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Handbuch Wissenschaftssoziologie

Date post: 06-Jul-2018
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    Handbuch Wissenschaftssoziologie

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     Sabine Maasen • Mario Kaiser Martin Reinhart • Barbara Sutter (Hrsg.)

    HandbuchWissenschaftssoziologie 

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    ISBN 978-3-531-17443-3 ISBN 978-3-531-18918-5 (eBook) DOI 10.1007/978-3-531-18918-5

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliograe;detaillierte bibliograsche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufar.

    Springer VS© Springer Fachmedien Wiesbaden 2012

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht aus-drücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Dasgilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverlmungen und die Ein-speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk be-rechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne derWarenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermannbenutzt werden düren.

     Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier

    Springer VS ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe SpringerScience+Business Media.www.springer-vs.de

    Herausgeber 

    Prof. Dr. Sabine Maasen

    Dr. des. Mario Kaiser

    Dr. des. Barbara Sutter

    Wissenschaftsforschung

    Universität Basel

    Basel, Schweiz

    Humboldt-Universität Berlin, Deutschland

    Prof. Dr. Martin Reinhart

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    Inhalt

    Vorwort

    Wissenschaftssoziologie: Von der Bindestrichsoziologie zurGesellschaftsdiagnostik 9

    I Dynamiken und Differenzierungen

    Einleitung 15

    Präformierungen

    Wissenssoziologie 17 Rainer Schützeichel

    Wissenschaftssoziologie ex ante  27 Rainer Egloff

    Institutionalisierungen

    Das materialistische Programm 35Gideon Freudenthal & Oliver Schlaudt

    Das institutionalistische Programm 45 Raimund Hasse

    Das historisch-epistemologische Programm 59 Barbara Orland

    Diversifizierungen

    Die Kuhn!sche Wende 73 Paul Hoyningen-Huene & Simon Lohse

    Die konstruktivistische Wende 85 Peter Hofmann & Stefan Hirschauer

    Die diskursanalytische Wende 101 Dirk Verdicchio

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    6  Inhalt

    II Theorien und Programme

    Einleitung 111

    Wissenschaft als soziales System

    Wissenschaft als gesellschaftliches Teilsystem 113Uwe Schimank

    Wissenschaft als Feld 125 Eva Barlösius

    Organisationen der Wissenschaft 137 Justus Lentsch

    Scientific communities 151 Jochen Gläser

    Geschlechter der Wissenschaft 163Tanja Paulitz

    Wissenschaft als Wissensproduktion

    Kulturen der Wissenschaft 177

     David J. Hess Netzwerke der Wissenschaft 191Thomas Heinze

    Dinge der Wissenschaft 203 Jan-Hendrik Passoth

    Rhetoriken der Wissenschaft 213 Fran Osrecki

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    Inhalt  7 

    III Konjunktionen und Distinktionen

    Einleitung 227

    Nachbarschaften

    Wissenschaftsphilosophie 229 Marcel Weber

    Wissenschaftsgeschichte 241Thomas Brandstetter

    Techniksoziologie 251 Andreas Lösch

    Freundschaften

    Hochschulforschung 265Georg Krücken

    Evaluation und Evaluationsforschung 277Stefan Hornbostel

    IV Themen und Trends

    Einleitung 289

    Von Wissenschaft zu Technoscience

    Alte Objekte, neue Dinge: Von Wissenschaft zu Technoscience 291 Alfred Nordmann & Astrid Schwarz

     Neue Bilder, Modelle und Simulationen:

    Zwischen Repräsentativität und Produktivität 303 Martina Merz & Inge Hinterwaldner

     Neue Wissensarten: Risiko und Nichtwissen 317Stefan Böschen & Peter Wehling

     Neue Arbeitsweisen: Projekte und Vernetzungen 329 Marc Torka

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    8  Inhalt

    Wissenschaft und GesellschaftWissenschaft und Politik: Von Steuerung über Governance zu Regulierung 341

     Alfons Bora

    Wissenschaft und Massenmedien: Von Popularisierung zu Medialisierung 355 Martina Franzen, Simone Rödder & Peter Weingart

    Wissenschaft und Wirtschaft: Von Entdeckung zu Innovation 365 Martin Reinhart

    Wissenschaft und Öffentlichkeit: Von Information zu Partizipation 379

     Alexander Bogner

    V Diagnosen und Desiderata

    Einleitung 393

     Neue Zukünfte "  Gegenwarten im Verzug 395 Mario Kaiser

     Neue Episteme: Die biokybernetische Konfiguration der

    Technowissenschaftskultur 409 Jutta Weber

     Neue Subjekte, neue Sozialitäten, neue Gesellschaften 417Sabine Maasen & Stefanie Duttweiler

    Wissenschaftssoziologie der Soziologie 429 Barbara Sutter

    Epilog

    Wissenschaftssoziologie im Gedrängel intellektueller Arbeit 443

    Literaturverzeichnis 447Personenverzeichnis 485Stichwortverzeichnis 493Boxen-, Abbildungs- und Tabellenverzeichnis 497

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    Vorwort

    Wissenschaftssoziologie:Von der Bindestrichsoziologie zur Gesellschaftsdiagnostik

    Handbücher zählen in der Regel zwei ganz unterschiedliche Lesergruppen zu ihren Publika,dies gilt wohl auch für dieses Handbuch zur Wissenschaftssoziologie: zum einen die Novi-zen, die einen ersten Blick auf das ihnen interessant, aber noch fremd anmutende Feld wer-fen wollen; zum anderen die Virtuosen, die vielleicht nicht alle Gebiete des Gegenstandsbe-reichs gleich gut kennen, aber doch schon ein entwickeltes Verständnis vom Feld einbrin-gen. Während die Novizen darauf warten, gewissermaßen als entrée zur weiteren Lektüre,wenigstens eine grobe Kartierung des Feldes zu erhalten, mögen Virtuosen darauf verzich-ten wollen "  wohl wissend, dass Kartierungen dieser Art ohnehin zu selektiv, zu linear undzu homogenisierend wirken, um ernsthaft nützlich zu sein. Beiden Perspektiven ist zuzu-stimmen; und beiden will diese kurze Einführung Genüge tun.

      Den einen wird sie (eingedenk ihrer notwendigen Unzulänglichkeit) eine grobe Kartie-rung anbieten (1);

      mit Blick auf die anderen wird sie einige dekonstruktive Überlegungen anstellen (2);  schließlich erläutert die Einführung die Struktur des Handbuchs, die beiden Lesergrup-

     pen (und allen, die sich dazwischen positionieren) so etwas wie eine Anleitung zumambivalenzfreundlichen Umgang mit den Gegenständen der Wissenschaftssoziologieund dem Feld selbst geben möchte (3).

    1) Lange galt Wissenschaft als ein Gegenstand, der zwar erkenntniskritischen undhistorischen, nicht aber soziologischen Analysen zugänglich sei. Lange betrachtete auch diefrühe Wissenssoziologie die Wissenschaften ausdrücklich als einen Sonderfall gesell-schaftlicher Wissensproduktion, der nicht, zumindest nicht vollständig, in den Bereich derWissenssoziologie falle. Anders als bei politischen Überzeugungen, künstlerischen Stilent-wicklungen oder religiösen Doktrinen schloss man im Fall der Wissenschaft soziale Beein-flussung überwiegend aus  "  allenfalls, so die herrschende Auffassung, könne man sich mitwissenschaftlichen Irrtümern befassen und diese auf soziale Faktoren zurückführen.

    Spätestens mit Robert K. Merton wird Wissenschaft zum soziologischen Gegenstand sui generis# %&' ()*+,-./01/ *0+, )0') 230**)'*+,4./**56057510)8 90/ :); *56047)' &': )

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    10  Vorwort

    temischen Ordnung der Wissenschaft sowie der Verbindung zwischen den beiden Ord-nungsebenen. Auf den allgemeinsten Nenner gebracht lautet die soziologische Frage: Wie

    sind die Produktion, Verbreitung und Geltung gesicherten Wissens möglich? Sie ist nichtzuletzt in einer Gesellschaft wie der heutigen, die sich in allen wichtigen Handlungsdomä-nen wie Politik, Wirtschaft oder Erziehung immer weitreichender auf Wissenschaft undTechnologie verlässt, von erheblicher Bedeutung und Evidenz. Diese Wahrnehmung hatunterdessen zu der Etablierung einer Wissenschafts forschung  geführt, in deren interdiszip-linärem Rahmen sich eine Vielzahl wissenschaftssoziologischer Forschungen situiert. Dochsei daran erinnert, dass die gegenwärtige Bedeutung und Evidenz einer Soziologie der Wis-senschaft das Resultat eines verschlungenen und facettenreichen Weges ist (Kaiser/Maasen2010).

    Schon allein die Frage, welche Aspekte der Wissenschaft der soziologischen Analyse

    zugänglich seien, hat sich im Laufe der Zeit mehrfach gewandelt und diversifiziert. Wäh-;)': :0) -7/);)= 47* 20'*/0/&/05'470*/0*+,8 ()6)0+,'ete Wissenschaftssoziologie verstärkt die Entstehung und die Struktur der Wissenschaft als soziales Phänomen ins Auge fasst, ist sieseit den 1970er Jahren dazu übergegangen, auch wissenschaftliches Wissen  selbst durchsoziologische Faktoren zu erklären. Parallel dazu interessiert sich die Wissenschaftssozio-logie zunächst für makro-, dann eher für mikrosoziologische Fragestellungen: Stehen fürMerton in den 1940er Jahren noch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Vorder-grund, die Wissenschaft überhaupt ermöglichen (Demokratie), beginnen besonders dieangelsächsischen Science Studies  in den 1970er Jahren damit, die lokalen Arbeits-, Hand-lungs- und Kommunikationsprozesse zu beschreiben, die an der Entstehung von Fakten

     beteiligt sind (etwa im Labor).Seit Mitte der 1980er Jahre finden sich Ansätze, die ')()' :); >0..);)'6 ?5' 290@;58

    &': 294@;58 4&+, :0) A'/);*+,)0:&'1 6B0*+,)' 2*560478 &': 2/)+,'0*+,8

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    Vorwort  11 

    nischem und Organischem), aber auch die Gesellschaft, die vermehrt als von Cyborgs be-völkerte Technowissenschaftskultur beschrieben wird (Haraway 1997).

    Da die Wissenschaftssoziologie nicht zuletzt dank ihrer Heimatdisziplin, der Soziolo-gie, mit einem reichhaltigen Inventar von Theorien und Methoden verschiedenster Schulenaufwarten kann, das sie durch Eingliederung in eine Wissenschaftsforschung und durchinterdisziplinäre Kooperationen mit Nachbardisziplinen (z. B. Medienwissenschaften oderGenderforschung) mit weiteren Theoremen angereichert hat, erstaunt es nicht, dass sieihren Gegenstand, Wissenschaft und Technologie, mit hoher Differenzierung und Auflö-sungskraft zu bearbeiten vermag. Die Beiträge dieses Handbuchs legen davon Zeugnis ab:Sie plausibilisieren die multiparadigmatische Konstruktion eines reflexiven Wissensfeldes,das die soziologische Reflexion auf Wissenschaft als ko-konstitutivem Element der moder-nen Gesellschaft zum Gegenstand hat und die oft heterogenen Bedingungen und oft ambi-

    valenten Effekte ihrer zunehmenden Wissensbasierung untersucht. Dies schließt die Rück-wirkungen all dieser Prozesse auf die Wissenschaft selbst ein.

    2) Vor diesem Hintergrund dekonstruiert das vorliegende Handbuch jedoch sogleich jedwede Erwartung an ein lineares, gar homogenisierbares Narrativ in Sachen Wissen-schaftssoziologie: Wer sich die Mühe macht, mehrere Beiträge zu lesen, wird bald feststel-len, dass je nach Themen- oder Theoriekontext ganz verschiedene Genealogien wissen-schaftssoziologischer Problematisierungen rekonstruiert, ganz verschiedene disziplinäreKooperationen für relevant erachtet, ganz verschiedene Analyseebenen (soziale, epistemi-sche, institutionelle) angewählt oder kombiniert werden. In all ihrer Differenziertheit wird

     jedoch auch deutlich, dass Wissenschaft die Gegenwartsgesellschaft immer durchgreifendererfasst "  auch wenn es sicher vermessen wäre, Wissenschaftssoziologie deshalb zur Allge-meinen Soziologie der Gegenwart zu erklären, unterstreicht doch das, was nun folgt, dassWissenschaftssoziologie  "  aktiv wie passiv  "  ein hoch-anschlussfähiges Unternehmen zurAnalyse der Gegenwartsgesellschaft ist. Um es in Termini der Wissenschaftsforschung zusagen:

      Wissenschaft figuriert als boundary object   "   plastisch genug, um von Verschiedenenunterschiedlich genutzt zu werden, inhaltlich fixiert genug, um eine globale Identität zuwahren (Star/Griesemer 1989);

      Wissenschaftssoziologie beschreibt (und betreibt selbst) boundary work : LM5&':4;N-

    work occurs as people contend for, legitimate, or challenge the cognitive authority ofscience "  and the credibility, prestige, power, and material resources that attend such a

     

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    12  Vorwort

    schungsthemen in und zu ganz verschiedenen Wissenschaftskulturen zu generieren. Siereicht auch hin, um Medienberichte zu lancieren, politischen Beratungsbedarf anzumelden,

    Innovationsprogramme durchzusetzen oder aber über das Verhältnis von Wissenschaft undÖffentlichkeit nachzudenken. Gleichwohl: In allen diesen (und den vielen weiteren) Kon-texten nuanciert sich nur immer weiter, was jeweils mit Bezug auf Wissenschaft thematischund mit wissenschaftssoziologischer Forschung sichtbar wird. Mit dem Wachstum und demErfolg von Wissenschaftssoziologie, insbesondere im Kontext der Wissenschaftsforschung,geht auch die Differenzierung des Gegenstands(-bereichs) einher.

    3) Die Textsorte Handbuch verspricht gemeinhin, das für die Partizipation am jewei-ligen Fachdiskurs notwendige Überblickswissen zu bieten, es zu konturieren und zu kon-textualisieren. Damit ist es, nolens volens, immer auch selektiv. Es kommt nun darauf an,

    einen Typus der Selek /0?0/-/ 6& .0':)'= :); *5 )/B4* B0) )0') 2I&*7)1)5;:'&'18 :)* :e-skriptiven und kritischen Potentials der Wissenschaftssoziologie ermöglicht. Denn ausGründen der enormen Dynamik, der die Wissenschaftssoziologie durch die wachsendeBedeutung von Wissenschaft und Technologie in Technowissenschaftsgesellschaften aus-gesetzt ist, kann und will dieses Handbuch keine Gültigkeit auf der Basis einer umfassen-den Synthese aller vom Fach erbrachten Forschungsleistungen beanspruchen. Dessen unge-achtet unterbreitet es einen Vorschlag, wie man sich der Wissenschaftssoziologie auf ver-schiedenen Wegen nähern könnte:

      Teil I, Dy'490@)' &': >0..);)'60);&'1)'= 1),/ :)9 '4+,= B4* :);6)0/ 47* 2P;-.5; mie-;&'1)'8= 47* B0+,/01) 2Q'*/0/&/05'470*0);&'1)'8 &': 2>0?);*0.060);&'1)'8 :); 30**)n-schaftssoziologie behandelt wird  "   immer eingedenk dessen, dass dies stets rückbli-ckende (Ein-)Ordnungsversuche sind.

      Teil II, Theorien und Programme, erschließt Wissenschaft als sozio-epistemische Ord-'&'1= &': 6B4; )0');*)0/* 47* 2*56047)* FN*/)98 Eu. a. als Feld, als Organisation, struk-turiert durch  scientific communities), andererseits im Hinblick auf weitere Dimensio-nen der Produktion robusten Wissens (u. a. Netzwerke oder Kulturen der Wissen-schaft).

      Teil III, Konjunktionen und Distinktionen, wendet sich denjenigen Wissensfeldern zu,die sowohl in Nachbarschafts- als auch in Abgrenzungsverhältnissen zur Wissen-schaftssoziologie stehen (z. B. Wissenschaftsgeschichte oder Techniksoziologie),wenngleich in je unterschiedlichen Mischungsverhältnissen.

      Teil IV, Themen und Trends, erkundet zum einen die hochdynamischen Interaktions-verhältnisse der Wissenschaft zur Öffentlichkeit wie auch zu spezifischen Subsyste-men der Gesellschaft (Politik, Medien, Wirtschaft), zum anderen aktuelle Fragen onto-logischer, epistemischer oder wissensgenerierender Art. Lassen sich beispielsweiseRückwirkungen der Projektform auf die Wissensproduktion erkennen?

      Teil V geht exemplarisch einigen Diagnosen und Desiderata nach, die sich zum einenauf die Effekte der Kybernetisierung beziehen: im Hinblick auf die Formierung einer2R)+,'5wissenschafts@&7/&;8 &': 0'');,47( :0)*); B0ederum auf die Emergenz opti-mierungsbedürftiger Subjektivitäten, Sozialitäten und Gesellschaften; zum anderen auf

    die Rolle der (qua Wissenschaft und Technologieentwicklung hoch diversifizierten)

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    Vorwort  13 

    Zukünfte für die gesellschaftliche Selbstregulation. Ein besonderes Desideratum wirdmit der Wissenschaftssoziologie der Soziologie benannt.

      Der Epilog schließt mit einigen Überlegungen zu einer Wissenschaftssoziologie derReflexion(en) auf Wissenschaft und Technologie. 

    Daraus erhellt vielleicht bereits, dass das Folgende den eingangs gegebenen Kurzüberblicknotwendiger B)0*) :)@5'*/;&0);/H >4* %4;;4/0? :); 30**)'*+,4./**56057510) L?5' :); M0':e-strichsozio7510) 6& D)*)77*+,4./*:041'5*/0@O @5''/) &': B577/) '0+,/ 9),; *)0' 47* :0) 4 l-lererste Stufe auf einer Leiter, die, sobald erklommen, unnötig wird: Die Lektüre einzelneroder verschiedener Beiträge sollte Interessierte dazu befähigen, sich  "   auch mit Hilfe dergenannten weiterführenden Literatur, der internen Verweise und des Sachindexes  "   zügigselbst ein Bild vom Feld oder von einzelnen seiner Teile zu machen und dieses dem eige-

    nen Forschungshorizont einzugliedern.Auch wenn einiges dafür spricht, Wissenschaftssoziologie heute als Bindestrichsozio-

    logie mit gesellschaftsdiagnostischem Potenzial zu betrachten, versteht sich dieses Hand- buch eher als Anleitung zum wissenschaftssoziologisch belehrten Umgang mit der Dyna-mik des Gebiets und seiner Gegenstände  "  es weist auf das Vermögen der Wissenschafts-*56057510) 6&; LS5'/0'1)'6)'/*+,7T**)7&'1O E30)*)'/,47 U002) wissens- und technolo-giebasierter Gesellschaften hin, oder, mit etwas mehr Pathos: zur Aufklärung ihrer Mitglie-der in postaufklärerischen Zeiten. Und es nimmt sich heraus  "  und zwar mit aller gebotenenReverenz, die der interdisziplinären Unternehmung namens Wissenschaftsforschung zuerweisen ist  " , das Lied der spezifisch soziologischen, oder breiter: sozialwissenschaftli-

    chen Beiträge zum Aufstieg und zur Differenzierung der empirisch gestützten Reflexion aufWissenschaft zu singen. Dies ist keineswegs als Plädoyer für eine Re-Disziplinierung derWissenschaftsforschung zu verstehen, sondern als Hinweis auf die differentia specifica,aber auch auf die bereits erreichten oder noch erreichbaren Anschlüsse wissenschafts-soziologischer Untersuchungen. Eben in ihrer Differenz oder durch die Spezifik ihrer An-schlüsse distinguieren sie sich im wachsenden Chor wissenschafts- und technologiereflexi-ver Stimmen nicht nur gegenüber den bereits genannten Wissen(schaft)sfeldern, sondernauch gegenüber der Angewandten Ethik, den Innovationsstudien und der Technikfolgen-abschätzung, aber auch dem (Wissenschafts-)Journalismus oder der Futurologie. Dazuetwas mehr im Epilog.

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    14  Vorwort

    Dank

    Ein Handbuch stellt nicht nur eine besondere Herausforderung für seine Autoren und Her-ausgeber dar; auch die Erstellung des Manuskripts und seine Korrektur stellt besondereAnsprüche an diejenigen, die mit diesen Aufgaben betraut werden: Andrin Tomaschett undKathrin Klohs danken wir deshalb ganz besonders herzlich für ihre Sorgfalt und Geduld.Auch sie haben dazu beigetragen, die Texte der vielen Autoren in ein Vielautorenwerk zuüberführen.

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    I Dynamiken und Differenzierungen

    Einleitung

    Ein Handbuch der Wissenschaftssoziologie kommt nicht umhin, eine Geschichte seinesGegenstands zu präsentieren, insbesondere deshalb, weil die Frage, wer etwas zuerst gesagthat, in der Wissenschaft besondere Bedeutung besitzt. Nicht umsonst sind Prioritätskonflik-te ein beliebter Gegenstand der Wissenschaftssoziologie. Eine diachrone Perspektive hataber zu berücksichtigen, dass wissenschaftliche Disziplinen ihre Geschichten notwendiger-weise immer aus der Perspektive der Gegenwart schreiben, wobei auch dies keine einheitli-che Perspektive sein kann. Wer die Begründer einer Disziplin sind, welches die Meilenstei-ne der Erkenntnis darstellen und wer oder was vergessen werden kann, stellt sich in derGegenwart für verschiedene wissenschaftssoziologische Positionen unterschiedlich dar.

    Das Vorwort hat schon deutlich werden lassen, dass jedes lineare, homogene Narrativder Disziplinengeschichte zu problematisieren ist. Eine problematisierende Darstellung derGeschichte der Wissenschaftssoziologie kann sich deshalb darauf gründen, dass Selbstbe-schreibungen der Disziplinengeschichte neben ihrer spezifischen Perspektive auch sichwiederholende, allgemeine Elemente enthalten. Die Gliederung dieses Teils greift mit

     Präformierungen, Institutionalisierungen, Diversifizierungen auf solche typischen Elemen-te zurück.  Präformierungen verweist auf die typische Selbstbeschreibung, der zufolge be-stimmte Autoren und Zugänge als Vorläufer, Wegbereiter oder Übergangene dargestelltwerden. Institutionalisierungen meint den Moment im Verlauf einer Disziplin, für den eine

    Festigung angenommen wird, die es erlaubt, von einer einigermaßen stabilen Basis auszu-gehen.  Diversifizierungen  schließlich deutet an, dass eine derart gefestigte Basis in derWissenschaft stets von Neuem als Ausgangspunkt für Sondierungen in neue Richtungengedeutet werden kann, die in einem nächsten Schritt wieder als gefestigte Institutionalisie-rungen erscheinen können. Gerade an den Diversifizierungen, die gerne als turns  prokla-miert werden, wird deutlich, dass über historische Selbstbeschreibungen Disziplinenpolitik

     betrieben werden kann. Ein offenes und problematisierendes Modell der Disziplinen-entwicklung, das auf typische Muster der Selbstbeschreibung abstellt, geht solchen politi-schen Kämpfen innerhalb der Wissenschaftssoziologie so weit wie möglich aus dem Weg.

    Die Präsentation der Disziplinengeschichte in offener Form unterbreitet verschiedene

    Angebote, wie die Disziplinenentwicklung aus der Gegenwart gedeutet werden kann. Diegegenwärtig wohl dominante Lesart entspricht der Darstellung in der Einleitung, nach der

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    16  Dynamiken und Differenzierungen

    die Wissenschaftssoziologie ihren Vorläufer in der Wissenssoziologie (v. a. derjenigen vonKarl V4'',)09G ,4//) &': :&;+, :4* V);/5'!*+,)= 0'*/0/&/05'470*/0*+,) P;51;499 );*/

    eigentlich zur Wissenschaftssoziologie wurde, die dann durch eine Vielzahl von Anschlüs-sen an Thomas S. Kuhn eine Diversifizierung erfahren hat. In den weiteren Teilen desHandbuchs wird dann aber zur Genüge deutlich werden, dass diese Geschichte der Wissen-schaftssoziologie auch ganz anders gedeutet wird, so dass Namen wie Ludwik Fleck, BorisHessen, Gaston Bachelard und David Bloor ins Zentrum rücken.

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    Dynamiken und Differenzierungen Präformierungen

    Wissenssoziologie

     Rainer Schützeichel

    Die Wissenssoziologie ist diejenige soziologische Disziplin, die sich mit dem wechselseiti-1)' J);,-7/'0* ?5' 2Sozialem8 und 2Wissen8 befasst. Sie untersucht also den Bedingungs-kontext zwischen den sozialen Formen, in denen Wissen gebildet oder kommuniziert wird,und den entsprechenden Wissensformen. Gemeinsam ist allen wissenssoziologischen An-sätzen, dass sie von dem cartesianischen Bild des einsamen Erkenntnis- oder Wissenssub-

     jekts Abstand nehmen und diesen Akteur von vornherein als ein soziales Wesen auffassen.Über diese Grundvoraussetzung hinaus ist die Wissenssoziologie aber in verschiedeneTheorie-Cluster fragmentiert, zwischen denen mitunter auch keine diskursiven Zusammen-

    hänge bestehen.Was sind die wesentlichen Dimensionen, in denen sich die wissenssoziologischen An-

    sätze unterscheiden? Sie differenzieren sich danach, welche sozialen Formen, Prozesse undStrukturen einerseits und welche Wissensformen andererseits im Blickpunkt des For-schungsinteresses stehen. Bei den sozialen Formen kann es sich um so genannte soziologi-sche Makro-Phänomene wie Strukturen der sozialen Ungleichheit oder der gesellschaftli-chen Differenzierung handeln, um Meso-Phänomene wie Organisationen, Professionenoder Netzwerke, aber auch um Mikro-Phänomene wie Interaktionen oder persönliche Be-ziehungen. Auch die untersuchten Wissensformen können ganz unterschiedlicher Art sein.Es kann um explizites, propositionales, deklaratives Wissen gehen genauso wie um implizi-

    tes Wissen, Erfahrungswissen oder um latente Deutungsmuster. Ferner steht Wissen inunterschiedlichen medialen Formen wie Sprache, Schrift oder Bildern zur Debatte sowieWissen im Medium des Sinns: des subjektiven wie objektiven sozialen Sinns.

    Aber welche Sozial- und Wissensformen auch immer "  die Aufgabe der Wissenssozio-logie besteht darin, den wechselseitigen Bedingungszusammenhang zwischen ihnen zu ana-lysieren. Als kleinster gemeinsamer Nenner der verschiedenen wissenssoziologischen Posi-tionen kann deshalb die Abkehr von dem traditionsgeschichtlich vorherrschenden Modelldes autonomen, individuellen Wissensakteurs oder eines cartesianischen Wissenssubjekts

     bestimmt werden. Wissenssoziologische Positionen stellen die je unterschiedlichen sozialenBeziehungen in den Vordergrund, in die epistemische Akteure eingebettet und involviertsind. Manche Ansätze gehen über diese Beziehungsrelation noch einen Schritt hinaus und

     

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    18  Rainer Schützeichel

    ersetzen das individuelle durch ein kollektives Subjekt (Gruppe, Gemeinschaft, Klasse) alsden eigentlichen Träger der Wissensproduktion und -reproduktion.

    1  Theoriegeschichte und theoretische Positionen

    Die Genese der Wissenssoziologie kann wissenssoziologisch erklärt werden. Die Wissens-soziologie ist diejenige Disziplin, die sich mit den durch gesellschaftliche Modernisie-rungsprozesse bedingten Veränderungen des sozialen oder gesellschaftlichen Wissens aus-)0'4':);*)/6/H F57+,) J);-':);&'1)' B&;:)' &': B);:)' 90/ F/0+,B5;/)' B0) 2W0*/5;0s-9&*8= 2C)74/0?0*9&*8= 2Q:)57510)8= 2F-@&74;0*0);&'18= 2C4/05'470*0);&'18 5:); 23);/)?);.4778

     bezeichnet und beruhen auf komplexen Konstellationen wie dem Zerfall von als allgemein

    gültig anerkannten Diskursuniversa in eine Vielzahl von verschiedenen Wissensbereichen,der kulturellen Zerrissenheit moderner Gesellschaften, der immer schnelleren Produktion,4(); 4&+, :)9 J);47/)' ')&)' 30**)'* 5:); :); 47* 2Q:)57510*0);&'18 ()6)0+,')/)' 4771e-meinen Zurechnung von Wissen und Überzeugungen auf soziale Interessenlagen.

    Die Wissenssoziologie ist also gleichsam ein reflexives Produkt   der Entwicklungen,die sie selbst analysiert. Und sie gerät damit von Beginn an und bis in die jüngere Gegen-B4;/ ,0')0' 0' )0') *)7(*/0':&60);/) P4;4:5X0)# 35;0' ()*/),/ :0) LK(Y)@/0?0/-/O :); 30 s-senssoziologie, wenn sie behauptet, dass die Gültigkeit von Wissen keine rein epistemischeFrage, sondern immer auch eine Frage der sozialen Konstellationen ist, in denen eben überdie Gültigkeit entschieden wird? Gelten für die Wissenssoziologie selbst diese sozialen

    Bedingungen und Einschränkungen nicht? Diese Fragen entzündeten sich schon früh ausAnlass der Diskussion der wohl einflussreichsten wissenssoziologischen Publikation, näm-70+, :)9 M&+, T(); LQ:)57510) &': A/5

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    Wissenssoziologie  19 

    enormen Einfluss auf die frühe, klassische Wissenssoziologie eines Mannheim oder Sche-ler.

    Bedeutsam für die klassische Wissenssoziologie waren zudem die positivistische Phi-losophie Auguste Comtes, die in ihrem Drei-Stadien-Gesetz einen engen kausalen Zusam-menhang von weltanschaulich-kognitiver Entwicklung und gesellschaftlicher Organisati-onsweise postulierte, sowie die Soziologie Emile Durkheims und seiner Schüler, die aufden Zusammenhang von gesellschaftlicher Organisationsweise und kollektivem Bewusst-sein aufmerksam machte. Zu erwähnen ist überdies die hermeneutische Philosophie vonWilhelm Dilthey, die schon in ihrer Analyse der Weltanschauungen die sozialen und kultu-rellen Bezüge des Wissens in das Zentrum ihrer Überlegungen stellte.

    1.1  Wissensordnungen und soziale Ordnungen

    >); @74**0*+,) `5;*+,&'1*4'*4/6 :); 30**)'**56057510) ().4**/ *0+, 0' )0'); 294@;5*560o-7510*+,)'8 I;1&9)'/4/05'*B)0*) 90/ :)' S5;;)74/05')' :)r beiden Dimensionen sozialeOrdnung und Wissensordnung. In Auseinandersetzung mit Diltheys Lehre von den Weltan-schauungen entwarf Scheler (1926) eine Taxonomie der Wissensformen. In dieser unter-

    schied er zwischen der relativ-natürlichenWeltanschauung  und den höheren Wissens-formen. Die relativ-natürliche Weltan-schauung reflektiert das in einer Gemein-

    *+,4./ 9)0*/ &';).7)@/0);/ &': 2&'()B&**/8geltende Wissen, das in einer Gemeinschaftals fraglos geltend vorausgesetzt wird. Diehöheren Wissensformen der Religion, derMetaphysik und der Wissenschaft differen-zierte Scheler nochmals nach dem Grad0,;); 2ST'*/70+,@)0/8H I9 &'/);)' _':)=also in einem dichten Zusammenhang mitder relativ-natürlichen Weltanschauung,*/),)' VN/,)'= b)1)':)' &': :4* 2'4/T;7i-che Volk *B0**)'8H >4;4&. (4&)' :4* 9N*/i-

    sche und das religiöse Wissen auf. Amanderen Ende stehen "  Scheler bezieht sichhierbei kritisch auf die Drei-Stadien-Lehre

    von Comte "  das philosophisch-metaphysische Wissen und schließlich das positive Wissender verschiedenen Wissenschaften und der Mathematik. Den höchsten Grad an Künstlich-keit ordnet Scheler dem technologischen Wissen zu, das ein Höchstmaß an Kontrolle von

     Natur und Gesellschaft erlaubt.Hervorzuheben ist schließlich noch Schelers Lehre von den Verhältnissen zwischen

    Realfaktoren und Idealfaktoren. Das Feld der Idealfaktoren bilden die verschiedenen Wis-sensformen. Als Realfaktoren bezeichnet Scheler das sozialstrukturelle Feld der ökonomi-

    schen Produktions-, politischen Macht- und ethnischen Konstellationsverhältnisse. Beide

     Box 1: Wissensformen nach Scheler

     Höhere Wissensformen

    Positives, wissenschaftlichesund technologisches Wissen

    Philosophisches, metaphysischesWissen

    Religion und Mystik

    Volkswissen, Mythen,Legenden 

     Relativ-natürliche Weltanschauung

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    :0) ()0:)' S5'6)

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    22  Rainer Schützeichel

    Zu den eher makrosoziologischen Ansätzen gehört auch das Programm der Systemtheorie(1980 " 1995) von Niklas Luhmann, das die Entwicklung der Semantik   (Ideen, Begriffe,

    Metaphern etc.) mit der Entwicklung des Systems der gesellschaftlichen Differenzierung inBeziehung setzt. In besonderer Weise untersucht Luhmann in einer Vielzahl von Studiendie Effekte, die aus dem Übergang einer dominant stratifikatorisch differenzierten Gesell-schaft zu einer dominant funktional differenzierten Gesellschaft auf der Ebene der Seman-tik oder der Kultur entstehen. ( Schimank )

    1.2  Wissen, Handeln, Interaktion

    Im Gegensatz zu den Ansätzen von Marx, Scheler oder Mannheim, in denen die beiden

    Faktoren Wissen und Gesellschaft aufeinander bezogen werden, stehen in den folgendenPositionen die Fragen nach dem Verhältnis von Wissen und Handeln, die interaktive Di-mension des Wissens sowie das Verhältnis von reflexiven und vorreflexiven Wissensformen im Vordergrund. Der Ausgangspunkt der sozialphänomenologischen Wissenssoziologievon Alfred Schütz ist die Frage, wie in unserem Bewusstsein die Wirklichkeit in ihrenOrdnungen und ihren Objekten in einer typisierenden Weise konstituiert wird und wie wirunterschiedlich reflexives Wissen in unserem pragmatischen Handeln in der Sozialwelterwerben. Neben diesen Aufschichtungen des subjektiven Wissens steht die Analyse derStrukturen des lebensweltlichen Wissensvorrats im Vordergrund (vgl. Schütz/Luckmann1979; 1984). Dieser wird in seinen Verteilungs- und Verweisungsstrukturen untersucht, die

    in einer gewissen Relation zu den gesellschaftlichen Differenzierungen wie sozialen Un-gleichheiten, kulturellen Milieus oder funktionalen Positionen und Handlungserfordernis-sen stehen. Besonderes Augenmerk liegt auf der Analyse spezifischer rollenförmig fixierterWissensformen wie der des Experten, des gut informierten Bürgers oder des Laien (Schütz1946).

    An Schütz anschließend, aber auch unter starker Bezugnahme auf Theorien der prag-matistischen Philosophie und der Philosophischen Anthropologie entwerfen Berger undLuckmann (2004 [1969]) in ihrem modernen Klassiker über  Die gesellschaftliche Kon-

     struktion der Wirklichkeit   das Programm einer  sozialkonstruktivistischen Wissenssoziolo- gie. Aufbauend auf einem Wissensbegriff zweiter Ordnung, der das als Wissen definiert,was in einer sozialen Welt selbst 47* 230**)'8 ()*/099/ B0;:= *),)' :0) I&/5;)' .T; :0)

    Analyse des Zusammenhangs von subjektivem und sozialem Wissen ein Forschungspro-gramm vor, in dessen Mittelpunkt die Trias von Internalisierung, Externalisierung undObjektivierung steht. Diese epistemischen Prozesse werden durch weitgehend soziale Pro-zesse miteinander verbunden, zu denen Typisierung, Institutionalisierung sowie Sozialisati-on gehören. Subjektives Wissen kann danach immer nur in einer typisierten Weise und ineinem Medium, vornehmlich dem Medium der Sprache, externalisiert und in Kommunika-tionsprozessen institutionalisiert werden, um dann wieder in sozialisatorischen Prozessensubjektiv angeeignet zu werden. Dieser handlungstheoretisch fundierte Kreislauf beschreibt:)' S);' :); L1)*)77*+,4./70+,)' S5'*/;&@/05' :); 30;@70+,@)0/OH 

    Die hermeneutische Wissenssoziologie  stellt die rationale Rekonstruktion der Hand-

    lungsperspektiven von Akteuren in bestimmten Handlungsstrukturen in den Vordergrund

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    Wissenssoziologie  23 

    (vgl. Hitzler/Reichertz/Schröer 1999). Sie geht davon aus, dass Akteure sich immer in vor-gefundenen Situationen orientieren und diese ausdeuten müssen. Wissen wird in einem

     pragmatischen Sinn als Gesamtheit derjenigen Deutungen verstanden, mit Hilfe derer Ak-teure sich in solchen Situationen orientieren, strukturelle Handlungsprobleme identifizierenund Lösungen von Handlungsproblemen generieren. In enger Verbindung zur hermeneuti-schen Wissenssoziologie steht die ethnographische Lebensweltanalyse, in der lebensweltli-che Bedeutungsstrukturen in ihrem ursprünglichen Erfahrungsbereich mittels ethnographi-scher Analysen gezeigt werden.

    Da sie sich als genuin wissenssoziologische Theorie betrachtet, sei unter den vielenverschiedenen diskurstheoretischen Ansätzen hier nur die wissenssoziologische Dis-kursanalyse  vorgestellt (vgl. Keller 2005). Sie strebt eine Untersuchung der diskursivenPraktiken in spezifischen Institutionen und öffentlichen Arenen an. An die dokumentari-

    sche Methode von Mannheim knüpft die  praxeologische Wissenssoziologie  an (Bohnsack2007). Sie versteht sich als Kritik hermeneutischer oder interpretativer Ansätze insofern, als'0+,/ :4* L34*O )0')* 5(Y)@/0?)' F0''*= *5':);' :0) 1)')/0*+,) Q'/);

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    24  Rainer Schützeichel

    misch relevant definiert werden, die in der Sozialdimension regulieren, welche Akteure mitwelchen epistemischen Legitimationen, Kompetenzen und mit welcher Expertise ausgestat-

    tet werden, und die in der Temporaldimension  bestimmen, welche Formen und Inhalteerinnert oder vergessen werden (vgl. Schützeichel 2010). Die Soziologie der epistemischenRegime untersucht also die epistemischen Bedingungen sozialer Konstellationen. Sie ver-tritt die Position eines epistemischen Kontextualismus: Das, was wir als Wissen bezeichnen,hängt eng mit den Begründungsverfahren und Selektionsparametern zusammen, die insozialen Konstellationen darüber befinden, was als Wissen anerkannt und reproduziertwird. Damit geht sie eine enge Wahlverwandtschaft ein mit den Richtungen der SozialenEpistemologie.

    1.4  Soziale Epistemologie

    Die Soziale Epistemologie ist ein interdisziplinäres, vornehmlich zusammen mit Philoso- phen und Ökonomen betriebenes Forschungsfeld der Soziologie. Die verschiedenen Positi-onen der Sozialen Epistemologie eint die Kritik der individualistischen Epistemologien,welche die Wahrheit oder epistemische Rechtfertigung von Aussagen oder Überzeugungenallein an individuellen epistemischen Eigenschaften und nicht an den sozialen Beziehungenund Kontexten der Akteure festmachen (vgl. Goldman 1999; Longino 1990 und als Über-

     blick Schützeichel 2007). (  M. Weber )Ein wichtiger Unterschied zur traditionellen Wissenssoziologie, die sich mit ihrem

    )

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    Wissenssoziologie  25 

    R;4:0/05' :)* LS577)@/0?()B&**/*)0'*O ?5' W47(B4+,* E[\^gG &': %5;4 EUff[G ?5;= 0' :);Tradition des Symbolischen Interaktionismus und der Kognitiven Soziologie von Schwartz

    (1982), in einer systemtheoretisch begründeten Version von Luhmann (1996) und in einerkulturwissenschaftlich begründeten Version von Assmann (1992).

    1.6   Soziologie des wissenschaftlichen Wissens

    Die Soziologie des wissenschaftlichen Wissens führt die Argumentationen der Wissensso-ziologie teilweise in einer radikalisierten Fassung weiter aus. Nicht nur als falsch anerkann-tes, sondern auch als wahr anerkanntes Wissen, und nicht nur alltägliches, sondern auchwissenschaftliches Wissen selbst werden zum Gegenstand der Wissenssoziologie. Sie stellt

    eine eigene wissenssoziologische Fraktion dar, geht es in ihr doch um die Analyse einesspezifischen Wissensfeldes. Dementsprechend richtet sich die Argumentation dieser sozio-logischen Ansätze vornehmlich gegen philosophische und wissenschaftstheoretische Posi-tionen, die den Einfluss sozialer Faktoren auf die Genese wie die Gültigkeit wissenschaftli-chen Wissens abstreiten oder minimieren. Sie vertreten also die Ausrichtung einer Naturali-*0);&'1 5:); LF56057510*0);&'1O :); P,075*5

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    26  Rainer Schützeichel

    Ebene des Sinns und der Bedeutung von Symbolen über das leibliche Erkennen, die sinnli-+,)' _;.4,;&'1)' &': :0) >0*@&;*)()') (0* ,0' 6& *

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    Dynamiken und Differenzierungen Präformierungen

    Wissenschaftssoziologie ex ante 

     Rainer Egloff

    Wer eine Vorgeschichte der Wissenschaftssoziologie erzählt, impliziert damit immer aucheinen Beginn der Wissenschaftssoziologie, auf den sich diese Vorgeschichte bezieht. Start-70'0)' =)01)'/70+,);8 30**)'*+,aftssoziologie lassen sich analytisch unterschiedlich definie-ren, z. B. im Auftreten später klassisch gewordener Texte oder in der Institutionalisierungdes Fachs mit eigenen Lehrstühlen, Ausbildungsprogrammen und Diplomen, Fachzeit-schriften sowie eigenen Standards. Als akademische Subdisziplin im letzteren Sinn tritt dieWissenschaftssoziologie nicht vor den 1960er Jahren prominent in Erscheinung. Davorliegt also aus institutionenbezogener Perspektive die Vorgeschichte des Fachs. Aus der

    Sicht einer Geschichte soziologischen Denkens wären die wissenschaftssoziologischenAnfänge  "   und entsprechend deren Vorgeschichte  "   jedoch sehr viel früher anzusetzen.Doch wie früh? Bereits bei Platon lassen sich in der Diskussion der Beziehungen von Wis-sen und Macht ganz zentral wissenschaftssoziologische Probleme ausmachen (Weingart2003, 89), auch wenn sie nicht als solche ausgewiesen, hervorgehoben oder gar zu einemsystemischen Ganzen gefügt werden.

    Die in der Wissenschaftssoziologie klassische Differenzierung zwischen einer insti-tutionalistischen  Perspektive, die sich (nur) auf  soziale Bedingungen und Arrangements von Wissenschaft bezieht, und einer kognitiven  oder diskursiven  Perspektive, die Texte,Begriffe, Theorien, intellektuelle Orientierungen, Problemformulierungen und -lösungen

    sowie die dabei verwendeten Mittel untersucht (Merton 1977, 5), lässt sich so auf die Ent-wicklungsgeschichte der Wissenschaftssoziologie selbst beziehen: Je nachdem, ob Wissen-schaftssoziologie vom heutigen Standpunkt aus als  systematische, von ihrem historischenKontext abstrahierbare, theoretische und methodische Größe oder aber als eine von ihren

     jeweiligen zeitgenössischen Protagonistinnen und Protagonisten als ,wissenschaftssoziolo-10*+,8 :)@74;0);/) &': ?5' 4&a)' 4');@4''/) soziohistorische Praxis betrachtet wird, nimmtihre Ursprungs- und Entwicklungserzählung eine andere Gestalt an. Im ersten Fall geht esum die Ausbildung von Begrifflichkeiten, Theorien und Programmen, die für die heutigewissenschaftssoziologische Identität   zentral sind. Im letzten Fall handelt das historische

     Narrativ von der Verdichtung der Wissenschaftssoziologie als Fach und spezifische akade-mische Kultur mit historisch wechselnder Erscheinungsweise. 

     

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    28  Rainer Egloff

    Bevor in den 1960er Jahren die westliche Wissenschaftssoziologie unter angelsächsischerFührung und Prägung ansetzte, zu einer relativ autonomen Forschungs- und Kommunikati-

    onsgemeinschaft und zu einer Subdisziplin mit eigenen Gefäßen und Standards zu werden(vgl. Stehr 1975, 9f.), waren Differenzen in den nationalen und sprachräumlichen Traditio-nen, bei den theoretischen und methodischen Grundlagen, aber auch in den politischen bzw.weltanschaulichen Hintergrundannahmen so unüberseh- wie teils unüberbrückbar. Wennheute also retrospektiv eine wissenschaftssoziologische Tradition und Vorgeschichte kon-struiert und integriert wird, muss diese zwangsläufig heterogen, ja widersprüchlich bleiben.Sie ist mit heute als herausragend geltenden Autoren und Kontexten konfrontiert, die inihrer jeweiligen Zeit teilweise nur geringe Wirkung erzielten, sich untereinander kaumkannten oder gar rezipierten und oft diametral unterschiedlichen Ansätzen und Einflüssenverpflichtet waren.

    In der folgenden Auswahl sollen primär Strömungen und Protagonisten vorgestelltwerden, welche die soziale bzw. soziologische Dimension der Wissenschaften und ihrerEntwicklung explizit betonten, dies jedoch nicht aus der soziologischen Disziplin oder garaus der etablierten wissenschaftssoziologischen Subdisziplin heraus formulierten. In denBlick genommen werden dabei ebenso Vorläufer und Einflüsse, die unmittelbar auf diewissenschaftssoziologische Institutionalisierung einwirkten, wie solche, die zeitgenössischgeringe Wirkung zeitigten, um dann teilweise zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt,e'/:)+@/8 &': 0' :)' P05'0);;4'1 );,5()' 6& B);:)'H 

    1  Pioniere und Programme

    Proto-Wissenschaftssoziologie operiert im Allgemeinen historisch oder ethnologisch-vergleichend und konzentriert sich auf die Herleitung moderner Wissenschaft und Wissen-schaftlichkeit. Es geht dabei um die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung, auf diesich Wissenschaft und wissenschaftliches Wissen abstützen. In der Regel wird modernenaturwissenschaftliche Erkenntnis als im Kern von Gesellschaftlichem unabhängig unddaher soziologischer Analyse nicht zugänglich betrachtet. Eine Orientierung am naturwis-senschaftlichen Ethos der Objektivität wird vielmehr zwecks Legitimation der Wissen-schaftssoziologie selbst proklamiert. Entsprechend stehen in der Mehrzahl früher wissen-schaftssoziologischer Analysen lediglich Fragen nach den sozialen Wirkungen von Wissen-

    schaft und nach Bedingungen und Möglichkeiten einer gedeihlichen Wissenschaftsförde-rung im Vordergrund. Die zunehmende Auseinandersetzung mit dem Erkenntnisprozessselbst lässt sich jedoch als eine mehr oder weniger sichtbare Grundströmung in der Ge-schichte der Wissenschaftssoziologie ausmachen. Ausnahmslos können die vordisziplinä-ren wissenschaftssoziologischen Ansätze als Auseinandersetzungen mit dem Positivismusverstanden werden "  sei es als emphatischer, affirmativer oder klassischer Positivismus, seies kritisch- bzw. dialektisch-positivistisch oder schließlich anti-positivistisch.

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    Wissenschaftssoziologie ex ante  29 

    Als erste dieser Strömungen wären klassisch-positivistische Narrative der Wissenschaftsso-ziologie anzuführen. Gemeint sind damit in der Tradition des Urvaters der Soziologie, Au-

    1&*/) i59/)= */),)':) I&/5;)'H Q9 L>;)0*/4:0)'1)*)/6O Ei59/) [\^^= [..HG *N*/)94/0*0);/)Comte die aufklärerische Idee eines Fortschritts menschlicher Vernunft hin zu umfassender,differenzierter und adäquater Welterfassung in einer historischen Stufenfolge. Der Stufen-aufbau führte vom bis ins Mittelalter gültigen theologischen bzw. quasi-animistischen Sta-dium über das neuzeitliche metaphysische bzw. abstrakte zum künftigen wissenschaftlichen

     bzw. positiven Stadium. Comte machte diesen Reifungsprozess grundsätzlich für alle Men-schen und menschliche Gesellschaften sowie für alle Wissenschaften geltend. Seine Proto-

    Wissenschaftssoziologie strebte demIdeal naturwissenschaftlicher Methodikund Strenge zu und wollte durch Pla-

    nung eine gesellschaftlich nützlicheHerrschaft methodisch einheitlicherWissenschaft herbeiführen. Diese wür-de auf empirischer Beobachtbarkeit undEindeutigkeit, d. h. auf der Feststellungvon Tatsachenbeziehungen und Geset-zesformulierung, basieren. An der Spit-6) :); i59/)!*+,)' 30**)'*+,4./*); i59/)!*+,)' J5;*/)77&'1 *o-zialer und wissenschaftlicher Fort-schrittsgesetze waren auch EmileDurkheim und weitere ethnologischinteressierte französische Intellektuelleverpflichtet. Sie wollten aber die posi-tivistische Theorie und Methode zurAnalyse der Entwicklung von Wissen-schaftlichkeit aus der idealistischenSpekulation herausführen und anhand

    von empirischen Befunden abstützenund differenzieren. Durkheims  Dieelementaren Formen des religiösen

     Lebens  (1994 [1912]) oder LucienLévy-Bruhls  Das Denken der Natur-

    völker  (1921 [1910]) suchten den sozialen Ursprung von Bewusstsein und Denken zu bele-gen. Das Soziale wurde in diesen Ansätzen als dem Individuum und der Möglichkeit indi-viduellen Denkens und damit individueller Erkenntnis vorausgehend beschrieben. Auch derWiener Philosophieprofessor Wilhelm Jerusalem, der Levy-Brühls Buch auf Deutsch her-ausbrachte, betonte den sozialen Ursprung von Kategorien des Denkens. Genauso wie die

    Durkheim-Schule nahm Jerusalem allerdings an, durch die zunehmende gesellschaftliche

     Box 3:  Comte, Durkheim, Jerusalem

    Auguste Comte (1798 " 1857), der den Aus-:;&+@ =F56057510)8 1)

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    30  Rainer Egloff

    Differenzierung entstehe nicht nur das moderne Individuum, sondern insbesondere auchdessen Fähigkeit zur selbstständigen Rationalität. ( Schützeichel )

    Demgegenüber geht die Großströmung marxistischer Ansätze, die auch als kritischer   bzw. dialektischer Positivismus  gefasst werden können, nicht von einer grundsätzlich ge-steigerten individuellen Rationalität oder Erkenntnisfähigkeit in der durch fortschreitendefunktionale Differenzierung geprägten industriellen Moderne aus. (   Freudenthal &Schlaudt ) Vielmehr beklagen sie eine durch die Klassenlage isolierte, interessengebundene,ideologisch verfärbte und damit notwendig in ihrer Effektivität eingeschränkte Wissen-schaft. Entsprechend war marxistische Proto-Wissenschaftssoziologie streng anti-individualistisch orientiert und fokussierte auf die Analyse von Bewegungen der sozialenMassen. Wissenschaftliches Genie wurde nicht einzelner Leistung zugebilligt, sondern imC4,9)' ?5' V4;X! M4*0*-Überbau-Schema aus den gesellschaftlichen Produktionsverhält-

    nissen abgeleitet. Wissenschaft wurde hier radikal soziologisiert: Auch in ihrer kognitivenEntwicklung wurde sie dem Einfluss genuin gesellschaftlicher Faktoren unterworfen. Or-thodox wurde diese Position vom russischen Physiker und Wissenschaftshistoriker BorisHessen in einem aufsehenerregenden Vortrag über die sozio-ökonomischen Wurzeln von

     Newtons Principia auf einem wissenschaftsgeschichtlichen Kongress 1931 in London aufden Punkt gebracht (Hessen 1931). Hessen beschrieb Newtons Werk als Reaktion auf diezeitgenössische Wahrnehmung drängender wirtschaftlicher, technischer und militärischerProbleme im 17. Jahrhundert "  eine wissenschaftliche Reaktion, die durch Newtons religiö-se Einstellung und Klassenlage limitiert worden sei (Weingart 2003, 56). Wenn HessensVortrag damals im Westen sehr kontrovers aufgenommen wurde, erwies er sich in der Fol-ge doch als sehr einflussreich für die Weiterentwicklung der Wissenschaftssoziologie, da erDebatten über Autonomie und Heteronomie von Wissenschaft und über die Möglichkeitender Wissenschaftsförderung entfachte. So lässt sich etwa Robert K. Mertons DissertationScience, Technology and Society in 17th-Century England   (1970 [1938]) als Zurückwei-sung von Hessens historisch-materialistischer Position verstehen. Ebenfalls der frühneuzeit-lichen Wissenschaftsentwicklung in England gewidmet, aber Max Webers Argument zurRolle des Protestantismus für die Entwicklung des Kapitalismus folgend, beurteilte sie dieFunktion der puritanischen Religiosität für die Wissenschaftsentwicklung sehr viel positi-ver als Hessen. John D. Bernal, ein englischer Chemiker und Molekularbiologe, machtesich insbesondere mit seiner 1939 veröffentlichten Erörterung  Die soziale Funktion derWissenschaften für eine rationale Planung von Wissenschaft stark, die sich am Vorbild

    sowjetischer Fünfjahrespläne orientierte. Sie sollte die chaotische, von modernem Klassen-antagonismus beherrschte und von Rüstungsforschung bzw. Kriegsvorbereitung absorbierteWissenschaftsentwicklung ablösen. Nur so seien Rationalität und Humanität der Wissen-schaft zu gewährleisten. Bernals Wissenschaftssoziologie war anwendungsorientiert, beton-te die gesellschaftliche Relevanz von Wissenschaft und bot Politikberatung  "   und damit

     pionierhaft wissenschaftssoziologische Dienstleistung "  an.Analytisch subtiler und gegenüber positivistischen Vorstellungen von wissenschaftli-

    cher Einheit und Planbarkeit kritischer als Bernal war der Philosoph, Mathematiker undPhysiker Edgar Zilsel. Mit seinen wissenschaftssoziologischen Erörterungen fand er zuLebzeiten allerdings nur wenig Beachtung. Seine frühe Analyse zu den gesellschaftlichen

    Wurzeln der Geniereligion (Zilsel 1990 [1918]) und seine zu Beginn der 1940er Jahre im

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    Wissenschaftssoziologie ex ante  31 

    amerikanischen Exil veröffentlichen Aufsätze zur historischen Wissenschaftsentwicklung(Zilsel 1976) repräsentieren eine politisch begründete und lokal verwurzelte wissenschafts-

    soziologische Position im Kontext von logischem Positivismus des Wiener Kreises, öster-reichischer Sozialdemokratie und Wiener Volkshochschulbewegung. Zilsel stand der Figurdes rationalen cartesianischen Subjekts kritisch gegenüber, noch mehr aber dem romanti-schen Kult übermenschlicher Genialität und Persönlichkeit, den er auch als eminente politi-

    sche Gefahr sah. Er orientierte sich anklassisch naturwissenschaftlichen Idea-len wie der Verbindung von Theorieund Praxis und der systematischenIntegration von handwerklichem Expe-riment, sinnlicher Erfahrung und ratio-

    nalem Denken. So setzte sich Zilsel füreine historische Soziologie ein, die)/B4 L:0) M);&.) :); B0**)'*+,4./7i-chen Autoren und ihrer Vorläufer fest-stellen und deren soziologische Funkti-on sowie die beruflichen Ideale analy-*0);)'O *577/) Ec07*)7 [\kd= dgGH >);take-off   neuzeitlicher Wissenschaftstellt sich aus solcher Perspektive alskommunikativ-soziale Integration vor-mals voneinander geschiedener Be-rufsgruppen der Humanisten, Künstlerund Ingenieure im Italien der Renais-sance dar.

    Kaum ein anderer früher Autorweist schließlich eine so große Diskre-

     panz zwischen heutiger Bedeutung alsKlassiker der Wissenschaftssoziologieund seiner geringen Wirkung zu Leb-zeiten auf wie Ludwik Fleck, ein Pio-nier radikal antipositivistischer   Positi-

    onen in der Wissenschaftssoziologie. Inseinem Hauptwerk von 1935, einerGeschichte des Syphilisbegriffs (Fleck1980 [1935]), sowie in mehreren Auf-sätzen, die zwischen den 1920er Jahrenund der unmittelbaren Nachkriegszeit

    entstanden (Fleck 2011), vertrat der beruflich zeitlebens als Mediziner und Mikrobiologe/-/01) `7)+@ )0' 6&'-+,*/ 49 D)1)'*/4': :); V):060' )'/B0+@)7/)* L*56047,0*/5;0*+,)*O &':in der Folge auf die Naturwissenschaften ausgedehntes explizit soziologisches Programm.I7* Lb),;) ?59 >)'@*/07 &': >)'@@577)k /0?O E`7)+@ [\]fG 60)7/) )* 4&. )0') L*0+, 4&. :0)

    Soziologie des Denkens und die soziologische Geschichte der Wissenschaftsentwicklung

     Box 4:  Zilsel, Wiener Kreis, Fleck

    Edgar Zilsel (1891 " 1944): Nach seinem Stu-dium in Wien und einer Promotion zur Philo-sophie der Mathematik engagierte sich Zilsel

    intensiv in der Volksbildungsbewegung der1920er Jahre. Der mit Otto Neurath zumlinken Flügel des Wiener Kreises gehörigeZilsel wurde als Jude nach dem Dollfuss-Putsch drangsaliert und emigrierte 1938zunächst nach England, dann in die USA, woer bis zu seinem Freitod 1944 hauptberuflichals College-Lehrer tätig war.Wiener Kreis: Eine Gruppe von Mathemati-kern, Physikern und Philosophen um MoritzSchlick im Wien der 1920er Jahre, die sichum antimetaphysische Weltauffassung be-mühten, Wissenschaft als einheitliches Sys-tem von validen Aussagen begriffen und dasProjekt einer für alle Disziplinen gültigenBasissprache verfolgten.Ludwik Fleck (1896 " 1961): Ein polnisch-

     jüdischer Mediziner und Mikrobiologe; ergilt insbesondere mit seiner 1935 erschiene-nen Monographie zur Geschichte des Syphi-lisbegriffs als Klassiker der Wissenschaftsso-

    ziologie. Das Buch blieb weitgehend wir-kungslos, bis Thomas S. Kuhn es in seinemBestseller zur Struktur wissenschaftlicher

     Revolutionen  als wichtige Inspirationsquellenannte. 

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    32  Rainer Egloff

    stützende Theorie :)* _;@)'')'*O E`7)+@ Uf[[= UUkGH >0)*) LR,)5;0) :)* _;@)'')'*O 0*/stark kognitions-, praxis- und insbesondere kommunikationsorientiert. Sie wendet die holis-

    tische Wahrnehmungskonzeption der Gestaltpsychologie ins Soziale bzw. Historische undlässt sich als sozialkonstruktivistisch avant la lettre taxieren (Egloff 2011). Fleck fasst denin einem Wissensfeld vorherrschen:)' ))'@@577)@/0?)O "   Gemeinschaften von Men-*+,)'= L:0) 09 D):4'@)'4&*/4&*+, 5:); 0' 1):4'@70+,); 3)+,*)7B0;@&'1 */),)'O "  entwi-ckeln sich solche Denkstile im Sinne be*/099/); L>)'@1)(0)/)O &': 30**)'*()*/-':)(Fleck 1980, 54f.). Fleck betont für die Denkstilentwicklung hierarchische Beziehungen,etwa das Verhältnis von Lehrer und Schüler, von Priester und Gläubigem oder von Fach-leuten und Laien. All diese Beziehungen ließen sich soziologisch ergründen und vertiefen,

    etwa im Hinblick auf Initiationsrituale, die Abgrenzung nach außen und den Zusammenhaltim Innern. Für seine Analyse von Denkstilvermittlung innerhalb und zwischen Denkkol-7)@/0?)' ():0)'/) *0+, `7)+@ )0'); ()1;0..70+,)' I+,*) 90/ )0'); L)*5/);0*+,)'O &': )0')L)X5/);0*+,)' C0+,/&'1OH I7* )*5/); ische Denkstile verdichten sich spezifische For-schungsdiskurse für die daran Teilnehmenden  "  und nur für diese. Denn für die Fachleuteeines bestimmten Wissensgebietes  "   ob (natur-)wissenschaftlich oder außerwissenschaft-lich spielte für Fleck keine Rolle  "  hat der Wissensgehalt notwendigerweise einen nur vonihnen so wahrnehm- und verstehbaren Gehalt. Jede Exoterisierung oder Übermittlung ineinen äußeren oder anderen sozialen Kreis musste eine Veränderung des Gehalts selbst mitsich bringen. Damit desavouierte Fleck alle Versuche zu einer disziplinübergreifendenEinheitswissenschaft, wie sie etwa der Wiener Kreis betrieb.

    Wie die Wissenschaftssoziologie ex ante generell argumentierte auch Fleck historisch.Er folgt jedoch keinem Telos: Die Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache ist wedervorgegeben noch abschließbar. Faktizität ist bei ihm nicht mit Objektivität oder Rationalität6& ?);B)+,*)7'= &': :); A'/);*+,0): 6B0*+,)' LF+,)0'O &': L34,;,)0/O */)77/ .T; 0,' @)i-n)' 1;&':*-/670+,)'= *5':);' 7):0170+, )0')' L_'/B0+@7&'1*&'/);*+,0):O :4; E`7)+@ Uf[[=62). Fleck verweigert sich jeder Fortschrittsemphase, die zunehmende Wissenschaftlichkeitmit abnehmendem irrationalen Element gleichsetzt. Sein Wissenschaftsethos ist der Plurali-tät und dem Austausch verpflichtet, sein wissenschaftspolitisches Credo gilt daher auchnicht der Planung, sondern den möglichst freiheitlichen Entwicklungs- und Verkehrsbedin-gungen.

    2  Konjunkturen

    Die Elemente, die aus heutiger Sicht eine fragmentarische Vorphase der Wissenschaftsso-ziologie bilden, stehen für unterschiedliche Stoßrichtungen und Ziele. In ihrer philosophi-schen und methodischen Fundierung sind sie teilweise unvereinbar. Entsprechend wurdendiese Bestände, Werke und Autoren im Gedächtnis und in der Identität der sich forciertentwickelnden Wissenschaftssoziologie einer jungen Generation von wissenschaftssoziolo-gisch Forschenden und Lehrenden je unterschiedlich bewertet und eingesetzt, und die Re-

    zeptionskonjunkturen weichen voneinander ab. So galten etwa die frühen wissenssoziologi-

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    Wissenschaftssoziologie ex ante  33 

    schen Traditionen von Durkheim bis Mannheim in der wissenschaftssoziologischen Auf- bruchszeit der 1960er und 1970er Jahre als systematisch zwar solide, aber im Hinblick auf

    ihren Anspruch, Wissenschaft und ihre Entwicklung soziologisch zu erklären, als zu wenigradikal. Um auch naturwissenschaftliches Wissen einer Soziologisierung zugänglich zumachen, erschienen marxistische Ansätze naheliegend. Die entsprechende Suche zog neuesInteresse für Autoren wie Hessen, Bernal und Zilsel nach sich; es erhielt sich in der Theo-rie- und Methodenbildung jedoch nicht längerfristig  "   nicht zuletzt, weil sich auch dieseAutoren nur zurückhaltend einer Soziologisierung naturwissenschaftlichen Wissens an-nahmen. Flecks Ansatz, der diesbezüglich keinerlei Berührungsängste kannte, wurde inseiner wissenschaftssoziologischen Radikalität nur langsam erkannt und rezipiert. Da sichFleck kaum um Anschlussfähigkeit an und Einbettung in bestehende soziologische Diskur-se bemüht hatte, musste seine Theoretisierung unvermittelt und programmatisch bleiben,

    teilweise gar amateurhaft wirken. Erst im Gefolge des durchschlagenden Erfolgs des Wis-senschaftsphilosophen und -historikers Thomas S. Kuhn wurden die Arbeiten LudwikFlecks dem Vergessen entrissen. Kuhn hatte im Vorwort zu seinem Bestseller The Struc-ture of Scientific Revolutions, der die Umwälzungen in der frühneuzeitlichen Physik analy-siert (Kuhn 1970 [1962]) Fleck als Einfluss genannt. Dass Kuhn Flecks Arbeiten als we-sentlichen Grund für die Berücksichtigung soziologischer Faktoren bei der Analyse derwissenschaftlichen Gemeinschaft nannte, wirkte als Katalysator für eine zunehmende so-ziologische Rezeption von Fleck. Diese arbeitete sich zunächst kritisch an Kuhn ab, rückteim Laufe der Zeit jedoch Flecks Arbeit als wissenschaftssoziologisch viel radikalere Kon-zeption immer mehr aus der Fußnote heraus ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Fleck orien-tierte sich nur wenig an soziologischen Kriterien und nannte bekannte soziologische Werkeaufgrund 0,;)* L4776&1;5ßen Respekts, eine[r] Art religiöser Hochachtung vor naturwissen-*+,4./70+,)' R4/*4+,)'O E`7)+@ [\]f= dgG 9)0*/ 4(7),')':H F5 9&**/) *0+, :0) 30**)n-schaftssoziologie ihren Zugang zu Fleck erst erarbeiten. Heute lässt sich Flecks Denken inseiner stark interdisziplinären  "   um nicht zu sagen: undisziplinierten  "   Form an gängigewissenschaftssoziologische Habitus und Interessenfelder sehr viel besser anschließen alsdies noch vor einem halben Jahrhundert möglich war.

    Historisch rückblickend zeigen sich die 1930er Jahre als besonders wichtige Phase fürdie Entstehung proto-wissenschaftssoziologischer Pionierschriften. In dieser Zeit zwischenden Weltkriegen entstanden besonders in Europa und auffällig oft von jüdischen Autorenwichtige Beiträge. Mit dieser Konstellation sind dann auch (weitere) wichtige Gründe an-

    gedeutet, aus denen diese Pionierwerke nicht direkter auf die disziplinäre Entwicklung derWissenschaftssoziologie Einfluss nehmen konnten bzw. weshalb sich "  zumal in Europa "  die Wissenschaftssoziologie erst weit nach dem 2. Weltkrieg etablieren konnte. Viele dergenannten Arbeiten stammten von vertriebenen, inhaftierten oder ermordeten Autoren. Inder Zeit nationalsozialistischer Herrschaft wurde die Rezeption im deutschsprachigen Raumradikal gehemmt und nachhaltig verlangsamt. Hier erfuhren teilweise ursprünglich aufDeutsch erschienene wissenschaftssoziologische Werke erst dank englischer Übersetzungvermehrten Wiederhall.

    >0) 30):);)'/:)+@&'1 ?5' 6)0/B)0701 =?);75;)')'8 S74**0@);' B0) Fleck oder Zilselwirkte durchaus bekräftigend und stabilisierend für das Gebiet der Wissenschaftssoziologie

    und die wissenschaftssoziologische Identität der Gegenwart. Sie kann auf eine eigene theo-

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    34  Rainer Egloff

    retische, methodische und professionelle Tradition verweisen. Dazu gehört etwa der Res- pekt für Bildung und Praxis des soziologischen Beobachters im untersuchten naturwissen-

    schaftlichen Feld selbst, wie sie Bernal, Fleck oder Zilsel verkörpern; methodische Zugän-1) B0) :0) =/)07'),9)':) M)5(4+,/&'18= B0) *0) *0+, (ei Fleck findet; oder die ethnologischund historisch vergleichende Epistemologie, welche die Wissenschaftssoziologie ex ante insgesamt prägt. Solange sich die Wissenschaftssoziologie entwickelt, werden sich auchRekonstruktionen ihrer Vor- und Frühgeschichte weiterentwickeln. Weitere Entdeckungenoder neuerliche Konjunkturen von vergessenen Autoren und Ansätzen sind daher durchauswahrscheinlich, denn als solche können sie neue Dynamiken in der Fach- und Feldentwick-lung legitimieren und stabilisieren.

    3  Weiterführende Literatur

    Gieryn, Thomas F. (2001): Science, Sociology of. In: International Encyclopedia of the Social & BehavioralSciences. Oxford: Elsevier, 13.692 " 13.698.

    Kaiser, Mario/Maasen, Sabine (2010): Wissenschaftssoziologie. In: Georg Kneer/Markus Schroer (Hrsg.): Hand- buch Spezielle Soziologien. Wiesbaden: VS, 685 " 705.

    Mulkay, Michael (1980): Sociology of Science in the West. In: Current Sociology 28(3), 1 " 116.Shapin, Steven (1995): Here and Everywhere: Sociology of Scientific Knowledge. In: Annual Review of Sociolo-

    gy 21, 289 " 321.Turner, Stephen (2007): The Social Study of Science before Kuhn. In: Edward J. Hackett et al. (Hrsg.): The Hand-

     book of Science and Technology Studies. Cambridge/MA: MIT, 33 " 62.

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    Dynamiken und Differenzierungen Institutionalisierungen

    Das materialistische Programm

    Gideon Freudenthal & Oliver Schlaudt

    Die ersten systematischen Ansätze zu einem materialistischen Verständnis der Wissen-schaft stammen von Marxisten in den 1920er und 1930er Jahren. Sie zeugen von einerTradition, die vom Faschismus und dem 2. Weltkrieg unterbrochen wurde. Die entwickel-ten Ansätze sind jahrzehntelang entstellt und aus Antikommunismus angefeindet worden.

     Nach 1945 wurde vereinzelt an diese Vorarbeiten angeknüpft (Klaus Holzkamp, Peter Ru- ben, Gernot Böhme). Eine gewisse Wiederbelebung erfuhr der materialistische Ansatz inder Bundesrepublik Deutschland in den 1970er und 1980er Jahren im Kontext der Studen-tenbewegung. Die klassischen Texte sind neu herausgegeben worden, und eine Reihe von

    Arbeiten führte deren Ansätze weiter und wandte sie auf unterschiedliche historische Ge-genstände an (Wolfgang Lefèvre, Michael Wolff, Gideon Freudenthal). In der aktuellenForschung wird diese Richtung nicht systematisch verfolgt. Jedoch finden sich wesentlicheAspekte heute in der Wissenssoziologie (insb. dem Strong Programme) und in der Histori-schen Epistemologie wieder. Insbesondere die Konzentration auf die sogenannte materielleKultur der Wissenschaften verdankt sich der frühen marxistischen Wissenschaftsphiloso-

     phie.

    1  Wissenschaft als Arbeit

    Die materialistischen bzw. marxistischen Beiträge zum Verständnis der Wissenschaft erge- ben zusammen eine umfassende Theorie, die soziologische, historische, kognitive und philosophische Aspekte umfasst. Kern dieser Beiträge ist die Betrachtung der Wissenschaftvom Standpunkt der gesellschaftlichen Reproduktion aus, als Arbeit. Zum einen wird Wis-senschaft als integraler Teil der gesellschaftlichen Reproduktion aufgefasst, zum anderenwird der wissenschaftliche Erkenntnisprozess selbst als gesellschaftliche Arbeit verstanden&': '4+, :)9 J5;(07: ?5' V4;X! I'47N*) :)* I;()0/*

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    36  Gideon Freudenthal & Oliver Schlaudt

    genuin marxistische Beitrag zum Studium der Wissenschaft. Nicht zur so verstandenenmarxistischen Wissenschaftsphilosophie gehört die Frankfurter Schule, d. h. Theodor W.

    Adorno, Max Horkheimer und sodann Jürgen Habermas, obgleich einige der hier vorge-stellten Autoren im Umkreis der Frankfurter Schule gearbeitet und publiziert haben.

     Nicht zufällig konzentrieren sich die im engeren Sinne marxistischen Beiträge zurWissenschaftsforschung vor allem auf die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhun-derts. Denn erst hier, mit der Herausbildung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschafts-form, entsteht eigentliche Wissenschaft, die sich sowohl von praktischem Wissen, das inder Produktion gewonnen wird, als auch von spekulativem Wissen unterscheidet. In dieserEpoche entsteht die experimentelle und mathematische Naturwissenschaft, von der sich dieheutige Wissenschaft herleitet und die integraler Teil der gesellschaftlichen Arbeitsteilungwurde. Seit der wissenschaftlichen Revolution orientiert sich wissenschaftliches Wissen an

    der Produktion: Die Produktion liefert die Gegenstände und die Mittel der Forschung unddas erarbeitete Wissen ist zur praktischen Anwendung bestimmt (obwohl diese Möglichkeit);*/ 09 [\H l4,;,&':);/ ;)470*0);/ B);:)' @5''/)GH `;4'+0* M4+5'* ();T,9/) 35;/) LB4* 0'der B)/;4+,/&'1 47* A;*4+,) 107/= :0)'/ 0' :); W4':7&'1 47* C)1)7O .4**)' :0)*)' c&*4 m-menhang prägnant zusammen (1878 [1620]= ^GH F4* 3);@ I;+,09):)*! z. B. kann durchaus integralerBestandteil späteren wissenschaftlichen Wissens und eine Voraussetzung der Wissenschaft-70+,)' C)?57&/05' (07:)'= 5,') :4** )* *)7(*/ 6&; 230**)'*+,4./8 09 95:);')'= 4&. P;5:&k-tion gerichteten Sinne geführt hätte.

    >0) I&..4**&'1 :)* B0**)'*+,4./70+,)' _;@)''/'0*

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    Das materialistische Programm  37 

    keit jedoch hängt von den entwickelten praktischen und symbolischen Mitteln ab, und dieseentwickeln sich wiederum mit fortschreitender Erkenntnis und Praxis. Mit dieser Auffas-

    sung trennt sich der Marxismus vom Empirismus und begreift den wissenschaftlichen Ge-genstand (im Unterschied zum Gegenstand der Alltagspraxis) als durch die Erkenntnispra-xis mitkons/0/&0);/H Q9 D)1)'*4/6 6&; S4'/!schen Lehre wird in diesem Konstruktivismus die Konstituierung des Gegenstands jedoch nicht auf apriorische Denkformen des Men-schen zurückgeführt, sondern auf solche Denkformen, die in vorheriger Erfahrung gebildetworden sind: Sie sind historisch entstanden und auch wandelbar.

    Die Genese der historisch verschiedenen Denkformen bildet den Gegenstand von meh-;);)' 94;X0*/0*+,)' I'*-/6)' :); 30**)'**56057510)H D).;41/ B0;: '4+, :); *56047)' L_?i-:)'6O EWolff), die solchen Denkmitteln in den respektiven Kulturen eigen ist. Die Überle-1&'1)' ;)0+,)' ?5' :); LC)474(*/;4@/05'O 09 I;()0/*

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    38  Gideon Freudenthal & Oliver Schlaudt

     Box 5:  Die Hessen-Grossmann-These

    Die Manipulation von Gegenständen in expe-rimenteller Praxis und die Manipulation ihrersymbolischen Repräsentationen eröffnen und

     begrenzen zugleich den Horizont des Mach-und Denkbaren. Sie sind darüber hinausgegenständliche Träger der Tradition unddurch ihre Aneignung wird die nächste Gene-ration ausgebildet. Die moderne Mechanik

     bildete sich durch das Studium der Techno-logie des 17. Jahrhunderts heraus; andereWissenschaftszweige entwickelten sich erst,

    als sie in der Technologie geeignete Gegen-stände vorfanden oder solche eigens herge-stellt wurden, an denen sich die entsprechen-den Phänomene studieren ließen.

    2  Gegenstände und Mittel der Forschung

    2.1   Die Hessen-Grossmann-These

    Hessens und Grossmanns grundsätzliche These lautet, dass die theoretische Mechanik, diein Newtons Werk ihren ersten Abschluss erreichte, am Studium der Maschinen der materi-)77)' P;5:&@/05' )'/B0+@)7/ B5;:)' 0*/H LF),; B0+,/01 B&;:) :0) *

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    Das materialistische Programm  39 

     Box 6:  Boris Michailowitsch Hessen

    Hessen (1893 " 1936) war russischer Wissen-schaftshistoriker und -theoretiker jüdischerAbstammung. Er ist vor allem aufgrund sei-nes Vortrages auf dem zweiten internationa-len Kongress für Wissenschaftsgeschichte[\^[ 0' b5':5' ()@4''/# LR,) F5+047 4':_+5'590+ C55/* 5. %)B/5'!* P;0'+0

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    40  Gideon Freudenthal & Oliver Schlaudt

    Indem die maschinelle Produktion die vorherrschende Form gesellschaftlicher Produktionund die auf sie als ihr Gegenstand bezogene Mechanik die erste neuzeitliche Wissenschaft

    B&;:)=

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    Das materialistische Programm  41 

    entstand eine Gruppe gebildeter Handwerker, sogenannter virtuosi (Architekten, Instrumen-tenbauer etc.), andererseits hatten die aus der Elite Stammenden eine entsprechend höhere

    Bildung. Hier liegen die Wurzeln der Verschmelzung zwischen dem praktischen und theo-retischen Wissen und schließlich der Herausbildung einer neuen sozialen Rolle, der desWissenschaftlers, und einer neuen Wissensform, der experimentell-mathematischen Natur-wissenschaft. Auch dieses Thema ist von Hessen und Grossmann nur nebenbei erörtert,später aber intensiv von Edgar Zilsel studiert worden (Zilsel 1976 [1941f.]).

    4  Die gesellschaftlichen Strukturen

    Die obigen Ansätze bezogen sich zur Erklärung der Inhalte neuzeitlicher Wissenschaft auf

    die studierten Objekte der damaligen Technik. Weitere Überlegungen zielten auf die gesell-schaftlichen Strukturen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform und ihre gedank-liche Verarbeitung, um die Entstehung der Wissenschaft und ihre spezifischen Denkformenzu erklären.

    4.1   Die Rolle der Ideologie

    Einerseits ist die These vertreten worden, dass das Bürgertum dem feudalen Weltbild einWeltbild entgegen zu stellen wünschte, das Natur und Gesellschaft als geschlossene Syste-

    me begreift, die durch innere Gesetze reguliert sind und keiner Intervention von außen bedürfen oder diese zulassen. Die Naturwissenschaft lieferte ein Naturbild, das zumindestversprach, sich zu dem gesuchten Weltbild verallgemeinern zu lassen (Lefèvre 1978).

    Eine solche Verallgemeinerung hat das mechanisierte Weltbild in einem mehr oderweniger konsistenten mechanischen Materialismus erfahren, was sich z. B. in der Lehre>)*+4;/)*!  ausdrückt. Lediglich das menschliche Bewusstsein wurde von diesem ausge-nommen. Eine prinzipielle Schranke der Physik, die ihrer Verallgemeinerung zum mecha-'0*+,)' 3)7/(07: ,0':);70+, B4;= 741 0' :)9 >&470*9&* ?5' /;-1); V4/);0) ELV4**)OG &':&'@j;0)*); >&470*9&* @5''/) *0)*) J);7)t-zung wissenschaftlicher Prinzipien (den Gegenstand der Physik als geschlossenes Systemaufzufassen) erklärt Hessen mit dem Hinweis auf die nach-revolutionäre religiös-politischeQ:)57510)= :0) 0'.571) :); LD75;05&* C)?57&/05'O 0' _'174': ?5;,);;*+,/) &': :); 4&+,

     %)B/5' 47* LS0': *)0'); S74**)O 4',0'1 EW)**)' 1931, 183). Beide ideologischen Weltbil-der  "  :4* @4&*47 1)*+,75**)') >)*+4;/)*! B0) :4* @4&*47 5..)') %)B/5'* "   beziehen sichgleichwohl als verschiedene Interpretationen der Metapher des Universums als Uhrwerkauf das mechanistische Weltbild.

    >); 2V)+,4'0*9&*8 @4'' :4()0 :4,0'1),)': @5'@;)/0*0);/ B);:)'= :4**= 0' I'47510)zur Maschine, alle natürlichen Systeme als Zusammensetzungen einfacher Teile verstanden

    werden, deren wesentliche Eigenschaften einem jeden unabhängig vom System zukommen.

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    42  Gideon Freudenthal & Oliver Schlaudt

    Das System selbst weist als solches keine Eigenschaften auf. Die Begriffe einer Theoriestehen für solche einfachen Teile und deren Relationen, die Theorie bildet die Wirklichkeit

    ab. Somit wird die analytisch-*N'/,)/0*+,) V)/,5:) 47* 9)+,4'0*+,) 2c);7)1&'18 &': 2cu-*499)'*)/6&'18 ?);*/4':)'= &': :0) 6& );@7-;)':)' P,-'59)') B);:)' 4&. _01)'*+,4./)'der konstituierenden Teile zurückgeführt. Erst diese Art Mechanismus impliziert den soge-'4''/)' L9)+,4'0*+,)' >)/);90'0*9&*OH >); _0'.7&** :0)*); >)'@90//)7 reichte auch in dieSozialphilosophie hinein. Hobbes z. B. begreift aufgrund individualistischer Vorannahmenden Staat als Maschine, die gedanklich zu zergliedern sei, um ihre Funktion zu verstehen.Umgekehrt sollen die Möglichkeit und das Interesse, Gesellschaft individualistisch als einAggregat einzelner und isolierter Individuen zu erklären, diese Interpretation der analy-tisch-*N'/,)/0*+,)' V)/,5:) &': :4:&;+, 4&+, :0) V)+,4'0@ ?5' LV4**)'0)*); I;()0/*()1;0.. 70)1/ '4+, M5;@)'4& :); /,)5;)/0*+,)'Mechanik zugrunde, die diesen Begriff aufgreift und verallgemeinert.

    Anlass zu einer solchen Verallgemeinerung bieten dabei allerdings erst soziale undideologische Katalysatoren, worunter Borkenau vor allem 2soziale Motive8  versteht: wis-senschaftliche Begriffsbildungen, wie etwa der Begriff des Naturgesetzes, erfüllen auchimmer eine gesellschaftliche Funktion, indem sie weiter gefassten sozialen Bedürfnissenentsprechen und beispielsweise ein gewünschtes Weltbild unterstützen.

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    Das materialistische Programm  43 

    4.3   Realabstraktion in der Distribution: Sohn-Rethel

    Anders als Borkenau sucht Sohn-Rethel, der die Theoriebildung als originäres Produkt der*0+, 0' :); ,0*/5;0*+,)' _'/B0+@7&'1 ?5' :); LW4':4;()0/O /;)'')':)' LS5)'@)' E[\]\GH Q9 R4&*+, BT;:)' 0')0'); ?5' 0,9 *5 1)'4''/)' LC)474(*/;4@/05'O D)(;4&+,*1T/); &'/); I(*/;4@/05' ?5' 477 enEigenschaften auf rein quantitativ bestimmten Wert reduziert. Sohn-Rethel stellt somiteinen Zusammenhang zwischen der ökonomischen Wertabstraktion, wie sie von Marx imersten Kapitel des  Kapital   beschrieben wurde, und den Kategorien der quantifizierenden

     Naturerkenntnis her. Indem das den quantitativen Vergleich im Tausch vermittelnde Geld

    die Praxis (in der Distributionssphäre) beherrscht, werde schließlich auch das abstrakt-quantitative Denken bestimmend.Sohn-Rethel entwirft sein Projekt explizit in Form einer Historisierung der von Kant

     beschriebenen Erkenntniskategorien, wobei er  "   beeinflusst von Ernst Cassirer  "   an demGedanken einer Konstitutionstheorie des wissenschaftlichen Gegenstandes festhält. Diematerialistische Erklärung der Kategorien soll ihre transzendentale Deduktion bei Kantersetzen (wenn auch die aufgeführten formrelevanten Kategorien  "   abstrakte Quantität,Substanz und Akzidenz, Atomizität, abstrakte Bewegung und Gleichheit von Ursache undWirkung "  freilich nicht der Kategorientaf )7 S4'/* )'/*

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    6  Weiterführende Literatur

    Borkenau, Franz (1934): Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte derPhilosophie der Manufakturperiode. Paris: Alcan.

    Freudenthal, Gideon/McLaughlin Peter (Hrsg.) (2009): The Social and Economic Roots of the Scientific Revolu-tion. Texts by Boris Hessen and Henryk Grossmann. Berlin: Springer.

    Lukács, Georg (1923): Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik. Berlin: Malik.Sohn-Rethel, Alfred (1989): Geistige und körperliche Arbeit. Zur Epistemologie der abendländischen Geschichte.

    Weinheim: VCH.Zilsel, Edgar (1976 [1941f.]): Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

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    Dynamiken und Differenzierungen Institutionalisierungen

    Das institutionalistische Programm

     Raimund Hasse

    Die Soziologie, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts als akademische Disziplin formierte,sollte nach Auffassung eines ihrer Begründer ganz und ausschließlich der Analyse vonInstitutionen verpflichtet sein (Durkheim 1980). Insofern verkörpert das institutionalisti-sche Programm eine strikt soziologische Ausrichtung der Wissenschaftsforschung. Diemoderne Wissenschaft wird dabei als ein Teilbereich der Gesellschaft begriffen, der sichebenso wie die Wirtschaft, die Politik oder die Familie mit dem Instrumentarium anerkann-ter Methoden untersuchen lässt. Vergleichende Forschungsperspektiven wurden lange Zeitvornehmlich über die Untersuchung von Veränderungen im Zeitverlauf erschlossen; erst

    später richtete sich die Aufmerksamkeit auf Unterschiede zu einem gegebenen Zeitpunkt,indem insbesondere verschiedene wissenschaftliche Gebiete oder verschiedene (z. B. natio-nale) Kontexte der Wissenschaft verglichen wurden.

    Emile Durkheim zufolge sollten sich institutionalistische Analysen auf die Identifika-tion von Mustern und Regelmäßigkeiten beziehen. Später wurden Institutionen als Erwar-tungen begriffen, welche die Wahrscheinlichkeit für bestimmte Verhaltensweisen erhöhenund so ein hohes Maß an Verlässlichkeit und Abstimmung garantieren, auch wenn sichBeteiligte nicht persönlich kennen und individuelle Motivlagen schwer einzuschätzen sind(siehe Jepperson 1991; Hasse/Krücken 2005). Eine Wissenschaftsforschung, die diesemProgramm verpflichtet ist, lässt sich somit abgrenzen von Perspektiven, die den einzelnen,

    mehr oder weniger heroischen Wissenschaftler in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken,so wie dies für viele wissenschaftsgeschichtliche Beschreibungen kennzeichnend gewesenist. Ebenso treten psychologische Faktoren in den Hintergrund. Stattdessen herrschen beiinstitutionellen Analysen zwei Bezüge vor, die für die Herausbildung überindividuellerErwartungen wichtig sind. Den ersten Bezug bilden Normen, für die angenommen wird,dass sie entweder direkt handlungsleitend sind, weil sie im Verlauf von Sozialisationspro-zessen internalisiert wurden, oder dass sie indirekt wirken, indem sie konforme Verhal-tensweisen positiv und nonkonforme Verhaltensweisen negativ sanktionieren (siehe Zucker1977 für eine kritische Zusammenfassung). Den zweiten Bezugspunkt institutioneller Ana-lysen bilden Organisationen. Hierbei gilt das Untersuchungsinteresse den Formen der Ar-

     beitsteilung und Hierarchisierung, der Koordination einzelner Arbeitsschritte, den durchOrganisationen bereitgestellten Anreizen und Sanktionen sowie den Wegen der Entschei-

     

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    46  Raimund Hasse

    dungsfindung und -implementation. Ebenso wie Normen führen auch Organisationen zuerhöhten Erwartungssicherheiten (Scott 1994; 2001a). Normen und Organisationen bewir-

    ken demnach jene sozial begründeten Regelhaftigkeiten, die Durkheim vor Augen hatte, alser der Soziologie einen eigenständigen Gegenstandsbereich zuwies.

    Tatsächlich weist das institutionalistische Programm der Wissenschaftsforschung ge-nau diese beiden Bezugspunkte auf  "  Normen und Organisationen. Insofern kann die insti-tutionalistische Wissenschaftsforschung als eine Spezialisierung soziologischer Analysenauf die Wissenschaft verstanden werden. Sie ist somit ein disziplinärer Beitrag im interdis-ziplinären Projekt der Wissenschaftsforschung. Aus dieser Beschränkung folgt, dass keineeigenständigen wissenschaftstheoretischen Ansprüche entwickelt worden sind. Das institu-tionalistische Programm ist deshalb nie als Herausforderung für erkenntnistheoretische oderwissenschaftsphilosophische Positionen in Erscheinung getreten (siehe auch Weingart

    2003). Es hat sich selbst stets als normal science begriffen. Auf dieser Grundlage konnteein Verständnis für soziale Besonderheiten der modernen Wissenschaft entwickelt werden,auf die im Folgenden eingegangen werden soll. Zunächst wird dabei das auf die Analysevon Normen bezogene Programm Robert K. Mertons diskutiert. Es bildet den Ausgangs-

     punkt der institutionalistischen Wissenschaftsforschung. Im Anschluss hieran werden Or-ganisationsfragen behandelt, so wie dies für den Wissenschaftsinstitutionalismus vonRichard Whitley kennzeichnend gewesen ist. Der Beitrag endet mit kritischen Einschätzun-gen zu den Entwicklungsperspektiven eines auf die Analyse der Wissenschaft spezialisier-ten Institutionalismus.

    1  Institutionen als Normen: Robert K. Merton

    Entstehung und Entwicklung der ursprünglichen Wissenschaftssoziologie sind untrennbarmit den Arbeiten Robert K. Mertons (1910 " 2003) verbunden. Sie reichen zurück bis in die1930er und 1940er Jahre. In den USA findet zu dieser Zeit eine erbitterte Kontroverse zwi-schen den Scientific Humanists und einer Society for Freedom in Science statt (siehe Barber1952; Weingart 1973). Während die einen Leistungspotenziale der Wissenschaft nutzenmöchten, indem wissenschaftliche Ziele und Prioritäten politisch bestimmt werden, lehnendie anderen jedwede Forderung nach einer derartigen politischen Steuerung der Wissen-schaft mit dem Argument ab, dies behindere die wissenschaftliche Entwicklung und beein-

    trächtige somit die Innovations- und Leistungsfähigkeit der Wissenschaft. Vor diesem ge-sellschaftspolitischen Hintergrund erzeugen Wissenschaftsthemen bereits zu dieser Zeitstarke Resonanzen.

    Gleichwohl ist Mertons Begründung einer institutionalistischen Wissenschaftssoziolo-gie durch eine große Distanz gegenüber diesen gesellschaftspolitischen Debatten gekenn-zeichnet. Ziel ist stattdessen eine genuin soziologische Analyse der Wissenschaft. Dabei istMerton zunächst von der Zielsetzung geleitet, ein Pendant zu Max Webers wirtschaftssozi-ologischen Analysen zur Entstehung des modernen Kapitalismus (Weber 2006) zu entwi-ckeln. So behandelt seine Dissertation die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft, in-dem motivationale und normative Voraussetzungen wissenschaftlichen Handelns unter-

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    Das institutionalistische Programm  47 

     Box 8:  Robert K. Merton (1910-2003)

    Sohn russischer Einwanderer in die USA undVater des Nobelpreisträgers Robert C. Mer-ton, wurde einer der einflussreichsten Sozio-logen des 20. Jahrhunderts. Sein Werk stehtfür die Verknüpfung theoretischer Ansprüchemit Perspektiven empirischer Forschung.Diese Programmatik begründete seine Ziel-setzung der Erarbeitung Theorien mittlererReichweite, die im Wesentlichen auf funkti-onalen Erörterungen basieren. Die Wissen-

    schaftssoziologie hat Merton zahlreiche Ein-zeleinsichten und Grundfiguren zu verdan-ken, zu denen neben der Identifikationenwissenschaftlicher Normen und Werte auchder sog. Matthäus-Effekt zu zählen ist. Zu-dem kann Merton als Wegbereiter der Sozio-logie sozialer Probleme angesehen werden,wobei insbesondere seine an Durkheim an-schliessenden Beiträge zur Anomietheoriegrundlegend gewesen sind. 

    sucht werden; den Fokus bilden die Ursprünge moderner wissenschaftlicher Forschung imEngland des 17. Jahrhunderts (Merton 1938).

    Im Zentrum des institutionalistischen Forschungsprogramms Mertons steht ein Beitragaus den 1940er Jahren. In ihm wird die moderne Wissenschaft anhand eines spezifischenSets an Normen charakterisiert (Merton 1942). Hierzu zählen:

    1.  Organisierte Skepsis "  die Institutionalisierung einer kritischen Prüfung und Hinterfra-gung sämtlicher Beiträge zur Wissenschaft sowie die vorbehaltlose Bereitschaft, sichdieser Kritik auszusetzen;

    2.  Desinteresse  "   die Offenheit der Beteiligten gegenüber Forschungsresultaten und dieAnerkennung der Vorgabe, Forschungsergebnisse unabhängig von wirtschaftlichen,

     politischen oder auch ethischen Implikationen zu beurteilen;

    3.  Universalismus "  das Prinzip, wissenschaftliche Beiträge und insbesondere Wahrheits-und Geltungsansprüche nicht nach sozialen Kriterien wie Nationalität, Rasse, Klassen-lage und Geschlecht der beteiligten Wissenschaftler zu beurteilen;

    4.  Kommunalismus "  die Bereitschaft, neues wissenschaftliches Wissen und Entdeckun-gen offen zu kommunizieren, die von allen Wissenschaftlern genutzt werden können,um weiteres Wissen zu generieren.

    Merton nahm an, diese Normen garantierten in ihrem Zusammenwirken eine optimale Ent-wicklung der Wissenschaft  "   und

     Normverstöße beeinträchtigten einederartige Entwicklung und führteninsofern zu suboptimalen Ergebnissen.

    Obwohl auch für einzelne Wissen-schaftler angenommen wird, dass dieOrientierung an den genannten Normendie Wahrscheinlichkeit für Erfolg undAnerkennung in der Wissenschaft er-höht, beziehen sich Normen wenigerauf individuelle Motive als auf Kom-munikationsprozesse in der Wissen-schaft. Entscheidend ist demnach, was

    im Rechtfertigungszusammenhang the-matisiert und was dabei als legitimesArgument anerkannt wird. Wissen-schaftliche Normen prägen vor allemdie Reaktionen der  scientific communi-ty. Als allgemeines Prüfkriterium fürdie Wirksamkeit von Normen gilt da-

     bei, ob Normverstöße im Falle desBekanntwerdens als Abweichung be-wertet werden und entsprechende Kri-

    tik oder auch Sanktionierung nach sich

  • 8/17/2019 Handbuch Wissenschaftssoziologie

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    ziehen. Der bloße Sachverhalt des Normverstoßes ist demnach kein Indiz für eine fehlendeWirksamkeit bzw. für die Erosion einer Norm. Im Gegenteil: Nur aus Reaktionen auf

     Normverstöße wird die Wirksamkeit von Normen ersichtlich; nur durch die Sanktionierungvon Normverstößen werden Normen in das kollektive Bewusstsein gerückt.

    Das hier zum Ausdruck kommende Normverständnis ist stark auf die SoziologieDurkheims bezogen. Darüber hinaus nimmt in sozialtheoretischer Hinsicht der von TalcottParsons entwickelte Strukturfunktionalismus eine bedeutsame Stellung für die mertonia-nische Wissenschaftssoziologie ein (Barber 1990). Entsprechend dominiert eine Perspekti-ve, die nach Funktionen sozialer Tatbestände fragt. In Abgrenzung von dem abstrakten undauf die Gesellschaft als Ganze


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