideologie nicht zuletzt ein Er-gebnis des weitverbreiteten esoterisch-okkulten Irrationalismus. Daß es immergesellschaftliche Krisen waren, die dieVoraussetzungen schafften für den Einflußdes Irrationalismus auf das Denken und dieAnschauungen vieler Menschen, undinsbesondere bei den akademisch Gebildeten,sollte deutlich geworden sein.

Und ein weiteres sollte klar geworden sein:Der Irrationalismus ist noch lange nicht tot, ererlebt im Gegenteil eine Renaissance, wasnicht zufällig ist, denn auch wir leben in einerZeit enormer gesellschaftlicher Umbrücheund Krisen. Folglich boomt der Esoterik-Markt. In einer wahllos herausgegriffenenZeitschrift aus der Szene liest man das fol-gende: ,,Der Nationalsozialismus hat dieTabuisierung des Mythos bewirkt. Heute istdie Rückkehr zum Mythischen unübersehbar.Offen bleibt, ob sie in eine neue Barbarei, inein kaItes Konsumland oder in eine wieder-verzauberte Welt führen wird, die den Schutzunserer Mitwelt mit einer Synthese vonVernunft und mythischer Welterfahrungverbindet. Wie auch immer wir diesen Weggestalten werden: Auf der Suche nach un-seren Wurzeln und nach einer ganzheitlichenIdentität und einem sinnstiftenden Lebenwerden wir nicht umhinkönnen, den Spurender Mythen zu folgen" (,,Esotera", 3/96).

Hier wird mit einem sattsam bekanntenVokabular der lrrationalismus propagiert undgleichzeitig ein erneuter Rückfall in dieBarbarei einkalkuliert. Insofern muß mandem Autor dankbar sein für seine Klarheit.Doch man sieht mit erschreckenderDeutlichkeit, daß die Esoterik auch weiterhinunserer Aufmerksamkeit bedarf.

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Die Bedeutung des Irrationalenin der Politik.Zum Wiederaufleben desFundamentalismusHans-Gerd Jaschke

Das Nachdenken über das Irrationale inder Politik wirft ein schwerwiegendesProblem auf, denn es setzt Vorstellungen überdas ,,Rationale" in der Politik voraus. Wollteman Ratio in der Tradition der Aufklärungverstehen, so blieben wohl am ehesten derKern der westeuropäischen undamerikanischen Verfassungen alsfortwirkende Bollwerke der Rationalität.Doch Politik erschöpft sich nicht in denVerfassungen, ja sie beginnt erst dort, wo esdarum geht, sie in politisches Handelnumzusetzen. Politik in diesem Sinne auf ihreRationalität hin zu untersuchen sprengtfreilich den Rahmen eines Aufsatzes.Irrationale politische Bewegungen richtensich auch nicht gegen tagespolitischeEntscheidungen oder Verfassungen. Ihnenging und geht es vielmehr als ganzheitlicheWeltauffassungen um mehr. Wie diehistorischen Beispiele zeigen, warengrundsätzliche Wege der Demokratie, desKapitalismus und der liberalen Gesellschaftdie Hauptangriffsflächen. These diesesBeitrages ist es, daß der politische Ir-rationalismus heute sich in den zahlreichenStrömungen des Fundamentalismus zeigt, daßer prinzipielle Vorbehalte gegen jeglicheFortschrittsideologien anmeldet, dadurch aberauch auf schwere Defizite der Gesellschaftaufmerksam macht.

In der politischen Debatte wird unterFundamentalismus vor allem die radikaleAblehnung der Werteordnung westlicherGesellschaften verstanden. Verschiedene,teilweise militante islamistische Gruppen in-nerhalb und außerhalb der islamischen Weltgelten als fundamentalistisch. IhreGewaltbereitschaft bis hin zur Selbsttötung,ihre Massenbasis und ihr Haß auf diewestlichen Werte lassen sie als eineBedrohung der demokratischen Gesellschafterscheinen. Ralf Dahrendorf spricht vomFundamentalismus als einer mit Händen zu

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greifenden großen Anfechtung der Modernitätam Ende des 20.Jahrhunderts (Dahrendorf,1992, S.77). Werfen wir einen Blick auf dieneueren sozialwissenschaftlichen Diskuss-ionen, so wird deutlich, daß es umWeltanschauungen geht, welche dieFundamente einer Gesellschaft, einerWerteordnung oder auch nur das Regelwerkeiner Gruppe einklagen, weil diese angeblichdenaturiert seien. Sie haben einen historisch-traditionalistischen Kern: Eingeklagt wird dieWiederherstellung eines Ur-Zustandes, der imVerlauf der Entwicklung verzerrt, verratenoder manipuliert wurde. Diese Form undZielrichtung der modernen Kulturkritik reichthistorisch weit zurück: Die Zurückweisungdes städtischen als eines ,,verderbten" Lebens,verbunden mit der Romantisierung deseinfachen, ländlichen Lebens ist so alt wie dieStadt selbst. Von der Antike über dasMittelalter bis hin zur modernen Gesellschaftist das Motiv der Glorifizierung des Alten undder Ablehnung des Neuen ein zentralesMoment aller Kulturkritik. Das konservativeDenken zehrt bis heute von ihm, dochKonservatismus ist nicht gleichFundamentalismus. Wo die Konservativenbloß bewahren und den Schaden begrenzenwollen, betritt der Fundamentalismus dieBühne der kämpferischen Aus-einandersetzung mit (fast) allen Mitteln.

Darauf verweist ein sozialphilosophischerAnsatz, der die Frontstellung desFundamentalismus gegen das Projekt derModerne begreift als Kampf gegen dieAufklärung und den Vernunftbegriff desDeutschen Idealismus, der den selbständigdenkenden und handelnden Menschenvoraussetzt, der seine Orientierungen aus sichselbst heraus hervorbringen kann, ohnefremdgeleiteten Ideologien anzuhängen.Demnach geht es nicht nur um Religion,Staats- und Gesellschaftsformen, sondernvielmehr um die aus der FranzösischenRevolution und der europäischen Aufklärungherrührenden Grundlagen der europäischenmodernen Zivilisation. So gesehen sind esgerade die Errungenschaften der Moderne,die bürgerlichen Freiheitsrechte, derEmanzipationsgedanke und derIndividualismus, die ihre eigenen

Traditionsbestände zerstören durch dieungehemmte Entfesselung von Wissenschaftund Technik und ein Vakuum hinterlassen:Dort, wo die Orientierungsbedürfnisse desMenschen auf gültige und verbürgteTraditionen nicht mehr zurückgreifen können,entsteht der Wunsch nach Geborgenheit undVerläßlichkeit, nach Maßstäben undVerhaltensnormen. In diese Lücke stößt derFundamentalismus. Er ist daher als Gegen-bewegung zur europäischen Aufklärung, zum,,Projekt der Moderne" zu begreifen. ImFundamentalismus zeige sich, so ThomasMeyer, ,,die eigentliche Dialektik derModerne selbst. Er ist die imModernisierungsprozeß erzeugte und inseinen Krisenperioden stets neu belebteVersuchung der Regression in die Gebor-genheit und Unmündigkeit. DieseVersuchung kann massenhaft verführen,wenn die Verheißungen der Modernisierungzu ihren Zumutungen und Kosten für viele inunerträglichen Widerspruch geraten"(Meyer, 1989a).

Während Meyer noch davon ausgeht, eshandele sich um ein von den Krisen derModerne abhängiges periodischesAufflammen des irrationalen Widerstandes,betont Tibi, das Projekt der europäischenModerne sei mittlerweise in eineschwerwiegende kulturkämpferischeAuseinandersetzung mit dem Fundamen-talismus verwickelt. Er spricht von einer,,Revolte der nichtwestlichen Zivilisationengegen den Westen", von einemZivilisationskrieg der Weltanschauungen undeiner schrittweisen ,,Entwestlichung" derWelt (Tibi, 1995, S. 301ff.). Hinter denlokalkulturell-ethnischen Kriegen derGegenwart, etwa im ehemaligen Jugoslawien,verbergen sich in Wahrheit Kriege umWeltanschauungen und Religionen. Folgtman Tibis Modell, dann sind dieaufklärerischen Wurzeln der europäischenDemokratien und Gesellschaften längsterheblich gefährdet, er empfiehlt eine stär-kere, offensive Besinnung auf ebendieseGrundlagen.

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Erscheinungsformen des modernenFundamentalismus

Der Begriff des ,,Fundamentalismus" imengen Sinne hat religionsgeschichtlicheWurzeln. Die sozialwissenschaftliche Debattebezeichnet übereinstimmend den protestanti-schen Fundamentalismus in den USA um dieJahrhundertwende als Entstehungzeitraum desBegriffs ,,Fundamentalismus" (Birnbaum,1989, Pfürtner, 1991). In den siebziger Jahrendes 1 9. Jahrhunderts entwickelte sich imRahmen der protestantischen Kirche der USAeine Bewegung, die den zeitgenössischenliberalen Bibelglauben strikt ablehnte, weil erangeblich nicht mehr dem Urtext entspreche.In der Schriftenreihe ,,The Fundamentals: TheTestimony to the Truth", 1910-1912 in zwölfBänden in Millionenauflage erschienen,wurde die Forderung nachdrücklich erhoben,zu den Wurzeln der Bibelexegesezurückzukehren (Pfürtner, 1991, S.47). Esging darum, die wesentlichen Prinzipien deschristlichen Glaubens zu verteidigen, vorallem die Unfehlbarkeit der Bibel und diechristlichen Dogmen von der Jungfrauen-geburt und der Auferstehung Christi.Moderne naturwissenschaftliche Evolutions-theorien hatten die biblische Deutung derMenschheitsgeschichte infrage gestellt undihr ein anderes, durchaus attraktives Modellgegenübergestellt. Charles Darwin und seineAnhänger verwiesen auf die Evolution derArten, aus der auch die Spezies Mensch her-vorgegangen ist und legten durch ihrennaturwissenschaftlichen Anspruch zugleichauch eine gewichtige Argumentationskettevor gegen die biblische lnterpretations-variante des göttlichen Schöpfungsaktes.Nicht Adam und Eva, sondern die beständigeHöherentwicklung der Fauna galten alsUrsprung des Lebens und bedeuteten einenGeneralangriff auf die biblische Deutung.

Aber die protestantischen Funda-mentalisten begnügten sich nicht mit einerdogmatischen Bibelexegese und dem Kampfgegen die Evolutionstheorie. Sie fühlten sichals Teil der konservativen weißen Mittel-schicht, welche die amerikanische Kulturinsgesamt bedroht sah vom Tempo derindustriellen Entwicklung, von den sozialen

Verwerfungen der Einwanderungswellen undvon in ihren Augen dekadenten Alltagsge-wohnheiten. Die rasche Entstehung derGroßstädte mit ihren dekadentenLebensformen außerhalb der sozialenKontrolle in den Kleinstädten bestätigte dieFundamentalisten in ihrem Glauben an einesündige Welt, der es mit unerschütterlicherBibelfestigkeit entgegenzutreten gelte.Zahlreiche Kampagnen gegen die Herstellungund die Verbreitung von Alkohol gingen aufdas Konto der Fundamentalisten, die sichüberwiegend aus Handwerkern, kleinen Ge-schäftsleuten und Unternehmern sowie ausFarmern rekrutierten. Nach dem ZweitenWeltkrieg suchten sie ihren gesellschaftlichenEinfluß zu verstärken durch die Gründungeigener Fernsehanstalten und die Ausweitungihres Zeitungs- und Zeitschriftennetzes. Heutesind sie Teil der konservativen Fraktion desamerikanischen Protestantismus. Dogmen wiedie Jungfrauengeburt, die leibliche Himmel-fahrt und die bevorstehende WiederkunftChristi haben sich mit konservativenpolitischen Positionen verbunden, wie etwadie Forderung nach einer militärischenÜberlegenheit der USA in der Weltpolitik.Auseinandersetzungen um dieVerfassungsmäßigkeit des Schulgebets undder Evolutionstheorie im Unterricht sowie inder Abtreibungfrage gehören zu denKampagnen, die vor allem von denprotestantischen Fundamentalisten inszeniertwurden.

Drei einflußreiche Strömungenbeherrschen den protestantischenFundamentalismus in den USA der neunzigerJahre: Die eher unpolitischen Separatisten umBob Jones III sehen in der Wiederkehr desHerrn die einzige Hoffnung für die Mensch-heit. Politisches und soziales Engagementlehnen sie ab, weil die Lasterhaftigkeit derWelt ferngehalten werden muß in derErwartung des Herrn. Die Gruppe um JerryFalwell, dem zeitweiligen Führer der ,,MoralMajority", entstand in den sechziger Jahrennach der Abschaffung des Schulgebets inöffentlichen Schulen und fand weitereResonanz nach der Legalisierung derAbtreibung im Jahr 1973. Beides führte zurPolitisierung der Gruppe um Falwell, die ein-

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flußreiche Positionen in der RepublikanischenPartei besetzt. ,,Falwell", notieren Marty undAppleby (1996, S.53), ,,begann als strikterSeparatist, wurde aber zum Aktivisten, als erzu dem Entschluß gelangte, daß es nicht mehrlänger möglich sei, in einer säkularisiertenKultur, die von Jahr zu Jahr zudringlicher unddominanter wurde, nach Reinheit zu strebenFalwell und die Anhänger der Moral Majoritynahmen sich vor, aktiv zu intervenieren, umdiese Übergriffe abzuwehren, wollten dasjedoch innerhalb des gesetzlichen Rahmensund vermöge der Manipulation despolitischen Systems zu ihren Gunsten tun".Randall Terry und seine ,,Operation rescue"schließlich bilden den militanten Teil deschristlichen Fundamentalismus in den USA.Sie versuchen, durch Provokationen undspektakuläre öffentliche Aktionen - etwa vorAbtreibungskliniken - das öffentliche Be-wußtsein zu mobilisieren und sie vertrauendarauf, daß auf diese Weise die Abkehr vomsündigen Leben und die Hinwendung zu Gottund der Bibel erst möglich ist.

Während der Präsidentschaft von RonaldReagan versuchten die protestantischenFundamentalisten, politische Koalitioneneinzugehen. Sie unterstützten Kampagnen derKonservativen, um politischen Einfluß zu ge-winnen und eine neue, christliche Rechte inden USA zu formieren. Die Politisierung desFundamentalismus und sein Angriff auf dieamerikanische Kultur belegen, daß eine Tren-nung zwischen Fundamentalismus undPolitik oft kaum möglich ist. Die Beteiligungan Aktionen der herrschenden politischenund gesellschaftlichen Kräfte läßt sogarBündnisse absehbar werden, an denenherkömmliche Interessengruppen beteiligtsind und auf diese Weise eine Strategie derUnterwanderung abzulesen ist.

Ganz andere und doch durchausvergleichbare historische Entste-hungshintergründe hat der moderne arabisch-islamische Fundamentalismus im NahenOsten. Er ist eine Folge des für die arabischeSache verlorenen Sechs-Tage-Krieges gegenIsrael im Jahr 1967. Das säkularisiertesozialistisch-populistische Modell desägyptischen Präsidenten Nasser erschien mitdieser Niederlage gescheitert, eine Staatenbil-

dung, eine politische und eine Ge-sellschaftsordnung auf nicht-religiöserGrundlage erschien nicht möglich ohne dienotwendigen strukturellen Rahmenbe-dingungen und ein Mindestmaß an säkularenGrundüberzeugungen. Arabische Intellek-tuelle nutzten das von Nasser auch selbsteingestandenen Scheitern, um einenislamischen Fundamentalismus neu zuentwerfen, der sich auf der Abkehr vonwestlich-säkularen Gesellschaftsmodellengründete und sich auf die Tradition derReligion berief. Der Koran und die Sunnasollen zu den ausschließlichen Maßstäben desHandelns werden. Der Ausgang des Sechs-Tage-Krieges revitalisierte fundamenta-listische Strömungen, die sich ausverschiedenen Gründen bereits lange zuvorentwickelt hatten. Frühe Verweltlichungs-versuche im 18. Jahrhundert, derKolonialismus der europäischen Großmächteim 19. Jahrhundert und die Liberalisierungs-und Säkularisierungspolitik etwa in derTürkei in den zwanziger Jahren und im Iranunter dem Schah führten zu islamistischenGegenbewegungen, die auf der Einheit vonReligion, Kultur und Politik unter demWertesystem des Koran pochten und damitdie Tradition gegen die Moderne ausspielten.Islamischer Fundamentalismus erscheint vordiesen historischen Hintergründen als einerückwärtsgewandte, von Intellektuellenbegründete Utopie, die auf der Ablehnung derVerwestlichung der Gesellschaft beruht unddas ,,goldene Zeitalter" des vom ProphetenMohammed errichteten Stadtstaates vonMedina beschwört (Tibi, 1992).

Die Geschichte der amerikanischenProtestanten und der arabischen Islamistenmacht einige Grundzüge des modernenFundamentalismus sichtbar: Es geht, wennauch in ganz unterschiedlichen historischenZusammenhängen, um die Bewahrung vonalthergebrachten Traditionen, die in dermodernen Welt angeblich bedroht sind. DerImpuls dazu beruht auf Skepsis gegenüberden modernen Zeitläuften, auf Fort-schrittskritik und -feindlichkeit und auf demGlauben an eine ewiggültige Welt- undWerteordnung, die von der Moderneangegriffen wird. Der Fundamentalismus

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besteht auf einem wie auch immer religiösverzierten Naturgesetz, auf grundsätzlichenPrinzipien, welche die Ordnung der Dingeregeln und dem Einzelnen eine Zielvorgabemachen für ein richtiges und ein glücklichesLeben. Er beharrt auf dem verloren-gegangenen ,,Golden Age" und er organisiertsich als Kreuzzug mit einer Mentalität desUnerschütterlichen, der Festigkeit und derHeilsgewißheit. Es ist diese Unerbittlichkeitund Kompromißlosigkeit, die ihn vomkonservativen Denken unterscheidet. Auchdieses beharrt im Kampf des Neuen gegen dasAlte auf den zu bewahrenden Beständen desAlten, aber nicht um jeden Preis. Hans G.Kippenberg verweist in diesem Zusammen-hang auf die unruhige, drängelnde, aber auchinnovative Kraft der Fundamentalismen, diesie von den Konservativen und der religiösenOrthodoxie unterscheidet: ,,Es handelt sichum Gruppen, die auf eine Herausforderungdes überlieferten Glaubens reagieren,traditionelle Auffassungen selektiv ver-teidigen, exklusive Bewegungen bilden, inOposition zu sozialen oder politischenMächten stehen, den Relativismus sowiePluralismus bekämpfen, Autorität verteidigenund den Evolutionsgedanken bekämpfen.Kurzum: um Gruppen, die gegen dieModerne zurückschlagen - fighting back istihre Gemeinsamkeit" (Kippenberg, 1996,S.232).

Die Beispiele der amerikanischenProtestanten und der arabischen Islamistenverweisen aber auch darauf, daß keineswegsnur kleine Minderheiten, Außenseiter undSektierer zu den Trägern desFundamentalismus gehören. Allein in denUSA wird die Anhängerschaft desprotestantischen Fundamentalismus auf zwölfbis fünfzehn Millionen geschätzt(Marty/Appleby, 1996, S.53). Auch Teile derbürgerlichen Mitte und der Intelligenz könnenfundamentalistische Positionen beziehen.Nicht selten handelt es sich dabei um Fragender Religion und der Religionsausübung.Auch in säkularen Gesellschaften wie dieBundesrepublik können sich heftige Kon-flikte, kreuzzugartig ausgetragen, an Fragender Religion entzünden Als durch ein Urteildes Bundesverfassungsgerichts, das die

Trennung von Staat und Kirche bekräftigte,im Jahr 1995 Kruzifixe aus bayerischenKlassenzimmern abgehängt werden sollten,formierte sich ein konservativ-klerikalerWiderstand weit über die Reihen derkatholischen Kirche und der CSU hinaus, derbis hin zur Radikalkritik am Bundes-verfassungsgericht eindeutig fundamenta-listische Züge im oben beschriebenen Sinnannahm. Der bayerische MinisterpräsidentStoiber stellte sich an die Spitze der Kritikerund rief öffentlich zum Widerstand gegen dasKruzifix-Urteil auf. Stoiber und seineGesinnungsfreunde - Fundamentalisten? Einesolche Einschätzung ist, genau besehen,irreführend, denn die Kritik bezieht sich aufeine einzige politische Streitfrage, das Kru-zifix in den Schulen, keineswegs aber auf dieGesellschaft als solche. Deshalb erlaubt unsdieses kleine Beispiel eine weitereAbgrenzung: Von Fundamentalismus ist nurdann zu reden, wenn es um die Gesellschaftals solche geht, um die Grundlagen ihrerVerfassung, Organisation, ihre Werte, ihreZiele, nicht aber dann, wenn es um eine sin-guläre politische Streitfrage geht.

Lebensweltlicher, kultureller,ethnischer und politischerFundamentalismus

Thomas Meyer spricht im Hinblick auf dieSituation in Deutschland von einemlebensweltlichen, einem kulturellen undeinem politischen Fundamentalismus. Zumlebensweltlichen zählt er religiöse Kulte undSekten, esoterische Zirkel, aber auchislamistische Gruppen wie ,,Milli Görüs",denen es darum geht, eine eigenständigeLebenswelt innerhalb einer als fremdbetrachteten Kultur zu etablieren. Hierzugehören diejenigen Bewegungen, ,,die sichvom Pluralismus, der Offenheit und derindividuellen Selbstverantwortung dermodernen Lebenswelt abwenden und aufeiner vermeintlich absoluten Erkenntnisge-wißheit geschlossene Lebensformenerrichten, die nur durch die Preisgabe derindividuellen Autonomie und Selbst-verantwortung möglich werden" (Meyer,1989, S.263). So sehr das Argument von der

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Selbstabschottung und der Begründung ei-genständiger Netzwerke des lebens-weltlichen Fundamentalismus überzeugt,sowenig werden die Grenzen deutlich zuGruppierungen, die ebenfalls selbstge-nügsam-weltabgeschiedene Praktiken durch-setzen, ohne daß man sie dem Fundamenta-lismus zurechnen würde. Was unterscheidetdas christliche Mönchtum oder die Hutterervom lebensweltlichen Fundamentalismus?

Die kulturelle Variante zehrt von einemspiritualistischen Erkenntnisanspruch, dersich von den Standards der modernenWissenschaften verabschiedet und einenabsoluten, eigenständigen Denkansatz in denMittelpunkt stellt. Intuition, Meditation undGlaube treten an die Stellen des vernünftigenArgumentierens. Meyer führt die Bücher desNew Age-Propheten Fritjof Capra und desradikalen Grünen Rudolf Bahro als Beispielefür den kulturellen Fundamentalismus an.Den grünen Fundamentalismus von Trampertoder Ebermann hingegen zählt Meyer zu denpolitischen Ausdrucksformen desFundamentalismus. In dieser Rubrik lassensich freilich ohne Mühe sämtliche Aus-drucksformen des politischen Extremismusunterbringen. Ihm geht es in der Tat darum,ohne Komprimisse die Rettung der Welt unddie Überwindung der bestehenden Ordnungdurch eine bestimmte Ideologie zuverkünden. Insofern ist der politischeFundamentalismus immer auch eine aktive,oppositionelle, den Primat der Praxis und despolitischen Handelns hier und jetzt insZentrum rückende Variante. Der Terrorismusals gewaltbereite Strategie des politischenExtremismus ist vor diesem Hintergrund eineletzte Konsequenz des politischenExtremismus.

Den lebensweltlichen, kulturellen undpolitischen Varianten könnte eine weitereangefügt werden, die gerade in denzurückliegenden Jahren und Jahrzehnten anBedeutung gewonnen hat. Der ethnische Fun-damentalismus tritt uns in zwei Formengegenüber: Als raumbezogener reklamiert ereigenständige Lebensräume und Territorien,als migrationsbedingter pocht er auf derautonomen Kultur eines Volkes.Kämpferische Auseinandersetzungen um

,,heilige Orte" wie den Ost-JerusalemerTempelberg und die Klagemauer, um heiligeStätten zwischen Hindus und Moslems unddie Entweihung Mekkas und Medinas durchdie US-amerikanischen Truppen während desGolf-Krieges erweisen sich als ,,Schlachtenum die Definition nationaler, regionaler undkommunaler Identität" (Marty/Appleby,1996, S. 204), bei denen jahrhundertealteethnische und/oder religiöse Konfliktefortgeführt werden. Doch auch in West- undOsteuropa lodert das Feuer ethnisch-territorialer Kämpfe im ausgehenden 20.Jahrhundert. Basken, Iren, Korsen und anderewesteuropäische regionalistische Be-wegungen sehen ihre kulturelle Identitätbedroht und begehren auf gegen die jeweiligestaatliche Zentralmacht. Nach dem Zerfall derSowjetunion haben nationalistischeStrömungen zur Loslösung vom Zentralstaatund zu neuen Staatenbildungen geführt.Dabei wurden, wie etwa im Fall derbaltischen Staaten, lange zurückreichendehistorische Autonomiebestrebungen alsBegründungen angeführt. Eine Vielzahl la-tenter und einige, wie in Tschetschenien,offen ausgetragene kriegerischeAuseinandersetzungen verweisen auf dasKonfliktpotential eines Vielvölkerstaates, dernoch weit von einer demokratischenBürgergesellschaft entfernt ist. Das Gewalt-potential des raumbezogenen ethnischenFundamentalismus wurde am klarstensichtbar im Bürgerkrieg im ehemaligenJugoslawien. Serben, Kroaten und Muslimsgingen, jede ethnische Gruppe für sich, vonhistorisch zu rechtfertigenden Ge-bietsansprüchen aus, die dann zurLegitimation militärischer Aggressiondienten. Der raumbezogene ethnischeFundamentalismus deutet hin auf einewidersprüchliche Entwicklung in denIndustriegesellschaften: Auf der einen Seiteweiten sich die elektronische Kommunika-tion, der Austausch von Waren undDienstleistungen aus, politische undwirtschaftliche Ordnungen haben längst ihrenationalen Begrenzungen verloren und gehenauf in kontinentalen politischen Ordnungenwie der Europäischen Union. ,,Glo-balisierung" heißt das Stichwort für die

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Internationalisierung der Ökonomie. Doch aufder anderen Seite bilden sich offenbar nichtzu unterschätzende regionalistische und eth-nische Gegenströmungen. Sie werden um solauter, je mehr der Prozeß der Globalisierungvoranschreitet und ihre Strategien scheinenmehr und mehr fundamentalistische Zügeanzunehmen.

Die zweite Form des ethnischenFundamentalismus ist migrationsbedingt. DieZuwanderung in die Länder der EU seit etwa1960 hat zu einer massiven ethnischenUnterschichtung der europäischen Ar-beitsgesellschaften geführt. Die Migrantennahmen rasch die unteren Positionen in dersozialen Hierarchie ein, sie übernahmenschmutzige, gefährliche und gesundheits-schädliche Arbeiten. Während die ersteGeneration der Gastarbeiter sich noch relativglatt in ihr Schicksal fügte, weil sie die neuenLebensverhältnisse den alten im Rahmen derrelativen Wohlstandsgesellschaft vorzog,fehlt dieser Vergleich bei den nachfolgenden,hier aufgewachsenen Generationen. IhrMaßstab sind die Wohn-, Ausbildungs- undArbeitsverhältnisse der einheimischenAltersgenossen. Der Rückzug von Teilen derzweiten und dritten Ausländergeneration aufdie Kultur ihrer Herkunft, vor allem denIslam, scheint eine Reaktion auf massiveDiskriminierungserfahrungen innerhalb undaußerhalb der Schule, im Arbeits- undWohnungsmarkt. Seinen Nährboden findet erin den ,,ethnischen Kolonien" (Heckmann,1994) der Aufnahmeländer: Sie haben inEinwanderungsgesellschaften die doppelteFunktion, erste Schritte der sozialenIntegration zu gewährleisten und gleichzeitigdie sozialen und kulturellen Beziehungen zurHerkunft aufrechtzuerhalten. Je mehr dasAufnahmeland sich öffnet, desto schwächerwerden die ethnischen Kolonien undumgekehrt: Wenn es sich gegenüber denMigranten verschließt, dann wächst dieBedeutung der Ausländer-Organisationen unddamit zugleich auch das soziale Netzwerkfundamentalistischer Orientierungen. Insofernist der migrationsbedingte Fundamentalismus,zumal in den islamistischen Strömungen,hausgemacht, er ist eine Reaktionsform aufdie abweisende fremde Kultur.

Fundamentalismus als Fortschrittskritik

Wir haben bis hierher im wesentlichenErscheinungsformen des Fundamentalismusvorgestellt und miteinander verglichen. Einezu seinem Verständnis bedeutsame Frage istdie nach seinem Zweck für die Betroffenenselber, also: Wozu eigentlich dient und wofürsteht der Fundamentalismus? Im Falle derMigranten in den EU-Staaten handelt es sichoffensichtlich um eine Überlebensstrategie ineiner als abweisend empfundenen sozialenUmwelt, um ein Mittel, das tägliche Lebenbesser auszuhalten, indem man sich seinerWurzeln versichert und mit anderen,gleichfalls Betroffenen, diese Erfahrungenteilt. Der Kampf um Freiräume, um kultu-relle, sprachliche, religiöse Autonomieverhilft zum Überleben in der Fremde, erschafft und intensiviert soziale Beziehungenund er definiert das Verhältnis zu denFremden. Doch es sind auch andere Zweckedenkbar. Martin Riesebrodt spricht von denStrategien des Fundamentalismus alsWeltflucht und des Fundamentalismus alsWeltbeherrschung (Riesebrodt, 1990).Weltflucht im fundamentalistischenZusammenhang bedeutet nicht individuellesAussteigen, im Gegenteil. Das Grup-penerlebnis ist ein zentrales Merkmal dieserVariante. Es dient dazu, die Entfremdung desEinzelnen von der Welt durch dasgruppendynamische Miteinander zureflektieren und aufzuheben. Welt-abgeschiedenes kommunitäres Leben dientder individuellen und gruppendynamischenAutonomie, es wehrt die Einflüsse der alsdekadent empfundenen Außenwelt ab undverhilft zur Reinheit des Bewußtseins. Dendie moderne Welt kennzeichnenden und sichverschärfende Gegensatz von Gesellschaftund Gemeinschaft (Ferdinand Tönnies) imGruppenerlebnis aufzuheben - dies scheinteine mächtige Triebfeder. Das christlicheMönchtum wäre in Europa die Keimzellefundamentalistischer Weltflucht. Es will einBeispiel geben, ein Exempel statuieren durchden Aufbau einer Gemeinschaft, derenBeziehung zu Gott durch weltliche Einflüssenicht behindert wird. Sehr viel mehr weltlichorientiert sind die frühen Kommunen des

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alternativen Lebens. Sie sind erste Anzeicheneines bewußten Aussteigens aus und eineroffensiven Abkehr von den bürgerlichenLebensformen der Industriegesellschaft. Diesäkulare Kommunebewegung sucht nichtmehr die Abkehr von der Welt, um dieEinkehr und die Ergebenheit an Gott voranzu-bringen, sondern sie stellt dieSelbsterfahrung, das Experimentieren mitneuen Lebensformen im Kleinen,Alltäglichen angesichts einer zerrissenenWelt in den Mittelpunkt. Der Monte Veritànahe Ascona, legendenumwobene Gemein-schaftssiedlung von Asketen, Vegetariern,Stadtflüchtlingen, Lebensreformern,Bohemiens und Anarchisten, nicht zufälligursprünglich als Laienkloster geplant,versammelte zu Beginn des 20. Jahrhundertsjene Welt-Flüchtlinge, die sich anschickten,die bürgerliche Gesellschaft desWilhelminismus zu überwinden. Die TessinerAussteiger waren nur der Auftakt zu einer inperiodischen Abständen wiederkehrendenWelle von Versuchen des alternativenLebens, darunter häufig religiös oder lebens-reformerisch motivierte. Der Funda-mentalismus der Weltabgeschiedenheit ist aufder Suche nach Inseln der Glückseligkeit,nach Refugien des ursprünglichen, reinenLebens gegen eine als lebensfeindlichbetrachtete Gesellschaft.

In der in den siebziger Jahren entstehendenAlternativszene in der Bundesrepublikfinden sich vielfältige Aktionsformen, welchedie Tradition der alten Versuche um dieJahrhundertwende fortsetzen. Alternativbe-triebe und Wohngemeinschaften alsalternative Formen des Arbeitens und desWohnens knüpfen wohl noch am ehesten andiese Traditionen an. Doch die Geschichte derneuen sozialen Bewegungen, ihr Einmündenin das politische und soziale Umfeld derGrünen zeigt die Politisierung dieser Szene,die eben nicht mehr nur weltabgeschiedenagiert, sondem sich in hohem Maße den prak-tischen Anforderungen der Gegenwartzuwendet.

Mit dem Fundamentalismus derWeltabgeschiedenheit verwandt und dochganz anders ist der Fundamentalismus derWeltbeherrschung. Er dünkt sich erhaben

über die Innerlichkeit der Welt-abgeschiedenheit, er wähnt sich im Besitz derWahrheiten, die zur radikalen Veränderungder Welt vonnöten sind. Missionarischer Eiferund Sendungsbewußtsein prägen seine Führerund Anhänger. Er leitet aus der Gewißheiteinen universalistischen Alleinvertretungsan-spruch ab, den er ausdehnt auf die ganzeWelt, wobei konkurrierende Ideologien alsFeinde zu behandeln sind, die bis aufs Messerbekämpft werden. Thomas Meyer spricht indiesem Zusammenhang vom ,,politischenFundamentalismus", der besondere Strategienund Taktiken entwickelt habe, um mit denanderen, den Nicht-Dazugehörenden umzuge-hen. Kompromißfeindschaft, die Un-bedingtheit des absoluten Willens zur Macht,die Rücksichtslosigkeit der Machtausübunggehören zu seinen Wesensmerkmalen,historisch betrachtet sei er eine langfristigwirksame ,,destruktive Macht gegen dieGrundlage einer vernunftbegründeten,intellektuellen und politischen Kultur"(Meyer, 1989, S. 282f.). DerFundamentalismus der Weltbeherrschung hatin diesem Jahrhundert verheerende Kriegeausgelöst und Millionen Menschenlebengefordert. Zur Macht gekommen ist er in dentotalitären Regimen.

Unser Gang durch die verschiedenenAnwendungsformen des BegriffsFundamentalismus hinterläßt das Bild einesvielschichtigen, in historisch, geographischund politisch sehr diffusen Zusammenhängenpräsenten Phänomens. Totalitäre Herr-schaftsformen, weltabgeschiedene Lebens-formen, religiöser Protest - all dies scheint zuunterschiedlich, um daraus einenverbindlichen Begriff abzuleiten.Fundamentalismus erscheint je nach denhistorischen und gesellschaftlichenGegebenheiten nahezu identisch mit demTotalitarismus, mit extremistischen Strömun-gen, mit sektiererischer Religiosität. Wodurchist es dann noch gerechtfertigt, überhaupt von,,Fundamentalismus" zu sprechen als einereigenständigen historischen und aktuellenProtestform, was unterscheidet ihn vomTotalitarismus und Extremismus, wasverbindet ihn damit? Eine eigenständigeinnere Logik gewinnt der Begriff , wenn man

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ihn bezieht auf Dimensionen der modernenFortschriftskritik. Alle fundamentalistischenStrömungen beziehen sich auf das in ihrempolitischen und gesellschaftlichen Umfeldjeweils dominierende Fortschritts-Paradigma.Die Ablehnung dieses Fortschritts geht einhermit dem Rückbezug auf die vermeintlichverratenen Grundlagen der Kultur, die eswiederherzustellen gelte. Bleiben wir beiunseren Fallbeispielen, so könnten wir nunfolgende fundamentalistische Fort-schrittskritik rekonstruieren.

Die Erklärung der Religion zur staatsfreienPrivatangelegenheit in den USA in derVerfassung von 1789 - als letztemBundesstaat ratifiziert von Massachusetts imJahr 1833 - wurde in der Praxis konterkariertund aufgeweicht von der bedeutenden Rolleder Religion im Alltag und in der Politik. DieDurchsetzung des kapitalistischen lndustrie-systems und in deren Gefolge diemultiethnischen und multikulturellenEinwandererströme bedrohten dieHegemonie des weißen Protestantismus undbewirkten die Pluralisierung der Religionenund der Bibelauslegungen. Vor diesemHintergrund entsteht der protestantischeFundamentalismus als Protest gegen die Auf-weichung der bis dahin dominierendenStellung des Protestantismus, die Dynamikder gesellschaftlichen Modernisierung undden damit verbundenen Fortschrittsmythos.

Die Verwestlichung traditionellerislamischer Gesellschaften, besondersdeutlich in der türkischen Staatsgründung inden zwanziger Jahren und im Iran unter demSchah Reza Pahlevi, untergräbt die bis dahingültige, alles überragende Bedeutung derislamischen Kultur, indem westliche Modelledes wissenschaftlich-technischen, in-dustriellen und kulturellen Fortschritts quasiimportiert werden. Der Zusammenstoß vonmoderner westlicher Kultur und traditio-nalistischem islamischem Wertekanonverursacht die kämpferische Rückbesinnungvon Teilen des Islams auf seine Wurzeln. DieAblehnung des Westens bringt kultur-kämpfensche, politische und militanteFormen des Widerstandes hervor.

Die Glorifizierung von industriellangewandter Wissenschaft und Technik als

dominierenden Maßstäben der Rationalität inkapitalistischen Gesellschaften baute auf dasFortschrittsmodell des immer weiter pros-perierenden materiellen Wohlstandes fürimmer mehr Menschen. Das in den beidenWeltkriegen sich entladende Zerstörungs-potential des industriell-militärischenKomplexes und, später, die Warnungen desClub of Rome und das Fanal von Tschernobylsetzten hinter dieses Fortschrittsmodell mehrals ein Fragezeichen. Eine Vielzahl mehr oderweniger bedeutsamer fundamentalistischerStrömungen kämpft für eine radikaleUmkehr.

Unsere Fallbeispiele illustrieren Leitbilderdes Fortschritts, an denen sich die Kritikentzündet hat. Fortschrittskritik bedeutetjedoch noch nicht Fundamentalismus. Es hatkontinuierliche und vielfältige Kritik desIndustriesystems und des technischenFortschritts gegeben, seitdem es modernewissenschaftlich-technische Entwicklungengibt. Die englischen ,,Maschinenstürmer" desausgehenden 16. Jahrhunderts probten denAufruhr gegen mechanische Webstühle; um1740 zerstörten Kohlebergleute inNorthumberland Förderanlagen, um bessereLöhne durchzusetzen und 1769 wurden in denMidlands Webstühle von Hunderten vonWebern zerstört (Sieferle, 1984, S. 69ff.).Doch den Maschinenstürmern ging es nichtum die Zurückweisung des modernentechnischen Fortschritt als solchem, sieverbanden ihren Protest vielmehr mitarbeitspolitischen Forderungen.Maschinensturm, Streik und Sabotage warenvielmehr Ausdrucksformen der organisiertenGegenwehr, wenn es in den Augen derArbeiter darum ging, Arbeits-platzvernichtung, steigende Arbeitsintensitätund Dequalifizierung zu verhindern (Wulf,1988, S. 30ff.). Auch den heftigenWiderstand gegen den Eisenbahnbau inDeutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahr-hunderts (Sieferle, 1984, S. 87ff.) wird mannicht fundamentalistisch nennen können. Manfürchtete vielmehr Krankheiten durch dieschnelle Fahrt, Unglücksfälle, Anschläge ge-gen die Bahn und den Verlust von Ar-beitsplätzen im herkömmlichen Transport-gewerbe. Nicht wenigen Begüterten schien es

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ein Graus, als Eisenbahnpassagiere mitArbeitern und Handwerkern in einemWaggon sitzen zu müssen.

Von einem fundamentalistischen Protestkönnte man reden, wenn zur Fortschrittskritikeinige weitere Faktoren hinzutreten. Da istzum einen die Strategie des Kompromißlosen,des Unbedingten und des Absoluten, die denKeim der Gewaltbereitschaft in sich trägt, undda ist zum anderen die Mentalität des vonquasi-religiösen Motiven durchsetztenKreuzzuges. Beides begründet den Bewe-gungscharakter des Protests und beides erstmacht die Fortschrittskritik zu einerfundamentalistischen. Schließlich undletztlich aber geht es um den Kern einer alsbedroht und beschädigt empfundenenIdentität von Volk, Religion, Lebensweise,Kultur, politischer und gesellschaftlicher Ord-nung. Marty und Appleby sprechen von einerSituation des subjektiv wahrgenommenen,,Belagerungszustandes", von dem aus derFundamentalismus agiert: ,,In dem Gefühl derBedrohtheit dieser Identität suchenFundamentalisten ihre Identität durch eineselektive Wiederbelebung von Doktrinen,Glaubensvorstellungen und Praktiken auseiner intakten, heiligen Vergangenheit zu be-festigen" (Marty/Appleby, 1996, S. 45).Irrationalität in der Politik, hier verstanden alsvielfältige Erscheinungsformen des modernenFundamentalismus, treffen zu Unrecht auf diescharfe, ja militante Abwehr in denwestlichen Gesellschaften. Denn derFundamentalismus als radikale Fortschritts-kritik verweist auch auf die Defizite undVerwerfungen des Fortschritts, erproblematisiert ihn und entwirft Gegenbilder.So gesehen hat er durchaus produktiveFunktionen für eine demokratische Politik,die sich den Leitbildern der europäischenAufklärung verbunden weiß.

Literatur

Bimbaum, Norman, 1989: Der protestantischeFundamentalismus in den USA, in:Thomas Meyer (Hrsg.), Fundamentalismusin der modernen Welt, Frankfurt/Main, S.121-154

Dahrendorf, Ralf, 1992: Der moderne

soziale Konflikt, StuttgartHeckmann, Friedrich, 1994: Ethnische

Vielfalt und Akkulturation imEingliederungsprozeß, in: Das Manifestder 60. Deutschland und dieEinwanderung, hrsg. von Klaus Bade,München, S. 148-163

Kippenberg, Hans G, 1996: Nachwort in:Marty, Martin E./Appleby, Scott A.,Herausforderung Fundamentalismus.Radikale Christen, Moslems und Juden imKampf gegen die Moderne,Frankfurt/New York, S. 226-247

Marty, Martin E./Appleby, Scott A., 1996:Herausforderung Fundamentalismus.Radikale Christen, Moslems und Juden imKampf gegen die Moderne, Frankfurt/New York

Meyer, Thomas, 1989: Der unverhoffteFundamentalismus. Beobachtungen in derBundesrepublik, in: Ders. (Hrsg.),Fundamentalismus in der modernen Welt,Frankfurt/Main, S. 263-286

Meyer, Thomas, 1989: Fundamentalismus.Die andere Dialektik der Aufklärung, in:Ders. (Hrsg.), Fundamentalismus in dermodernen Welt, Frankfurt/Main, S. 13-22

Pfürtner, Stephan H., 1991: Funda-mentalismus. Die Flucht ins Radikale,Freiburg

Riesebrodt, Martin, 1990: Fundamentalismusals patriarchalische Protestbewegung,Tübingen

Sieferle, Rolf Peter, 1984: Fort-schrittsfeinde? Opposition gegen Technikund Industrie von der Romantik bis zurGegenwart, München

Tibi, Bassam, 1992: Islamischer Fun-damentalismus, moderne Wissenschaft undTechnologie, Frankfurt

Tibi, Bassam, 1995: Krieg der Zivilisationen,Hamburg

Wulf, Hans Albert, 1987: ,,Maschinenstürmersind wir keine". Technischer Fortschrittund sozialdemokratische Arbeiter-bewegung, Frankfurt/New York

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Moderner Okkultismus zwischenGlauben und Wissen

von Hartmut Zinser

Geschichtliches: Vom Vernunftglaubenzum Okkultglauben

1848 war nicht nur das Jahr derbürgerlichen Revolution in Deutschland unddas Erscheinungsjahr des KommunistischenManifestes mit dem von Marx beschworenenGespenst des Kommunismus, sondernzugleich das Jahr, in welchem von den Ge-schwistern Fox in Hydesville im Staat NewYork merkwürdige Klopfgeräusche in ihremHause als Mifteilungen des Geistes einesVerstorbenen gedeutet wurden und dieseokkulte Deutung von einemaufnahmebereiten Publikum bereitwilligangenommen wurde. Von dort nahm, wennman den Berichten glauben darf, eine Welleder Begeisterung ihren Ausgangspunkt. Dieseverbreitete sich auch rasch nach Europa undführte bald zur Gründung von spiritistischenZirkeln, in denen - wiederum den Berichtenzufolge - Erstaunliches geschah. Beiabgedunkeltem Licht ließen Medien genanntePersonen Tische schweben oder schwebtenselber im Zimmer, lasen Gedanken oderließen Gedanken sich materialisieren,machten Geisterschriften erscheinen undbefragten schließlich sogar Tote1. Baldwurden an verschiedenen OrtenGesellschaften gegründet, die diese von denNaturwissenschaften für unmöglich ge-haltenen, von den Geistes- und So-zialwissenschaften seit der Aufklärung2 zuGespinsten der menschlichen Phantasieerklärten Phänomene ,,seriös" untersuchenwollten, z.T. unter Beteiligung ausgewiesenerWissenschaftler3. Es war dies zugleich dieZeit, in der die Naturwissenschaften viele dasPublikum in Erstaunen versetzendeEntdeckungen4 machte, die kaum wenigerunwahrscheinlich waren als jene von denOkkultisten und Spiritisten mitgeteiltenPhänomene, vor allem aber vom allgemeinenPublikum ebensowenig nachprüfbar. Dieseswar durch den raschen Fortschritt der

naturwissenschaftlichen Erkenntnisse mitihren immer aufs neue überraschendenErfolgen wie ebenso durch die Bedingungen,unter denen diese Erkenntnisse gemachtwurden, in die Position des Glaubenden ver-setzt, dem es praktisch nur in Ausnahmefällenbei einer entsprechenden fachlichenVorbildung und einem Zugang zuentsprechenden Labors möglich ist, dieseErkenntnisse theoretisch nachzuvollziehenoder gar nachzuprüfen. Spätestens zu diesemZeitpunkt verwandelte sich der Vernunft-glaube der Aufklärung in einen Wis-senschaftsglauben, der uns heute durch dieweitere Spezialisierung der einzelnenWissenschaften und ihrer Methoden freilichin ungleich größerem Maße aufgenötigt ist.Die Tatsache aber, daß die meisten Erkennt-nisse vieler Wissenschaften ,,geglaubt"werden müssen und die ,,Spezialisten" sichvorbehalten, über richtig und falsch, möglichund unmöglich zu entscheiden, wird zumVorbild eines intellektuellen Verhaltens, dasauch von den Spezialisten und Medien desOkkultismus in Anspruch genommen wurde,die einem glaubensbereiten Publikum unterden von ihnen arrangierten Bedingungenerstaunliche ,,Experimente" vorführenkonnten. Diese gehören allerdings heute zumalltäglichen Repertoire eines jedenUnterhaltungsmagiers. Die modernenWissenschaften verlangen vom Laien eine,,Glaubensbereitschaft"5. Ein an der gesell-schaftlichen ,,Vernünftigkeit" irregewordenesPublikum ist allzuleicht bereit, dieseGlaubensbereitschaft auf alles zu übertragen,was mit dem Anspruch des Wissens auftritt.In diesem Glauben an ein ,,wissbares" Über-natürliches ließ sich dieses Publikum auchnicht erschüttern, als Magret Fox am 28.9.1888 die Tricks, mit denen sie und ihreSchwester das Publikum genasweist hatten,offen legte, wie ebensowenig durch diezahlreichen Überführungen und Selbstoffen-barungen von Medien, die wie Henry Sladezugaben, ,,daß alle seine angeblichenManifestationen betrügerisch waren und sind,ausgeführt mittels Tricks"6. Im Gegenteil,man erhält den Eindruck, daß das Publikumreagiert wie der Parapsychologe HansBender. Dieser meinte aus der Überführung

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einer seiner Poltergeistmedien noch eineBestätigung für seinen Okkultglauben ziehenzu können: Durch nichts sei bewiesen, daßauch die vor der Aufdeckung behauptetenPoltergeist-erscheinungen durch ganznatürliche Verfahrensweisen zustandegekommen seien. Vielmehr sei das Mediumdurch die Untersuchungen dermaßen unterDruck geraten, daß es nun unter Beobachtungdie Phänomene natürlich habe hervorbringenmüssen, die vorher durch Psy-Kräfteentstanden seien7.

Es ist vielleicht nicht überflüssig, daraufaufmerksam zu machen, daßselbstverständlich der Glaube an einewissenschaftliche Erkenntnis prinzipiell vondem in einer Religion geforderten Glauben aneine Offenbarung zu unterscheiden ist. DerGlaube an einen wissenschaftlichen Lehrsatzoder eine Erkenntnis ist immer nur einbedingter, die früheren Erkenntnisse mögendurch weitere wissenschaftliche Arbeitkorrigiert, sogar revidiert werden. Nur durchdie prinzipielle Revidierbarkeit undÜberprüfbarkeit von allem und durch alle istder Anspruch der Wissenschaft aufVerbindlichkeit begründet. Wenn dieseprinzipielle Revidierbarkeit aufgegeben wird,wird die Wissenschaftlichkeit aufgehoben.Für den religiösen Glauben hingegen ist dieOffenbarung absolut. Wenn man denGlauben an die eine Religion konstituierendeOffenbarung aufgibt, verläßt man die sozialeGemeinschaft, die durch diesen Glaubenkonstituiert wird, und ebenso diese Religion.Glaubenssätze sind deshalb nur für ihreAnhänger, nicht für andere verbindlich. Diemodernen Wissenschaften versetzen aber denLaien in die Lage dessen, der eine Erkenntnisoder einen wissenschaftlichen Lehrsatz fürwahr halten muß - kaum ein Wissenschaftlerwird einem fachlich unqualifizierten Laien imErnst gestatten, die wissenschaftlichenErkenntnisse zu bezweifeln. Für dasLaienpublikum - was die meistenWissenschaften betrifft, gehören wir alle dazu- verwischen sich leicht diese Unterschiede inder Qualität des Glaubens. Auch wird dieseVerwischung zumindest von einigenSpezialisten des Okkultismus oder - wie esseit Max Dessoir auch heißt - der

Parapsychologie und schließlich im New Agegefördert, so daß man heute nicht nur unterStudenten die Meinung verbreitet findet, daßzwischen Wissen und Glaube kein wirklicherUnterschied bestehe.

Durch die sozialen Prozesse, in denen diemodernen Wissenschaften Geltung erlangen,bringen die Wissenschaften, vor allem dieNaturwissenschaften8 selber die Glau-bensbereitschaft hervor, die für den modernenOkkultismus konstitutiv ist. Der moderneOkkultismus ist deshalb als ein Produkt dieserWissenschaften anzusehen, nicht als ein Re-kurs auf religiöse und vorwissenschaftlicheVorstellungen und Praktiken, so sehr in ihmsolche Verwendung finden. Dies wird auchdurch die Art, wie seine Vorstellungen undPraktiken angeeignet werden, bestätigt. Diewichtigste Informationsquelle der Okkult-anhänger sind Bücher und Zeitschriften;9

andere Personen, wie zum Beispiel Erwach-sene für Jugendliche, spielen nur eineuntergeordnete Rolle. Die okkultenKenntnisse beruhen nicht auf einer direktenTradition, sondern werden vornehmlich durchLektüre, also einen Bildungsvorgang, ange-eignet. Ich habe den Okkultismus deshalbeinmal als ,,Bildungsaberglaube" be-zeichnet.10

Die Ursachen für diese Glau-bensbereitschaft sind vielfältig, sogar in sichwidersprüchlich; nicht zuletzt ist sie darinbegründet, daß in den auf das ,,wirksameVerfahren" sich beschränkenden Wissen-schaften der Mensch mit seinen Bedürfnissen,Hoffnungen und Ängsten nicht mehrvorkommt. Verwirrt in seinem religiösenGlauben und ohne die dadurch verursachtenSpannungen aushalten zu können, verlangtdas Publikum ein Wissen, z.B. was nach demTode sei, das die Wissenschaften nichtbeantworten können. Es glaubt bereitwillig,was als ,,höheres Wissen auftritt", welchesdiese ,,von der offiziellen Wissenschaft nochnicht allgemein anerkannten Erscheinungendes Natur- und Seelenlebens" ,,allseitig"erforschen will, wie K. Kiesewetter bereits1909 schrieb.11 Nicht erst Hans Drieschmeinte, durch die Untersuchung der,,okkulten Phänomene" die ,,Frage desÜberlebens der Person" einer Beantwortung

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zugänglich machen zu können; und dieseFrage bleibe nun ,,einmal das Hauptproblemaller Wissenschaften, mögen auch unsereoffiziellen Philosophen und Psychologen fastalle einen weiten Bogen um sie machen undtun, als ob sie sie überhaupt nicht sehen; undmögen auch gewisse formalistischePhilosophengruppen nur im Rahmen desMathematischen ,,sinnvolle" Fragen über-haupt zulassen".12

Im Unterschied zu den meistenWissenschaften wendet sich der Okkultismusan den Menschen mit seinen Fragen, seinenÄngsten und Wünschen und hat inindividuellen und sozialene Krisensituationeneine periodisch zunehmende Faszinati-onskraft, wie sie in den zwanziger Jahren,während des Zweiten Weltkrieges und in denletzten Jahren beobachtet werden konnte. Dermoderne Okkultismus suggeriert eineSynthesis allen Wissens, Handelns undGlaubens in einem ganzheitlichen Weltbild,in dem auch jeder einzelne sich mit seinenProblemen als psychisches und physischesWesen aufgehoben wähnen kann und auchnoch die kleineren und größeren, aber nieausbleibenden Katastrophen des Lebensdurch kosmologische Spekulationen einenSinn erhalten sollen. Daß dieses Weltbild vonniemandem tatsächlich expliziert ist und nachder Auffassung mancher Esoteriker auch garnicht öffentlich dargestellt werden kann unddarf, sondern eben okkult, verborgen bleibenmuß, tut seiner Wirkung keinen Abbruch. DerGlaube an dieses Weltbild lebt von der Kraftder Wünsche und Ängste der Menschen unddie Vision eines solchen ganzheitlichenWeltbildes genügt deshalb vielen, um sichvon seiner Existenz überzeugt zu fühlen.Tatsächlich stellen die verschiedenstenokkulten Auffassungen und Praktiken einsynkretistisches Konglomerat auswissenschaftlichen Lehren, Versatzstückenaus nahezu allen Religionen und anderenTraditionen der menschlichen Gattungsge-schichte dar, vor allem der heterodoxen undhäretischen Strömungen, die von denReligionen zurückgedrängt und, wo möglich,verborgen, okkult gemacht wurden.

Der moderne Okkultismus ist beileibenicht nur ein Phänomen, dem, wie es die

Presse, aber auch manche wissenschaftlicheVeröffentlichungen glauben machen wollen,Jugendliche und Schüler zwischen Spaß undErnst nachhängen, vielmehr üben inbestimmten sozialen Schichten, wie ich durchmeine Untersuchungen nachweisen konnte,Erwachsene häufiger und vor allemernsthafter okkulte Praktiken aus und hängenokkulten Vorstellungen in größerer Zahl anals Jugendliche.13 Davon zeugen auch diezahlreichen okkulten und esoterischenBuchhandlungen in fast allen Großstädten derBundesrepublik wie ebenso die regelmäßigstattfindenden ,,esoterischen Messen" vonHamburg über Berlin, Düsseldorf,Wiesbaden, Stuttgart bis München, die mitihren Angeboten und Preisen für Schülernormalerweise unerreichbar sind. Dermoderne Okkultismus ist keine spezifischeErscheinung der Jugendkultur; dies wäre eineVerschiebung des gesellschaftlichenProblems. Nicht nur in München legenProfessoren bei unangenehmen Sitzungen mitKollegen Edelsteine vor sich auf den Tisch,um deren negativen Einfluß abzuwenden,14

nicht nur in Berlin pendeln Psychiater undandere Doktores der Medizin über einemMedikament und der Hand des Patienten, umdie geeignete Behandlungsform zu erkunden,sondern auch ein ,,ehemaliger Außenministerzeigt im Fernsehen stolz die Halbedelsteine,die er immer in der Hosentasche trug - beiden wichtigen Ereignissen, die er zu gestaltenhatte". Und Th. Gandow weiß weiter zuberichten: ,,Immerhin ein Lehrer (!) undzeitweiliger Bundeswirtschaftsminister betontbei seiner diesbezüglichen Abtrittspresse-konferenz, er halte es selbstverständlich fürrichtig, daß sich ein Bundesminister fürangebliche Wunderheiler einzusetzen habe."15

Okkultismus ist kein Jugendphänomen, sosehr jugendlicher Protest und Wi-derspruchsgeist darin eine Rolle spielenmag, sondern eine Erscheinung unsererKultur.

2. Zur aktuellen Verbreitung desOkkultismus

Während über die Verbreitung vonokkulten Praktiken und Vorstellungen unter

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Jugendlichen mittlerweile einige empirischeUntersuchungen vorliegen,16 gibt es bishernur wenige Erhebungen über das Verhaltenunter Erwachsenen. Die Ergebnisse in denStatistiken zeigen, daß für ein Viertel derbefragten Jugendlichen okkulte Praktikenzwischen Spiel und Ernst zum Alltaggehören. Etwa drei Viertel meinen über diesePraktiken informiert zu sein, etwa die Hälftewünscht weitere Informationen. Vergleich-bare Untersuchungen in den alten Ländernder Bundesrepublik bestätigen dieses inWestberlin festgestellte Bild, während die Be-teiligung im Ostteil der Stadt deutlichdarunter lag. Von den befragten Erwachsenendes Zweiten Bildungsweges und in anderenAusbildungsinstitutionen haben etwa dieHälfte bereits einmal die eine oder anderePraktik ausprobiert und ein Viertel benutzt sienoch jetzt. Allerdings wird man mit einerVerallgemeinerung vorsichtig sein müssen, dain diesen Untersuchungen nur Erwachsene,die sich erneut in eine Ausbildungssituationbegeben haben, befragt werden konnten.Doch darf man diesen sozialen Gruppen eineindikative Bedeutung zusprechen.

Kartenlegen, besonders mit Tarot-Karten,ist von allen okkulten Praktiken dieverbreitetste (zwischen 15-37 Prozent),Gläserrücken wird vornehmlich vonJugendlichen ausgeübt. An SchwarzenMessen beteiligen sich im Westen 2 bis 2,4Prozent, Erwachsene seltener noch alsJugendliche. Die erschreckenden Berichteder Presse über Schwarze Messen gründenwohl doch auf einzelnen Vorkommnissen,durch deren perversen Reiz von Sex undGewalt die Medien ihre Auflagenzahlen zuerhöhen suchen. Auch wird unter SchwarzenMessen recht Verschiedenes verstanden. FürJugendliche zumal wird man auch zuberücksichtigen haben, daß eine nächtlicheVeranstaltung z.B. auf einem Friedhof einepubertäre Mutprobe darstellt, die auf dasBedürfnis der Jugendlichen nachAngsterlebnissen und Initiation verweist, wiesie auch z.B. im S-Bahn-Surfen und im Bun-jee-Jumping gesucht werden. Jugendliche undErwachsene scheinen sich überwiegend dochvon solchen extremen Praktiken ferrizuhalten.Nicht in solchen exzentrischen Ver-

anstaltungen darf das Problem gesehenwerden - Exzentriker hat es in allenGesellschaften und allen Kulturen gegeben -,sondern in der Erosion des modernenWeltbildes mit seinen Prinzipien derSelbstgestaltung und Selbstverantwortungdes Lebens.

Von allen von mir befragten Erwachsenenund Jugendlichen wurde ,,Neugier" alswichtigster Grund angegeben, an zweiterStelle wurde ,,Interesse amAußergewöhnlichen" aufgeführt und danach,,Unterhaltung". Dies verweist darauf, daß dieNeugier, die eigentlich in der Wissenschaftbefriedigt werden sollte, das Interesse amAußergewöhnlichen, welches traditionelleine Domäne der Religion ist, und schließlichdie ,,Unterhaltung", die unsere Mediengewähren sollten, vielen nicht erreichbar oderschal geworden ist, jedenfalls nicht dieBefriedigungen bietet, die erwartet werden.Daß viele Menschen diese nun in okkultenPraktiken und Vorstellungen suchen, kann alsEnttäuschung an unserer Wissenschaft, anden tradierten Religionen und an unsererKulturindustrie verstanden werden.

,,Orientierungs- und Entscheidungshilfe"wird nur von relativ wenigen als Grund fürihre Beteiligung an okkulten Praktikenangegeben. Wenn man allerdings die Gruppeder eine okkulte Praktik aktiv Ausübenden(etwa 25 Prozent aller Untersuchten)herausgreift, so wird dieser Grund von bis zu36 Prozent der Befragten angeführt, vor allemvon Erwachsenen, während kaum die Hälfteder Jugendlichen diesen Grund angibt. Diesscheint darauf zu verweisen, daß vieleMenschen auf die in ihrem Lebennotwendigen und von ihnen geforderten Ent-scheidungen nicht genügend vorbereitet sind,sie die Spannung der Verantwortung nichtaushalten können, aber auch, daß unsere Le-bensverhältnisse nicht so ,,vernünftig"erkennbar und verstehbar sind, wie esunserem Selbstbild entsprechen müßte. VieleMenschen suchen im Okkultismus, wieandere bei autoritativen neuen Religionen,Entlastung von der Verantwortung. DieserEindruck hat sich bei den zahlreichenqualitativen Gesprächen während derUntersuchungen bestätigt.

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Frauen und Mädchen sind am Okkultismusmehr interessiert und üben zwei bis vier Malso häufig okkulte Praktiken aus wie Männerund Jungen. Die Religionszugehörigkeit spieltfür die Beteiligung an okkulten Praktikenkeine differenzierende Rolle. Katholischeund evangelische Erwachsene und Jugendli-che verhalten sich wie ihre konfessionslosenAltersgenossen. Ebenso konnten in derSchichtenzugehörigkeit, die in denUntersuchungen nur indirekt am Schultyperfragt werden konnte, keine bedeutsamenUnterschiede des Verhaltens festgestelltwerden. Da es aus früheren Jahren keinevergleichbaren Untersuchungen gibt oderbekannt geworden sind, ist die Frage, ob wirin den letzten zehn Jahren wirklich eineSteigerung der Beteiligung an okkultenPraktiken zu verzeichnen haben, kaum zubeantworten. Allerdings sprechen einige indi-rekte Indizien für eine Zunahme (Verkauf vonokkulter und esoterischer Literatur,quantitative Ausdehnung von Angebotenokkulter Workshops, Eröffnung von entspre-chenden Buchhandlungen und anderen Lädenfür die Ausstattung mit den okkultenUtensilien).17

Die Verbreitung des modernenOkkultismus ist ohne Zweifel auch auf diedurch die modernen Entwicklungen vonGesellschaft und Religion (Säkularisierung)hervorgebrachten Veränderungen zurück-zuführen. Diese haben die Religionen, vonder Notwendigkeit, gesellschaftlicheVerbindlichkeit herzustellen, befreit und siewie alles andere auf einen Markt des Reli-giösen geworfen. Religion findet heutewesentlich nach Abschluß des Arbeitstages inder Freizeit statt, sie ist aus einer kollektiveVerbindlichkeit stiftenden Institution zu einerFreizeitangelegenheit geworden. Auf diesemMarkt müssen die Kirchen nun mit anderenAnbietern der Freizeitkultur: Autorennen,Fußball, Wochenendworkshops usw., undeben auch mit den Anbietern der Esoterik, desOkkultismus und der neuen Religionenkonkurrieren. Für viele Menschen gehört nunauch die Religion zu den ,,konsumierbaren"Gegenständen und Ereignissen, derenAngebote wechselnd je nach Kaufkraft inAnspruch genommen werden.18

3. Wahrnehmung und Deutung. ZurAbgrenzung von Religion, Magie,Wissenschaft undOkkultismus

Was der moderne Okkultismus ist, istweniger umstritten, als Vertreter desOkkultismus, der Parapsychologie undneuerdings des New Age glauben machenwollen. Vor allem sind die New Age, imOkkultismus und in der Parapsychologie ver-wischten Grenzen zwischen Wissen undGlauben und herkömmlich als Magie undAberglauben bezeichneten Praktiken undVorstellungen doch klarer, als es die,,Dunkelmänner der Psychic Research"(Adorno 19) insinuieren.

Natürlich kann man die von den jeweilsherrschenden religiösen Institutionenkritisierten, bekämpften und unterdrücktenStrömungen und Erscheinungen dermenschlichen Gattungsgeschichte okkultnennen. Allein diese Verwendung desBegriffs, wie er etwa von M. Eliade in seiner,,Geschichte der religiösen Ideen" gebrauchtwird, kann als Kriterium für Okkultismus nurdie Ausgrenzung von Vorstellungen undHandlungen durch die jeweils autoritativeReligion angeben. Die Ausgrenzung wirddabei zum einzigen Gemeinsamen desOkkulten, unter das dann jeweils, demeigenen Anspruch nach, völligVerschiedenes subsumiert wird. Je nach denMaßstäben einer Zeit würden in derGeschichte dann darunter philosophischeTexte, naturwissenschaftliche Abhandlungenoder vorchristliche religiöse Vorstellungenund Kulte fallen, also alles das, was eineKirche die Macht hatte, auszugrenzen undokkult zu machen -

Der moderne Okkultismus, von dem hier nurdie Rede ist, hat deutlich andere Merkmale.Dies erhellt sich allein schon daraus, daßheute keine gesellschaftliche Instanz, keineKirche das Recht und die Macht hat, okkultoder esoterisch genannte Schriften,Veranstaltungen und Praktiken zuunterdrücken oder zu verbergen.20 Vielmehrhat jeder die Freiheit, die nunmehr in denmeisten Buchhandlungen in großem Umfang

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angebotenen Schriften zu erwerben, an einemder zahlreich offerierten okkulten Workshopsteilzunehmen oder sich daheim die Karten zulegen und das Pendel zu befragen. Diese Frei-heit gilt es zu verteidigen, gerade auch fürAnhänger von Vorstellungen und Praktiken,die ich einer scharfen Kritik unterziehe.Aufgabe einer solchen Okkultismus-Kritikmuß eine Aufklärung nicht nur seinerfalschen Vorstellungen und Deutungen sein,sondern auch der in ihm sich Ausdruckverschaffenden Wünsche, Ängste undHoffnungen der Menschen, die in unsererindustriell-bürokratischen Lebenswelt oft-mals offensichtlich keine zureichendeBefriedigung erhalten. Eine Aufklärung kannnur gelingen, wenn sie sich mit den im Ok-kultismus mehr oder weniger verdecktverhandelten Wünschen und Hoffnungenverbündet.

Für den modernen Okkultismus gilt, daßdas, was unter diesem Begriffzusammengefaßt wird, nicht mehr durch eineKirche oder andere gesellschaftlicheInstanzen verborgen, okkult gemacht wird,sondern daß diese Vorstellungen und Prakti-ken nunmehr von ihren Anhängern selber alsokkult oder esoterisch bezeichnet werden.Aus einer Fremdbestimmung ist eineSelbstbestimmung geworden und es ist sehrdie Frage, was die Spezialisten des modernenOkkultismus eigentlich verbergen können(außer ihrer eigenen Unwissenheit, die sie alsnur den Eingeweihten zugänglich verbergen).Auf jeden Fall aber scheinen dieseSpezialisten sich beteiligt zu wähnen an derMacht, etwas verbergen zu können, und so istzu vermuten, daß sich die Faszination amOkkultismus auch aus unverarbeitetenGrößen- und Allmachtsphantasien speist.Auch mit diesen gilt es sich zu verbünden -freilich müssen wir sie uns mit Humorbewahren, ohne uns von ihnen beherrschen zulassen.

Der Theologe Hans-Jürgen Ruppert21

definiert: ,,Der Begriff Okkultismus -. - faßtweltanschauliche Richtungen und Praktikenzusammen, die beanspruchen, das Wissen undden Umgang mit den unsichtbaren, ge-heimnisvollen Seiten der Natur und desmenschlichen Geistes besonders zu pflegen.

Er bezieht sich einerseits auf bestimmteokkulte Praktiken wie Magie, Pendeln,Wahrsagen oder die Vielzahl spiritistischerPraktiken der Geister- und Totenbefragungmit Hilfe des wandernden Gläschens,klopfender Tische oder anderer Indikatoren.Andererseits ist aber auch das sogenannteGeheimwissen gemeint, wie es von okkultenWeltanschauungsgemeinschaften - - - in so-genannten Geheimwissenschaftensystematisiert wird, die den Horizont derherkömmlichen Natur- und Men-schenerkenntnis in okkulte Bereiche hineinerweitern. Da diese Bereiche in ihrer Realitätumstritten und nicht allgemein einsehbar sind,ist der Okkultismus seit jeher einTummelplatz von Täuschung undVerführung". Der Parapsychologe JohannesMischo22 schreibt dagegen unter Verwendungeiner Begriffsbestimmung von KarlKiesewetter: ,,Unter Okkultismus wird hierdie praktische und theoretische Beschäftigungmit den geheimen, verborgenen, von derWissenschaft noch nicht allgemein aner-kannten Erscheinungen des Natur- undSeelenlebens verstanden, die die gewohntenGesetzmäßigkeiten zu durchbrechen scheinenund vielfach als ,,übernatürlich" angesehenwerden."

Die Bestimmungen des Okkultismus vonKiesewetter, Mischo und anderen gehenexplizit oder implizit davon aus, daß den vonden Okkultisten behaupteten oderangenommenen Erscheinungen des Natur-und Seelenlebens eine äußere, von denwahrnehmenden und deutenden Menschenunabhängige Realität zukommt. DieseErscheinungen werden nur als von derWissenschaft noch nicht erkannte oder in ihrnoch nicht allgemein anerkannte betrachtet.Nun wird man hier deutlich unterscheidenmüssen. Denn selbstverständlich gibt es vielePhänomene, die von der Wissenschaft nochnicht erkannt oder verstanden sind, die in dasGefüge des wissenschaftlichen Weltbildesnicht integriert sind. Auch gibt es vergangeneEreignisse und Erscheinungen, die denWissenschaften wahrscheinlich immer unzu-gänglich bleiben werden; z.B. sind Aussagenüber die zukünftigen Entwicklungen immernur von begrenztem Wert, und ob es jemals

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gelingen wird, z.B. die Sprache des Chro-Ma-grion-Menschen zu rekonstruieren, bleibtmehr als zweifelhaft. Für die Sozial- undNaturwissenschaften gilt weitgehend, daß sienur Aussagen machen können über Ereignisseund Vorgänge, die Gegenstand kontrol-lierbarer Erfahrung und theoretischerDurchdringung sind.23 Alles auf JenseitigesBezogene, sei es wie in der Religion auf Gottoder wie im Okkultismus z.B. auf Geister, diedurch ihre Definition als unsichtbare Wesendirekter Erfahrung mit den von denWissenschaften entwickelten Methoden nichtzugänglich sein sollen, wird aussystematischen und methodischen Gründenals nicht der Erkenntnis, nicht dem Wissenzugänglich abgewiesen. Der Gerichtsmedi-ziner O. Prokop kann deshalb als Definitiondes Okkultismus schreiben: ,,Bedeutung imwissenschaftlichen Sinn: okkult = verborgen,geheim. Dinge, die sich einer wissenschaftli-chen Beurteilung entziehen, die fürwissenschaftliche Methodik verborgen (=okkult) sind."24 Als Erklärungen werden inden Sozialwissenschaften nur Soziales undGeschichtliches, in den Naturwissenschaftennur Natürliches usw. anerkannt. Dabei istdurchaus einzuräumen, daß in denWissenschaften Theorie- und Vorstellungs-elemente enthalten waren und sind, die ausder animistischen, mythologischen oderreligiösen Vorstellungswelt25 der menschli-chen Gattungsgeschichte stammen. Auchbleibt festzuhalten, daß den Wissenschaftenviele Erscheinungen und Prozesse nochunbekannt und unverständlich sind.

Aber diese Tatsache bedeutet dennochnicht, daß diese Vorgänge und Ereignissedeswegen okkult sind. Die Unkenntnis bleibtein Nichtwissen und kein Recht besteht, ausder Unwissenheit Aussagen über die Ei-genschaften des Unbekannten herzuleiten.Okkult werden die unerkanntenErscheinungen erst in einer bestimmtenDeutung, indem dem UnbekanntenEigenschaften, wie z.B. die Wirkung vonGeistern zu sein, zugeschrieben werden. Diesist am leichtesten bei den mechanischen Vor-gängen erkennbar, die der Okkultismusheranzieht, um Mitteilungen der Geister,Verstorbenen, der Extraterrestrischen oder

eines ,,Plan- und katalog-tragendenWeltsubjekts"26 zu erhalten. Ein an einemStativ aufgehängtes Pendel z.B. bewegt sichnur nach den physikalischen Gesetzen undkommt nach Abgleichung der Energie zurRuhe. Ein über einen Finger gelegtes Pendelerhält durch den das Pendel haltendenMenschen ständig neue Energie und dadurchBewegung. Diese Bewegungen sind bewußtoder unbewußt gesteuert (Carpenter-Effekt).Die Bewegung des Pendels kann unterLaborbedingungen genau beobachtet werden,und es reagiert, wie die als physikalischeGesetze bezeichneten Regeln angeben. KeineGeister etc. sind für eine Erklärung derverschiedenen Ausschläge erforderlich. Eszeigt sich also, daß nicht der Vorgang desPendelns okkult ist, sondern die Deutungdieses Vorgangs in einem bestimmtenWeltbild. Okkultismus ist deshalb keineSache an und für sich, okkult keineEigenschaft, die den Dingen und Vorgängenselber zukommt, sondern ein bestimmtesWeltbild, das mit den Grundsätzen dermodernen Wissenschaft nicht vereinbar ist.

Der Grundfehler des Okkultismus ist, daßer nicht, auf jeden Fall nicht zureichend,zwischen Wahrnehmung und Deutungunterscheidet. Dies kann man an allenokkulten Praktiken zeigen, sofern sie unterwissenschaftlichen Bedingungen beobachtetwerden können. Der Okkultist geht mit einemvorher bestehenden Wahrnehmungsmuster andie Erscheinungen heran und sieht dann das,was er sehen will bzw. was durch dasWahrnehmungsmuster zu sehen vorgegebenist.

Nun werden bei wissenschaftlichenUntersuchungen vorher Hypothesen underkenntnisleitende Fragen gebildet, undzumindest insoweit gehen auch inwissenschaftliche Vorstellungen auf früherenErfahrungen basierende Begriffe,Vorannahmen und von bewußten oderunbewußten Wünschen und Ängstengetragene Projektionen ein. Aber die Wissen-schaft ist bemüht, diese Vorannahmen undWahrnehmungsmuster aufzuspüren. Sofernsich Wissenschaft auf Soziales, Geschicht-liches und Psychisches bezieht, also den Men-schen selber zum Gegenstand der Erkenntnis

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macht, ist sie von derartigen Wahrnehmungs-und Urteilsverzerrungen besonders betroffen,denn soziale Realität konstituiert sich wesent-lich auch durch die gesellschaftlichenVorstellungen. Aber die Wissenschaft hatz.B. in der methodischen Selbstkritik,besonders in der systematischen Frage nachden Erscheinungen und Überlegungen, dieder eigenen Position widersprechen, einVerfahren entwickelt, mit dem sie solchenvon Wünschen und Ängsten hervorgerufenenProjektionsbildungen beikommen kann. Essei nicht bestritten, daß dies schwierig ist. DaWissenschaft auch von sozialen Interessendirigiert, jedenfalls nicht unabhängig ist vondenen, die sie betreiben oder in derenInteressen sie betrieben wird, haben dieseSchwierigkeiten auch gerade in den Sozial-wissenschaften zu vielen die Wahrnehmungleitenden kritisierbaren Theoriebildungengeführt. Das Eingeständnis der Unzu-länglichkeit des Wissens, der Unwissenheit invielen Dingen, muß wohl zu einer Beschei-denheit des Anspruchs der Wissenschaftführen, kann aber keine Rechtfertigung sein,falsche Anschauungen und Theorien als,,höheres Wissen" auszugeben undanzuerkennen. Vielmehr wird nach denWünschen, Ängsten und Projektions-bildungen gefragt werden müssen, die Men-schen veranlassen, eine okkulte Deutung vonmeist bekannten Vorgängen anzunehmen.Eine Realität haben die Vorstellungen desmodernen Okkultismus eben in den Gedankender Menschen, die von ihnen überzeugt sind.

Der moderne Okkultismus behauptet in derRegel, Wissen zu sein, und unterscheidet sichdadurch von herkömmlich ,,abergläubisch"oder ,,magisch" genannten Vorstellungen undHandlungen z.B. vorindustrieller Kulturen,von denen nicht beansprucht wird, Wissen imwissenschaftlichen Sinne zu sein, sonderneben Glaube ,,Aberglaube" und ,,Magie" sindGlaubensgebilde, die nach den Lehren derKirche ein falscher Glaube seien und deshalb,,Aber-Glaube" genannt werden. Der moderneOkkultismus behauptet zugleich nicht nur,daß es ein Jenseitiges zu unserer erfahrbarenWelt gebe - das machen die meisten Reli-gionen auch -, sondern auch, daß er durchgeeignete Methoden dieses erkennen und sich

verfügbar machen könne. Dadurchunterscheidet er sich von den christlichen undden monotheistischen Religionen, in denenein absolut Jenseitiges eben geglaubt wird,das durch keine Mittel verfügbar gemachtwerden kann. Der Okkultismus macht ausdiesem religiösen Jenseitigen undVerborgenen ein durch technische Verfahrenzugängliches ,,Zeitliches, Diesseitiges, Endli-ches".27 Der Okkultist verwandelt das absolutJenseitige der christlichen undmonotheistischen Religionen in einEmpirisches; er respektiert die Würde desGlaubens nicht und überschreitet zugleich dieMöglichkeiten und Grenzen der Wissen-schaften.

Der Okkultismus versucht meist mittechnischen Mitteln eines Jenseitigen,Transzendenten, des Geistigen habhaft zuwerden, welches in der industriell-bürokratischen Lebenswelt verloren zu gehenscheint. Damit macht er den Geist zu einerSache und stellt, wie der Philosoph Th. W.Adorno schrieb, ,,das Komplement zurVerdinglichung" dar.28 Er Verdinglicht denGeist, indem er die Geister aus dem Pendeln,dem Tonband, den Karten, kurz aus techni-schen und mechanischen Vorgängen sprechenläßt, und wiederholt darin dieAlltagserfahrungen der Menschen, die in ihrerArbeit, in der Bürokratie, in denWissenschaften, bisweilen sogar in ihrenpersönlichen Beziehungen zu anderenMenschen zu oft sich als Sache und nicht alslebende Wesen erleben und so behandeltwerden. Das Bedürfnis der Menschen, denAlltag, das, worin sie zur Sache werden, zuüberschreiten, ist ernst zu nehmen und gegendie Verdinglichungen des Geistes, wie ihn derOkkultismus anbietet, zu verteidigen.

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung derZeitschrift für Missionswissenschaft undReligionswissenschaft (=ZMR), Münster (78. Jg., Heft4, 1994)

1 Zum einzelnen vgl. z.B. die Berichte von F.MOSER. Der Okkultismus. Tatsachen undTäuschungen, Bd. 1 und 2, Zürich 1935.

2 Vgl. I.. Kant, Träume eines Geistersehers, erläutertdurch die Träume der Metaphysik, 1766.

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3 Vgl. z. B. die Gründung der ,,Society for PsychicalResearch" 1882 in London.

4 Man denke etwa an die von Hertz 1887/88entdeckten elektromagnetischen Wellen, die - fürden Menschen ohne Hilfsmittel unsichtbar -Fernwirkungen hervorbringen, durchMetallschichten dringen, kurz: den von derklassischen Mechanik aufgestellten Regelnwidersprechen; diese Entdeckung eröffnete eine,wenn man so will, andere Wirklichkeit", derenFolgen zuletzt in der Computertechnologie die Weltverändert haben. Ebenso sei an die Entdeckung derRöntgenstrahlen und der radioaktiven Strahlenerinnert, um nur drei Beispiele genannt zu haben.

5 Vgl. W. GUBISCH, Hellseher, Scharlatane,Demagogen? München-Basel 1961.

6 Vgl. H.-G. STUMPF, Entgeistert, München 1991,40. Vgl. auch O. PROKOP / W. WIMMER, Dermoderne Okkultismus, Stuttgart 1987; H. BENDER(Hg.), Macht und Ohnmacht des Aberglaubens,Pähl 1993.

7 Vgl. H. BENDER, ,,Der Rosenheim-Spuk",in:Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebieteder Psychologie 1 (1968) 104-112; DERS.,,,Moderne Spukforschung - Ein Plädoyer für einevorurteilsfreie Forschung", in: J. BELOFF Hg.)Neue Wege der Parapsychologie, Freiburg 1980

8 Vgl. TH. W. ADORNO / M. HORKHEIMER,Dialektik der Aufklärung (1947), Frankfurt. 1981,2: ,,In der Meinung, ohne strikte Beschränkung aufTatsachenfeststellung und Wahrscheinlichkeits-rechnung, bliebe der erkennende Geist allzuempfänglich für Scharlatanerie und Aberglaube,präpariert es den verdorrenden Boden für diegierige Aufnahme von Scharlatanerie und Aber-glaube".

9 Vgl. H. ZINSER, Jugendokkultismus in Ost undWest, München 1993, Tabellen auf S. 62, 64, 66,95, 96.

10 Vgl. H. ZINSER, ,,Wissenschaftsverständnis undBildungsaberglaube", in: P. ANTES / D.PAHNKE, Die Religion von Oberschichten,Marburg 1989, 257ff.

11 Vgl. K. KIESEWETTER Geschichte des neuerenOkkultismus, Leipzig 1909, 9.

12 H. DRIESCH, Parapsychologie (1932), Frankfurta.M. 1984, 122f

13 Vgl. H. ZINSER, Jugendokkultismus in Ost undWest, darin die Untersuchung II und III, 29-66.

14 Vgl. den Bericht in der Süddeutschen Zeitung vom20. Juli 1988.

15 Vgl. TH. GANDOW, im Vorwort zu H. ZINSER,Jugendokkultismus in Ost und West.

16 Vgl. H. ZINSER, Jugendokkultismus in Ost undWest; J. MISCHO, Okkultismus bei Jugendlichen,Ergebnisse einer empirischen Untersuchung, Mainz1991. Nicht ohne Vorbehalte sei auch U.MÜLLER, Ergebnisse einer Umfrage unterbayerischen Schülern und Schülerinnen zu

Okkultismus und Spiritismus, Regensburg 1989,angeführt.

17 In einer kleinen, geschichteten Umfrage inländlichen Gegenden unter Jugendlichen von 14 bis16 Jahren konnte ich allerdings 1994 einedrastische Zunahme der Beteiligung feststellen;jeder zweite Jugendliche übt danach die eine oderandere Praxis aktiv aus, gleichzeitig hat sich dieErnsthaftigkeit und Betroffenheit allerdingsdeutlich vermindert. Da die Untersuchungen nochnicht abgeschlossen sind, möchte ich mich bei derInterpretation dieses Ergebnisses vorläufig nochzurückhalten. Zwar ist eine Zunahme derBeteiligung an okkulten Praktiken in den letztenfünfiahren wohl nicht zu verleugnen, jedoch magdiese auch der ländlichen Struktur desUntersuchungsgebietes (Begrenztheit undUnerreichbarkeit von Freizeitangeboten fürJugendliche) als auch der mittlerweileeingetretenen Enttabuisierung (veränderteNormerwartungen) durch die Behandlung desThemas in den Medien geschuldet sein. Da auchhier als Hauptinformationsquelle Zeitschriften undBücher angegeben wurden (70 Prozent), kann diehohe Beteiligung nicht - wie es manchmal zu lesenist der ländlichen Tradition zugeschrieben werden

18 Vgl H. ZINSER Religion auf dem MarktWiderspruch 26, Zürich 1993 15-27. Vgl. auch:DERS., „Ist das New Age eine Religion? Oderbrauchen wir einen neuen Religionsbegriff?“, in:ZRGG 44 (1992) 33-50

19 TH. W. ADORNO, ,,Thesen gegen den Okkul-tismus", in: Minima Moralia, Ges. Schriften, Bd. 4,Frankfurt a.M. 1980, 272.

20 Selbstverständlich gelten auch in diesem Bereichunseres Lebens die allgemeinen Gesetze.

21 H.-J. RUPPERT Okkultismus - Geisterwelt oderneuer Weltgeist? Wiesbaden 1990,11.

22 J. MISCHO, ,,Okkultpraktiken Jugendlicher", in:Materialdienst der EZW, Sonderdruck Nr.17,Stuttgart 1988, 7.

23 Vgl. I. KANT, Kritik der reinen Vernunft, Ein-leitung, Werke in 12 Bdn., Bd. III, Frankfurt a.M1956. Für unseren Zusammenhang ist es dabeiunerheblich, welchen ,,ontologischen" Status die,,Wirklichkeit", auf die sich die Aussagen beziehen,zuerkannt erhält.

24 O. PROKOF / W. WIMMER, Der moderne Qkkul-tismus, Stuttgart 1987.

25 Dies ist nicht als eine geschichtliche Entwicklungzu verstehen, vielmehr bestehen animistische,mythologische und religiöse Vorstellungen, wasimmer darunter konkret zu verstehen sei, immernebeneinander.

26 Vgl. H. DRIESCH, Parapsychologie, 116, 111 f.Neuerdings taucht dieses ,,KatalogtragendeWeltsubjekt" unter dem Namen,,morphogenetische Felder" wieder auf, vgl. R.SHELDRAKE, Das Gedächtnis der Natur,

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München 1990, 383; zur okkulten Qualität dieserFelder vgl. 379 und 391.

27 Vgl. P. TILLICH, Die religiöse Lage der Gegen-wart, Berlin 1926,11 0ff

28 TH. W. ADORNO, Thesen gegen den Okkultismus,323. ,,Okkultismus ist eine Reflexbewegung auf dieSubjektivierung allen Sinnes, das Komplement zurVerdinglichung. wenn die objektive Realität denLebenden taub erscheint wie nie zuvor, so suchensie ihr mit dem Abrakadabra einen Sinn zuentlocken."

Die Autoren

Ewald, Thomas, geb. 1955; Studium derGesellschaftslehre und Germanistik an derUniversität Gesamthochschule Kassel;Fachbereichsleiter für politische Bildungund berufliche Weiterbildung an derGesamt-Volkshochschule Kassel.

Jaschke, Professor Dr. Hans-Gerd, geb. 1952;Studium der Germanistik, Politik undPädagogik an der Universität Frankfurt/M.;Professor für Politikwissenschaft undSoziologie an der Fachhochschule fürVerwaltung und Rechtspflege Berlin.

Zinser, Professor Dr. phil. Hartmut, geb.1944; Studium der Religionswissenschaft,Soziologie, Alte Geschichte undEthnologie in Berlin und an der Universityof Pennsylvania (USA); Professor für Reli-gionswissenschaft an der FreienUniversität Berlin

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Eine Schriftenreihe derHessischen Landeszentralefür politische Bildung


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