+ All Categories
Home > Documents > Heaps of Dead Language und Friedhof der Worte - Russische...

Heaps of Dead Language und Friedhof der Worte - Russische...

Date post: 13-Dec-2016
Category:
Upload: bernd
View: 212 times
Download: 0 times
Share this document with a friend
21
BERND UHLENBRUCH Heaps öf Dead Language und Friedhof der Worte Russische Parallelen zu James Joyce Einer der mit Sicherheit meistreflektierten und meistinterpretierten Ter- mini aus dem ästhetischen Begriffsinventar des frühen James Joyce ist der in Stephen Hero eingeführte Begriff der Epiphanie (epiphany) 1 . In der Deutungs- geschichte dieses Begriffes haben sich unterschiedliche Interpretationsmodi, ja -schulen profiliert, welche gegeneinander mit bisweilen heftiger Polemik argumentieren. Als Vertreter einer extensiven Interpretationsweise sind Irene Hendry und Maurice Beja hervorgetreten. Hendry begreift Epiphanie als eine „Technik" („technique") 2 , unter die sich das gesamte Spektrum der Joyceschen Stilverfah- ren subsurnieren läßt. Vom tropisch-figürlichen Apparat über Erzählverfahren bis hin zu „Leitmotiven" wird das gesamte Werk zum „tissue of epiphanies, great and small, from fleeting images to whole books, from the briefest revelation in his lyrics to the epiphany that occupies one gigantic enduring ,moment c in Finnegan's Wake" 3 . Für Beja ist jede von der Norm der jeweiligen literarischen Epoche abweichende Erzählweise epiphanisch. Epiphanie bezeichnet eine Dis- proportion 4 , Verstöße gegen Konventionen erzählerischer Zeitdarstellung, Ver- letzungen gültiger Sujetregeln, suggestives, unmotiviertes Erzählen. Es war Robert Scholes, der Mitherausgeber der erhaltenen Urepiphanien James Joyces 5 , der in einer ungewöhnlich scharf formulierten Replik auf eine Studie von Florence L. Walzl 6 jener Tendenz, das Werk Joyces summarisch als eine Verkettung epiphaniehafter Momente zu deuten, ohne über das Funk- tionieren ebenjener Momente im Ganzen des Textes zu reflektieren, eine puristische, restriktive Konzeption von Epiphanie entgegenstellte, die, so 1 Bei Joyce heißt es: By an epiphany he meant a sudden Spiritual Manifestation, ivhether in the vulgarity of Speech or of gesture or in a memorable phase of the mind itself. He believed that it was for the man of letters to record these epiphanies with extreme care, seeing that they themselves are the most delicate and evanescent of moments. (James Joyce: Stephen Hero, hg. v. H. Slocum, H. Cahoon, London, Toronto, Sydney, New York 21981, 188 [zit.: Stephen Hero}.} 2 Joyce 9 s Epiphanies, in: The Sewanee Rev. 44 (1946), 449-467, hier: 462. 3 Ebd. 461. 4 Epiphanie ist nach Bejas Joyce korrigierender Definition „a sudden Spiritual manifestation, whether from some object, scene, event, or memorable phase of the mind — the manifestation being out of proportion to the significance or strictly logical relevance of whatever produces it/* (Epiphany in the Modern Nove/, London 1971, 18.) 5 The Workshop of Dedalus James Joyce and the Raw Materials for ,A Portrait of the Artist äs a Young Märt\ hg. v. R. M. Kain und R. Scholes, Evanston (111.) 1965. 6 The Ltiurgy of the Epiphany Season and the Epiphanies of Joyce, in: PML A 80 (Sept. 1965), 436-450. 10 arcadia 21 Brought to you by | Heinrich Heine Universität Düsseldorf Authenticated | 132.74.1.4 Download Date | 8/26/13 8:20 PM
Transcript
Page 1: Heaps of Dead Language               und               Friedhof der Worte               - Russische Parallelen zu James Joyce

BERND UHLENBRUCH

Heaps öf Dead Language und Friedhof der WorteRussische Parallelen zu James Joyce

Einer der mit Sicherheit meistreflektierten und meistinterpretierten Ter-mini aus dem ästhetischen Begriffsinventar des frühen James Joyce ist der inStephen Hero eingeführte Begriff der Epiphanie (epiphany)1. In der Deutungs-geschichte dieses Begriffes haben sich unterschiedliche Interpretationsmodi,ja -schulen profiliert, welche gegeneinander mit bisweilen heftiger Polemikargumentieren.

Als Vertreter einer extensiven Interpretationsweise sind Irene Hendry undMaurice Beja hervorgetreten. Hendry begreift Epiphanie als eine „Technik"(„technique")2, unter die sich das gesamte Spektrum der Joyceschen Stilverfah-ren subsurnieren läßt. Vom tropisch-figürlichen Apparat über Erzählverfahrenbis hin zu „Leitmotiven" wird das gesamte Werk zum „tissue of epiphanies, greatand small, from fleeting images to whole books, from the briefest revelationin his lyrics to the epiphany that occupies one gigantic enduring ,momentc inFinnegan's Wake"3. Für Beja ist jede von der Norm der jeweiligen literarischenEpoche abweichende Erzählweise epiphanisch. Epiphanie bezeichnet eine Dis-proportion4, Verstöße gegen Konventionen erzählerischer Zeitdarstellung, Ver-letzungen gültiger Sujetregeln, suggestives, unmotiviertes Erzählen.

Es war Robert Scholes, der Mitherausgeber der erhaltenen UrepiphanienJames Joyces5, der in einer ungewöhnlich scharf formulierten Replik auf eineStudie von Florence L. Walzl6 jener Tendenz, das Werk Joyces summarischals eine Verkettung epiphaniehafter Momente zu deuten, ohne über das Funk-tionieren ebenjener Momente im Ganzen des Textes zu reflektieren, einepuristische, restriktive Konzeption von Epiphanie entgegenstellte, die, so

1 Bei Joyce heißt es: By an epiphany he meant a sudden Spiritual Manifestation, ivhether in thevulgarity of Speech or of gesture or in a memorable phase of the mind itself. He believed that it wasfor the man of letters to record these epiphanies with extreme care, seeing that they themselves arethe most delicate and evanescent of moments. (James Joyce: Stephen Hero, hg. v. H. Slocum,H. Cahoon, London, Toronto, Sydney, New York 21981, 188 [zit.: Stephen Hero}.}

2 Joyce9s Epiphanies, in: The Sewanee Rev. 44 (1946), 449-467, hier: 462.3 Ebd. 461.4 Epiphanie ist nach Bejas Joyce korrigierender Definition „a sudden Spiritual manifestation,

whether from some object, scene, event, or memorable phase of the mind — themanifestation being out of proportion to the significance or strictly logical relevance ofwhatever produces it/* (Epiphany in the Modern Nove/, London 1971, 18.)

5 The Workshop of Dedalus — James Joyce and the Raw Materials for ,A Portrait of the Artistäs a Young Märt\ hg. v. R. M. Kain und R. Scholes, Evanston (111.) 1965.

6 The Ltiurgy of the Epiphany Season and the Epiphanies of Joyce, in: P ML A 80 (Sept. 1965),436-450.

10 arcadia 21

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 132.74.1.4

Download Date | 8/26/13 8:20 PM

Page 2: Heaps of Dead Language               und               Friedhof der Worte               - Russische Parallelen zu James Joyce

146 Bernd Uhlenbrucb

Scholes, den von Joyce selbst umrissenen Rahmen nicht überschreiten darf7:„To use thts word [gemeint ist epiphany, der Vf.] to refer to an aspect of hiswork other than the one he [Joyce, der Vf.] intended by it is to gain a spuriousauthority for many a tenuous ,aper£u*, which might seem much less impressiveif not cloaked in the borrowed raiment of Joyce's phraseology."

Zehn Jahre vor Scholes* energischem Appell zur Selbstdisziplinierung derJoycekritik hatte bereits William T. Noon einen weiteren und, so scheint es,vielversprechenden Zugang zum Problem der Joyceschen Epiphanie gewiesen8.Noon widmete dem thomistischen Substrat der Joyceschen Ästhetik eine aus-führliche Würdigung und definierte Epiphanie als Produkt durchgestaltenderSpracharbeit, als Bewußtmachung strukturaler Zusammenhänge, als Sinnstif-tung und Entwurf von Bedeutung, als acumen-Konstruktion. Die vermeintlichimpressive Epiphanie verlangt nach der Operation mit der Sprache. Der kreativeProzeß, so kann Noon zeigen, ist ein sprachformender Prozeß. Wenn Joyceseinen Helden Stephen von der zum poetischen Text werdenden Erkenntnissprechen läßt, „he appears to be thinking of a knowledge which does not comefrom the ,yonder' but is constructed through a careful molding by words"9.

Ohne die Studie von Noon zur Kenntnis zu nehmen, kommt WalterHöllerer wenig später zu einer ganz ähnlichen Dimensionierung der Epipha-nie10.'Sie ist eine Umkehr kreativer Ereignisse: Nicht Erfahrung und Impres-sion suchen nach der ihnen angemessenen Sprache, sondern die Sprachemodelliert ihre eigene Wirklichkeit; denn „an den Höhepunkten der Prosa vonJoyce treiben Worterscheinung und sinnenhaft wahrgenommene Erscheinungeinander voran, wechselseitig, entzünden sich aneinander, holen die Vorstellun-gen ein und lassen sich von den Vorstellungen und Visionen auf neuenAugenblicksklippen und Wortgeschieben aussetzen"11.

Die Komplexität der um den Kern der Epiphanie zentrierten ästhetischenTheorie James Joyces hatte die Analytiker von Anfang an gereizt, Parallelenzu ziehen, analoge Entwicklungen aufzuzeigen, was bisweilen zur Herstellungvager und rein intuitiv empfundener Ähnlichkeitsrelationen geführt hatte.Hendry sprach pauschalierend von „Dubliners-Chekhov-Mansfield-New-Yor-ker manner"12, während Beja Paulus, Augustinus und den Zen D. Suzukisbemühte13. Anders als Hendry und Beja verzichtet Höllerer auf solche eherassoziative Zuordnungen und zeigt, sachlich und methodisch begründet, daßdie Epiphanieproblematik bei Joyce in die gesamteuropäische Sprach- undBewußtseinskrise des beginnenden XX. Jahrhunderts einzuordnen ist, alsderen Zeugen Ezra Pound, Hugo von Hofmannstahl, der junge Kafka, derjunge Musil und andere aufgerufen werden. Das scheinbar bis dahin Unaus-

7 The Epiphanies of Joyce /, in: PMLA 82 (March 1967), 152.8 Joyce and Aquinas, New Haven (Conn.) 1957, unveränderter Ndr. Hamden (Conn.) 1970.9 Ebd. 50.

10 Die Epiphanie als Held des Romans, in: Akzente (1961/2), 125-136.11 Ebd. 127 f.12 AaO. [Anm. 2] 454.13 AaO. [Anm. 4] 25.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 132.74.1.4

Download Date | 8/26/13 8:20 PM

Page 3: Heaps of Dead Language               und               Friedhof der Worte               - Russische Parallelen zu James Joyce

„Heaps of Dead Language" und „Friedbof der Worte" 147

sprechbare wird artikuliert und dringt, so Höllerer, „in die Formulierungendes wachen Bewußtseins"14.

Genau diese Sprachkritik, der experimentelle Umgang mit der Sprache alsAusdruck eines Mißtrauens in eine nicht mehr erlebbare Sprache wird jedochan keiner anderen Stelle des damaligen Europa mit der gleichen Dringlichkeitund mit einer geradezu frappierenden Deckungsgleichheit zu Joyce vorgetra-gen wie im Rußland der Jahre vor und nach der Oktoberrevolution. Dortformuliert eine Gruppe junger Literaten nahezu wörtlich kongruent zu denÄußerungen des Dubliner Studenten Stephen Dedalus eine literarische Ästhe-tik, welche es sich zur Aufgabe macht, den Materialcharakter und die Sprach-lichkeit von Literatur zu beschreiben und zu definieren. Viktor Sklovskijträgt 1914 in einem Petersburger Kabarett sein Referat Voskresenie slova (DieAufenveckung des Wortes)^ vor, in dem er angesichts des drückenden Erbes desRealismus des XIX. Jahrhunderts und des noch blühenden Symbolismus einesBrjusov und eines Barmont der Empfindung, von einem Friedhof toterWorte umgeben zu sein, Ausdruck zu verleihen sucht. Der Gedanke vonden Wahrnehmungsautomatismen, welche ein Nichtmehrerlebenkönnen vonSprache bewirken, vom Verlust der inneren Bildlichkeit, vom „Tod der Kunst",von der Versteinerung der Sprache wird in Petersburg mit beinahe der gleichenHeftigkeit erlebt wie im Dublin des Jahres 1904, und das Dubliner Unbehagenwird zwischen 1907 und 1914 in Triest in einem autobiographischen Diskursartikuliert: Im Dubliner Hörsaal he [der Student Stephen Dedalus] found himselfglancingfrom one casual word to another on bis right or left in stolid wonder that thejhad been so silently emptied of instantaneous sense until every mean shop legend boundbis mind like the words of a spell and bis soul shrivelled up sighing with age äs hewalked on in a lane among heaps of dead language. His own consciousness of languagewas ebbingfrom bis brain and trickling into the very words themselves which set to bandand disband in wayward rhythms:

And ivy wbines upon the wall,And wbines and twines upon the wall,Thejellow ivy upon the wall,Ivy, ivy up the wall.

Did anyone ever hear such drivel?1**Wo Sklovskij den Tod der inneren Bildlichkeit proklamiert und das dem

Substantiv hinzugefügte Epitheton als einen Versuch wertet, eine „abgestor-bene Bildlichkeit" (umeriaja obra^nost9} eben jenes Begriffes zu revitalisieren,welche dann ihrerseits infolge einer sich abermals einstellenden Geläufigkeit(privycnost'} zur Schablone erstarrt, wo das epitheton ornans mithin als ein nurtemporär wirksamer Versuch gewertet werden kann, eine schon dahinschwin-

14 AaO. [Anm. 10] 135.15 Ndr. in: Texte der russ. Formalisten ii, hg. v. W.-D. Stempel, München 1972, 2-17, [zit.:

Texte //].16 A Poftrait of the Artist äs a Young Man, in: The Essential James Joyce, hg. v. H. Levin,

Harmondsworth 1971, 51-252, hier: 191 f. [zit.: Portrait}.

10*

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 132.74.1.4

Download Date | 8/26/13 8:20 PM

Page 4: Heaps of Dead Language               und               Friedhof der Worte               - Russische Parallelen zu James Joyce

148 Bernd Ubhnbrucb

dcnde Poetizität zu konservieren, kann Stephen Dedalus ivy wbining on a wallnur als verkrampfte Bildlichkeit verstehen, das ,normale* jtf//0#> ivy hingegenerscheint ihm akzeptabel, doch nur deshalb, weil es die Assoziation zum nocherlebbaren jellow ivory und zu ivory ivy lenkt17: Lord Almightyl Wbo ever heardof ivy whining on a wall? Yellow ivy; that was all right. Yellow ivory also. And whatabout ivory ivy? Die jetzt einsetzende Epiphanie führt zu eben jenem Erlebender Sprache (und der Dinge), zu jenem pere^ivanie, das Slovskij pathetischbeschreibt18: „Die alten Wortbrillanten gewinnen ihren ehemaligen Glanzzurück." The word now sbone in bis brain, clearer and brighter than any ivory sawnfrom the Mottled tusks of elepbants. Ivory, ivoire, avorio, ebur™. ,Turris eburnea', dermetaphorische Elfenbeinturm der lauretanischen Litanei, hatte dem KnabenStephen den Stimulus geliefert, nach Sinn und Inhalt eines Begriffes zu suchen:Über „Elfenbeinturm" machen sich die Protestanten lustig20: How could awoman be a tower of ivory or a house of goldi Die Hände der protestantischenNachbarstochter vermitteln Stephen die Empfindung des rätselhaften Begriffes„Elfenbein"21: Eileen had long white hands. One evening when playing tig she hadputher hands over bis eyes: long and white and thin and cold and soft. That was ivory: acold white thing. That was the meaning of Tower of Ivory.

,Ivory* ist nur einer aus einer ganzen Reihe von Begriffen, zu denen dieFrage der Empfindbarkeit gestellt wird: Elfenbein konnotiert tusks und tusker^beides wiederum den Klassenkameraden Tusker Boyle. Boyle, der seine Händemanikürt, führt weiter zu „Hände", „Fingernägel". Und22: Eileen had long thincool white hands too because she was a girl. Tbey were like ivory; only soft. That wasthe meaning of Tower of Ivory but Protestant s could not understand it and made fun ofit. Jene Kontiguitätsassoziation (associacija po smefyiosti), von der der jungeRoman Jakobson sprach23, ist bei Joyce in den Kindheitsepisoden eine taktilund erotisch motivierte Assoziationskette24, die bei der Meditation über dennicht mehr erlebbaren quasi-poetischen Text The ivy whines upon the wall... zurAnalogieassoziation ivory\ivy und ivory> ivoire, avorio, ebur führt. Die Tropenket-ten des 1. Kapitels von A Portrait kulminieren in der nur noch aus dem Klangherleitbaren Trope iyy, ivory: Ivory, der mysteriöse, religiös und erotisch geladeneBegriff des Feldes Kindheit mündet aufgrund seiner Klangähnlichkeit in ivy,und ivy steht für die Partei Parnells, für das vom katholischen Klerus verrateneIrland. Stephens zweite Meditation über turris eburnea und über die Händeder Eileen findet signifikanterweise im Kontext des Weihnachtsmahles statt,welches mit einem Eklat endet, als Stephens antiklerikal eingestellter Vater

17 Ebd. 192.18 Drevnim brilliantam slov vosyrasiaetsja ich byloe sverkanie (Texte 77, 14).19 Portrait 192.20 Ebd. 76.21 Ebd.22 Ebd. 82.23 Novejsaja russkaja poe^ija, Ndr. in Texte 77, 18 —135, hier 28 f.24 Es würde den Rahmen sprengen, die in Symbolik umgesetzte Kette weiterzuverfolgen: cool

white hands steht in einer assoziativen Kontiguitätsrelation zu „Wasser", zu „Waschwasser",„Teewasser", zum schmutzigen Wasser des Abtrittgrabens, in den Stephen gestoßen wird,zu „Nässe des Bettes", „Nässe des Kusses". -„Kuß" wiederum assoziiert „Mutter" usw.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 132.74.1.4

Download Date | 8/26/13 8:20 PM

Page 5: Heaps of Dead Language               und               Friedhof der Worte               - Russische Parallelen zu James Joyce

„Heaps of Dead Language" und „Friedhof der Worte" 149

und sein Onkel Charles mit Stephens kirchentreuer Tante Dante streiten, aneinem Eßtisch under the ivytwined branches of the chandelier25.

Der Prozeß, den Joyce hier entwirft, entspricht in seinem Wesen genaujenem Prozeß, den Jakobson an einem Gedicht Chlebnikovs ausmacht, „derUmwandlung einer poetischen Trope in ein poetisches Faktum, eine Sujetkon-struktion"26. Allerdings läßt Joyce das Verfahren umgekehrt ablaufen: Dieassoziativen Ketten entwickeln sich unmerklich, das Schlußkapitel bringt dieendgültige Zusammenführung, die Epiphanie als „Bloßlegung des Kunst-griffs"27. Dem Leser wurde der Eindruck eines Ablaufs einer freien Assoziationsuggeriert, erst wenn er ,rückwärts* liest, erschließt sich ihm die Assoziationals ein von der sprachlichen Similarität gesteuertes und durchgeplantes Verfah-ren. Das KapitelS entlarvt die vermeintlich freien und unbeeinflußbarenAssoziationen als ein von langer Hand vorbereitetes Sprachspiel. In seinerChlebnikov-Arbeit zeigte Jakobson demgegenüber, wie ein similares Wortpaar,eine Analogiekomposition (kompo^icija analogif), wie ulica — ulej („Straße —Bienenkorb") und puli — pcely („Gewehrkugeln — Bienen") als datum gesetztwerden, aus dem heraus sich ein Sujet entwickelt28. Eine Ordnung der Spracheschafft eine Zuordnung von Dingen — bei Joyce wie bei Chlebnikov.

Die Applikation der Sklovskijsehen Trauer um den Tod der Worte für dieBeschreibung eines Todes der literarischen Form und deren Unfähigkeit, erlebtzu werden, versucht Jakobson an dem zum Gebrauchsgegenstand (predmetdomafaego obichoda) verkommenen Puskin zu zeigen29: „Puskins Verse [...]versteinern zum Kultobjekt [...]. Sie haben keinerlei selbständigen Wert undsind lediglich anstelle klingender Münze im Umlauf." D. Burljuk, A. Kruce-nych, V. Majakovskij und V. Chlebnikov erklären in ihrem Manifest „EineOhrfeige dem öffentlichen Geschmack" (Poscetcina obsiestvennomu vkusü) von1912 „die Akademie" und die Klassiker der russischen Literatur zu unverständ-lichen Hieroglyphen. Puskin, Tolstoj und Dostoevskij „sollen vom Dampferder Gegenwart" geworfen werden30. Des Weiteren proklamieren die russischenFuturisten „einen unüberwindlichen Haß auf die Sprache, die vor ihnenexistierte"31. Nach Jakobson hat Puskins Sprache die ihr einstmals eigene„erschwerte Form" (^atrudnennaja forma) eingebüßt und ist als „poetischesFaktum" (poeticeskij fakt\ d. h. als künstlerischer Text für die Gegenwartunverständlich geworden32. Eine in der Vergangenheit als Normbruch undStörung empfundene Poetik ist zum musealen und akademischen Denkmal

25 Porfrait69.26 prevra&enie poeticeskogo tropa v poettfeskij fakt, sju^etnoe postroenie (Texte II 36 f.).27 Zum Begriff „Bloßlegung des Kunstgriffs" (obnafynie priema) vgl. Viktor §klovskijs Aufs.

Parodinyj roman. y^ristram Sendy* Sterna, Ndr. dieses 1921 geschriebenen Aufs, in: Texte derruss. Formalisten 7, hg. v. J. Striedter, München 1969, 244—299, bes. 244f. [zit.: Texte}}.

28 Texte II, 80f.29 Stiebt Pufkina [...] okamenevajut, stav oV'ektom kufta. [...] Oni li&ny samostojatel'noj cennosti

i lif imejut cho^denie v^amen qyonkoj monety. Ebd. 20 f.30 Vgl. Literaturnye manifesty ot simvoli^ma k Qktjabrju, hg. v. N. L. Brodskij, V. Uvov-

Rogacevskij, N. P. Sidorov, Moskva 1929, Ndr. The Hague/Paris 1969, 77.31 Ebd. 78.32 Textell, 18 bzw. 21.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 132.74.1.4

Download Date | 8/26/13 8:20 PM

Page 6: Heaps of Dead Language               und               Friedhof der Worte               - Russische Parallelen zu James Joyce

150 Bertd Uhknbwh

erstarrt, sie wird, in der Terminologie Sklovskijs ausgedrückt, „wiedererkenn-bar", nicht jedoch „erkennbar**.

In Stephen Hero kommt es zu einem Dialog zwischen Stephen und seinenKommilitonen Cranly und Glynn: Stephen und Cranly denken über Bienen-zucht als Erwerbsquelle nach, und Stephen rezitiert Shelley33.

,1 will watch from dawn to gloomThe lake — reflected sun illumeThe yellow bees in the ivy bloomS

— tlllume'? said Cranly.— You know the meaning of jllume'?- Who wrote that?- Shelley.— Illume — it's just the word, d'ye know, for autumn, deep gold colour.— A Spiritual Interpretation of landscape is very rare. Some people think they write

spiritually if they make their scenery dim and cloudy.— Thai bit you said now doesn't seem to me Spiritual.— Nor to me: but sometimes Shelley does not address the eye. He says ,many a lake-

surrounded flute*. Does that strikeyour eye oryour sense of colour?— Shelley has aface that reminds me of a bird. What is it? ,The lake-surrounded sun

illume'?...— ,Tbe lake-reflected sun illume

Tbeyellow bees in the ivy bloom*— What are you quoting? asked Glynn who had just come out of the Library öfter

several hours of study.Cranly surveyed him before answering:— Shelley.— Of Shelley? what was the quotation again?Cranly nodded towards Stephen.— What was the quotation? asked Glynn. Shelley is an old flame of mine.Stephen repeated the lines and Glynn nodded bis head nervously several times in approvaL— Beautiful poetry Shelley wrote, didn't he? So mysticaL— D'ye know what they call themyellow bees in Wickla?asked Cranly suddenly, turning to Glynn.- No? what?— Red-arsed bees.t···]— ,The lake-surrounded sun illume

the red-arsed bees in the ivy bloon? — i?s every bit äs good bloody poetry äsShelley's> said Cranly to Glynn. What do you think?

Cranlys gezielt vulgäre, dialektal gefärbte Pointe (them yellow bees in Wickld)zielt hier auf eine Re-Profanisierung eines sakral gewordenen Textes (Somystical). Mit Glynn, dem philosophisch beflissenen Angestellten der Guinness-

33 Stephen Hero \\11. " ' ·

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 132.74.1.4

Download Date | 8/26/13 8:20 PM

Page 7: Heaps of Dead Language               und               Friedhof der Worte               - Russische Parallelen zu James Joyce

„ffeaps of Dead Language" und „Friedhof der Worte" 151

Brauerei wird hier ein die Literatur vereinnahmendes Bürgertum disqualifi-ziert, repräsentativ jener Kanon in Frage gestellt, der für Stephen von Byron,Shelley, Wordsworth, Coleridge, Keats, Tennyson, Ruskin, Newman, Macaulaygebildet wird.

Daß in diesem Dialog die aristotelische Unterscheidung von ,glöttac undNomen im Sinne des Normalen, Alltäglichen und des Fremden, Ungewöhn-lichen und Abweichenden34 zur travestiehaften Verfremdung eines kanonischenAutors die Grundlage bildet, ist kaum zu übersehen, denn Joyce nennt, umeine ,glöttaVzu erzeugen — den Barbarismus, die Barbarolexis35.

In der Poetik Jakobsons unterliegt die ,glötta' (bei Jakobson glossa)permanent der Tendenz, zum Stereotyp (stereotip} zu werden, das Ungewohntebringt nur kurzfristig eine Störung hervor, um dann alsbald habituell zuwerden. Cranlys ,glötta* zerstört rüde die Aura einer als verlogen empfundenenRomantik, und diese Decouvrierung ist Kulminationspunkt eines Dialogs, indem kurz zuvor die Handlichkeit der Klassiker, ihre Funktion als allgegenwär-tige Lückenfüller im Falle eklatanten Unwissens gepriesen wurde. Klassikerhaben nichts mehr zu sagen, sind leer36:— D'je know what, he [Cranly, der Vf.] said, whenever I can't tbink of the grammar

bring in a piece out of Tacitus.— Apropos of what?— W hat the flamin9 hell does it matter what it's apropos oß— Quite rigbt, said Stephen.

Was in der reifen Ästhetik ratiogesteuert zum Ausdruck gebracht wird,zeigt sich auf einer emotionalen, ja animalischen Stufe beim Kind. Sprachewird dann erlebt und gefühlt, wenn sie erschüttert, die Sinne stimuliert undals Sprache wahrgenommen wird, wenn Klang, Struktur in einer höherwerti-gen Weise, als die reine Mitteiluügssprache es vermag, Information übermit-teln. Der Schüler Stephen erlebt einen Lehrbuchtext als schön, weil er für ihnWärme assoziiert37: // was nice and warm to see the lights in the castle. It was likesomething in a book. Perhaps Leicester Abbey was like that. And there were nicesentences in Doctor Cornwell's Spelling Book. They were like poetry but they were onlysentences to learn the spellingfrom.

Wolsey died in Leicester AbbeyWhere the abbots buried bim.Canker is a disease of plants,Cancer one of animals.

It would be nice lie on the hearthrug before thefire, leaning bis head upon bis handst

and think on those sentences.

34 Aristoteles: Poetik, Kap. 21.35 VgL auch die vom Barbarismus ausgehende ästhetische Wirkung an einer anderen Stelle

von Portrait: Tbere was a book in tbe library about Holland. There were lovely foreign names init and pictures of tfrangelooking cities and ships. (Portrait 69).

36 Stephen Hero 117.37 Portrait 55.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 132.74.1.4

Download Date | 8/26/13 8:20 PM

Page 8: Heaps of Dead Language               und               Friedhof der Worte               - Russische Parallelen zu James Joyce

152 Bernd Uhknbmtb

Ein an sich unsinniger Text wird hier als erlebbar dargestellt. Leicester Abbeyist mehr als nur ein Begriff, der sich durch eine ungewöhnliche Diskrepanzvon Schreibung und Aussprache unterscheidet. Sie wird zum realen Ort derGeborgenheit. Die Parallelstellung der etymologisch verwandten Lexeme canker(„Brand") und cancer („Krebs") beweist, daß hier eine Konstruktion analog derParallelstellung von ivy und ivory vorgeführt wird. Die zitierte Passage belegt einWeiteres, die Tatsache nämlich, daß ein Text über seine ursprünglich intendierteFunktion hinaus eine sekundäre, poetische Funktion annehmen kann, wenn erpoetisch lesbar wird; denn „die Grenze, welche das dichterische Werk von demtrennt, was das dichterische Werk nicht ist, [... ist] fließender als Grenzen chinesi-scher Staatsgebilde38. Was Jakobson hier eher aphoristisch formuliert, kann man,wenn man eine spätere Arbeit von ihm zugrunde legt39, als Wechsel der dominan-ten Funktion fassen: Die metasprachliche Funktion des Lehrbuchtextes, d. h. dieSprache erklärende und Sprache einübende Funktion, verblaßt zugunsten einerauf die sprachliche Äußerung selbst gerichteten poetischen Funktion. ParallelePhänomene von Dominantenwechsel und Neufunktionalisierung belegen etwaauch Goethe40 und Heißenbüttel41. Die von Jakobson beobachtete Bewunde-rung von Tabellen als poetische Texte, die Bewunderung einer Weinkarte beiVjazemskij, eines kaiserlichen Garderobenverzeichnisses bei Gogol', eines Kurs-buches bei Pasternak und einer Rechnung der Waschanstalt bei Krucenych42,läßt sich unschwer ergänzen durch die Bewunderung von Fibelversen durchStephen Dedalus. Stephen erlebt den lexikalischen Parallelismus canker l cancer alspriem., als „Verfahren" im Sinne Sklovskijs43, als Indiz für die Gemachtheit desLehrbuchtextes, und der priem-hafte Stimulus führt zum ästhetischen Erlebnis.„Der Kunstcharakter eines Werkes, die Möglichkeit es mit Poesie in Verbindungzu bringen, [ist] ein Ergebnis der Art unserer Wahrnehmung"44. Im Kontext derJoyceschen Biographieschreibung funktioniert das Erkennen von Poetizität ineinem nichtpoetisch intendierten Text als Vorstufe der Produktionskompetenz.Im gegebenen Fall handelt es sich um das Aufdecken quasi-poetischer Strukturenin einem gebrauchssprachlichen, hier metasprachlichen, Sprache erklärenden

38 Hranice, ktera deli basnicke dilo öd toho, co basnickym dilem nenitje labilnejsi, ne% hranice cinskycbstatnich utvarü. (Roman Jakobson: Co je poe^ie? (1933/34), Ndr. in: Texte II, 392—417,hier: 394 f.

39 Roman Jakobson: Linguistics and Poetics, in: Style in Language, hg. v. Thomas A. Sebeok,New York 1960, 350-377.

40 Und wäre nicht der gereimte angehende Lateiner gewesen, so hätte es schlimm mit mir ausgesehen; dochdiesen trommelte und sang ich mir gern vor. So hatten wir auch eine Geographie in solchen Gedächtnisver-sen f wo uns die abgeschmacktesten Reime das %u Behaltende am besten einprägten, . .:

Oberyssel: viel MorastMacht das gute Land verhaßt.

(Dichtung und Wahrheit, in: Werke, 6HA [ = Hamburger Ausg. 61967], IX 32.)41 Helmut Heißenbüttel: Bei Gelegenheit eines Lex\, in: H. H.: Über Lit. — Aufs; und Frankfur-

ter Vorlesungen, Ölten 1966, Ndr. München 21972, 78-89, bes. 88 f. Vgl. auch HeißenbüttelsBewertung von Kurt Schwitters i-Gedicht (ebd. 73).

42 Co je poe^ie? (Texte II, 394 f.).43 Viktor Sklovskij: Iskusstvo kak priem (1916), Ndr. in: Texte I, 2—35.44 [...] chudosfestvennost*, otnosimosf k poe^ii dannoj vesti, est* reyuftat sposoba nasego vosprijatija.

(Ebd. 6 f.) ' · : .

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 132.74.1.4

Download Date | 8/26/13 8:20 PM

Page 9: Heaps of Dead Language               und               Friedhof der Worte               - Russische Parallelen zu James Joyce

„ffeaps of Dead Landtage" und „Friedhof der Worte" 153

Text. Die Tatsache, daß der Fibel-Text von Joyce gezielt gewählt wird und damitdie durchgeplante Konstruktion des Portrait, die Tatsache, daß auch Passagen,die eine freie Assoziation zu schildern vorgeben, von Joyce konstruiert wurden,belegt gerade in diesem Zusammenhang eine Äußerung von Stanislaus Joyce,der berichtet, daß James Joyce solche Gedichte bevorzugte, „bei denen dasInteresse nicht auf dem Ausdruck irgendeines poetischen Gedankengangs be-ruht, sondern auf der undefinierbaren Anregung durch Klang, Vokalharmonie,Rhythmus", Gedichte, in welchen „Worthexerei" betrieben wird45.

Der Fibeltext, den Stephen erlebt und zwar in einer anheimelnden, Gebor-genheit evozierenden Weise, wird wenige Seiten später ,anders* erlebt. WarLeicester Abbey Stimulus von Wärmeempfindungen, wird sie dann Reizbegrifffür Tod und Krankheit: Stephen wurde in den Abtrittgraben gestoßen. Ererwacht krank am folgenden Morgen im Schlafsaal des Internats46: The faceand the voice went away. Sorry because %e was afraid. Afraid tbat it was some disease.Canker was a disease of plant s and cancer one of animals: or another different. T hatwas a long time ago then out on the playgrounds in the evening light, creepingfrom pointto point on the f ringe of bis line, a heavy birdflying low through the grey light. LeicesterAbbey lit up. Wolsey died there. The abbots buried him themsehes. Die Fibelsätze,die sich aufgrund ihrer wortspielhaften Magie dem Helden erlebbar eingeprägthatten, werden als Text Teil seines Empfindens.

Daß Joyces autobiographische Romane Protokolle von Sprachexperimen-ten sind und somit aktive Arbeit am Erwerb einer spezifischen wahrnehmendenSprachkompetenz aufzeichnen, daß sich die Theorie-Ebene der Texte eben nichtin der Registrierung epiphaniehafter Seherlebnisse erschöpft, zeigt jene Passage,in der Stephen angesichts eines Rätsels eine Lösung schuldig bleiben muß47:— You have a queer name, Dedalus, and I have a queer name too, Athy. My name is

the name of a town. Your name is like Latin.Then he asked:— Areyougood at riddles?Stephen answered:— Not very good.Then he said:— Canjou answer me this one? Why is the county of Kildare like the leg of afellow's

breeches?Stephen thought what could be the answer and then said:— / give it up.— Because there is a thigh in it, he said. Do you see thejoke? Athy is the town in

the county Kildare and a thigh is the other thigh.— O, I see t Stephen said.— That's an old riddle, he. said.

45 Stanislaus Joyce: Meines Bruders Hüter\ dt. Übers, v. Arno Schmidt, Frankfurt/M. 1975,217 [Zit,: St Joyce: Hüter}.

46 Portraittö.47 Ebd. 67 f.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 132.74.1.4

Download Date | 8/26/13 8:20 PM

Page 10: Heaps of Dead Language               und               Friedhof der Worte               - Russische Parallelen zu James Joyce

154 Btrnd Ublenbrucb

Was biet dsrßllofv out of the tbird ofgram mär dem unerfahrenen Stephen alsunlösbare Aufgabe stellt, — später war es Joyce, der seinen Exegeten ganz andereRätsel stellte —, ist eine der weltweit belegbaren Varianten des Kalauer-Rätsels:Ein simples Wortspiel, welches jedoch im Kontext der Sprachbiographie einweiteres Glied in der Kette der Sprachevolution darstellt: Das was hier vorge-führt wird, ist, aus russischer, formalistischer und futuristischer, Perspektivegesehen, eine Variante des ,sdvig*, der Verschiebung*. ,Sdvig* ist als Norrnbruchund Deformation durchaus mit der Verfremdung des Frühformalismus in Bezie-hung zu setzen. ,Sdvig* meint „Disproportion", „Diskonstruktion"48, ist dieZerstörung von „konventionalisierten Segmentierungen von Zeichenfolgen"49.So kann eben Krucenych aus dem Satz Dru^ja P ty mne („Seid ihr mir Freunde?")eine Verschiebung zu Dru^ja l'vy mne („Löwen sind mir Freunde") erzeugenund Majakovskij kann ulica („Straße") und u lica („bei einer Person")50 verschie-ben. Wenn häufig davon die Rede ist, daß ,sdvig* gerade infolge ungenauerSegmentierungen innerhalb gesprochener Sprache erst möglich ist, so zeigt dieVariante der Homophonie Athyja thigh eine Möglichkeit auf, die dem russischenVerschiebepotential überaus ähnelt.

Hier zeigt sich eine deutliche Disproportion: Einerseits haben wir es hiermit einem universalen Kalauerverfahren zu tun, andererseits kann eine sprach-kombinatorisch manieristische Poetik ohne dieses Verfahren nicht auskommenund erfindet immer neue Varianten des lusus verborum dieses Typs. Im Falle desrussischen Kubo-Futurismus ist es nur legitim, wenn die Forschung ,sdvig* und,sdvigologija*, die ,Verschiebologiec, die von Futuristen erfundene ,Verschiebe-wissenschaft', zum zentralen und dominanten Verfahren erklärt. Der russischeFuturismus hatte keine Scheu, auch Nonsens, Kalauer und vermeintlich infantileWortspiele für sich zu vereinnahmen. Malevic sah in Majakovskijs ulica/u lica-Paradigma deutlich eine Parallele zum Vexierbild, zur ikonischen A-Perspek-tive51. ,Sdvigc wird zum Generalbegrifffür Verfahren artifizieller Dekomposi-tion, für Syntaxzerstörung ebenso wie für eine verfremdende Präsentierung desQuasi-Normalen. In der Spätphase des russischen Futurismus wird ,sdvig' dannzum Prinzip einer anarchischen Klassikerlektüre: Puskins Verse werden willkür-lich zerhackt und zu Texten mit einem Anti-Sinn remontiert52.

Mit Verfahren des ,sdvig', mit Barbarismen, Vulgarismen, Archaismen,Neologismen, mit Verfahren der inneren Flexion53 soll eben das Ziel erreicht

48 Aage A. Hansen-Löve: Der russ. Formalismus — Methodologische Rekonstruktion seinerEntwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung, Wien 1978, 90 [zit.: Hansen-Löve: Formalis-mus}.

49 Rainer Grübel: Russ. Konstruktivismus — Künstlerische Konzeptionen, lit. Theorie und kulturellerKontext, Wiesbaden 1981, 53.

50 Ebd. und Hansen-Löve: Formalismus 92.51 Hansen-Löve: Formalismus 92, mit Verweis auf N. Chardziev: Majakovsky i %ivopis\ in:

Majakovskij — Material·? i issledovanija, Moskva 1940, 398. Vom Joyceschen „Wortge-schiebe" spricht auch Walter Höllerer, aaO. [Anm. 10] 128.

52 Vgl. Aleksej Krucenych: 500 novych ostrot i kalamburov Pufkina (1924), Ndr. in: A. K.:I^brannoe — Selected Works, hg. v. V. Markov, München 1973 (= Centriguga 8), 279—349.

53 Zu den Spracherneuerungsmustern der russischen Futuristen vgl. auch Velimir Chlebni-kov: Lehrer und Schüler, in: V. Gh.: Werke //,-hg. v. P. Urban, Reinbek 1972, 69 ff.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 132.74.1.4

Download Date | 8/26/13 8:20 PM

Page 11: Heaps of Dead Language               und               Friedhof der Worte               - Russische Parallelen zu James Joyce

of Dead Language" und „Friedhof der Worte" 155

werden, das Sklovskij \nVoskresenie slova umrissen hatte: eine „harte" Sprachezu erzeugen, die „aufs Sehen und nicht aufs Wiedererkennen" („na videnie,ne na uznavanie") gerichtet ist54.

Die ,sdvigologija' der Futuristen setzte die Annahme einer sprachlichenNormalstufe voraus, von der sich das Verschiebeverfahren und seine Resultatekontrastierend abheben, wobei die Normalstufe jedoch immer als Gestörtesund Deformiertes mitabgebildet wird. Und so gesehen, rekurriert die futuri-stische Verschiebungstheorie, ohne daß die Futuristen sich dieser Tatsachebewußt sind, auf die rhetorische Figurenlehre, welche, wie eine Vielzahl vonTraktaten belegt, das Spiel mit der sprachlichen Deformation in einer möglichstgroßen Variationsbreite zu beschreiben sucht. ,Sdvigc und rhetorische Figurintendieren Abweichung, doch immer dergestalt, daß die Basis der Grundformnoch wahrnehmbar bleibt und mit wahrgenommen wird. ,Sdvig' wie Figursetzen mithin eine dichotomische Sprachkonzeption voraus, die einer alltäg-lichen und gewöhnlichen Sprache, die barocke Theorie sprach von einer„abgeriebenen" Sprache, von „trita sermo", und einer artifiziellen, poetischen,ins Bewußtsein drängenden Sprache. Burljuk sah die Basis der Abweichungs-manipulation als kulturell sanktioniertes Paradigma, als „Boden des akademi-schen Kanons" (pocva akademileskogo kanona)^^ welcher zu verschieben und zuverzerren ist, und R. Jakobson äußert die Formel von der poetischen Spracheals einem vyska^yvanie s ustanovkoj na vyra^enie („Aussage mit Ausrichtung aufden Ausdruck")56. Sklovskij hatte die mitteilende, ökonomische Sprache (inseiner Privatterminologie pro^a genannt) zur Trivialstufe einer Sprache erklärt,deren Poetizität verlorengegangen ist.

Der Dubliner Student „belehrt" den Jesuitenpater Butt in ganz analogerWeise. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die konische Charakteri-sierung dieser Figur: Pater Butt war Anhänger eines literaturwissenschaftlichenBiographismus57: He read a series of papers at a total abstimme club to prove thatShakespeare was a Roman Catholic: he had also Dritten against another Jesuit fatherwho had very late in life been converted to the Baconian theory of the authorship ofthe plays. Pater Butt gegenüber vertritt Stephen nun die Koexistenz zweierkonkurrierender Sprachwelten. Von den Thesen des Formalismus unterschei-det sich Stephens Theorie durch das Fehlen der Innovationskomponente, derPrämisse, daß der poetischen Sprache aus der praktischen permanent neuesMaterial zufließt58: Stephen laid down bis doctrine very positively and insisted on theimportance of what he called the literary tradition. Words> he said, have a certain valuein the literary tradition and a certain value in the market-place — a debased value.Words are simply receptacles for human thought: in the literary tradition they receivemore valuable thought s than they receive in the market-place. Im Portrait heißt es59:One difficulty, said Stephen, in aesthetic discussion is to know whether words are being

* Texte l, 2f.55 Vgl. Hansen-Löve: Formalismus 90.56 Novejsaja russkaja poe^ija (Texte //, 30 f.).57 Sttpben Hero 28.s« Ebd. 30.59 Portrait 199.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 132.74.1.4

Download Date | 8/26/13 8:20 PM

Page 12: Heaps of Dead Language               und               Friedhof der Worte               - Russische Parallelen zu James Joyce

156 Bernd Ubltnbrutb

used according to the Hterary tradition or according to the tradition of tbe marketplace.Stcphen expliziert seine Theorie an einem Satz von Newman in which he saysof the Blessed Virgin that she was detained in the füll Company of the saints^ währenddie a-poetische Version sich in einer Floskel wie / hope I am not detainingyou^äußert. Das Gespräch mit dem feueranzündenden Pater Butt scheint nachStephens Versuch einer Bekehrung des Jesuiten auf das ursprüngliche Themazurückzufinden, die ars practica des Beschickens einer Lampe mit Öl und demAnzünden eines Ofens. Nur beinhaltet eben diese Fortsetzung des Gesprächsdie subtile Deutung der ästhetischen Theorie Stephens, diese jedoch wiederumironisch verfremdet. Ästhetischer Wortgebrauch kann Sprachgebrauch imSinne der ,glötta*, des Barbarismus sein. Beim Öleingießen muß man daraufachten, not to pour in more than the funnel can hold.— W hat funnel? asked Stephen.—- The funnel through whichyou pour the oil into the lamp.— That? said Stephen. 1s that called a funnel! Is it not a tundish?— What is a tundish?— That. The ... the funnel.— Is that called a tundish in Ireland? asked the dean. I never heard the word in my

life.— // 'is called a tundish in Lower Drumcondra, said Stephen, laughing, where they

speak the best English.— tundish, said the dean reflectively. That is a most interesting word. l must look

that word up^.Im Kontext der ästhetischen Diskussion wird der slang-Ausdruck aus demDubliner Arbeitervorort zum poetischen Neologismus.

Sprachliche Exzentrizitäten faszinieren Stephen an der Prosa von Freemanund William Morris62: He read them äs one would read a the säurus and m ade agarner of words. Im Freundeskreis Joyces, so berichtet Stanislaus Joyce, warman bemüht, einen Thesaurus der Sprache des Freundes Byrne anzulegen,dessen Ausdrucksweise sich durch zahlreiche Solözismen auszeichnete63.

Man darf in diesem Zusammenhang auf die Anlage exzentrischer Glossaredurch V. Chlebnikov und A. Krucenych verweisen, in denen ein experimentel-les Spiel mit Neologismen getrieben wurde, Neologismen, welche durchwegTermini sind, die das Russische hätte bilden können, d. h. Termini, die zwarnach der russischen Wortbildung und ihren Regeln gebaut sind, in der vonden Futuristen entworfenen Form aber unrealisiert blieben64.

«o Ebd.61 Ebd.62 StepbenHeroW.63 St. Joyce: Hüter 231.64 So bildete man eben Neologismen wie „zercog" (für „Theater") von „zret'" („sehen'*)

mit einem abgeleiteten ,regelgerechten* Adjektiv „zercocnyj". Für das normalsprachliche„akter" („Schauspieler") bildete man „oblikmen" von kirchenslavisch „oblik" („Ausse-hen") und „lik" („Antlitz") nach dem Muster von „sportsmen" („Sportler"). Vgl. dazudas Manifest Slovo kak takovoe^ in: Manifesty iprogrammy russkich futuristov, hg. v. V. Markov,

1 München 1967, 57; vgl. dazu ferner Hansen-Löve: Formalismus 124.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 132.74.1.4

Download Date | 8/26/13 8:20 PM

Page 13: Heaps of Dead Language               und               Friedhof der Worte               - Russische Parallelen zu James Joyce

„Heaps of Dead Language" und „Friedhof der Worte" 157

Während Sklovskij über den verlorengegangenen Wortsinn als über einenelementar erlebbaren , vollen* Sinn klagt, wenn er in Die Auferweckung desWortes einer nicht mehr spürbaren Etymologie nachgeht und behauptet, dieEtymologie basiere auf einer ursprünglichen Trope (mesjac = „Mond" = derMessende)65, so rekonstruiert die futuristische Dichtpraxis ihre Lexika ebenmit den Mitteln der Etymologie, welche nicht selten auch die konstitutiveRolle des Altkirchenslavischen für die neologistische Lexik fruchtbar macht.Aus dem Kirchenslavischen bezog der Futurismus nicht selten seine Wortbil-dungsmuster und die Morpheme zur Bildung von Neologismen.

Stephen hatte über den jeweils unterschiedlichen „Wert" der Worte reflek-tiert. Die Entdeckung von Worten mit , vollem' und solchen mit gemindertemWert führt ihn zum Gedanken des Wertverlustes im allgemeinen kommunikati-ven Sprachgebrauch66: People seemed to him strangely Ignorant of the value of thewords they used so glibly. Die private Wiederbelegung des poetischen Vokabularsbedient sich dann in Dublin der gleichen Denkweisen wie im Rußland dessich herausbildenden Futurismus und Formalismus, nämlich des Nachspürensder Wortetymologie als einer Archäologie der Poetizität. Gesucht wird dieverlorene volle Bedeutung im gesunkenen und nicht mehr wahrnehmbarenMaterial der Sprache. Rekonstruiert werden soll die verlorene Poetizität.

Die poetischen Glossare der Futuristen Chlebnikov und Krucenych ent-sprechen Stephens konservierendem garner. Vor der Entdeckung des Wert Verlu-stes der Sprache im öffentlichen Gebrauch steht für Stephen die tagelangeLektüre von Skeat's Etymological Dictionary®.

Die Biographie des Schülers und Studenten ist eine ausdauernde Spurensi-cherung auf der Suche nach der verlorenen Erlebbarkeit der Sprache: Unddiese Spurensicherung hat eine klare historisch soziale Dimension. Die wider-sprüchliche Person des Studiendekans Pater Butt, des englischen Jesuiten inIrland, a humble follower in the wake of clamorous conversions, a poor Englisbman inIre/and6*, erweckt in Stephen die Einsicht, ohne das Medium einer genuinenMuttersprache zu leben: Englisch als Sprache ist ein Oktroi von Bedeutungenund die Distanz zum aufoktroyierten Medium „englische Sprache" wirkt alspermanente Provokation des Bewußtseins69: He tbought: — The language in wbichwe are speaking is bis [des Engländers Pater Butt] before it is mine* How differentare the words ,bome*, ,Christ(, ,ale(, ,master', on bis lips and on mine! I cannot speakor write these words without unrest of spirit. His language, so familiär and foreign,will always be for me an acquired Speech. I have not made or accepted its words. Myvoice bolds them at bay. My soul frets in the shadow of bis language.

Auf dem Hintergrund dieses sprachlichen Fragments wird es verständlich,wenn Sprache oder Fragmente einer erstarrten Rede dann um so heftigererlebt werden, wenn sie sich als fremde Sprache, als nicht consuetudo-hafterGebrauch von Sprache oder als aus dem Kontext herausgerissene ,Spur*

65 Texte /, 3.66 Stephen Hero 29.67 Ebd.68 Portrait 200.*9 Ebd.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 132.74.1.4

Download Date | 8/26/13 8:20 PM

Page 14: Heaps of Dead Language               und               Friedhof der Worte               - Russische Parallelen zu James Joyce

158 Bernd Uhknbruch

präsentiert: Die Reise Stephens mit dem Vater in dessen Heimatstadt Cork istfür den Vater ein Anlaß, der eigenen Vergangenheit schwärmerisch nachzu-trauern. Er nutzt die Gelegenheit, dem Sohn die Räume des Corker Collegezu zeigen, in denen er studiert hat, und entwickelt Stepheri gegenüber dasIdealmuster der anti-intellektuellen und durchschnittlichen bhody good honestIrishmen™. In dem ihn umgebenden Schwall von stories he had heard before7* yvon names of tbe scattered and dead reveliers who had been the companions of bis

father's youtb12, umgeben von toter Sprache, die nicht dazu fähig ist, beiStephen ein Nacherleben der väterlichen Geschichte zu bewirken, ist es einWort, welches auf Stephen erregend wirkt73: On the desk he read the word Foetuscut several times in the dark stained nwod. The sudden legend Startled bis blood: heseemed to feel the absent Student s of the College about him and to shrink from theirCompany. A vision of their life, which bis father's words had been powerless to evoke,sprang up before him out of the nwrd cut in the desk. broad-shouldered Student witba moustache was cutting in the letters with ajack knife, seriously. Other students stoodor sät near him laughing at bis handijvork. Onejogged bis elbow. The big Student turnedon him, frowning. He was dressed in loose grey clothes and had tan boots.

Während die Reden des Vaters für Stephen bedeutungsleer bleiben, findeter in dem einen Wort seine eigene Phantasie wieder74: His monstrous reveriescame thronging into bis memory. They too had Sprung up before him, suddenly andfuriously, out of mere words.

Das ungewöhnliche, unerwartete und fremde Wort, das Wort ohne Kon-text, löste eine Vision aus, die Vision des Durchschnitts, des Mittelmaßes undden Wunsch, anders sein zu müssen als der Vater, der gentleman.

In ganz analoger Weise funktioniert das Wahrnehmen der Poetizität imfremden Wort, welches, besser als das unmittelbar verfügbare, ein Erlebenfassen kann, in Stephens Dialog mit dem Freund Cranly, in dem Stephen seineTrennung vom Katholizismus irischer Prägung bekennt. Im Verlauf jenesSpaziergangs, auf dem Stephen Cranly seine Glaubenszweifel mitteilt, hörendie beiden Studenten ein Dienstmädchen, das die Ballade von Rosie O'Gradysingt75:

Cranly stopped to listen, saying:— Mulier cantat.The soft beauty of the Latin word touched with an enchanting touch the dark of theevening, which a touch fainter and more persuading than the touch of music or of awoman's band.

In der Phrase Mulier cantat kulminieren eine ganze Reihe narrativer undmotivischer Stränge. Die witzig hingeworfene Phrase Cranlys ist ursprünglicheine Art von Regieanweisung — im gesungenen Vortrag der Matthäus-Passion

70 Portrait 121.71 Ebd.72 Ebd.73 Ebd. 120.74 Ebd.75 Ebd. 245.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 132.74.1.4

Download Date | 8/26/13 8:20 PM

Page 15: Heaps of Dead Language               und               Friedhof der Worte               - Russische Parallelen zu James Joyce

„Htaps of Dead Language" und „Friedhof der Worte" 159

am Karfreitag76: Mulier cantat: ,Et tu cum Jesu Galileo eras', Worte, die hinleitenzum Verrat des Petrus.

Joyce zitiert den Refrain der Ballade, den die Frau singt77:

And when we are married,O, how happy we'll be,

For I love sweet Rosie O'GradyAnd Rosie Q'Grady loves me.

Cranly hatte in der vorausgegangenen Glaubensdiskussion die Position vonStephens kirchentreuer Mutter vertreten und ,epiphanisiertc sich zum Vertreterder Mütter und Frauen. Thematisiert die Ballade das Motiv der Vereinigung,so thematisiert die Anspielung auf die Passion kontrastiv dazu das Motiv desVerrats. Cranly fordert Stephen auf, ̂ sein Bild von der Kirche zu überdenken,um in Irland bleiben zu können. Stephen ist sicher, Irland, the old sow that eatsher farrows1*^ zu verlassen.

Das Bild der Koinzidenzen zwischen der Joyceschen (Stephenschen) lite-rarischen Ästhethik und jener der russischen Avantgarde wäre nicht komplett,würde man die Experimente, die Stephen Dedalus auf dem Gebiet der Metrikund der Deklamation anstellt, außer acht lassen. Denn gerade hier findet manim Dublin der Jahrhundertwende zu beinahe exakt den gleichen Resultaten unddies unter Einbringung einer fast identischen Terminologie. Die entsprechendePassage im Stephen Hero ist bedauerlicherweise fragmentarisch. (Zwei Seitendes Manuskripts müssen als verloren gelten.)

Stephen versucht zu zeigen, wie sich die Bedeutung des Verses aus einemscheinbar paradoxen Gegeneinander von Syntax und Metrum herstellt. Esgeht ihm ferner darum, zu zeigen, daß sich Rhythmus dahingehend vomMetrum unterscheidet, daß Rhythmus eine Überspielung bzw. eineVerstärkung metrischer Formeln darstellt79: of verse are the first conditions whichthe words must submit to, the rhythm is the esthetic result of the senses, values andrelations of the words thus conditioned. The beauty of verse consisted äs much in theconcealment äs in the revelation of construction but i t certainly could not proceed fromonly one of these. For this reason he found Father Butt9s reading of verse and aschoolgirl's accurate reading of verse intolerable. Verse to be read according t o its rhythmshould be read according to the Stresses; that is, neither strictly according to the feet noryet with complete disregard of them. [...] There was only one possible way of r enderingthe first quatrain of Byron*s poem:

My days are in theyellow leafThe flowers andfruits of love are goneThe worm, the canker and the grief

Are mine alone.

76 Ebd.77 Ebd.7« Ebd. 212.79 Stephen Hero 29.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 132.74.1.4

Download Date | 8/26/13 8:20 PM

Page 16: Heaps of Dead Language               und               Friedhof der Worte               - Russische Parallelen zu James Joyce

160 BerndUhlenhwb

The two brothers trled Ms theory on all the verse they could remember and it jieldedwondtrjul rewlts. Soon Stephen began explore l he language for him seif and t o choose,and tbereby rescue once for all> the words and phrases most amenable to bis theory.He became a poet ivith malice aforethought.

Ein wesentlicher Arbeitsschritt, den Stephen vollziehen muß, wird aus-drücklich genannt — reading, Deklamation, die Umsetzung eines gedrucktenTextes in ein durch Rezitation erlebbares Kunstwerk, die Wiedererweckungeines zum toten Buch-Text erstarrten Artefakts. Osip Brik hat auf genaudiese Erstarrung poetischer Texte hingewiesen, wenn er die Prämissen seinerVerstheorie, welche immer eine Theorie des klanglich artikulierten Verses seinwill, vorstellt: „Rhythmisch geformt kann nur die Versrede sein, nicht aberdas Resultat dieser Rede"80; als Resultat sind die „Bewegungsspuren" (sledydvifynija)*1 im Drucktext zu verstehen. Brik hatte eine Polemik gegen dieakademische Dominanz des „Versfußes" angezettelt. Während im griechischenVers das Versfußsystem gleichsam eine konstitutive, regelhafte Dominantewar82, sind die traditionellen metrischen Schemata im Russischen lediglichsubtil präsent: Eine totale Präsenz des metrischen Schemas läßt sich nur inVersen mit „sinnentleerten Silben" (nicego ne ̂ nacuscie slogif* realisieren. Sobaldjedoch eine „lebendige Wortreihe" (tfivoj rjad slov)** auf das starre metrischeSchema appliziert wird, entsteht eine Konkurrenzsituation zwischen demstarren Schema und der aktuellen Füllung85: „Es ergibt sich ein ganzes Systemvon ganz schwachen bis zu sehr starken Intensiven." Die Semantik wird zumRegulativ der Deklamation, und Deklamation, „Verlautlichung", ist die einzigeund einzig mögliche Existenzweise von Dichtung. Brik geht mithin von derVorstellung eines dreigliedrigen Prozesses aus: Am Beginn steht das mündlicheund lautliche Werk in seiner vollen Wirksamkeit. Die schriftliche Fixierungtransportiert nur eine Ahnung dieser Wirkung, und erst in der Reaktualisierungder Deklamation kann der poetische Text mit all seiner immanenten Spannungwiedererstehen. Erst im Sprung vom verschrifteten Text zum mündlichenVortrag wird die Poetizität offenbar86. Das Aufeinandertreffen zweier Größen,der kanonischen des metrischen Schemas und der aktuellen der sprachlichenFüllung führt zu Ereignissen wie Verschwinden, Verstärkung oder Überspielender „Intensiven", zur rhythmischen Semantik.

80 Ritmifoski oformlennoj mo^et byf toiko stichotvornaja rec, a ne re^uttat etoj reci (Osip Brik:Eitm i sintaksis (1927), Ndr. in: Texte 77, 162-221, hier: 164f.

81 Ebd.82 Ebd. 177.83 Ebd. 182 f.84 Ebd.85 Polufaetsja celaja sistema intensiv — ot sovsem slabych do ocen* sifnycb. (Ebd.) ·86 Es muß angemerkt werden, daß die russischen Formalisten nicht unwesentlich von Saran

und Sievers beeinflußt wurden. Sarans Begriff der „Schallform' wird von Roman Jakobsonfür ein funktionales Modell vereinnahmt, wenn eben diese „Schallform' zur ustanovka na^vukovuju formu („Ausrichtung auf die Klangform"), d. h. als Dominanzsetzung derklanglichen Seite eines Textes umformuliert wird. (R. Jakobson: O tesskom stiche preimusfa-venno v sopostavlemi s russkim^ o. O. 1923, 17).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 132.74.1.4

Download Date | 8/26/13 8:20 PM

Page 17: Heaps of Dead Language               und               Friedhof der Worte               - Russische Parallelen zu James Joyce

„Heaps of Dead Language" und „Friedhof der Worte" 161

Daß Brik mit seiner Arbeit, welche hochgradig analytisch-deskriptiv ver-fahrt, doch an das Denken des russischen Frühformalismus von Automatisie-rung und Desautomatisierung anknüpft, belegt sein Essay dann, wenn dieangesprochene latente Konkurrenzsituation in dem Sinne interpretiert wird,daß das metrische Schema zum Faktor des Kanonisch-Automatisierten, die„lebendige Rede" zum Träger des Neuen, zum Verletzenden und Störendenerklärt werden. Brik schreibt87: „Ein Bedürfnis nach Stärkung der Semantikstellt sich in der Regel da ein, wo die Lebenswirklichkeit eine neue Thematikin den Vordergrund stellt und wo die mit ihrer bereits sinnentleerten Semantikunverbrüchlich verbundenen alten Versformen nicht imstande sind, diese neueThematik zu erfassen."

Metrum und Sprache assoziieren sich, es entstehen rhythmisch-syntaktischeStandardgebilde (ritmiko-sintakticeskie Stampyf* — einen großen Teil der Brik-schen Arbeit nehmen Listen solcher Gebilde ein —, die zur Zerstörung provo-zieren, d. h. die eine neue Dissoziierung verlangen: durch lebendige Sprache.

Exakt die gleichen Deklamationspostulate, die Stephen aufstellt, weil erder schulmädchenhaften Deklamation des Pater Butt überdrüssig ist, beleuchtetBrik aus einer historischen Perspektive. Wie Stephen mit seinem Byron-Beispiel behandelt Brik seine Theorie am vierhebigen Jambus, dem, wie ersagt, variantenreichsten russischen Versmodell89. Ziel der Deklamation ist dasdem Textsinn angemessene Überspielen von metrisch oktroyierten Tonstellenoder, wie Stephen es formuliert, eine Deklamation neither strictly according tothe feet norjet witb complete disregard of them^. Man muß in diesem Zusammen-hang daran erinnern, daß der Rhythmusbegriff im metrischen Sinne, bei Joycenahezu synonym mit „Struktur", the rhythm of structure91, gebraucht, in einemumfassenderen Sinne die zweite Schlüsselkomponente der thomistischenTriade, die jConsonantia* markierte92: Rhythm, said Stephen, is the ßrst formalaesthetic relation of part to pari in any aesthetic whole or of an aesthetic whole to itspart or parts or of any part to the aesthetic wbole of which it is a part. Wenn eseiner Versdeklamation gelingt, das dialogische Wechselspiel von Syntax undMetrum zu verdeutlichen, so leistet sie mithin einen Beitrag im Prozeß desErkennens einer konsonanten Struktur.

In seiner Monographie zum russischen Formalismus hat Hansen-Lövezeigen können, wie sich das Theoriegefüge der Formalisten und zentraleAnliegen russischer futuristischer Dichtpraxis auch dann noch, wenn man umDistanz zu Sklovskijs frühen Arbeiten bemüht ist, aus dem Prinzip derVerfremdung ableiten lassen. Die Formulierung des Verfremdungs-Theorems

87 Objcno trebovanie usilenija semantiki javljaetsja togda, kogda %t%n' vydvigaet novuju tentatiku ikogda starye formy sticba, neraqryvno svja^annye s svoej ufy obessmyslennoj semantikoj, ne v silachetu tematiku novuju uchvatif. (O. Brik: Ritm i sintaksis, Texte II, 186 f.).

88 Ebd. 203 f.89 Ebd. 192 f.90 Stepben Hero 29.91 Portrait2\<).92 Ebd. 214. Vgl. auch die entsprechende Passage in Joyces Pariser Notizbuch (datiert auf

den 25. März 1903) in; Workshop [Anm. 5] 54.

11 arcadia21

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 132.74.1.4

Download Date | 8/26/13 8:20 PM

Page 18: Heaps of Dead Language               und               Friedhof der Worte               - Russische Parallelen zu James Joyce

162 Bernd Ubhnbrucb

ist Ausdruck einer Krise der Noesis, Ausdruck eines grundsätzlichen Miß-trauens in Wahrnehmungs- und Erkenntnisformen mit dem Ziel einer „Sensibi-lisierung unserer Erkenntnisweise"93. Daß diese Sensibilisierung dann, wennsie zur Äußerung strebt, alle als obsolet empfundenen literarischen Schreibwei-sen umzukehren versucht und daß sie dann, wenn sie mit anderen Kunstsyste-men das Erlebnis des Mißtrauens teilt, mit diesen in einen ansteckenden Dialogeintritt, belegt die Arbeit von Hansen-JLöve in augenfälliger Weise. Sklovskijhat die von ihm aufgezeigte Verfremdungsproblematik nie als gelöst betrachtet.Er war jedoch bereit, die seiner engen Sehweise gegenüber geäußerte Kritikzu respektieren. Dies belegt die Neuformulierung des Verfremdungs-Theoremsals „Neues Sehen" (novoe videnie) beim älteren Sklovskij94. Daß aber Sklovskijim „Neuen Sehen" sein eigenes Verfremdungskonzept weiterformulierte, läßtsich nicht zuletzt damit belegen, daß eben jenes „Neue Sehen" an Beispielmate-rial aus dem Werk Tolstojs (der Erzählung Leinivandmesser und der Tagebuchno-tiz vom Staubwischen, ergänzt um Beispiele aus Kataev, Andreev und Solo-chov) exemplifiziert wird, wie in der frühen Arbeit zur Verfremdung.

Bei aller Ähnlichkeit des frühen und des späten Entwurfs kritisiert Sklov-skij doch seinen Jugendtext, weil dort ein stilistisches Verfahren zum letztend-lichen Ziel der Kunst erklärt worden war95: „Die Unwahrheit des Terminus[gemeint ist <?j-/r^^///V/,Verfremdung<, der Vf.] besteht darin, daß ich einstilistisches Mittel als Ziel der Kunst (aus)gab, und damit die Kunst ihrerwahren Funktion beraubte." Die ursprüngliche Füllung des ostranenie imSinne des Handwerklich-Technischen erfahrt eine Erweiterung durch einepsychologische Komponente: Der Künstler verfügt über das „volle Bewußt-sein" der Dinge und versucht es weiterzuvermitteln96. Dies nun bedeutet auchbeim späten Sklovskij nicht, daß Neues Sehen allein auf die Ebene der Intuitionverwiesen wird: Im Gegenteil: Die Vermittlung von Bewußtseinsinhaltenverlangt dringend nach der Sprachtechnik, nach ungewöhnlicher, störenderBenennung, nach aufmerksamkeitserregender Verkettung97: „Er [der Künstler,der Vf.] macht das Unbewußte durch besondere Benennungsmethoden undVerkettung von Begriffen bewußt."

Neues Sehen kulminiert bei Sklovskij in der „Aufdeckung des Wesenseines Gegenstandes" (raskrytie suscnosti predmeta)^. An dieser Stelle nun fallen

93 Hansen-Löve: Formalismus 19.94 Vgl. dazu insbes. das Kap. Obnovlenie ponjatija (Die Erneuerung eines Begriffs) in: Viktor

Sklovskij: Povesti o pro%e (1959), Ndr. in: V. §.: I^brannoe v dvuch tomacb I: Povesti o pro^e— Ra^mySlemja i ra^bory^ Moskva 1983 [zit.: Povesti], Der Weg Sklovskij s von der,Verfremdung* zum ,Neuen Sehen4 wird dargestellt bei Renate Lachmann: Die ,Verfrem-dun£ und das ,Neue Sehen' bei Viktor Sklovskij, in: Poetica 3 (1970), 226—249 [zit.: Lachmann:Verfremdung

95 Nevernos? %e termina sostoit v tom, ctoja stilistiteskoe sredstvo daval kok konecnuju cef iskusstva,lisaja tem samym iskusstvo ego istinnoj funkcii. (Povesti 529).

96 „Der Bewußte, derjenige, der sieht, das ist der Dichter" (So^natei'nyj, kotoryj vidit, etopisatel'), heißt es bei Sklovskij (Povesti 528); vgl. auch Lachmann: Verfremdung 245.

97 On delaet besso^natel'noe so^natel'nym cere% osobye sposoby na^yvanija i cere% sceplenija ponjatij.(Povesti 528).

98 Ebd. - '

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 132.74.1.4

Download Date | 8/26/13 8:20 PM

Page 19: Heaps of Dead Language               und               Friedhof der Worte               - Russische Parallelen zu James Joyce

„Heaps of Dead Language" und „Friedhof der Worte" 163

sowohl die Begriffe selbst wie deren Bedeutung bei Joyce und Sklovskijzusammen: Es entsteht eine Koinzidenz in der Fassung des Schlüsselbegriffsals etwas Visuelles: epiphany und videnie als die Sicht des „Wesens eines Gegen-standes" deckt sich mit der „Was-heit", der ,quidditas', dem thing itself. Manwird an dieser Stelle der Versuchung nicht widerstehen können, die Hypotheseaufzustellen, Sklovskij habe seine Begriffsrevision auch unter dem Einflußvon Joyce vorgenommen, sei zumindest bei der Wahl des Begriffes novoe videnievon Joyce inspiriert worden. Doch ist diese Hypothese zur Zeit noch nichtbelegbar. Eines ist doch belegbar: Sklovskij kannte das Werk James Joyces;denn in seinem in etwa synchron zu den Povesti o pro^e geschriebenen Tolstoj-Buch zieht Sklovskij eine deutliche Parallele zwischen Tolstojs früher Er-zählung Die Geschichte des gestrigen Tages von 1851 und dem Anliegen desUlysses. „Es könnte scheinen", so Sklovskij99, „als hätte Lev Tolstoj imVorfrühling 1851 verwirklicht, was heute mit den Namen Proust und Joycein Verbindung gebracht wird und was 1961 als ,Antiroman' bezeichnet wurde."

Eines darf damit als gesichert angesehen werden: Der Viktor Sklovskij, dergegen Ende der fünfziger Jahre mit dem „Neuen Sehen" seinen eigenen Entwurfeiner Verfremdung präzisiert, hat seinen Lektürehorizont zwischenzeitlich auf-gefüllt, auch um die Lektüre des Werkes James Joyces. Es darf angenommenwerden, daß erst der gealterte Sklovskij die Brisanz seiner frühen Theorien einsahund daß ihm erst später die Exaktheit zum Bewußtsein kam, mit der er als jungerSprach- und Literaturtheoretiker den Nerv der Zeit getroffen hatte.

In ihrer Studie über die Wandlung des ostranie zum novoe videnie hatteLachmann bemerkt, der Gedanke vom Tod der Dinge, vom Erstarren derForm, von der Inadäquatheit der Sprache sei aus dem Erleben einer künstleri-schen und intellektuellen Avantgarde der Zeit, einem „Erlebnis des Nicht-Mehr-Erleben-Könnens"100 entsprungen. Es hat in der Tat nicht an Versuchengemangelt, diese Artikulationen einer Verzweiflung an der Sprache zu sammelnund zu kommentieren, welche gerade von Autoren des ausgehenden XIX.und des beginnenden XX. Jahrhunderts überliefert sind101. Es hat ebensowenigan Versuchen gefehlt, den Joyceschen Begriff der Epiphanie unter Berücksich-tigung möglicher Quellen zu deuten102. Die Gleichsetzung der Epiphanie mit

99 Mo^et poka^afsja, cto rannej vesnoj 1851 goda Lev Nikolaevic osulcestvljal to, cto svja^yvajutteper* s imenami Prusta, Dfyjsa i vesnoj 1961 goda na^yvali antiromanom. (Viktor Sklovskij:Lev Tolstoj^ Moskva 61967, 78, dt. zit. nach der Übers, v. E. Panzig: W. Schklowski: LeoTolstoi - Eine Biographie, Frankfurt/M. 1984, 97.)

100 Lachmann: Verfremdung 226.101 Vgl. dazu Theodore Taoüicwski: James Joyces Epiphanie und die Überwindung der empirischen

Welt in der modernen deutschen Prosa, in: DVjS 35 (1961), 594-616. Vor Ziolkowski bereitsPaul Kluckhohn: Die Wende vom 19. %um 20. Jahrhundert in der deutschen Dichtung, ebd. 29(1955), 1 — 19; ferner Helmut Prang: Der moderne Dichter und das arme Wort, in: GRM 38,N. F. 7 (1957), 130—145. Gerade Prangs Studie ist besonders aufschlußreich wegen der inihr vorgenommenen historischen Dimensionierung des Problems des Sprachmißtrauens.

102 Vgl. S. K. Kumar./öy^'i Epiphany andBergsonfs ,L Intuition philosopbique', in: Mod. LanguageQu. 20 (1959), 27—30; ferner Umberto Eco: Joyce and D'Annunyo, dt. in: Materialien %uJames Joyces ,Ein Porträt des Künstlers als junger Mann', hg. v. K. Reichert und F. Senn,Frankfurt/M. 1975,279—289. An anderer Stelle macht Eco Walter Pater namhaft (U. Eco:Das offene Kunstwerk, dt. v. G. Memmert, Frankfurt/M. 1977, 329 ff.).

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 132.74.1.4

Download Date | 8/26/13 8:20 PM

Page 20: Heaps of Dead Language               und               Friedhof der Worte               - Russische Parallelen zu James Joyce

164 BerndUhlenbrucb

dem Aufscheinen der ^laritas4, der Einsicht in die ,quidditas* im SinneThomas', der Quellenbesug, aus dem Stephen seine Ästhetik herzuleitenversucht, wird im Zusammenhang einer aktuellen Betrachtung als rhetorischeMaskerade durchschaubar; denn „der junge Joyce fand im Vorrat der Schola-stik die Formeln, die ihm dazu dienten, die Symptome der Dekadenzsensibilitätdes Fin-de-siecle für althergebrachte Weisheit auszugeben"103. Man wird Scho-les' vehement vorgetragenem Plädoyer für einen strengen und puristischenGebrauch des Begriffs Epiphanie zustimmen müssen104, denn, so belegt dieForschungsgeschichte, eine ausufernd betriebene Gleichsetzung der von Joyceintendierten epipbany mit allem vage Intuitiven wirkt eher verschleiernd alserhellend. Doch muß daneben der in Frage stehende Begriff in seiner konnota-riven und narrativen Dimension geklärt werden: Epiphanie als Intuition mußso lange unausgesprochen und unaussprechbar bleiben, bis es gelingt, sie imMedium einer neuen, nie dagewesenen, ungewöhnlichen und sperrigen Sprachezu artikulieren. Der Wille zur Artikulation, die Überwindung der Worte alsMauern1®* verlangt nach dem Infragestellen der sprachlichen und literarischenGebrauchskonvention106: „Die Epiphanie ist ein Modus, das Reale zu entdek-ken, und zugleich ein Modus, es durch Sprache zu bestimmen."

Mit der gleichen Semantik und ähnlicher Radikalität wie Joyces HeldStephen sein Leiden an und sein Mißtrauen in die zur Etikette erstarrtenUmgangsformen mit der Sprache und der Literatur zum Ausdruck bringt,geschah dies kaum an einer anderen Stelle Europas als im Rußland des frühenXX. Jahrhunderts, als sich dort eine heute als Formalismus und (russischer)Futurismus bezeichnete Gruppe von dichtenden und theoretisierenden Intel-lektuellen zusammenfand, um den Kanon der symbolistischen Ästhetik undeine idealisierende Literaturbetrachtung zu zerstören. Die Parallelen zwischenden Theorien, die Joyce seinen Helden aussprechen läßt und denen der Russenergeben sich hier wie dort aus dem Erlebnis der abhandengekommenenbewußtseinsstimulierenden Wirkung von Sprache und Literatur und verzwei-gen sich in Dublin (bzw. Triest), Moskau und Petersburg in Versuche, Kunst-werke auf eine ihnen innewohnende, wenngleich verschüttete Erlebbarkeit hinzu deuten. In einer späten Revision des ursprünglichen formalistischen Ansat-zes eines Verfremdungstheorems wird dann, dies allerdings erst in den fünfzi-ger Jahren, nach Entstalinisierung und 20. Parteitag, ein Rekurs auf Modellemöglich, die das Prinzip des Kunstschaffens im Sehen, konkret im „NeuenSehen" finden wollten.

103 Eco: Joyce und D'Annunyo, aaO. [Anm. 102] 280.104 Vgl. Anm. 7.105 Vgl. Rilkes

Die Worte sind nur Mauern.Dahinter in immer blauernBergen schimmert ihr Sinn.

Rainer Maria Rilke: Frühe Gedichte, Leipzig 1940, 99, zit. bei Prang, aaO. [Anm. 101],132. Im übrigen haben auch russische Lyriker des XIX. Jahrhunderts, etwa A. Fet, dieArmut der Sprache beklagt.

106 U, Eco: Das offene Kunstwerk, aaO. [Anm. 102], 331.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 132.74.1.4

Download Date | 8/26/13 8:20 PM

Page 21: Heaps of Dead Language               und               Friedhof der Worte               - Russische Parallelen zu James Joyce

„Heaps of Dead Languagf und »Friedhof der Worte" 165

Wenn davon die Rede war, daß Sklovskij u. U, sein Verfremdungstheoremunter dem Einfluß von Joyce modifizierte, so muß ein Hinweis auf die bisheute enorm problematische sowjetische Joyce-Rezeption gegeben werden.Auf dem Schriftstellerkongreß von 1934 hatten Karl Radek und WielandHerzfelde zu Joyce als zu einem möglichen Vorbild der Sowjetliteratur Stellunggenommen107. Für Radek war Joyces Werk „ein von Würmern wimmelnderMisthaufen, mit einer Filmkamera durch ein Mikroskop aufgenommen", einWerk, dem jegliche Vorbildfunktion abgesprochen wurde. Herzfelde hieltRadek entgegen, man könne nicht behaupten, „daß das Mikroskop einenutzlose Erfindung und die Erforschung des Mistes eine schädliche Tätigkeitist". Für Herzfelde ist Joyce symptomatisch für die bürgerliche dekadenteLiteratur des Westens, doch war er durchaus bereit, das Experimentelle desJoyceschen Werks anzuerkennen. Sklovskij war auf jenem Kongreß zugegen,der letztendlich die Position Radeks festschrieb, doch ist bemerkenswert, daßSklovskij in einem Aufsatz von 1938 noch einmal das Bild vom Mikroskopaufgreift, um einen literarischen Detailismus generell zu rechtfertigen108. Esist keinesfalls auszuschließen, daß dieses Bild Sklovskij half, den Schritt vonder Verfremdung als Kenntlichmachung und Sichtbarmachung zum „NeuenSehen" zu vollziehen. Sein „Neues Sehen" legte dabei die Dominante in dasaktive, wahrnehmende, beobachtende und schreibende Subjekt, während Joycegeschrieben hatte „ein Gegenstand vollbringe seine Epiphanie" und man seheihn. Joyce ist nie dem Irrtum verfallen, dem Sklovskij anfangs verfiel, dieDesautomatisierung der Wahrnehmung nur technisch zu sehen und zur alleini-gen Bedingung für die Qualität eines Textes zu erklären. Bei Joyce hattedas epiphaniehafte Neue Sehen Subtextstrukturen entstehen lassen, hatte aufUnausgesprochenes verwiesen, eigene Motivketten erzeugt, welche vom ei-gentlich Autobiographischen ins Politisch-Kulturelle verweisen. Das „NeueSehen" war ein „Vorstoßen zu den Dingen", „kritisches, auf Veränderunggerichtetes Sehen"109. Es entsteht durch Schaffung einer künstlichen Distanzzwischen Objekt und Betrachter. Für Joyce bedeutet Epiphanie Aufhebungder Distanz, Aneignung, Verstehen. Die Uhr am Ballast-Office, die lange Zeitunsichtbar war, epiphanisiert sich, nähert sich, wird wahrgenommen underlebbar. Ihre Erwähnung jedoch und der Stellenwert, der damit der Uhr alseinem gewöhnlichen Stück Dubliner Straßeninventar110 zugeschrieben wird,provoziert dann doch wiederum eine distanzierende Auseinandersetzung mitder Banalität des Normalen: Verfremdung, Neues Sehen, Epiphanie.

107 Vgl. dazu: Sozialistische Realismuskonzeptionen — Dokumente %um 1. Allunionskongreß derSowjetschriftsteller, hg. v. A. J. Schmitt und G. Schramm, Frankfurt/M. 1974, 140-213(Beitrag von Radek), 239—244 (Beitrag von Herzfelde).

108 Viktor Sklovskij: Ra^govor s dru^jami (1938), Ndr. in: V. S.: Za sorok let — Stafi o kino,Moskva 1965, 132—146. Im gleichen Aufsatz taucht zum ersten Mal der Vergleich derfrühen Tolstoj-Erzählung mit Ulysses auf (139 f.). Zur Joyce-Rezeption in der UdSSRder dreißiger Jahre vgl. Hans Günther: Die Verstaatlichung der Lit. — Entstehung undFunktionsweise des sozialistisch-realistischen Kanons in der sowjetischen Lit. der 30er Jahre.Stuttgart 1984, 68-80. ^

109 Lachmann: Verfremdung 246.110 Stephen Hero 189.

Brought to you by | Heinrich Heine Universität DüsseldorfAuthenticated | 132.74.1.4

Download Date | 8/26/13 8:20 PM


Recommended