786 | Der Gynäkologe 11 · 2013
Ticker Magazin
▶ Recht auf Behandlungs-freiheit: Die Zeit läuft ab
Bis Ende Oktober müssen alle EU-Mitgliedstaaten das Recht auf Be-handlungsfreiheit von Patienten in der gesamten EU sicherstellen. Vor zwei Jahren sind EU-Mindeststan-dards für eine grenzüberschreitende medizinische Behandlung und die Pflicht der nationalen Krankenversi-cherungsträger zur Erstattung von Leistungen außerhalb des Sitzlandes beschlossen worden. Bis dato haben erst fünf von 28 EU-Staaten dem Folge geleistet.Künftig hat jeder Patient, der kran-kenversichert ist, Anspruch auf Er-stattung der Kosten, wenn die Be-handlung in einem anderen EU-Land erfolgt. Die Kostenerstattung muss in der Höhe erfolgen, in der sie auch für eine entsprechende Behandlung im Inland übernommen würde. Je-der EU-Bürger hat überdies das Recht, einen Arzt, oder ein Kranken-haus frei zu wählen, ganz gleich ob öffentlich oder privat. Einschränkun-gen gibt es bei hoch spezialisierten Leistungen oder wenn eine medizi-nisch nicht zu vertretende Wartezeit vorliegt. Dann muss eine Auslands-behandlung vorab von der zuständi-gen Kasse genehmigt werden.Die EU-Kommission fordert von den Mitgliedstaaten ferner, dass sie eine Internet-basierte Informations- und Kontaktbörse aufbauen. Dort soll der Ratsuchende sich Informationen über Ärzte, Behandlungsmethoden und medizinische Einrichtungen fin-den und Fragen schriftlich stellen können. Ferner ist das Gesundheits-system im Versicherungsland gehal-ten, dem Versicherten eine Kopie seiner Patientenakte für die Behand-lung im Ausland auszuhändigen oder online dem behandelnden Arzt ins EU-Ausland zu mailen.
www.aerztezeitung.de
Haftung des Arztes für Diagnosefehler: Befunderhebungsversäumnisse bei Leitsymptomen für spinale Infektion – BeweislastumkehrDas OLG Koblenz (Urt. v. 01.12.2011 – 5 U 95/10) hatte die dif ferenzierende Breite der Rechtsprechung des BGH zur Haftung des Arztes für Diagnosefehler an einem Fall aufzuzeigen, in dem die Ärzte eine interspinale Infektion als Folge einer StaphylokokkenInfektion zu spät erkannt haben. Der damals 70jährige Patient hatte die StaphylokokkenInfektion und eine Lungenentzündung im Dezember 1997 während einer stationären Behandlung in P. erlitten. Weil sein Zustand sich auch nach seiner Entlassung nicht besserte, überwies ihn sein Hausarzt am 08.01.1998 in das Krankenhaus der Bekl. zu 3. Dort wurden das Fortbestehen der StaphylokokkenInfektion und eine pulmonale Sepsis mit Pleuraempyemen festgestellt, die man zu drainieren versuchte. Da der Patient weiter f ieber te , w urde er am 19.03.1998 in die Lungenklinik der Bekl. zu 4 verlegt. Unter antibiotischer Behandlung klang das Fieber ab. Es stellten sich Rückenschmerzen ein. Nach mehrfachen Röntgenuntersuchungen diagnostizierten die Ärzte der Bekl. zu 4 eine Kyphose und eine Spondylose mit Blockbildung von Brustwirbeln. Am 21.04.1998 wurde der Kl. ohne weitere Fieberanzeichen zur Rehabilitation in das Haus der Bekl. zu 1 entlassen. Nacken und Rückenschmerzen, über die der Kl. klagte , wurden mit den in der Klinik der Bekl. zu 4 befundeten degenerativen Erscheinungen erk lärt. Am Nachmittag des 01.05.1998 verstärkte sich die
Schmerzsymptomatik. Abends klagte der Kl. über Miktionsstörungen sowie über Schwäche und Taubheit in den Beinen. Für die Nacht wurden ihm Schmerzmittel gegeben. Am Morgen des 02.05.1998 wurden Lähmungen und sensorische Ausfälle dokumentiert. Gegen 14 Uhr wurde der Kl. in die Neurochirurgie eines anderen Krankenhauses verlegt und unverzüglich wegen einer Querschnittslähmung operiert. Dabei wurde eine irreversible Schädigung des Rückenmarks als Folge einer die Brustwirbel zerstörenden StaphylokokkenInfektion festgestellt.Das LG hatte die Klage des Pat ienten auf Zahlung eines Schmerzensgeldes von 350.000 € und auf Feststellung der Pflicht zum Ersatz seiner materiellen Schäden abgewiesen. Das OLG hat die Abweisung der Klage gegen die Bekl. zu 3. bestätigt,
© p
icpr
ofi /
foto
lia.c
om
aber der Klage gegen die Bekl. zu 1. und 4. stattgegeben. Es hat den Ärzten der Bekl. zu 1 vorgeworfen, spätestens am Morgen des 02.05.1998 auf den eindeutigen Hinweis auf ein neurologisches Defizit nicht sofort reagiert, sondern den Patienten erst um 14 Uhr zur weiteren Diagnostik und Behandlung verlegt zu haben; eine Verzögerung, die nach dem Sachverständigen nicht habe in Kauf genommen werden dürfen, sondern als grober Fehler anzusehen sei. „Sofortige Verlegung in eine neurologische Einheit; MRT; Bildgebung mit intraspinaler, das Rückenmark komprimierenden Raumforderung; unmittelbare Entlastung der Raumforderung.“ Die Ärzte der Bekl. zu 4 hätten schon bei der Aufnahme des Patienten am 19.03.1998 bestehenden Hinweisen aus der klinischen Symptomatik auf eine interspinale Infektion nachgehen
8 Bleibt eine Staphylokokkeninfektion zu lange unbehandelt, kann sie ver-heerende Folgen haben und sogar zu einer Querschnittslähmung führen.
Gynäkologe 2013 · 46:786–787 DOI 10.1007/s00129-013-3288-6 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
Lesetipp
Weitere interessante Beiträge aus der Zeitschrift MedR Medizinrecht, Ausgabe 7/2013 finden Sie unter folgendem Link: http://link.springer.com/journal/350/30/9/page/1
9 Oder gehen Sie mit Ihrem Smartphone direkt auf dieHomepage der Zeitschrift MedR Medizinrecht!
müssen. Eine entsprechende Abklärung sei jedenfalls dann notwendig geworden, als man die laufende Antibiose wegen eines Abklingens der laborchemischen Infektparameter abgesetzt habe. Eine Lumbalpunktion oder eine Kernspintomografie sei notwendig gewesen zur Sicherheit, dass kein intraspinaler Entzündungsprozess fortdauerte.
Anmerkung: Diagnosefehler führen nicht immer zur Haftung des Arztes. Er kann nicht mit jedem Behandlungsschritt zuwarten, bis er ganz sicher ist, alle maßgebenden Daten und Datenkombinationen seines Patienten zu kennen, die er für seine Entscheidung zu einer möglichst komplikationsfreien Therapie braucht. Zudem kann eine Überdiagnostik den Patienten erst richtig krank machen. Das muss auch der Haftungsrichter berücksichtigen: sonst würde er eine defensive Medizin provozieren allein zur Vermeidung von Haftungsrisiken für den Arzt. Zurückhaltung des Haftungsrechts ist aber nur gerechtfertigt wegen der Vieldeutigkeit der Krankheitsbilder und der unterschiedlichen Entwicklungsstadien der Krankheit. Zur Haftung führt die Falschdiagnose jedenfalls dann, wenn sie auf einem Mangel an Kenntnis der vielschichtigen Aussagekraft von Symptomen beruht oder auf einem Mangel an Selbstkritik bezüglich der eigenen diagnostischen Fähigkeiten; wenn der Arzt ein eindeutiges Krankheitsbild verkennt oder sich mit der Anam nese nur oberf lächlich befasst; oder sich bei seiner ersten Arbeitsdiagnose beruhigt und die Anzeichen für die Korrekturbedürftigkeit seiner ersten Annahme beiseiteschiebt. Das Unterlassen weiterer Befunderhebung kann nach der Rechtsprechung des BGH dann zur Vermutung berechtigen, dass der
Ticker
▶ Der Weg vom Biomarker zum Klinikbett ist weit
Visionen der personalisierten Medi-zin umfassen die Entwicklung effek-tiverer und nebenwirkungsärmerer Medikamente, das Vermeiden unnö-tiger Behandlungen und die prädik-tive genetische Diagnostik. In der Onkologie haben sich diese Visionen bereits zu ersten therapeutischen Ansätzen gewandelt.Patienten mit nicht-kleinzelligem Karzinom und einer aktivierenden Mutation im Epidermal Growth Fac-tor-Rezeptor(EGFR)-Gen profitieren von der Therapie mit dem Tyrosinki-nasehemmer Gefitinib. Dies ist für Professor Regine Kollek vom For-schungsschwerpunkt Biotechnik, Gesellschaft und Umwelt der Univer-sität Hamburg, einfach zu interpre-tieren, anders als die Testung auf den HER2-Status bei Brustkrebs für die Indikation einer Trastuzumab-Thera-pie. Das Problem: In den Zulassungs-studien wurden nur HER2-positive Patientinnen eingeschlossen, aber spätere Studien belegten, dass auch Frauen mit einem HER2-negativen Primärtumor von der Therapie auf-grund der Heterogenität von zirku-lierenden Tumorzellen profitieren können.Es besteht Kollek zufolge eine Lücke zwischen der wachsenden Zahl identifizierter genetischer Marker und deregulierter Reaktionswege und ihrer Implementierung am Krankenbett. Die Hauptschwierig-keiten seien einerseits die invasiven und kostspieligen Biomarker-Stu-dien und andererseits die Heteroge-nität der Tumoren sowie die Frage-stellung in frühen Studien für zielgerichtete Therapien, die nicht notwendigerweise die richtigen Fra-gen adressieren.Kollek bezeichnete den Begriff „per-sonalisierte Medizin“ als irreführend. Er vermittle den Patienten den Ein-druck von einer individuelleren Me-dizin und ganzheitlichen Behand-lung, obwohl die individualisierte Medizin keine psychosozialen As-pekte beinhaltet, sondern die Indivi-dualität auf physiologische, bioche-mische und genetische Besonderheiten reduziert wird. Die Wissenschaftlerin schlug stattdessen die ihrer Meinung nach neutraleren Begriffe „stratifizierte Medizin“ oder „zielgerichtete Medizin“ vor.
www.aerztezeitung.de
Befund positiv gewesen wäre: hier die Spondylodiszitis aufgedeckt hätte. Wäre das Nichtreagieren auf diesen Befund – wie hier – ein elementarer Verstoß gegen den ärztlichen Standard, dann erstreckte sich die Vermutung auch auf die Ursächlichkeit des Versäumnisses für den Gesundheitsschaden des Patienten: hier die Querschnittslähmung. Denn dann geht die Beweiserleichterung für den Patienten bei Verstößen des Arztes gegen seine Befunderhebungspflicht in den Grundsätzen des BGH zur Beweiserleichterung bei groben Behandlungsfehlern auf. Dies hat das OLG Koblenz in seinem Urteil − veröffentlicht in MedR 2013, 439 ff näher dargelegt.
VorsRiBGH a. D. Dr. iur. E. Steffen, Karlsruhe
Zusammenfassung aus Steffen E (2013) MedR 31:439−444,
DOI: 10.1007/s00350-013-3464-7 und 10.1007/s00350-013-3463-8
787Der Gynäkologe 11 · 2013 |