+ All Categories
Home > Documents > Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Date post: 30-Nov-2015
Category:
Upload: telosgrapheni007
View: 67 times
Download: 2 times
Share this document with a friend
132
Transcript
Page 1: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution
Page 2: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Die Bände der Reihe Fischer Kompakt gliedern sich in vier Abschnitte.

Der GRUNDRISS gibt eine bündige Gesamtdarstellung des Themas.

Die VERTIEFUNGEN geben die Möglichkeit, verschiedene Facetten, die

im Grundriss angesprochen werden, genauer kennen zu lernen. Das

GLOSSAR erläutert zentrale Begriffe. Die LITERATURHINWEISE geben

Empfehlungen für weitere Lektüren. Laufend aktualisierte Hinweise

des Autors auf interessante Texte und Links sind im Internet zu fin­

den unter www.fischer-kompakt.de/molekulare-evolution

S.109 Die Markierungen in der Marginalspalte, zusammen mit Her­

vorhebungen im Text, verweisen auf einen entsprechenden

Abschnitt in den Vertiefungen.

Originalausgabe

Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag,

einem Unternehmen der S. Fischer Verlag GmbH,

Frankfurt am Main, Mai 2003

Gestaltungskonzept/Umschlag/Satz:

Wolff Kommunikation, Frankfurt am Main

Grafiken: von Solodkoff, Neckargemünd

Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck

Printed in Germany

ISBN 3-596-15365-4

Page 3: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

MOLEKULARE EVOLUTION

GRUNDRISS

1.Einige Grundlagen der Vererbung .......................................3

DNA-ein Bote aus der Vergangenheit .......................................3

Die DNA und ihr Code ..............................................................5

Gene und Genom ....................................................................7

Die Protein-Biosynthese .........................................................10

2.Veränderungen einer DNA-Sequenz im Laufe der Zeit .....14

Mutationen in einer DNA-Sequenz .........................................14

Evolution einer DNA-Sequenz.................................................17

Lücken und Ergänzungen in DNA-Sequenzen .......................22

3. Eine kleine Baumschule .......................................................25

AllgemeineTerminologie .........................................................25

Phylogenetische Klassifikation ...............................................28

Die Zahl der Bäume ................................................................31

4. Molekulare Phylogenie ........................................................32

Maximum-Parsimonie .............................................................36

Distanzbasierte Methoden ......................................................41

Maximum-Likelihood ...............................................................45

Experimentelle und theoretische Phylogenien.........................48

Der Bootstrap .........................................................................55

5.Gen-Bäume in der Phylogenie ............................................56

Gen-Bäume in Spezies-Bäumen ............................................56

Widersprüche zwischen Gen-Bäumen und Spezies-Bäumen .58

Auswirkungen von Gen-Duplikationen auf Gen-Bäume ..........63

Gen-Duplikationen als Motor

der physiologischen Feinabstimmung .....................................64

Page 4: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

6. Gen-Bäume in Populationen ...............................................66

Rekonstruktion der Populationsgeschichte

anhand von DNA-Sequenzen..................................................68

Die Genealogie einer Stichprobe

Wann lebte der jüngste Vorfahre

............................................70

der menschlichen Population? ................................................72

Demographie...........................................................................76

Wo kommen wir her? .............................................................85

7. Die Zukunft.............................................................................87

VERTIEFUNGEN

Molekulare Techniken.................................................................91

Genetische Drift ......................................................................100

Die neutrale Theorie der molekularen Evolution .......................101

Die molekulare Uhr ...................................................................103

Der Coalescent-Prozess...........................................................105

Die genetische Variabilität einer Population ............................109

Das Jukes-Cantor-Modell der Sequenzevolution .....................110

Wer sind die nächsten Verwandten der Wale? Ein nicht­

sequenzbasierter Ansatz zur Aufklärung der Phylogenie .........112

»Fossile DNA« - eine Zeitreise in die Vergangenheit ..............115

ANHANG

Glossar ....................................................................................122

Literaturhinweise.......................................................................127

Page 5: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

GRUNDRISS

1 EINIGE GRUNDLAGEN DER VERERBUNG

DNA - ein Bote aus der Vergangenheit

Die Menschheit ist nicht nur daran interessiert, ihre Zukunft zu deu­

ten, sondern auch ihre Herkunft zu rekonstruieren. Zentrale Fragen

sind: Wo kommen wir her? Wie ordnen wir uns in die belebte Welt

ein? Und wie können wir alle Lebewesen in einem einheitlichen

Schema gruppieren, das uns hilft die Vielfalt des Lebens auf der Erde

und ihre Genese zu verstehen?

Carl von Linne (1707-1778) »sortierte« die Natur und gab den meis­

ten Tieren und Pflanzen mittels der binären Nomenklatur eine syste­

matische Zuordnung. Die Dynamik in der Entstehung der Vielfalt

blieb jedoch verborgen. Erst ein Jahrhundert später, auf einem Tref­

fen der Londoner Linne an Society am 1. Juli 1858, haben Charles Dar­

win (1809 -1882) und Alfred Rüssel Wallace (1823 -1913) ihre Ideen

zur Entstehung der Arten vorgetragen. Im Jahr darauf publizierte

Darwin sein bahnbrechendes Buch On the Origin of Species. Darwins

Theorie basierte entscheidend auf der Weitergabe von vererbbaren

Merkmalen. Die zugrunde liegenden Mechanismen waren zu dieser

Zeit jedoch noch unklar. Erst 1944 gelang dem amerikanischen Team

um Oswald Theodore Avery (1877 - 1955) der eindeutige Nachweis,

dass die Desoxyribonukleinsäure (desoxyribonucleic acid, abgekürzt

DNA) die erblichen Eigenschaften von den Eltern auf die Nachkom­

men überträgt.

Vererbung beruht also auf einer stofflichen Weitergabe in Form

einer Umsetzung von Molekülen. Die DNA besteht aus vier Grund­

bausteinen, nämlich den Basen Adenin (A), Cytosin (C), Guanin (G)

3

Page 6: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Einige Grundlagen der Vererbung

S.91

und Thymin (T). Die Molekular-Genetik beschreibt, wie aus der se­

quentiellen Abfolge dieser vier Grundbausteine der gesamte Bau­

plan für einen vollständigen Organismus entsteht und wie die Wei­

tergabe der genetischen Information erfolgt. Da die DNA in fast

allen Lebewesen als Träger der Erbinformation fungiert, sind die ge­

fundenen Prinzipien für die Umsetzung der genetischen Informa­

tion in den Phänotypen nahezu allgemeingültig.

Rasch wurde klar, dass die DNA nicht nur für die Weitergabe der

Eigenschaften von Eltern auf ihre Kinder verantwortlich ist. Sie ist

auch ein »Dokument der Evolutionsgeschichte«, so Emile Zucker­

kandl und Linus Pauling. Die DNA, die in heute lebenden Organismen

zu finden ist, gab in grauer Vorzeit ein Vorfahr an den Nächsten wei­

ter. Im Laufe dieser Weitergabe wurde die DNA modifiziert. Nicht

mehr benötigte Segmentabschnitte gingen verloren, neue Sequenz-

abschnitte wurden erworben und wieder andere Abschnitte erfuh­

ren kleine Veränderungen, da der Prozess der Informationsweiterga­

be nicht fehlerfrei ist. Welche Modifizierungen auch immer eine

DNA erfahren hat, die heutigen Organismen zeigen Spuren dieser

Änderungen in ihrem Genom. Die Forschung zur molekularen Evolu­

tion versucht diesen Prozess zu rekonstruieren und die Mechanis­

men herauszuarbeiten, die zu der heutigen Vielfalt der Organismen

geführt haben.

Besonders in den letzten Jahrzehnten wurden völlig neue For­

schungstechniken entwickelt. Beispiele sind die Klonierung von

DNA-Segmenten, die Sequenzierung der DNA und die Polymerase-

Kettenreaktion (PCR) (Molekulare Techniken). Mit der rasanten Ent­

wicklung dieser molekularbiologischen Techniken gelang es, ein

detailliertes und immer umfassenderes Bild von den der Evolution

zugrunde liegenden Mechanismen zu entwickeln.

Insbesondere bei der Frage nach einem biologischen System der

Organismen erweist sich die Analyse von DNA- und Aminosäure­

sequenzen als eine wertvolle Methode, um sowohl die Verwandt­

4

Page 7: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Die DNA und ihr Code

Schaftsverhältnisse zwischen nah verwandten Arten zu studieren,

als auch einen Baum zu rekonstruieren, der die Evolutionsgeschichte

aller Organismen der Erde darstellt.

Die DNA und ihr Code

Die genetische Zusammensetzung eines Organismus wird im We­

sentlichen durch die Nukleinsäuren bestimmt. Sie enthalten den

Bauplan, der die verschiedenen Bauphasen im Organismus steuert

und der als Kopie an die nächste Generation weitergegeben wird. Es

gibt in den Zellen zwei Arten von Nukleinsäuren, die Desoxyribonu­

kleinsäure (DNA) und die Ribonukleinsäure (RNA). Nukleinsäuren

sind Makromoleküle. Ihre Grundbausteine sind Nukleotide, die ket­

tenförmig miteinander verbunden sind. Jedes Nukleotid ist aus drei

Molekülen aufgebaut: einer stickstoffhaltigen, heterozyklischen Ba­

se (N), einem Zucker (Z) und einer Phosphorsäure (P) (Abbildung la).

Als Zuckerbaustein dient bei der DNA die Desoxyribose, bei der

RNA ist es die Ribose. Als Basenanteile treten die Pyrimidinderivate

Thymin (T) und Cytosin (C) (einfache Ringstruktur) und die Purinde­

rivate Adenin (A) und Guanin (G) (doppelte Ringstruktur) auf (Abbil­

dung 1b). In der RNA kommt statt Thymin die Base Uracil (U) vor, die

chemisch nah verwandt ist mit Thymin.

Ein vollständiges DNA-Molekül besteht aus zwei gegenläufigen

Polynukleotid-Strängen (Abbildung 1c). Diese sind über Wasserstoff­

brücken-Bindungen zu einem Doppelstrang so verknüpft, dass sich

immer Thymin beziehungsweise Cytosin des einen Strangs mit Ade­

nin beziehungsweise Guanin vom anderen Strang paaren (Watson­

Crick-Basenpaarung). Dabei werden zwischen Adenin und Thymin

zwei Wasserstoffbrücken-Bindungen (A=T) ausgebildet, zwischen

Guanin und Cytosin sind es drei (G==C). Zusätzlich sind diese zwei

Polynukleotid-Stränge noch spiralförmig umeinander gewunden,

und es entsteht die charakteristische Gestalt der DNA-Doppelhelix.

5

Page 8: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Einige Grundlagen der Vererbung

Abb.1: Schematischer Aufbau der DNA

In einer Nukleinsäure sind mehrere tausend Nukleotide zu einem

langen, unverzweigten Strang angeordnet. Die genetischen Infor­

mationen werden in der unterschiedlichen Abfolge der vier Basen

entlang der jeweiligen Sequenz kodiert.

Die genetische Information einer DNA-Sequenz wird in der Pro­

tein-Biosynthese an die Eiweißmoleküle (Proteine) weitergegeben,

die wiederum die spezifischen Merkmale eines Organismus prägen.

Die Bausteine der Proteine sind zwanzig verschiedene Aminosäuren;

am Aufbau der Nukleinsäuren hingegen sind nur die vier Basen be­

teiligt. Zur Kodierung der zwanzig Aminosäuren sind daher spezifi­

sche »Codewörter« notwendig. Sie geben an, aus welchen Nukleoti­

den die Aminosäuren bestehen. Eine einfache Überlegung zeigt, dass

mindestens drei Nukleotide (zum Beispiel ACG) notwendig sind, um

6

Page 9: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Gene und Genom

alle Aminosäuren zu kodieren. Aus vier Nukleotiden können nur 16

Kombinationen von Zweiergruppen (zum Beispiel GC), wohl aber 64

Kombinationen von Dreiergruppen (wie CGA) gebildet werden. Je­

weils drei Nukleotide lassen sich also zu einem Wort aus drei Buch­

staben oder in der Sprache der Molekularbiologie zu einem Codon

oder Triplett zusammenfassen. So stehen genügend Wörter zur Ver­

fügung, um jede Aminosäure durch die Abfolge von drei Nukleotiden

zu verschlüsseln. Die Übersetzung der Tripletts der DNA in Amino­

säuren der mRNA zeigt Abbildung 2.

Die meisten Aminosäuren werden durch mehrere Tripletts kodiert.

So dienen als Codon für die Aminosäure Serin (Ser) die sechs Wörter

AGC, AGU, UCU, UCC, UCA oder UCG. Man spricht daher von der Re­

dundanz des genetisches Codes. Eindeutig kann nämlich nur von der

DNA- beziehungsweise RNA-Sequenz auf die Aminosäure geschlos­

sen werden, nicht jedoch umgekehrt von der Aminosäure auf die

Nukleotid-Sequenz. Lediglich für Tryptophan (Trp) und Methionin

(Met) gibt es allein ein einziges Schlüsselwort, nämlich UGG respek­

tive AUG. Das AUG-Triplett hat weiterhin die Funktion eines so

genannten Startcodons, das den Beginn der kodierenden Sequenz

anzeigt. Jedes neu synthetisierte Protein beginnt also mit Methio­

nin. Zu den so genannten Stoppcodons UGA, UAA, und UAG gehören

keine Aminosäuren. Diese Tripletts beenden die Protein-Biosynthese.

Gene und Genom

Der DNA-Strang enthält viele tausend Nukleotide. Aber nur einige

Abschnitte der DNA tragen die Informationen für den Bauplan eines

Organismus in sich. Diese Abschnitte heißen Gene. Sie enthalten die

Informationen zur Herstellung von spezifischen Proteinen und sind

daher im Wesentlichen für die Gestalt eines Lebewesens verant­

wortlich. Für die Herstellung der Proteine müssen die Gene ihre Ko­

dierung weitergeben, sie bilden die kodierende DNA.

7

Page 10: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Einige Grundlagen der Vererbung

Darüber hinaus gibt es in dem DNA-Strang zwischen den kodieren­

den Bereichen weitere, häufig sehr lange Abschnitte, die keine Infor­

mationen zur Herstellung von Proteinen tragen. Damit differenziert

sich der DNA-Strang in verschiedene Domänen: Gene, die ihre Kodie­

rung weitergeben, bilden die funktionellen Bereiche der DNA. Die

anderen Abschnitte, die keine Kodierung tragen und daher auch

keine Kodierung weitergeben, bilden die nicht-kodierende DNA. Letz­

tere machen bei den Lebewesen, die einen echten Zellkern haben

(Eukaryoten), den Großteil des Genoms aus (siehe Abbildung 3).

Seit langem bekannt ist die Unterteilung des Genoms in Chromo­

somen. Im Kern einer menschlichen Körperzelle befinden sich 22 au­

tosomale Chromosomen (griechisch auto = selbst, soma = Körper).

Sie steuern hauptsächlich die körpereigenen Prozesse. Die Chromo­

somen unterscheiden sich in Form und Größe und liegen je zweimal

vor. Ein Pärchen gleichartiger Chromosomen heißt homolog (überein­

stimmend). Hinzu kommen die Geschlechtschromosomen X und Y.

Bei männlichen Individuen gibt es ein X- und ein Y-Chromosom, bei

weiblichen Individuen zwei X-Chromosomen. Zellen, in denen die

Chromosomen doppelt vorliegen, heißen diploid (zweifach). Eine

diploide Zelle des Menschen enthält daher immer 46 Chromosomen,

zweimal 22 homologe Autosomen und zwei Geschlechtschromoso­

men, entweder XY bei männlichen oder XX bei weiblichen Organis­

men. In den menschlichen Keimzellen (Spermien und Ei) ist die

Anzahl der Chromosomen halbiert, sie enthalten nur je einen auto­

somalen Chromosomensatz (n=22) und von den Geschlechtschro­

mosomen entweder das Y- oder das X-Chromosom. In den reifen Ge­

schlechtszellen befinden sich daher 23 Chromosomen. Im Gegensatz

zu den diploiden Körperzellen sind die Keimzellen haploid (einfach).

Die molekulare Differenzierung des menschlichen Genoms ist erst

in den letzten Jahren aufgeklärt worden. Nach der vollständigen Be­

stimmung der Abfolge und Anzahl der Nukleotide wurde mit Er­

staunen festgestellt, dass ca. 97% der drei Milliarden Basen nicht­

8

Page 11: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Gene und Genom

Abb.2: Der genetische Code für die mRNA. Die Codons sind von innen nach außen

zu lesen und geben die Basenabfolge der mRNA-Codons wieder. Außerhalb des

Kreises stehen die Aminosäuren, die vom Triplett kodiert werden.

kodierende DNA sind. Sich vielfach wiederholende Abschnitte (re­

petitive DNA) mit bisher unbekannter Funktion machen ca.40% des

gesamten Genoms aus. In der Forschung werden sie je nach Länge

als SINE, LINE oder Satelliten-DNA bezeichnet. Lediglich 3% des

menschlichen Genoms sind kodierende DNA. Neben den schät­

9

Page 12: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Einige Grundlagen der Vererbung

zungsweise 30000-40000 Genen sind auch regulatorische Se­

quenzen und spezielle RNA-Moleküle bei der Synthese von Proteinen

wichtig.

Das eukaryotische Genom enthält neben den im Zellkern lokali­

sierten Chromosomen (auch Kern-DNA genannt) zusätzliche extra­

chromosomale DNA, die in den Mitochondrien der Zellen vorkommt.

Sie heißt mitochondriale DNA (mtDNA). Beim Menschen handelt es

sich hierbei um ein kleines, ca. 16000 Basenpaare langes, ringförmi­

ges DNA-Molekül. Die mtDNA wird in der Regel maternal vererbt.

Nur die Mütter geben das Mitochondrien-Genom an ihre Kinder

weiter, die väterliche mtDNA wird nicht vererbt. Im Unterschied zur

Kern-DNA ist die Abfolge der kodierenden Abschnitte nahezu lücken­

los. Der einzige nicht-kodierende Abschnitt ist die Kontroll region

(Abbildung 3). Sie steuert die Replikation (originalgetreue Nachbil­

dung) des ringförmigen Genoms. Eine weitere Eigenheit der mito­

chondrialen DNA besteht darin, dass es nach dem derzeitigen Wis­

sensstand so gut wie keine Rekombination gibt, das heißt es findet

kein Austausch zwischen verschiedenen DNA-Abschnitten statt. Die­

se Tatsache macht die mtDNA besonders geeignet für evolutions­

biologische Analysen.

Pflanzen besitzen noch ein weiteres, extra-chromosomales Ge­

nom, das in den Plastiden der Zellen vorkommt und daher Plastiden-

Genom heißt. Zu den Plastiden zählen unter anderem die grünen

Chloroplasten, die maßgeblich für die Photosynthese verantwortlich

sind sowie die rötlich bis gelben Chromoplasten der reifen Früchte

und Blüten. Das Plastiden-Genom ist ebenfalls ringförmig geschlos­

sen und hat eine Länge von 85000-190000 Basenpaaren.

Die Protein-Biosynthese

Ein Gen trägt die Information zur Bildung eines spezifischen Eiweiß­

moleküls (Protein). Diese sind vorwiegend aus Aminosäuren aufge­

10

Page 13: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Die Protein-Biosynthese

Abb.3: Anteil kodierender und nicht-kodierender DNA im menschlichen Genom

11

Page 14: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Einige Grundlagen der Vererbung

baut. Ganz ähnlich wie bei der DNA bestimmt die Abfolge der Amino­

säuren in der Proteinsequenz die charakteristischen Eigenschaften

dieses Proteins. Da die Gene in der Abfolge ihrer Nukleinsäuren die

Informationen zum Aufbau der Proteine enthalten, muss es einen

Mechanismus geben, der die Abfolge dieser Nukleinsäuren eines

Gens in eine Abfolge von Aminosäuren übersetzt. Dieser Vorgang ist

die Protein-Biosynthese, sie verläuft in zwei Schritten.

Bei den Eukaryoten befindet sich die DNA im Zellkern. Die Eiweiß­

synthese erfolgt aber außerhalb des Zellkerns an den Ribosomen im

Cytoplasma. Daher muss in einem ersten Schritt die Information aus

dem Kern durch die Kernhülle zu den Ribosomen im Cytoplasma

transportiert werden. Diese Übertragung übernimmt ein einsträngi­

ges RNA-Molekül. Da dieses die »Botschaft« nach außen überträgt,

heißt das Molekül messenger-RNA (mRNA oder Boten-RNA). Die

mRNA wird im Zellkern an der Kern-DNA gebildet. Die Basenfolge

(die genetische Information) der Kern-DNA wird dabei auf das neu

gebildete mRNA-Molekül übertragen (kopiert). Dieser erste Schritt

der Protein-Biosynthese wird Transkription (Abbildung 4) genannt.

Anstelle von Thymin in der DNA wird in die mRNA jedoch die Base

Uracil eingebaut.

Die mRNA gelangt durch die Kernporen in das Cytoplasma. Jetzt

beginnt der zweite Schritt in der Übertragung der genetischen Infor­

mation der Kern-DNA auf die Proteinbildung. Im Cytoplasma heften

sich zwei Teile eines Ribosoms an die mRNA an und bilden ein funk­

tionsfähiges Ribosom. Zugleich binden weitere RNA-Moleküle je

eine bestimmte, in den Zellen frei existierende Aminosäure an sich.

Diese RNA-Moleküle nennt man transfer-RNA oder tRNA. Sie trans­

portieren die Aminosäuren zum Ribosom, wo sie unter Mitwirkung

der mRNA zu einem Polypeptid verknüpft werden. Die Reihenfolge,

in der die Aminosäuren zu einem bestimmten Protein zusammenge­

setzt werden, wird durch die Abfolge der Codons in der mRNA

bestimmt. Dieser zweite Schritt, die Übersetzung der in der Basen­

12

Page 15: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Die Protein-Biosynthese

Abb.4: Die Teilprozesse der Protein-Biosynthese

abfolge der mRNA gespeicherten genetischen Information in eine

Abfolge von Aminosäuren in einem Protein, heißt Translation. Die

Stoppcodons auf der mRNA beenden die Translation. Das Polypeptid

und die tRNA verlassen die Ribosomen, die anschließend in ihre

Untereinheiten zerfallen.

13

Page 16: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Veränderungen einer DNA-Sequenz im Laufe der Zeit

2 VERÄNDERUNGEN EINER DNA-SEQUENZ IM LAUFE DER ZEIT

Mutationen in einer DNA-Sequenz

Die Vererbung der Eigenschaften eines Organismus auf seine Nach­

kommen beruht auf der Bildung einer genauen Kopie der DNA. Die

Natur hat für diese Replikation der DNA viele Vorkehrungen getrof­

fen, um den Kopierprozess möglichst fehlerfrei zu gestalten. Den­

noch kommt es zu Fehlern. Die so genannten Mutationen (Verände­

rungen) entstehen sowohl bei der Replikation als auch spontan durch

umweltbedingte Faktoren, wie beispielsweise radioaktive Strahlung

oder chemische Stoffe in der natürlichen und industriellen Umwelt.

Mutationen sind die entscheidende Kraft im Evolutionsgeschehen.

Sie sind zum einen verantwortlich für die genetischen Unterschiede

zwischen Individuen. Zum anderen sind Mutationen der Motor für

die Mannigfaltigkeit beziehungsweise Vielgestaltigkeit des Lebens,

die dann auf dem Prüfstand der Selektion auf ihre Lebensfähigkeit

getestet wird. Aus dieser Vielfalt der Mutationen interessieren in der

Erforschung der molekularen Evolution nur jene Veränderungen, die

sich in den Geschlechtszellen (Keimbahn) manifestieren. Nur diese

Mutationen werden an die Nachkommen sich sexuell fortpflanzen­

der Organismen weitergegeben. Veränderungen, die andere Körper­

zellen betreffen (somatische Mutationen), werden nicht vererbt und

sind daher für die Rekonstruktion der molekularen Evolutionsge­

schichte ohne Bedeutung.

Mittlerweile sind eine Vielzahl unterschiedlicher Mutationstypen

bekannt. So kann in einer DNA-Sequenz ein Nukleotid durch ein an­

deres ersetzt werden (Punktmutation). Nur wenn die Reparaturme­

chanismen der Zelle diese Änderung nicht erkennen und korrigieren,

sprechen wir von einer Substitution. Typische Substitutionen sind

14

Page 17: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Mutationen in einer DNA-Sequenz

Abb.5: Schema der möglichen Nukleotidsubstitutionen

die vielen Einzel- oder Single-Nukleotid-Polymorphismen (abgekürzt

SNP), die im Zuge der Sequenzierung des menschlichen Genoms

gefunden wurden.

Nukleotidsubstitutionen treten als Transitionen und Transversio­

nen auf. Eine Transition ist ein Basenaustausch zwischen Pyrimidi­

nen (Cytosin ļ Thymin) oder zwischen Purinen (Adenin ļ Guanin).

Bei der Transversion kommt es zu einem Austausch zwischen einer

Purin- und einer Pyrimidinbase (Abbildung 5).

Für das Auftreten einer Transversion gibt es prinzipiell zwei Mög­

lichkeiten, für eine Transition existiert hingegen nur eine Option.

Daher liegt der Schluss nahe, dass Transversionen zweimal häufiger

vorkommen als Transitionen. Beim Auszählen der Unterschiede zwi­

schen nah verwandten Sequenzen bestätigt sich diese einfache An­

nahme jedoch nicht. Transitionen finden wesentlich häufiger statt

als Transversionen. Diese Tatsache muss bei der Analyse von DNA-

Sequenzen berücksichtigt werden.

15

Page 18: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Veränderungen einer DNA-Sequenz im Laufe der Zeit

Hat der Austausch eines Nukleotids keinen Einfluss auf die kodierte

Aminosäure (siehe Abbildung 2), handelt es sich um eine synonyme

Substitution. Dagegen ändert eine nicht-synonyme Substitution die

Aminosäure. Synonyme Substitutionen erfolgen meist an den drit­

ten Codonpositionen, die im Wesentlichen die Redundanz des gene­

tischen Codes bestimmen.

Außerdem gehen im Verlauf der Zeit Stückchen der DNA verloren

(Deletion) oder werden hinzugewonnen (Insertion). Die Einheit einer

Deletion oder Insertion kann ein einzelnes Nukleotid sein, oder es

können auch ganze Abschnitte von Nukleotiden sein. Darüber hin­

aus gibt es großräumige Veränderungen des genetischen Materials

wie Translokationen und Inversionen, bei denen ganze Chromoso­

men-Abschnitte verlagert oder verdreht werden. Erstaunlicherweise

ist die Natur so flexibel, dass eine solche Umgruppierung von DNA-

Abschnitten nicht zwangsläufig zur Funktionsunfähigkeit des be­

troffenen Organismus führen muss.

Einer der wichtigsten genetischen Prozesse in der Evolution ist die

Duplikation (Verdopplung) von Genen oder ganzer genomischer

Abschnitte. Dadurch erhält der Organismus zwei Kopien desselben

Gens. Eine der beiden Kopien kann eine neue Funktion bekommen

oder aber seine Funktionsfähigkeit verlieren. Ein klassisches Beispiel

sind die wiederholten Genduplikationen in der Superfamilie des Glo­

bingens, die sowohl den Sauerstofftransport in den Muskeln (Myo­

globin) als auch im Blut (Hämoglobin) regulieren. Dabei werden die

sehr unterschiedlichen Sauerstoff-Bedürfnisse im Embryo respektive

im erwachsenen Organismus berücksichtigt. Andere DNA-Abschnit­

te sind ganz ähnlich wie die Globingene aufgebaut, aber sie funktio­

nieren nicht, weil sie durch Deletionen und Insertionen unter­

brochen sind. Diese »Karikaturen« aktiver Gene werden Pseudogene

genannt.

16

Page 19: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Evolution einer DNA-Sequenz

Evolution einer DNA-Sequenz

Mutationen verändern die Basenabfolge der DNA-Sequenz. Bei jeder

Substitution ändert sich durch den Austausch eines Nukleotids auch

die in der DNA gespeicherte Information. Als eine zentrale Annahme

gilt in der molekularen Evolutionstheorie, dass diese Änderungen ei­

nem stochastischen, das heißt einem Zufallsprozess unterliegen. Zu

jedem gegebenen Zeitpunkt ist es möglich, dass eine Substitution

erfolgt und ein Nukleotid der Sequenz durch ein anderes ersetzt

wird. Prinzipiell sind solche Ersetzungen an jeder Position eines

DNA-Stranges möglich. Es gibt allerdings bestimmte, meist konser­

vative Regionen in der DNA-Sequenz, in denen eine einzige Substitu­

tion bereits die Funktion des resultierenden Proteins beeinträchtigt.

Hierzu zählt etwa die Änderung der Raumstruktur eines Moleküls,

die möglicherweise eine verringerte Bindungsaffinität für bestimm­

te Gase oder Mineralien bewirkt. Ist eine Mutation nachteiligfür den

Träger, wird aufgrund der reduzierten Fitness (weniger oder keine

Nachkommen) diese Mutation wieder verloren gehen. Bei neutralen

Substitutionen entscheidet der Zufall, ob die neue Mutante in der

Population fixiert wird (Die neutrale Theorie der Molekularen Evolu­

tion, Genetische Drift). Die Auswertung von Aminosäure-Sequenzen

zeigt, dass verschiedene Proteine unterschiedliche Substitutionsra­

ten haben, wobei es noch einen deutlichen Unterschied zwischen

synonymen und nicht-synonymen Austauschen gibt (Tabelle 1). So

zählen die Histone, die in den Kernen aller Tier- und Pflanzenzellen

vorkommen und die dichte Verpackung des Genoms im Zellkern ge­

währleisten, zu den höchst konservierten Genen überhaupt. Vom

Histon 3 und Histon 4 ist keine nicht-synonyme Substitution be­

kannt. Die Gene aus der Globinfamilie zeigen geringe (D-Globin,

Myoglobin) bis moderate (E-Globin) Austauschraten.

Die Substitutionsraten in Tabelle i sind Schätzungen. Es ist nicht

möglich, eine DNA-Sequenz über eine Milliarde Jahre zu beobachten

S.101

S.100

17

Page 20: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Veränderungen einer DNA-Sequenz im Laufe der Zeit

Tabelle 1: Substitutionsraten für fünf proteinkodierende Gene. Die Rate ist als mitt­

lere Zahl an Substitutionen pro Position und pro 1 Milliarde Jahre angegebene AS

= Aminosäure.

und die in dieser Zeit erfolgenden Substitutionen in der Keimbahn

mitzuzählen. Vorteilhaft wäre es zwar, wäre die Zahl der Substitutio­

nen in diesem Zeitraum doch ein Maß für die Evolutionsgeschwin­

digkeit des Sequenzabschnittes, und die Substitutionsrate ließe sich

direkt berechnen. Zum Glück stellen Mathematiker Modelle der Se­

quenzevolution bereit, um die Substitutionsrate zu ermitteln.

Für das Entwickeln eines solchen Modells soll angenommen wer­

den, dass sowohl die ursprüngliche Sequenz als auch die heutige Se­

quenz und zudem die dazwischenliegende Zeitspanne bekannt sind.

Unter der Annahme, dass nur Substitutionen erfolgten, kann dann

jeder Position der heutigen Sequenz ihre Position in der ursprüng­

lichen Sequenz zugeordnet werden (Abbildung 6). Unterscheidet

sich ein »heutiges« Nukleotid von dem Nukleotid der ursprünglich­

en Sequenz, fand mit Sicherheit an dieser Position mindestens ein

Austausch statt. Da nur das Endprodukt und das Anfangsprodukt

bekannt sind, können an dieser Position aber auch zwei, drei, vier und

mehr Substitutionen stattgefunden haben.

Sind zwei Nukleotide an einer Position gleich, können dennoch im

Laufe der Zeit zwei, drei, vier und mehr Mutationen eingetreten sein,

18

Page 21: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Evolution einer DNA-Sequenz

Abb.6: Modell für die Veränderung einer DNA-Sequenz im Laufe der Zeit.

Zwischen einer Vorfahr-Sequenz und einer heutigen Sequenz sind acht Generatio­

nen vergangen. Punkte stehen für identische Basen, ein Strich (-) markiert eine

Deletion, das heißt den Verlust eines Nukleotids. Pfeile symbolisieren jeweils eine

Substitution (schwarzer Pfeil = Transition, grüner Pfeil = Transversion) beziehungs­

weise Deletion (grauer Pfeil). Die Veränderungen führen zu unterschiedlichen

Ergebnissen, das sind einfache (*) und multiple ($) Substitutionen, Rückmutatio­

nen (§) oder Deletionen (-).

eventuell aber auch gar keine. Wird also nur die Zahl der unter­

schiedlichen Nukleotidpaare registriert, dann wird die Zahl der Sub­

stitutionen unterschätzt. Die Wahrscheinlichkeit für diese mehrfa­

chen (multiplen) Substitutionen hängt von der betrachteten

Zeitspanne und von der Substitutionsrate der Sequenz ab. Je weni­

ger Zeit vergangen ist und je kleiner die Substitutionsrate ist, desto

unwahrscheinlicher sind multiple Ereignisse an einer Position.

Um aus der beobachteten Zahl an unterschiedlichen Nukleotidpo­

sitionen zwischen zwei Sequenzen auf die Zahl der tatsächlich statt­

gefundenen Mutationen zu schließen, sind in den letzten Jahrzehn­

ten eine Vielzahl von mathematischen Modellen entwickelt worden.

Abbildung 7 zeigt für das Jukes-Cantor-Modell der Sequenzevolution

den Zusammenhang zwischen der Anzahl an stattgefundenen und

der Anzahl an beobachteten Substitutionen. Die schwarze treppen­

19

S.110

Page 22: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Veränderungen einer DNA-Sequenz im Laufe der Zeit

förmige Kurve stellt die jeweils bis zu einem bestimmten Zeitpunkt

ausgezählten Substitutionen dar. Die lineare Kurve der tatsächlichen

Substitutionen (mit weißen Symbolen) berücksichtigt die nicht be­

obachtbaren Parallel- und Rückmutationen. Aus der Kurve der be­

obachteten Substitutionen muss also auf die Kurve der tatsäch­

lichen Substitutionen geschlossen werden. Es wird also nach einer

Funktion, nämlich der Korrekturkurve gesucht, die aus der Anzahl der

beobachteten Substitutionen die tatsächliche Anzahl an Basenaus­

tauschen bestimmt.

Auch wenn die mathematischen Details von Modell zu Modell

variieren, zeigen die Korrekturkurven (siehe Abbildung 7) bei allen

Modellen dennoch einen ähnlichen Verlauf: Haben erst wenig

Substitutionen stattgefunden, gibt es einen linearen Zusammen­

hang zwischen stattgefundenen und beobachteten Substitutionen.

Nimmt die Anzahl der Substitutionen zu, nimmt die Steigung des

Graphen ab. Schließlich erreicht die Kurve die so genannte Sätti­

gung. Der Unterschied zwischen einer Ursprungssequenz und ihrem

Nachfahren ist dann im Mittel genauso groß wie zwischen zwei zu­

fälligen, nicht miteinander verwandten Sequenzen. Alle Spuren der

gemeinsamen Vergangenheit zwischen Ursprungs- und Nachfah­

ren-Sequenz sind damit ausgelöscht.

Anders als im mathematischen Modell ist in der molekularen Evo­

lutionsforschung die ursprüngliche Sequenz, das heißt die Vorfahr-

Sequenz der heutigen Sequenz, unbekannt. Für die benutzten Sub­

stitutionsmodelle ist dies auch gar nicht notwendig. Es reicht, zwei

heutige DNA-Sequenzen zu kennen, von denen mit Sicherheit fest­

steht, dass sie auf eine gemeinsame Vorfahrensequenz zurückge­

hen. Aus einem Vergleich der zwei Sequenzen wird die Anzahl der

variablen Positionen (beobachteten Substitutionen) ermittelt. Dann

kommen Korrekturkurven wie in Abbildung 7 zur Anwendung. Sie

erlauben Rückschlüsse über die Anzahl der tatsächlich stattgefunde­

nen Substitutionen, die zwischen der gemeinsamen Vorfahr­

20

Page 23: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Evolution einer DNA-Sequenz

Abb.7: Jukes-Cantor-Modell der Sequenzevolution

21

Page 24: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Veränderungen einer DNA-Sequenz im Laufe der Zeit

Sequenz und den heutigen Sequenzen stattgefunden haben. Nicht

abschätzen lässt sich die Zeit, in der sich die heutigen Sequenzen aus

ihrer gemeinsamen Vorfahr-Sequenz entwickelt haben. Daher kann

nicht ohne weiteres eine Substitutionsrate wie in Tabelle i angege­

ben werden. Ursache dieser Beschränkung ist die strenge Proportio­

nalität d ~ P · t

zwischen der Anzahl d der Substitutionen und dem Produkt aus Sub­

stitutionsrate P der Sequenz und der evolutionären Zeitspanne t. Um aus der Anzahl der Substitutionen auf die Substitutionsrate zu

schließen, sind Informationen über den Zeitpunkt erforderlich, an

dem sich die beiden heutigen Sequenzen aus einer Vorfahr-Sequenz

entwickelt haben. Als Kalibrierungspunkte eignen sich die aus fossi­

len Befunden gewonnenen Zeitpunkte für die Aufspaltung der je­

weiligen Arten.

Die vorangegangenen Betrachtungen stellen die Grundprinzipien

eines Sequenzmodells der Evolution vor. Beim Vergleich biologischer

Daten zeigt sich jedoch, dass Transitionen wesentlich häufiger erfol­

gen als Transversionen. Diese Beobachtung wird bei weiterführen­

den Substitutionsmodellen bedacht. Zusätzlich können die Modelle

berücksichtigen, dass einige Positionen aufgrund funktioneller

Zwänge - wie einer bestimmten Raumstruktur des Proteins - lang­

samer evolvieren als andere.

Lücken und Ergänzungen in DNA-Sequenzen

Bei der Analyse von DNA-Sequenzen stellte sich heraus, dass im Mu­

tationsgeschehen nicht nur Substitutionen vorkommen. Auch Inser­

tionen und Deletionen treten selbst in kodierenden Regionen auf. Sie

können dabei zum Teil eine erhebliche Größenordnung erreichen. In

einem Vergleich zweier Sequenzen zeigen sich daher nicht nur Po­

sitionen mit unterschiedlicher Nukleotidpaarung, sondern die Se­

22

Page 25: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Lücken und Ergänzungen in DNA-Sequenzen

quenzen haben darüber hinaus aufgrund von Insertionen und Dele­

tionen (kurz Indels) auch verschiedene Längen. Anhand der Buch­

stabenabfolgen der DNA-Sequenzen ist nicht zu erkennen, wo und

wie viele Indels erfolgt sind. Ein Problem der molekularen Evolution

ist die Rekonstruktion dieser Indels, um so sicherzustellen, dass bei

der Auszählung der paarweisen Nukleotidunterschiede auch tat­

sächlich orthologe, das heißt ursprungsgleiche Positionen verglichen

werden. Die Prozedur, jene Stellen zu lokalisieren, an denen In­

sertionen respektive Deletionen stattgefunden haben, erhielt den

Fachterminus Alignierung. Ergebnis der Prozedur ist das Alignement.

Dies erinnert mit seinem lateinischen Wortstamm linea an das Ab­

stecken einer Linie, in der etwas angeordnet werden soll. Ziel eines

Sequenzalignements ist es, die Sequenzen so untereinander zu

schreiben, dass sie die gleiche Länge haben und dabei orthologe

Positionen einander zugeordnet werden. Dazu müssen die Indels

(die verlorenen oder hinzugewonnenen Stückchen DNA) mit erfasst

werden. Hierfür dient das Zeichen »-«, das als Lücke (gap) eingefügt

wird, sozusagen als Platzhalter für fehlende Nukleotide.

Bei einer Beschränkung auf zwei Sequenzen lässt sich das Problem

in einem so genannten dot-plot in Form einer Matrix veranschau­

lichen (Abbildung 8). Die erste Zeile des dot-plot repräsentiert die

Sequenz i aus Abbildung 6, die erste Spalte die Sequenz 2 aus Abbil­

dung 6. Stimmen die Nukleotide an einem Positionspaar der Se­

quenzen überein, wird das entsprechende Feld mit einem Punkt (dot)

markiert. Stimmen sie nicht überein, bleibt das Feld frei. Dann sucht

man durchgehende oder »geknickte« Diagonalen. Lange Diagonalen

deuten auf Regionen, in denen beide Sequenzen sehr ähnlich bezie­

hungsweise identisch sind. Das Ziel der Auswertung solcher dot­plots besteht darin, den optimalen (»besten«) Weg durch diese

Matrix zu finden, der möglichst viele identische Nukleotidpaare auf­

sammelt und so zu durchgehenden Diagonalen führt, ohne unnötig

viele Indels einzubauen, welche die »Knicke« verursachen. Dazu wer­

23

Page 26: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Veränderungen einer DNA-Sequenz im Laufe der Zeit

Abb.8: Evolution der Sequenz aus Abbildung 6 in Form eines dot-plot

den computergestützte Algorithmen verwendet, die aus der Vielzahl

an möglichen Wegen den optimalen bestimmen.

Die biologischen Mechanismen für Insertionen und Deletionen

sind noch nicht ausreichend verstanden, daher sind die derzeitigen

Methoden der Sequenzalignierung noch sehr heuristisch. In prakti­

schen evolutionsbiologischen Anwendungen findet meist eine Nach­

bearbeitung des Ergebnisses durch »visuelle Begutachtung« statt.

Dies ist besonders dann der Fall, wenn mehr als zwei Sequenzen in

einem so genannten multiplen Sequenzalignement verglichen oder

aneinander ausgerichtet werden.

Bei einem paarweisen Alignement zweier Sequenzen gehen Posi­

tionspaare auf eine gemeinsame Vorfahrposition zurück. Einem

multiplen Alignement liegt die Annahme zugrunde, dass jeweils

eine Spalte des multiplen Alignements auf eine gemeinsame Vor­

fahrposition zurückgeht. Paarweise und multiple Sequenzaligne­

ments sind der Ausgangspunkt für phylogenetische und popula­

tionsbiologische Studien.

24

Page 27: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Eine kleine Baumschule

Abb. 9: Ein schematischer Baum mit den wichtigsten anatomischen Begriffen

3 EINE KLEINE BAUMSCHULE

Allgemeine Terminologie

Die in diesem Buch verwendeten Begriffe veranschaulicht Abbildung

9. Mathematiker und Biologen haben sehr unterschiedliche Vorstel­

lungen von einem Baum. So sprechen die Mathematiker von Kanten

und Knoten (abgeleitet aus der Grafentheorie), während Biologen

Äste und Verzweigungen vor Augen haben (ganz wie bei Bäumen in

der Natur). Im phylogenetischen Kontext ist ein Baum (Dendro­

gramm) eine mathematische Konstruktion, welche die stammesge­

schichtlichen Verwandtschaftsverhältnisse (Phylogenie) einer Grup­

pe von Lebewesen widerspiegelt.

Ein Stammbaum besteht aus Knoten (Verzweigungspunkten), die

durch Kanten (Äste) miteinander verbunden sind. Die äußeren Kno­

25

Page 28: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Eine kleine Baumschule

ten (endständiges Taxon oder OTU, Abkürzung für Operational Taxo­nomic Unit) repräsentieren Organismen, für die reale Daten (zum

Beispiel DNA-Sequenzen oder morphologische Messwerte) vorlie­

gen. Innere Knoten symbolisieren hypothetische Vorfahren für jene

Taxa, die sich in einem anschließenden Speziations- beziehungs­

weise Aufspaltungsprozess in zwei Tochterlinien geteilt haben. Der

Vorfahre aller im Datensatz enthalten DNA-Sequenzen oder Orga­

nismen ist die Wurzel des Baums. In der phylogenetischen Systema­

tik wird die Wurzel auch als Stammart bezeichnet. Ein Baum mit

einer Wurzel heißt gewurzelter Baum.

Knoten und Kanten eines Baumes enthalten eine Vielzahl von In­

formationen. So wird zum Beispiel beim Maximum-Parsimonie-Ver­

fahren jedem inneren Knoten ein diskreter Merkmalszustand, zum

Beispiel eine DNA-Sequenz, zugeordnet. Viele Verfahren berechnen

auch die evolutionäre Zeit, die zwischen zwei Aufspaltungsereignis­

sen verstrichen ist, die sich in der Länge einer Kante (Astlänge) wi­

derspiegelt.

Während äußere Knoten (endständige Taxa) mit einer äußeren

Kante verbunden sind, laufen auf innere Knoten drei oder mehr Kan­

ten zu. Wenn ein Knoten genau drei Kanten hat, besitzt er einen Vor­

fahren und zwei Nachfahren. In diesem Fall spricht man von einer

dichotomen (zweigeteilten) Verzweigung. Enthält ein Baum an den

inneren Knoten ausschließlich dichotome Verzweigungen, ist er voll­

ständig aufgelöst. Gibt es an einem inneren Knoten mehr als zwei

Nachfahren, ist dies eine polytome, das heißt vielfache Verzweigung.

Polytomien symbolisieren entweder die zeitgleiche Aufspaltung in

mehrere Nachfahren oder eine noch nicht geklärte Beziehung zwi­

schen den untersuchten Organismen. Im zweiten Fall fand die Auf­

spaltung nicht zwangsläufig zum gleichen Zeitpunkt statt, sondern

die Abfolge der Ereignisse ist noch unsicher. In der Regel ist es sehr

unwahrscheinlich, dass sich mehr als zwei phylogenetische Linien

zum exakt gleichen Zeitpunkt aufspalten. Daher kann in den meis­

26

Page 29: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Allgemeine Terminologie

Abb.10: Verschiedene Topologien mit der dazugehörigen Kurzschreibweise in

Klammernotation

ten Fällen davon ausgegangen werden, dass es zwar eine dichotome

Baumstruktur gibt, die herangezogenen Merkmale aber die zeitliche

Abfolge der Aufspaltung nicht auflösen können.

Es gibt zahlreiche Möglichkeiten der Baumdarstellung (Abbildung

10). Nicht immer unterscheiden sich die Bäume in ihrer Topologie,

das heißt in ihrem Verzweigungsmuster. Manchmal sind es lediglich

verschiedene grafische Darstellungen, da sich die Kanten eines Bau­

mes um jeden inneren Knoten beliebig drehen lassen, ohne dass sich

die relativen Beziehungen zwischen denTaxa ändern.

Phylogenetische Bäume können computerfreundlich in Klammer­

notation dargestellt werden (Abbildung 10). Jeder innere Knoten

(jeder clade) ist durch ein Klammerpaar repräsentiert, das alle Nach­

kommen dieses Knotens einschließt. Alle Nachkommen eines inne­

ren Knotens bezeichnet man manchmal auch als Cluster. So stehen

in den drei linken Bäumen in Abbildung 10 die Klammern (D,E) und

(A,B,C) für die oberen Knoten und die Klammer ((D,E) (A,B,C)) für die

Wurzel. Mit dieser einfachen Schreibweise lässt sich die Topologie je­

des Baumes darstellen. Was hier noch fehlt, sind Informationen über

die Kantenlängen und damit über die evolutionären Zeiten. Compu­

27

Page 30: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Eine kleine Baumschule

S.103

terprogramme, die phylogenetische Bäume berechnen, speichern

neben der Topologie auch die Länge jeder Kante.

Für die Darstellung unterschiedlicher evolutionärer Fragestellun­

gen gibt es auch unterschiedliche Bäume. Die einfachste Form ist

das Cladogramm, das lediglich die relativen Beziehungen der Taxa

zueinander darstellt. Die Kantenlänge ist hierbei ohne jede Bedeu­

tung. Ein Phylogramm enthält zusätzliche Informationen über die

Länge der Kanten, zum Beispiel die Anzahl an Substitutionen. Solche

Bäume werden auch als additive oder metrische Bäume bezeichnet.

Im Dendrogramm sind die äußeren Knoten alle gleich weit von der

Wurzel entfernt. Ein Dendrogramm ist also ein Spezialfall des Phylo­

gramms. Dendrogramme werden benutzt, um unter Verwendung

der molekularen Uhr die Evolutionszeiten der einzelnen Organismen

darzustellen.

Im gewurzelten Baum wird ein Knoten als Wurzel deklariert (siehe

Abbildung 9), der hypothetische Vorfahre aller untersuchten Lebe­

wesen. Ein gewurzelter Baum hat folglich eine Lesrichtung, die pa­

rallel zur evolutionären Zeit verläuft. Somit gibt es eine eindeutige

Beziehung zwischen älteren Vorfahren (deren Knoten näher an der

Wurzel stehen) und jüngeren Nachkommen (deren Knoten weiter

von der Wurzel entfernt sind).

Phylogenetische Klassifikation

Bezüglich der Abstammung einzelner Organismen oder Taxa gibt es

drei Szenarien, die in Abbildung 11 durch grüne Linien gekennzeich­

net sind.

Eine monophyletische Gruppe (griechisch monophylos = aus einem

Stamme) (Abbildung 11a) ist von einem gemeinsamen Vorfahren ab­

leitbar und enthält sämtliche Nachkommen der Stammart. Ein Bei­

spiel hierfür sind Mensch und Schimpanse, die als Schwesterarten

oder nächste Verwandten bezeichnet werden. Weitere Monophyla

28

Page 31: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Phylogenetische Klassifikation

sind etwa die Gruppe der Säugetiere, die Gruppe der Wirbeltiere oder

die Gruppe der Vögel.

Eine paraphyletische Gruppe (griechisch para = abweichend) (Ab­

bildung 11b) umfasst nicht alle Nachkommen einer Stammart. Ein

Beispiel sind die Reptilien. Traditionell schließen sie nur die Schild­

kröten, Eidechsen und Krokodile ein. Dagegen gehören die Vögel

nicht zu den Reptilien, obwohl sie die nächsten Verwandten der Kro­

kodile sind (Archosaurier).

Eine polyphyletische Gruppe (Abbildung nc) umfasst Arten oder

Taxa, die nicht direkt verwandt sind, sondern aus zwei oder mehr Ent­

wicklungslinien stammen. Aufgrund von Konvergenz in bestimm­

ten, meist morphologischen Merkmalen, wurden sie in eine Gruppe

zusammengefasst. So bilden etwa die Geier der Alten Welt und der

Neuen Welt eine polyphyletische Gruppe. Die jeweilige Schwester­

gruppe sind die Störche beziehungsweise die Greifvögel. Die Geier

der Alten und Neuen Welt sind sich aber darin ähnlich, dass sie Aas­

fresser sind, einen typischen Hakenschnabel haben und ihr Kopfge­

fieder reduziert ist.

Ungewurzelte Bäume haben keine Zeitachse, so dass die Vorfah­

ren-Nachkommen-Beziehungen nicht geklärt sind. Zur Berechnung

der Bäume erzeugen viele Computerprogramme nur ungewurzelte

Bäume. Ein Ausweg ist die Einbeziehung einer Außengruppe.

Ein Beispiel hierfür ist der ungewurzelte Baum für Mensch, Schim­

panse, Gorilla und Orang-Utan in Abbildung 12. Er hat fünf Kanten

(i bis 5). Soll hieraus ein gewurzelter Baum entstehen, kann die Wur­

zel an jede der fünf Kanten platziert werden. Vier der fünf Wurzelun­

gen sind aber biologisch sinnlos, da Mensch, Schimpanse und Gorilla

im Verhältnis zum Orang-Utan eine monophyletische Gruppe sind,

die sich aus einer gemeinsamen Stammart entwickelt haben. Wenn

also bekannt ist, dass eine Gruppe von Organismen monophyletisch

ist, so kann, durch Hinzufügen einer weiteren Art, die nicht diesem

Monophylum angehört, der Baum gewurzelt werden. Diese Art wird

29

Page 32: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Eine kleine Baumschule

Abb.11: Mögliche Schwestergruppen-Beziehungen in einem Baum

30

Page 33: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Die Zahl der Bäume

Abb.12: Gewurzelte und ungewurzelte Bäume. Aus einem ungewurzelten Vier­

Sequenzen-Baum lassen sich fünf gewurzelte Bäume ableiten. Die Anzahl gewur­

zelter Bäume resultiert aus der Zahl der Kanten (1-5). M = Mensch, S = Schimpan­

se, G = Gorilla, O = Orang-Utan.

als Außengruppe bezeichnet. Der Orang-Utan ist daher die Außen­

gruppe für Mensch, Schimpanse und Gorilla.

Die Zahl der Bäume

Die Rekonstruktion eines phylogenetischen Baumes ist ein immen­

ses Problem, weil allein schon die Anzahl der möglichen Verzwei­

gungsmuster mit der Anzahl der untersuchten Organismen expo­

31

Page 34: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Eine kleine Baumschule

nentiell wächst. Interessieren nur zwei Sequenzen, zum Beispiel von

Mensch und Schimpanse, so gibt es lediglich einen einzigen Baum

(Abbildung 13, Mitte oben). Wird als dritte Sequenz der Gorilla einbe­

zogen (schwarzer Pfeil in Abbildung 13), gibt es - unter der Annahme,

dass keine Information über die Lage der Wurzel vorliegt - auch nur

einen Baum. Sobald als vierte Sequenz der Orang-Utan hinzukommt,

entstehen jedoch drei mögliche Bäume (grüne Pfeile in Abbildung^).

Die Topologie der drei ungewurzelten Vier-Spezies-Bäume hängt da­

von ab, an welche Kante diese Sequenz eingefügt wird. Für eine fünfte

Sequenz, etwa die des Gibbon, stehen dann drei Bäume mit jeweils

fünf Kanten zur Verfügung. (In Abbildung 13 sind nur die fünf

Bäume für die untere Gruppe eingezeichnet.) Somit können für fünf

Sequenzen insgesamt 15 verschiedene Fünf-Spezies-Bäume (mit sie­

ben Kanten) erzeugt werden. Für eine sechste Sequenz stehen dann

15 Bäume mit je sieben Kanten zur Verfügung, so dass insgesamt 105

Sechs-Spezies-Bäume erzeugt werden können. Für zehn Sequenzen

gibt es bereits 2 027 025 verschiedene Verzweigungsmöglichkeiten.

Für 22 Sequenzen stehen 3,2-io23 Bäume zur Auswahl und jeder muss

als mögliche Hypothese über die Verwandtschaftsverhältnisse ge­

prüft werden. Allgemein berechnet sich die Zahl der Bäume für n›3

Sequenzen aus der Formel

B(n) = 1 · 3 · 5 · ... · (2n–5).

4 MOLEKULARE PHYLOGENIE

Die Evolution einer DNA-Sequenz als Träger der Erbinformation und

als Bote dieser Information in die nächste Generation erfordert El­

tern und Nachkommen dieser Eltern. Durch den lückenlosen Fortbe­

stand einer Ahnenreihe, auch Linie genannt, können die jeweiligen

Gene beziehungsweise DNA-Sequenzen »weiterleben« und ihre Ge­

32

Page 35: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Molekulare Phylogenie

Abb.13: Genese von ungewurzelten Bäumen am Beispiel der Primaten (M =

Mensch, S = Schimpanse, G = Gorilla, O = Orang-Utan und B = Gibbon). Für zwei

Sequenzen (M, S) gibt es nur eine Topologie, den Zwei-Sequenzen-Baum. Auch drei

Sequenzen (M, S, G) lassen sich nur in einem einzigen Baum darstellen. Vier

Sequenzen ergeben drei mögliche Topologien, nämlich (M,S)(G,O), (M,O)(G,S) und

(O,S)(M,G) mit jeweils fünf Kanten. Wird eine fünfte Sequenz (B) einbezogen, kann

diese an jeder Kante eingefügt werden, so dass es insgesamt 15 mögliche Topolo­

gien gibt.

33

Page 36: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Molekulare Phylogenie

S.115

S.105

schichte an nachfolgende Generationen weitergeben. Hat ein Indivi­

duum keine Nachfahren, stirbt dessen Linie aus und mit ihr gehen

alle in der DNA enthaltenen Informationen verloren. Ausgehend von

einer heutigen Sequenz lassen sich daher kontinuierliche Ahnenrei­

hen rückwärts in der Zeit konstruieren, von einer Generation zur vor­

herigen.

Die heutigen DNA-Sequenzen sind jeweils das Produkt ihrer indivi­

duellen Ahnenreihe (»Fossile DNA«). So unterschiedlich Lebewesen

auch sind, letztlich gehen sie auf einen gemeinsamen Ursprung zu­

rück. Daher werden DNA-Sequenzen verschiedener Individuen frü­

her oder später auf eine gemeinsame Vorfahr-Sequenz treffen. Man

sagt auch, bei einer rückwärtigen Verfolgung in die Vergangenheit

verschmelzen die Linien, was im Englischen durch den Begriff Coales­

cent ausgedrückt wird. Diese sehr abstrakt und vage anmutende Be­

hauptung findet eine formale Rechtfertigung in der Populationsge­

netik (Coalescent-Prozess).

Rezente DNA-Linien verschmelzen »beim Marsch in die Vergan­

genheit«, bis nur noch eine DNA-Linie vorhanden ist. Das ist der

jüngste gemeinsame Vorfahre aller Linien, der most recent common ancestor, kurz MRCA. In Abbildung 14 ist die Phylogenie von sechs

heutigen RNA-Sequenzen Si bis S6 dargestellt. Dabei stehen Si für

die Sequenz des Menschen, S2 für die Bäckerhefe, S3 für die Nackt­

samer-Pflanze Gnetum, S4 für ein Halobakterium, S5 für eine Blaual­

ge und S6 für das Bakterium Escherichia coli. Begibt man sich in dem

Baum dieser sechs Taxa entgegen der Zeitachse, trifft man in der Ver­

gangenheit (ganz links) auf den MRCA der dargestellten sechs

Sequenzen.

Der Prozess kann auch von der Vergangenheit in die Gegenwart

betrachtet werden: Ausgehend von einem einzigen Vorfahren, dem

MRCA, spalten sich die Linien im Laufe der Zeit in dessen Nachkom­

men auf. Dieser Vorgang wird als Divergenz bezeichnet. Im phyloge­

netischen Kontext heißt dies, dass sich die Nachkommen einer

34

Page 37: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Molekulare Phylogenie

Abb.14: Divergenz und Coalescent als komplementäre Prozesse in einem Sequenz­

baum. Der Baum (links) zeigt die geschichtliche Verwandtschaft zwischen den

Sequenzen: Die grünen Kreise stehen für hypothetische Vorfahr-Sequenzen. Die

weißen Kreise repräsentieren Vorfahr-Sequenzen, die keine heutigen Nachfahren

haben. Die sechs Sequenzen (rechts) mit einer Länge von 24 Basenpaaren (Zahlen

über dem Alignement) sind ein Ausschnitt eines viel längeren Alignements mit

2335 Basenpaaren je Sequenz. Schwarz dargestellte Nukleotide weichen von dem

häufigsten Nukleotid an der entsprechenden Position ab. * zeigt nicht-variable

Spalten an.

gemeinsamen Stammart durch unterschiedlich verlaufende, zur Art­

bildung führende Entwicklung voneinander unterscheiden.

Mit der Zeit werden Substitutionen, Insertionen und Deletionen

die ursprüngliche Sequenz graduell verändern. Diese Änderungen

werden über die Ahnenreihe an die rezenten Sequenzen weiterge­

geben. In einem multiplen Sequenzalignement sind sie als variable

Spalten sichtbar, in Abbildung 14 sind dies zum Beispiel die Spalten 1

bis 7, 9,14,15 und weitere.

35

Page 38: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Molekulare Phylogenie

Abb.15a: Beispiel für vier Sequenzen mit je 11 Nukleotiden.

S.112

Die Aufgabe der molekularen Phylogenie ist es, anhand des multi­

plen Alignements die nicht beobachtbare Evolutionsgeschichte der

Sequenzen zu rekonstruieren. Einen auf Sequenzen basierenden

Baum nennen wir hier Sequenz-Baum oder Gen-Baum, auch wenn

ihm keine kodierenden Sequenzen zugrunde liegen (siehe im Gegen­

satz dazu Ein nicht sequenzbasierter Ansatz zur Aufklärung der Phy­

logenie). Um unter den möglichen Bäumen einen geeigneten Baum

zu ermitteln, ist die Definition eines Qualitätskriteriums notwendig.

Die Mathematiker sprechen von einer Zielfunktion. Sie gibt für jeden

der möglichen Bäume an, wie gut er das Kriterium erfüllt. Die Auf­

gabe besteht nun darin, ein Rechenschema zur Auswertung der Ziel­

funktion anzugeben und dann den besten Baum zu finden. Aus der

Vielzahl möglicher Zielfunktionen werden drei populäre Kriterien

und die dazugehörigen Methoden vorgestellt.

Maximum-Parsimonie

Unter dem Gesichtspunkt einer maximalen Sparsamkeit wählt man

den Baum als besten aus, der die Variabilität in einem Alignement

mit der minimalen Anzahl an Substitutionen erklärt. Nach dem

36

Page 39: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Maximum-Parsimonie

Abb.15b: Die drei Möglichkeiten für ungewurzelte Vier-Sequenzen-Bäume.

c-e: Parsimonische Interpretation für die Spalten 2, 11 und 6. Grüne Kanten zeigen

Substitutionen an.

37

Page 40: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Molekulare Phylogenie

lateinischen parsimonia für Sparsarnkeit heißt dieses Kriterium Maxi­

mum-Parsimonie-Kriterium.

Maximum-Parsimonie wurde schon früh zur Baumrekonstruktion

vorgeschlagen. Inzwischen gibt es zahlreiche Modifikationen des

Grundalgorithmus, die aber alle mit dem Problem des Beweises der

Minimalität des gefundenen Ergebnisses kämpfen. Als philosophi­

sche Rechtfertigung für das »Prinzip der Sparsamkeit« wird oft der

mittelalterliche Scholastiker William of Ockham (1290-1349) heran­

gezogen. Seiner Auffassung nach ist eine Hypothese die beste, wenn

sie nur so wenig Annahmen wie möglich macht. Das (evolutionäre)

Parsimonie-Prinzip geht also davon aus, dass die Evolution von einer

Ursequenz mit möglichst wenig Nukleotidaustauschen zu einer

heutigen Sequenz stattfand. Ob dies eine realistische Annahme über

den Verlauf der Evolution ist, bleibt gerade für DNA - oder Aminosäu­

re-Sequenzen eine unbeantwortete Frage. Möchte man sich nicht

auf ideologische Vorstellungen berufen, so genügt als Begründung

für das Sparsamkeitsprinzip die biologische Beobachtung, dass Sub­

stitutionen im Aligemeinen sehr seltene Ereignisse sind und es

unwahrscheinlich ist, dass die gleiche Position mehrfach mutiert.

Wie lässt sich die Anzahl an Substitutionen berechnen? Vereinfa­

chend wird zunächst vorausgesetzt, dass alle Positionen im Aligne­

ment unabhängig voneinander evolvieren. Die Gesamtzahl an Sub­

stitutionen eines Baumes ist somit die Summe der Basenaustausche

pro Position. Die Berechnung der Substitutionen wird zur besseren

Übersichtlichkeit vorerst für nur vier Sequenzen erklärt (Abbildung

15a), für die es drei ungewurzelte Bäume gibt (Abbildung 165b).

Spalte 1 und Spalte 10 sind nicht variabel, dem Parsimonie-Prinzip

folgend sind diese Positionen nicht mutiert. In Spalte 2 weicht die

Sequenz 1 (G) von den drei anderen Sequenzen (C) ab. Das Maximum­

Parsimonie-Prinzip erfordert immer die kleinste Anzahl von Substi­

tutionen. Unabhängig von der Wahl des Baumes (Abbildung 15c) gibt

es nur eine Substitution (grün dargestellte Kante), wenn man an den

38

Page 41: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Maximum-Parsimonie

Abb.16: Das Prinzip des Neighbor-Joining für die sechs Sequenzen Si - S6 aus

Abb.13.

a) Die sternförmige Phylogenie als Ausgangspunkt, ›V‹ ist die hypothetische Vor­

fahr-Sequenz

b) Gruppierungvon S5 und S6 (›A‹ als hypothetischer Vorfahr)

c) Gruppierung von ›A‹ und S4 (›ß‹ als hypothetischer Vorfahr)

d) Gruppierung von Si und S2 (›C‹ als hypothetischer Vorfahr)

39

Page 42: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Molekulare Phylogenie

inneren Knoten ein C annimmt. Bei dem Maximum-Parsimonie-Prin­

zip sind solche Spalten phylogenetisch nicht informativ, denn sie

können aufgrund der gleichen Anzahl an Substitutionen keinen

Baum als den sparsamsten bestimmen. Die gleiche Situation trifft

für die Spalten 3,4 und 5 zu. Setzt man an die inneren Knoten ein T

(Spalte 3) beziehungsweise A (Spalten 4 und 5), ist wiederum nur

jeweils ein Basenaustausch erforderlich, um das Sequenzmuster in

dieser Spalte zu erklären. Auch hier hat die Baumtopologie keinen

Einfluss auf die Anzahl an Substitutionen. In Spalte 11 erfordert das

Sparsamkeitsprinzip für die zwei inneren Knoten jeweils ein T (Ab­

bildung i5d). Dann werden für jeden der drei Bäume zwei Substitu­

tionen (zwei grün dargestellte Kanten) benötigt. Daher ist auch die­

se Spalte phylogenetisch nicht informativ.

Interessant werden erst die Spalten 6,7,8 und 9. Je nach gewählter

Baumtopologie erfordern diese unterschiedlich viele Substitutionen.

Diese Spalten sind somit phylogenetisch informativ. Abbildung 15c

zeigt beispielhaft die Situation für Spalte 6. Man erkennt: Baum 1 be­

nötigt eine Substitution, Baum 2 und Baum 3 brauchen jeweils zwei

Substitutionen.

Die Gesamtzahl an Substitutionen für das komplette Alignement

mit seinen 11 Spalten in Abbildung 15a berechnet sich wie folgt:

Baum 1: 0+1+1+1+1+1+1+2+2+0+2 = 11 Substitutionen

Baum 2: 0+1+1+1+1+2+2+2+1+0+2 = 13 Substitutionen

Baum 3: 0+1+1+1+1+2+2+1+2+O+2 = 13 Substitutionen

Damit ist für das vorliegende Alignement Baum 1 der sparsamste

oder der Maximum-Parsimonie-Baum.

Nach diesem einfachen Beispiel mit nur vier Sequenzen soll der

Maximum-Parsimonie-Baum für die sechs Sequenzen in Abbildung

14 ermittelt werden. Hierfür muss die Anzahl der Substitutionen für

alle 105 möglichen Gen-Bäume berechnet werden. Dies ist nur mit

Computerprogrammen möglich. Werden diese Bäume nach dem

40

Page 43: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Distanzbasierte Methoden

Maximum-Parsimonie-Kriterium bewertet, so zeigt sich, dass die

kleinste Anzahl an Substitutionen 25 ist. Davon gibt es aber fünf

Bäume. Es lässt sich nun keine weitere Aussage darüber treffen, wel­

cher dieser fünf Bäume die »wahre« Phylogenie widerspiegelt. An­

ders ist das Ergebnis, wenn von den sechs Sequenzen alle 2335

Basenpaare (in der Abbildung nicht gezeigt) in die Rechnung einbe­

zogen werden. Dann gibt es nur einen einzigen Maximum-Parsimo­

nie-Baum. Dies zeigt, dass sich die Beziehungen zwischen den

Sequenzen nur verlässlich rekonstruieren lassen, wenn es viele Se­

quenzinformationen (lange Sequenzen mit Tausenden von Basen-

paaren) gibt.

Da mit der Anzahl der Sequenzen die Anzahl der Bäume exponen­

tiell wächst, ist ein systematisches Evaluieren aller Möglichkeiten für

nur zehn Sequenzen (2027025 Bäume) selbst mit sehr schnellen

Computern und vertretbarem Zeitaufwand kaum noch möglich. Um

dennoch sparsame Bäume für möglichst viele Sequenzen zu rekon­

struieren, werden so genannte heuristische Suchverfahren einge­

setzt. Dabei wird mit einem beliebigen Startbaum begonnen und

die Anzahl an Substitutionen berechnet. Anschließend wird die To­

pologie des Startbaumes zufällig geändert und die Anzahl der Sub­

stitutionen für den neuen Baum bestimmt. Ist die Zahl kleiner, wird

das Verfahren mit dem neuen Baum wiederholt. Ist die Zahl größer,

wird auf den ursprünglichen Baum zurückgegriffen und dieser er­

neut geändert. Der kürzeste gefundene Baum wird als Parsimonie-

Baum bezeichnet. Mit diesem Verfahren, von dem es viele Varianten

gibt, lassen sich auch für viele hundert Sequenzen Parsimonie-

Bäume bestimmen.

Distanzbasierte Methoden

Bei zwei weiteren Kriterien finden die von Joseph Louise Lagrange

(1736-1813) und Carl Friedrich Gauß (1777-1855) entwickelten Me­

41

Page 44: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Molekulare Phylogenie

S.110

thoden der mathematischen Ausgleichsrechnung für Näherungs­

werte Eingang in die Welt der molekularen Evolution. Im Mittel­

punkt stehen dabei das Gauß'sche Prinzip der kleinsten Quadrate

und das von Ronald A. Fisher (1890-1962) explizit eingeführte Maxi­

mum-Likelihood-Prinzip.

Auf dem Prinzip der kleinsten Quadrate beruhen Distanzverfahren.

Für die Rekonstruktion eines Gen-Baumes aus einem Alignement

ermitteln diese Verfahren die evolutionäre Distanz (d) der Sequen­

zen in einem Baum und die berechnete Distanz (e) zweier Sequen­

zen. Für jeden Baum bildet man von den Differenzen dieser Distan­

zen die Quadrate, summiert diese und fragt nach dem Baum mit der

kleinsten Summe für diese Quadrate. Der optimale Baum hat die

kleinste Summe.

In mathematischer Schreibweise nehmen diese Überlegungen die

folgende Form an: Distanzbasierte Methoden berechnen die Distanz

dij (Jukes-Cantor-Modell) für alle Sequenzpaare {i,j} eines Aligne­

ments. Das Ergebnis ist eine Distanzmatrix (Tabelle 2). Aus dieser Ma­

trix wird ein Baum rekonstruiert, der die Anzahl der Substitutionen,

das heißt die Distanz zwischen allen Sequenzpaaren, wiedergibt.

Was bedeutet »die Distanz zwischen allen Sequenzpaaren wieder­

geben«? In einem Baum gibt es stets einen eindeutigen Weg oder

Pfad, der zwei endständige Taxa, vertreten durch die Sequenzen i und j, miteinander verbindet. Auf diesem Weg hat jede Kante eine

bestimmte Länge, beispielsweise die Anzahl an Substitutionen. Die

Summe der Substitutionen, die evolutionäre Distanz eij eines Se­

quenzpaares {i,j}, sollte im Idealfall gleich der berechneten Distanz

dij dieses Sequenzpaars sein.

Ein Baum ist dann optimal, wenn die evolutionäre Distanz aller Se­

quenzpaare nur geringfügig von den Einträgen in der Distanzmatrix

abweicht. Da die berechnete Distanz dij immer nur eine Annäherung

an die unbekannte evolutionäre Distanz eij ist, wird der Betrag der

Abweichung dy-ey fast immer größer Null sein. Eine Möglichkeit, die

42

Page 45: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Distanzbasierte Methoden

Tabelle 2: Distanzmatrix für die Sequenzen Si bis S6 aus Abbildung 13. Der untere

Teil der Matrix zeigt die Anzahl der beobachteten Unterschiede für den in Abbil­

dung 13 dargestellten Sequenzausschnitt von 24 Basenpaaren, der obere Teil die

Anzahl der Unterschiede für das gesamte Alignement mit 2335 Positionen.

Abweichung der evolutionären Distanzen für einen Baum T von der

Distanzmatrix zu quantifizieren, ist das Kriterium der kleinsten Qua­

drate R(T) mit

Der optimale Baum hat den kleinstmöglichen Wert R. Für drei Sequenzen gibt es nur einen Baum mit drei Kanten. Aus

den Distanzen d12, d13, d23 (grüne Linien) lassen sich die optimalen

Kantenlängen k1, k2, k3 (schwarze Linien) des Baumes wie folgt be­

rechnen:

k1 = 1/2 (d12 + d13 – d23)

k2 = 1/2 (d12 + d23 – d13)

k3 = 1/2 (d13 + d23 – d12)

43

Page 46: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Molekulare Phylogenie

Setzt man die evolutionären Distanzen e12 = k1 + k2, e13 = k1 + k3 und

e23 = k2 + k3, so wird R(T) = 0. Für vier oder mehr Sequenzen ist R(T) im

Allgemeinen größer Null. Die Berechnung von R(T) für einen Baum T ist mit Methoden der mathematischen Optimierung relativ einfach.

Es ist jedoch unmöglich, alle Bäume zu evaluieren und den Baum mit

minimaler quadratischer Abweichung zu finden. Daher werden wie

bei Maximum-Parsimonie auch bei den distanzbasierten Methoden

Näherungsverfahren angewendet.

Das bekannteste solcher approximativer Verfahren ist das Neigh­

bor-Joining, was sich als »Zusammenfügen der nächsten Nachbarn«

übersetzen lässt. Neighbor-Joining ist ein Clusterungs- oder Grup­

pierungsverfahren: Ähnliche Paare von Sequenzen werden zu einer

Gruppe (einem Cluster) zusammengefasst und anschließend wie

ein Taxon behandelt. Als Qualitätskriterium dient die Gesamtlänge

L(T) des Baumes T. Das ist die Summe aller Kantenlängen, die mit

dem Prinzip der kleinsten Quadrate geschätzt wurden. Ziel ist es, ei­

nen Baum mit möglichst kleiner Gesamtlänge L(T) zu finden. Dieses

Qualitätskriterium wird Minimale Evolution genannt.

Im Folgenden wird das Neighbor-Joining auf das Beispiel der sechs

Sequenzen in Abbildung 15 angewandt, wobei alle 2335 Basenpaare

in die Rechnung einbezogen werden. Ausgangspunkt für das Neigh­

bor-Joining ist ein sternförmiger Gen-Baum (Abbildung 16a). Die

sechs Sequenzen Si bis S6 stammen von derselben Vorfahr-Sequenz

›V‹ ab.

Basierend auf der Distanzmatrix (Tabelle 2) wird anschließend am

Computer die Länge aller Bäume berechnet, in denen zwei Sequen­

zen einen von ›V‹ verschiedenen Vorfahren haben. Aus diesen Bäumen

wird der kürzeste Baum ausgewählt. In dem Beispiel in Abbildung

i6b ergibt die Computerrechnung für die Gruppierung der

Sequenzen S5 und S6 den kürzesten Baum. Die Sequenzen S5 und S6

sind nun Nachbarn. Ihr hypothetischer Vorfahr wird ›A‹ genannt. In

der weiteren Computeranalyse wird das Cluster S5 und S6 durch ›A‹

44

Page 47: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Maximum-Likelihood

ersetzt. Der Datensatz für die weiteren Rechnungen verringert sich

damit um eine Sequenz.

Mit den verbleibenden fünf »Sequenzen« S1, S2, S3, S4, ›A‹ beginnt

die Prozedur von neuem. Es wird wiederum zuerst das Cluster aus

zwei Sequenzen gesucht, das den kürzesten Baum ergibt. Für die

fünf Sequenzen wird der kürzeste Baum bei der Gruppierung der

Sequenzen ›A‹ und S4 gefunden. Deren hypothetischer Vorfahr wird

›B‹ genannt (Abbildung 16c). Damit reduziert sich der Datensatz auf

vier Einträge, nämlich S1, S2, S3, ›B‹.

Im folgenden Schritt werden die Sequenzen Si und S2 gruppiert

und durch ›C‹ ersetzt (Abbildung i6d). Der Baum ist damit vollständig

aufgelöst und das Neighbor-Joining-Verfahren beendet.

Neighbor-Joining ist ein schnelles Verfahren zur Baumrekonstruk­

tion. Es ist möglich, bis zu 300 Sequenzen in einen Neighbor-Joining-

Baum umzurechnen. Es lässt sich aber nicht überprüfen, ob der

gefundene Baum der optimale Baum ist. Simulationsstudien zeigen,

dass Neighbor-Joining mit großer Wahrscheinlichkeit den richtigen

Baum rekonstruiert.

Maximum-Likelihood

Maximum-Likelihood-Methoden versuchen, unter den möglichen

Bäumen und einem Modell der Sequenzevolution den Baum zu

bestimmender mit höchster Wahrscheinlichkeit zu den beobachte­

ten Sequenzen führt. Dieser Baum wird der Maximum-Likelihood-

Baum genannt.

Für das zugrunde liegende Prinzip wird zunächst auf das einfache

Alignement aus vier Sequenzen in Abbildung 15a und Baum 1 (Abbil­

dung 15b) zurückgegriffen. Jede der elf Spalten wird zuerst einzeln

betrachtet.

Spalte 1 hat das Muster AAAA. Theoretisch kann an den inneren

Knoten des Baumes 1 jeweils eines der vier Nukleotide A,C,G,T ste­

45

Page 48: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Molekulare Phylogenie

S.110

hen. Welche Kombination von Nukleotiden ist die wahrscheinlichs­

te? Zunächst wird ein Modell der Sequenzevolution ausgewählt,

etwa das Jukes-Cantor-Modell. In diesem Modell ist die Wahrschein­

lichkeit P, dass ein Nukleotid x unverändert erscheint

Pxx(d) = (1/4) + (3/4) · e-4d/3

wobei d die Zahl der Substitutionen ist. Die Wahrscheinlichkeit für

das Auftreten verschiedener Nukleotide x und y ist

PXy(d) = (1/4) – (1/4) · e-4d/3.

Damit kann für Spalte 1 die Wahrscheinlichkeit (P1) für das Muster

AAAA berechnet werden, wenn beide inneren Knoten jeweils das

Nukleotid A tragen und der Baum i mit den Kantenlängen (Substi­

tutionen) k1, k2, k3, k4 und k5 bekannt ist. Mathematisch heißt dies

P1(AAAA|AA) = (1/4) {PAA(k1) PAA(k2) PAA(k5) PAA(k3) PAA(k4)} .

Da die Nukleotide x beziehungsweise y an den inneren Knoten nicht

bekannt sind, berechnet sich die gesamte Wahrscheinlichkeit für das

Muster AAAA in Spalte 1 als

P1 = P1(AAAA) = (1/4) P1 (AAAA|xy)}.

Mit den verbleibenden Spalten wird genauso verfahren. Für das

gesamte Alignement (A) mit seinen elf Spalten ist die totale Wahr­

scheinlichkeit Ptot über den Baum 1 (T1) und seinen fünf Kanten das

Produkt aus den Wahrscheinlichkeiten für jede einzelne Spalte. Es

gilt also

Ptot (A|T1, k1, k2, k3, k4, k5) = P1 · P2 · P3 · P4 · ... · P11.

In der Realität sind aber weder der Baum noch seine Kantenlängen

bekannt. Einzig die Sequenzen liegen als Endprodukt der Evolution

vor. Daher wird die letzte Gleichung als Wahrscheinlichkeits- oder

Likelihood-Funktion mit den Parametern Baumtopologie und Kan­

46

Page 49: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Maximum-Likelihood

tenlänge bezeichnet. Sie ermittelt für jede Kombination von Para­

metern die Cesamtwahrscheinlichkeit. Gesucht ist nun die Parame­

terkombination, bei der die Likelihood-Funktion maximal wird.

Der in Abbildung 14 dargestellte Baum (links) ist der Maximum­

Likelihood-Baum für sechs Sequenzen, wenn das gesamte Aligne­

mentvon 2335 Basenpaaren zugrunde gelegt wird. Werden hingegen

nur die 24 dargestellten Spalten analysiert, ist der aus dieser kleinen

Anzahl resultierende Baum biologisch unsinnig. Schon dieses kleine

Beispiel mit sechs Sequenzen macht deutlich, welche Herausforde­

rung die Maximum-Likelihood-Methode darstellt. Dank schneller

Computer und der Entwicklung intelligenter Suchstrategien können

derzeit Maximum-Likelihood-Bäume für bis zu fünfzig Sequenzen

berechnet werden. Für eine realistische Anwendung ist dies aber

noch zu wenig.

Der erhöhte Aufwand der Maximum-Likelihood-Methoden ist

aber gerechtfertigt, da nun erstmals das methodische Inventar der

Statistik für die weitere Analyse zur Verfügung steht. Der Vergleich

der Maximum-Likelihood-Werte für verschiedene Modelle der Se­

quenzevolution erlaubt eine gesicherte Aussage darüber, welches

Modell das bessere ist. Vereinfacht gilt: Je größer der Likelihood-Wert

ist, desto wahrscheinlicher spiegelt das gewählte Modell für einen

bestimmten Baum die Evolution der Sequenzen wider. Darüber hin­

aus liefern Maximum-Likelihood-Methoden wichtige Informationen

über die evolutionären Parameter der Sequenzen. Sie geben zum Bei­

spiel Antworten darauf, welche Spalten im Alignement schnell und

welche langsam evolvieren oder wie groß das Transitions-Transver­

sions-Verhältnis ist. Es wird also nicht nur ein Gen-Baum rekonstru­

iert, sondern zusätzlich ein Evolutionsmodell für das Alignement

vorgeschlagen.

47

Page 50: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Molekulare Phylogenie

Experimentelle und theoretische Phylogenien

Es wurden drei Verfahren zur Baumrekonstruktion vorgestellt, um

aus einem Sequenzalignement einen Baum zu rekonstruieren. Die

ungeklärte Frage ist jedoch, ob der rekonstruierte Baum mit der tat­

sächlichen Phylogenie der Sequenzen übereinstimmt. Wie in jeder

naturwissenschaftlichen Disziplin gibt es zwei potentielle Fehler­

quellen: Der erste Fehler ist der zufällige Fehler (random error), der

auftritt, weil nur ein endliches Alignement zur Verfügung steht. Die­

ser Fehler kann durch die Vergrößerung der Stichprobe (längere

Sequenzen) minimiert werden. Der zufällige Fehler wurde am Bei­

spiel der sechs Sequenzen in Abbildung 14 bereits demonstriert. Nur

aus hinreichend langen Sequenzen lassen sich biologisch sinnvolle

Bäume rekonstruieren. Der zweite Fehler ist der systematische Feh­

ler (systematic error). Er tritt dann auf, wenn beispielsweise das

gewählte Modell der Sequenzevolution nicht mit den Daten über­

einstimmt. Unabhängig von der Art des Fehlers kann ein rekonstru­

ierter Gen-Baum falsch sein, weil die Verzweigungsstruktur (Topolo­

gie) nicht stimmt oder die Kantenlängen falsch geschätzt wurden.

Solche Fehler sind in der Regel nicht aufzudecken, da das Evolu­

tionsgeschehen und somit das Entstehen eines Gen-Baumes nicht

beobachtet wird. Eine Ausnahme ist die »Sequenzevolution im Rea­

genzglas«. Im Labor lassen sich zum Beispiel Viren über mehrere tau­

send Generationen kultivieren. Durch Zugabe von Mutagenen, die

künstlich die Mutationsrate erhöhen, werden experimentelle Phylo­

genien erzeugt.

Forscher erstellten mit acht Taxa die in Abbildung 17 gezeigte Phy­

logenie. Um den Baum zu wurzeln, wurde ein weiteres Taxon als Au­

ßengruppe hinzugezogen (in Abbildung 17 nicht gezeigt). Für die

neun Sequenzen gibt es 135135 Bäume. Die Wahrscheinlichkeit, aus

diesen Tausenden von Bäumen die »wahre« Phylogenie zu erraten,

ist verschwindend gering. Bei der computergestützten Rekonstruk­

48

Page 51: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Experimentelle und theoretische Phylogenien

Abb.17: Experimentelle Phylogenie des Bakteriophagen T7. Acht Taxa (1-8) des Bak­

teriophagen T7 wurden im Labor gezüchtet. Die Mutationsraten wurden künstlich

erhöht. Die Wurzel des Baumes W repräsentiert den Wildtyp, von dem die Experi­

mente ausgehen. Die Kantenlängen sind proportional zur Anzahl der Substitutio­

nen (Zahlen an den Kanten). Um den Baum zu wurzeln, wurde in die Rechnung

eine Außengruppe hinzugezogen, die aber nicht dargestellt ist.

tion der Phylogenie ermittelten zwar alle Verfahren die richtige To­

pologie, aber keine Methode bestimmte die richtigen Kantenlängen.

Dies zeigt, dass auch bei realen, biologischen Daten die Kantenlän­

gen möglicherweise einem gewissen Fehler unterworfen sind.

Da das Erstellen experimenteller Phylogenien sehr aufwändig ist,

wird die Verlässlichkeit der Baumrekonstruktionsverfahren auch an­

hand theoretischer Phylogenien überprüft. Dabei wird ein Gen-

Baum vorgegeben, für den dann die Sequenzevolution auf dem Com­

puter simuliert wird. Das Ergebnis dieser »künstlichen Evolution« ist

ein simuliertes Sequenzalignement, das anschließend mit verschie­

49

Page 52: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Molekulare Phylogenie

denen Methoden der Baumrekonstruktion untersucht wird. Somit

lassen sich unterschiedliche Evolutionsszenarien für verschiedene

Baumrekonstruktionsverfahren evaluieren. Hierbei treten Unter­

schiede in der Verlässlichkeit der einzelnen Methoden für die Baum­

rekonstruktion zutage.

Mit der Untersuchung theoretischer Phylogenien gelang dem ame­

rikanischen Wissenschaftler Joe Felsenstein eine sehr bedeutende

Entdeckung. Sie heißt heute nach ihrem Entdecker die Felsenstein­

zone. Diese Zone kennzeichnet den Bereich, in dem Methoden zur

Baumrekonstruktion einen systematischen Fehler aufweisen, wobei

die Ausdehnung und Lage der Zone von der jeweiligen Methode

abhängen. Abbildung 18c zeigt eine solche Felsensteinzone für das

Maximum-Parsimonie-Prinzip. Wie kommt die dort dargestellte

Zone zustande und welche Aussage macht sie?

Dem Computer werden folgende Informationen vorgegeben (Ab­

bildung i8a): eine theoretische Phylogenie mit den vier Taxa 1 bis 4

und eine Kombination von zwei Kantenlängen (k1 und k2). Die innere

Kante des Baumes sowie die Kanten zu den Sequenzen 2 und 4 sind

dabei gleich lang (k1), ebenso die Kantenlängen der Sequenzen 1 und

3 (k2). Für die zwei Kantenlängen k1 und k2 wird ein k1-k2-Diagramm

erstellt.

Dann wird am Computer die Sequenzevolution simuliert, wobei

jede Kombination der Kantenlängen (k1, k2) erlaubt ist. Um den zufäl­

ligen Fehler der Baumrekonstruktion klein zu halten, sind die simu­

lierten Sequenzen möglichst lang. Anschließend wird aus diesem

Alignement der Maximum-Parsimonie-Baum berechnet (zum Bei­

spiel Abbildung 18b) und mit der theoretischen Phylogenie (Abbil­

dungi8a) verglichen.Sind die Bäume verschieden,wird im Diagramm

für das zugehörige k1-k2-Wertepaar ein grüner Punkt eingetragen.

Stimmen sie überein, wird kein Punkt eingetragen.

Die Simulationen werden Tausende Male wiederholt. Die Menge

aller grünen Punkte im k1-k2-Diagramm ergibt die Felsensteinzone.

50

Page 53: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Experimentelle und theoretische Phylogenien

Abb.18: Die Felsensteinzone

a) Eine theoretische Phylogenie mit vier Taxa (1-4) und zwei unterschiedlichen

Kantenlängen (k1 und k2)

b) Rekonstruierter Maximum-Parsimonie-Baum, basierend auf einem simulierten

Sequenzalignement.

c) Der Parameterraum der Kantenlängen k1 und k2. Die grün schattierte Region ist

die Felsensteinzone, in der ein falscher Baum rekonstruiert wird.

Diese Zone kennzeichnet die Region im theoretischen Raum aller

Kantenlängen eines Baumes, in der Maximum-Parsimonie einen sys­

tematischen Fehler aufweist. Ist k2 deutlich größer als k1, so wird der

in Abbildung i8b dargestellte Baum rekonstruiert werden. Das heißt,

Sequenzen mit hoher Substitutionsrate werden zu einem Cluster

zusammengefasst. Dieses Phänomen wird als »Anziehungskraft

zwischen langen Kanten« (long-branch-attraction) bezeichnet.

Felsensteinzonen, also systematische Fehler, gibt es bei jeder

Methode zur Baumrekonstruktion. Für distanzbasierte Rekonstruk­

51

Page 54: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Molekulare Phylogenie

tionsverfahren ist bekannt, dass sie bei mangelnder Korrektur für

multiple Substitutionen fehlerhaft werden. Es bleibt eine spannende

Frage der molekularen Evolutionstheorie, die Felsensteinzone auch

für andere Methoden zu charakterisieren.

Auch in biologischen Daten gibt es aufgrund der »Anziehungskraft

zwischen langen Kanten« Hinweise auf falsch rekonstruierte Bäu­

me. Ein gut untersuchtes Beispiel ist der Stammbaum der Säugetiere

(Sau), Vögel (Vö), Krokodile (Kr) und Eidechsen (Ei). Morphologische

Befunde liefern eindeutige Hinweise, dass Vögel und Krokodile eine

monophyletische Gruppe bilden, die Archosaurier (grün hinterlegt in

Tabelle 3) hingegen werden im Maximum-Parsimonie-Baum der 18S

rRNA-Sequenzen Vögel mit den Säugetieren in eine Schwestergrup­

pe eingeteilt.

In Tabelle 3 sind in der linken Spalte und der obersten Zeile die drei

möglichen Phylogenien für die vier Arten vorgegeben, wobei die

Kantenlängen kt und k2 in allen Bäumen gleich bleiben. Die klassi­

sche Phylogenie ((Vö,Kr) (Säu,Ei)) ist grün unterlegt. Für jeden der

drei theoretisch möglichen Bäume (linke Spalte) werden Tausende

von Sequenzalignements simuliert und mit der Maximum-Parsimo­

nie-Methode die Baumtopologie rekonstruiert (oberste Zeile). In den

fett markierten Kästchen stimmen die theoretische und rekonstru­

ierte Topologie überein.

Die erste vorgegebene (theoretische) Topologie ((Kr,Ei) (Vö,Säu))

wird zu 100% von den simulierten Daten rekonstruiert, daher wer­

den die anderen zwei Topologien ((Vö,Ei) (Säu,Kr)) und ((Vö,Kr) (Säu,

Ei)) niemals gefunden. Die zweite vorgegebene Topologie wird mit

Maximum-Parsimonie nur in 15% der Fälle richtig rekonstruiert,

während in 80% der Fälle der Baum rekonstruiert wird, bei dem die

zwei langen Kanten (Vö und Säu) zusammenlaufen. Die dritte vorge­

gebene Topologie (die klassische Phylogenie) wird sogar nur in 7,5

von hundert Fällen gefunden, die (Vö,Säu)-Topologie macht 85%

aller Fälle aus.

52

Page 55: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Experimentelle und theoretische Phylogenien

Abb.19: Gen-Bäume in Spezies-Bäumen. Die Entwicklung eines Gen-Baums (grün)

findet innerhalb eines Spezies-Baums (schwarz) statt.

Unabhängig von der vorgegebenen (theoretischen) Phylogenie re­

konstruiert Maximum-Parsimonie mit hoher Wahrscheinlichkeit den

Baum ((Krokodile, Eidechsen) (Vögel, Säugetiere)). Eine mögliche Er­

klärung für diese Diskrepanz liefert die Felsensteinzone. Der Maxi­

mum-Parsimonie-Baum, basierend auf 18S rRNA-Sequenzen, hat

zwei lange Kanten (Tabelle 3). Eine Kante führt zu den Vögeln, die

zweite zu den Säugetieren. Krokodile und Eidechsen befinden sich

an kurzen Kanten und sind nur durch eine kurze, innere Kante von

53

Page 56: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Molekulare Phylogenie

Tabelle 3: Drei mögliche Stammbäume für Vögel (Vö), Säugetiere (Säu), Eidechsen

(Ei) und Krokodile (Kr).

Die linke Spalte zeigt die vorgegebenen, theoretischen Phylogenien. Die oberste

Zeile zeigt die mit Maximum-Parsimonie rekonstruierten Topologien, basierend

auf simulierten Sequenzalignements. Die Prozentzahlen geben an, wie oft die vor­

gegebene Baumtopologie im simulierten Alignement gefunden wurde. Grün

unterlegt ist die klassische Phylogenie. Die Kantenlängen sind proportional zur

Zahl der Substitutionen und basieren auf 18S rRNA-Sequenzen.

Säugetieren und Vögeln getrennt (siehe Abbildung 18). So sehen

typischerweise Bäume aus, deren Topologie durch long-branch­attraction geprägt wurde. Mit Maximum-Parsimonie-Methoden

rutscht die Baumrekonstruktion in die Felsensteinzone, das heißt die

langen Kanten werden als Cluster erkannt, sie ziehen sich an. Die ver­

wandtschaftlichen Beziehungen zwischen den vier Gruppen lassen

sich daher anhand der vorliegenden Daten nicht klären.

54

Page 57: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Der Bootstrap

Welche Auswege gibt es aus der Felsensteinzone? Zum einen ist es

hilfreich, weitere Arten in die Analyse aufzunehmen, um die langen

Kanten aufzubrechen. Zum anderen sollten zusätzliche Bereiche des

Genoms sequenziert werden. Dieses Beispiel zeigt, dass Einzelergeb­

nisse durchaus fehlerhaft sein können und nicht jede am Computer

berechnete Phylogenie zwangsläufig die »wahre« Evolution wider­

spiegelt. Daher ist es auch bei molekularen Merkmalen wichtig,

mehrere Gene oder Sequenzen zu analysieren und die Ergebnisse

mit den Befunden aus der Morphologie oder Verhaltensbiologie ab­

zugleichen.

Der Bootstrap

Die phylogenetische Analyse des Datensatzes aus Abbildung 14 hat

gezeigt, dass die Stichprobengröße, also die Länge eines Sequenz­

alignements, wesentlich für die verlässliche Rekonstruktion eines

Gen-Baumes ist. Die Frage stellt sich, wie gut der rekonstruierte

Baum die Verwandtschaftsverhältnisse wiedergibt. Wenn die Se­

quenzen lang genug sind, sollte im Prinzip der wahre Baum rekon­

struiert werden. Was kann getan werden, um den stochastischen

Fehler aufgrund der Stichprobengröße in einer Phylogenie abzu­

schätzen? Eine Möglichkeit besteht darin, mehrere Stichproben aus

der Gruppe, an deren Phylogenie man interessiert ist, zu analysieren

und die resultierenden Gen-Bäume zu vergleichen. Die Variation in

der Kollektion der Bäume liefert dann Informationen darüber, wie

stabil beispielsweise eine bestimmte phylogenetische Gruppierung

(Cluster) ist. Da die Bearbeitung vieler Stichproben in der Regel sehr

teuer und zeitaufwändig ist, werden heute so genannte Bootstrap-

Verfahren aus der Statistik angewendet, um den Stichprobenfehler

abzuschätzen. Beim Bootstrap wird eine zufällige Stichprobe durch

wiederholtes Ziehen mit Zurücklegen aus den bereits erhobenen

Daten generiert. Dabei entstehen zahlreiche künstliche Stichproben,

55

Page 58: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Molekulare Phylogenie

die Pseudoreplikate genannt werden. In der phylogenetischen Ana­

lyse werden aus einem multiplen Sequenzalignement (zum Beispiel

Abbildung 7 und Abbildung 14) zufällig Spalten ausgewählt, die beim

nachfolgenden Ziehen einer weiteren Spalte erneut zur Verfügung

stehen. Diese Prozedur wird so lange wiederholt, bis die ursprüngli­

che Länge des Alignements erreicht ist. Für dieses Pseudoreplikat

wird dann ein Gen-Baum ermittelt. Typischerweise werden auf diese

Weise 1000 bis 10000 Gen-Bäume bestimmt. Kommt ein Cluster in

allen Gen-Bäumen vor, so sagt man, die Gruppierung hat einen Boots-

trap-Wert von 100%; das heißt der Stichprobenfehler ist anschei­

nend so klein, dass die rekonstruierte Gruppierung die wahre Phylo­

genie der entsprechenden Taxa widerspiegelt. Cluster, die einen

geringeren Bootstrap-Wert haben, typischerweise < 90%, werden

durch die Daten nicht sehr stark gestützt und bedürfen einer weite­

ren Analyse durch zusätzliche Sequenzen. Liegt der Bootstrap-Wert

eines Clusters unter 50%, so kann es zu widersprüchlichen Ver­

wandtschaftsbeziehungen im Baum kommen. Solche Gruppierun­

gen sind dann in einem Gen-Baum mit äußerster Vorsicht zu inter­

pretieren.

5 GEN-BÄUME IN DER PHYLOGENIE

Gen-Bäume in Spezies-Bäumen

In einem biologischen Stammbaum soll die Aufspaltung von Arten

(lateinisch spezies) nachgezeichnet werden. Die Artbildung wird in

der Biologie als Phylogenese bezeichnet. »Phylogenese ist die wie­

derholte Aufspaltung von Populationen durch irreversible geneti­

sche Divergenz und der daraus resultierende Prozess der Entstehung

von Organismengruppen unterschiedlichen Verwandtschaftsgra­

des.« Stammbäume werden daher auch Spezies-Bäume genannt.

Ein Spezies-Baum zeigt somit die zeitliche Abfolge der Aufspaltungs­

Page 59: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Gen-Bäume in Spezies-Bäumen

Abb.20: Widersprüchliche Säugetier-Phylogenien: a) klassischer Spezies-Baum,

b) Gen-Baum basierend auf komplett sequenzierten Mitochondriengenomen.

ereignisse zwischen verschiedenen Populationen oder Arten. Im Ge­

gensatz dazu zeichnet ein Gen-Baum nur die Historie eines Gens

oder eines DNA-Abschnitts nach. Dabei wird in der Fortpflanzungs­

gemeinschaft die Weitergabe des Sequenzabschnitts von einem

Individuum auf das nächste rekonstruiert.

Der Gen-Baum entwickelt sich gewissermaßen im Spezies-Baum

(Abbildung 19) und sollte im Idealfall die Abfolge der Aufspaltungs­

ereignisse für verschiedene Arten wiedergeben.

In den letzten Jahrzehnten wurden zahlreiche Gen-Bäume erstellt.

Die Analyse einzelner Gen-Bäume führte mitunter zu sehr überra­

schenden Ergebnissen, die nicht immer mit den klassischen Spezies-

Bäumen übereinstimmen. Ein prominentes Beispiel sind die ver­

wandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Säugetieren. Dazu

zählen die Kloakentiere (Schnabeltier und Schnabeligel), die Beutel­

tiere und die höheren Säugetiere mit echter Plazenta (Eutheria). Die

klassische Phylogenie nimmt an, dass die Beuteltiere die nächsten

Verwandten der höheren Säugetiere sind; die Kloakentiere hätten

sich demzufolge vorher abgespaltet (Abbildung 20a). Anhand der

57

Page 60: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Gen-Bäume in der Phylogenie

vollständig sequenzierten, mitochondrialen DNA wurde ein alterna­

tiver Gen-Baum vorgeschlagen (Abbildung 20b). Der Gen-Baum zeigt,

dass Beuteltiere und Kloakentiere eine Schwestergruppe bilden. Ent­

gegen der klassischen Lehre wären demzufolge die Beuteltiere nicht

näher mit den höheren Säugetieren verwandt.

Noch mehr Verwirrung erzeugten die unterschiedlichen Möglich­

keiten für einen Gen-Baum von Mensch, Schimpanse und Gorilla

(Abbildung 21). Die Analyse von 45 unabhängigen Genen ergab drei

Gen-Bäume und damit drei Möglichkeiten für Schwestergruppen.

Im Ergebnis von 27 Genanalysen (60%) gehören Mensch und Schim­

panse zweifelsfrei einer Schwestergruppe an (Abbildung 21a). Die

alternativen Schwestergruppierungen Schimpanse und Gorilla re­

spektive Mensch und Gorilla werden nur von jeweils neun Gen-Bäu­

men (20%) unterstützt, die aber ebenfalls hohe Bootstrap-Werte

erhalten. Wie lassen sich diese unterschiedlichen Ergebnisse für die

drei Gen-Bäume von Mensch, Schimpanse und Gorilla erklären?

Widersprüche zwischen Gen-Bäumen und Spezies-Bäumen

Abbildung 22 zeigt in grüner Farbe die drei möglichen Gen-Bäume,

die in dem Spezies-Baum ((Mensch, Schimpanse) Gorilla) vorkom­

men können. Für jeden Drei-Spezies-Baum sind zwei Aufspaltungs­

oder Artbildungsprozesse notwendig. In dem hier vorgestellten Bei­

spiel gehen Paläontologen davon aus, dass sich der Gorilla in einem

1. Artbildungsprozess vor ca. 7-8 Millionen Jahren von der gemein­

samen Stammart (Mensch-Schimpanse-Gorilla) abspaltete. Der 2.

Aufspaltungsprozess fand vor ca. 5-6 Millionen Jahren statt. Das

bedeutet, dass die Zeit zwischen dem ersten und zweiten Aufspal­

tungsereignis nur sehr kurz war und die gemeinsame Stammart von

Mensch und Schimpanse nur schätzungsweise 1-3 Millionen Jahre

existierte.

58

Page 61: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Widersprüche zwischen Gen-Bäumen und Spezies-Bäumen

Abb.2i: Die drei Gen-Bäume von Mensch, Schimpanse und Gorilla.

Die Zahlen geben an, wie oft das jeweilige Verzweigungsmuster unterstützt wird.

Werden nun die drei Gen-Bäume betrachtet, ergibt sich folgendes

Bild: Im ersten Szenario (Abbildung 22a) verschmelzen die Sequen­

zen von Mensch und Schimpanse bei einer rückwärtigen Betrach­

tung in die Vergangenheit zeitgleich mit dem 2. Aufspaltungsereig­

nis. Die gemeinsame Linie von Mensch und Schimpanse existierte in

ihrer Stammart M-S so lange, bis sie mit der Gorilla-Linie zum Zeit­

punkt des i. Aufspaltungsereignisses verschmolz. Zum Zeitpunkt U existierten sowohl im Spezies-Baum als auch im Gen-Baum nur zwei

Arten beziehungsweise Linien, die eine in der Stammart von Mensch

und Schimpanse (M-S) und die zweite im Gorilla. In dieser Situation

stimmen die Topologien von Gen-Baum und Spezies-Baum überein.

Die Stammart von Mensch und Schimpanse (M-S) existierte aber

nur kurze Zeit. Es kann vorkommen, dass die Sequenzen beider Arten

nicht verschmelzen. Diese Möglichkeit ist in den Bildern b und c dar­

gestellt. Zum Zeitpunkt t1 existierten formal bereits zwei Spezies,

59

Page 62: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Gen-Bäume in der Phylogenie

nämlich die Stammart Mensch und Schimpanse (M-S) und der Gorilla.

Im Gen-Baum sind aber noch alle drei Linien vorhanden. In einer

solchen Situation entscheidet allein der Zufall, welches Sequenz-

Paar zuerst verschmilzt und somit die Schwestergruppen definiert.

Es können zuerst die Linien von Schimpanse und Gorilla verschmel­

zen, aber ebenso können die Linien von Mensch und Gorilla zuerst

verschmelzen. In beiden Fällen weicht der Gen-Baum vom Spezies-

Baum ab.

Der Zeitpunkt der Verschmelzung von Linien, das Coalescent-Ereig­

nis, ist für jedes Gen unterschiedlich und kann weit in der Vergan­

genheit liegen. Die Stammart von Mensch und Schimpanse (M-S)

kann eine oder zwei Linien enthalten, während in der Stammart von

Mensch, Schimpanse und Gorilla (M-S-G) entweder eine, zwei oder

noch alle drei Linien vorhanden sein können.

In der Fachsprache wird hierfür der Begriff lineage sorting (Sortie­

rung der Linien) verwendet. Ist die Anzahl der Linien zu jedem Zeit­

punkt identisch mit der Anzahl der Arten (wie in Abbildung 22a), gibt

es keine Diskrepanz zwischen dem Gen-Baum und dem Spezies-

Baum. Man sagt, dass die Linien »aussortiert« sind. Ist im Gegensatz

dazu, wie in Abbildung 22b und c, die Anzahl der Linien an einem

bestimmten Zeitpunkt größer als die Anzahl an Arten, ist die Sortie­

rung der Linien noch nicht abgeschlossen. Man sagt, dass das »Line­

age Sorting« unvollständig ist. Zum Zeitpunkt t, existieren jeweils

drei Linien, aber nur zwei Arten, nämlich die Stammart Mensch-

Schimpanse (M-S) und der Gorilla.

Abb.22: Der Spezies-Baum für Mensch, Schimpanse und Gorilla (schwarz) mit den

drei möglichen Gen-Bäumen (grün). Gezeigt sind das Alter der zwei Aufspal­

tungsereignisse (gestrichelte Linie) in Millionen Jahren, die gemeinsame Stamm­

art (M-S) von Mensch und Schimpanse zum Zeitpunkt t1 sowie die gemeinsame

Stammart (M-S-G) von Mensch, Schimpanse und Gorilla.

a) Der Gen-Baum von Mensch (M), Schimpanse (S) und Gorilla (G) ist identisch

zum Spezies-Baum, b) und c) Die Gen-Bäume sind verschieden vom Spezies-Baum

und kommen mit gleicher Wahrscheinlichkeit vor (siehe Abb. 21).

60

Page 63: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Widersprüche zwischen Gen-Bäumen und Spezies-Bäumen

61

Page 64: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Gen-Bäume in der Phylogenie

Abb.23: Einfluss einer Gen-Duplikation auf den Gen-Baum von Mensch und

Schimpanse. Die Verdopplung des Gens o erzeugt zwei Kopien, das Gen a und das

Gen b. Bei späterer Speziation enthalten Mensch und Schimpanse je ein Set der

Gene a und b. Der Spezies-Baum von Mensch und Schimpanse enthält zwei Gen-

Bäume, einen vom Gen a (grau) und einen zweiten vom Gen b (grün).

Dieses kleine Beispiel mit drei Arten zeigt bereits, dass es zu einem

Spezies-Baum mehr als einen Gen-Baum geben kann. Anders ausge­

drückt bedeutet dies, dass es in der Molekularen Evolution keine

»Ein-Spezies-Baum-Ein-Gen-Baum«-Beziehung gibt. Widersprüche

sind im Besonderen dann zu erwarten, wenn die Aufspaltungsereig­

nisse zwischen zwei oder mehreren Arten in relativ kurzer Zeit ablie­

fen. Prinzipiell gilt, dass bei der Rekonstruktion von Gen-Bäumen

mehrere unabhängige Gene oder DNA-Sequenzen analysiert wer­

den sollten. Dies ist dann besonders wichtig, wenn es Unstimmig­

keiten zwischen der klassischen Phylogenie und den molekularen

Befunden gibt.

62

Page 65: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Auswirkungen von Gen-Duplikationen auf Gen-Bäumen

Auswirkungen von Gen-Duplikationen auf Gen-Bäume

Ist im Verlauf der Evolution ein Gen verdoppelt (dupliziert) worden,

kann dies ebenfalls zu einer Diskrepanz zwischen Gen-Baum und

Spezies-Baum führen. Das grundsätzliche Phänomen wird in Abbil­

dung 23 veranschaulicht, in der wieder das Beispiel Mensch-Schim­

panse herangezogen wird.

In der gemeinsamen Stammart von Mensch und Schimpanse (M-S)

wird das vorhandene Gen 0 dupliziert, es entstehen zwei Kopien

(Gen a und Gen b). Diese können im Verlaufe der Evolution in ganz

unterschiedlichen Regionen des Genoms fixiert werden und sich

zusätzlich in ihrer Funktion deutlich voneinander unterscheiden.

Spaltet sich die Stammart M-S in Mensch und Schimpanse, so erhält

jede Art jeweils ein Set der verdoppelten Gene. Im Menschen nen­

nen wir sie aM und bM, im Schimpansen aS und bS. In dem resultie­

renden Spezies-Baum von Mensch und Schimpanse gibt es zwei

Gen-Bäume, einen für das Gen a (grau) und einen zweiten für das

Gen b (grün).

Zur Unterscheidung der relativen Beziehungen zwischen den ori­

ginalen und kopierten Genen werden in der molekularen Evolutions­

biologie die Fachausdrücke homolog, ortholog und paralog verwen­

det.

Homologe Sequenzen ähneln sich in ihrem Aufbau und ihrer

Struktur (griechisch homos = gleichartig, entsprechend). Obwohl seit

der Duplikation des Vorfahr-Gens 0 viel Zeit vergangen ist, lassen

sich noch Gemeinsamkeiten zwischen den vier Genen UM, as, bM und

Verkennen.

Orthologe Sequenzen haben den gleichen Ursprung (griechisch

orthos = richtig). Die Gene aM und aS gehen auf das gemeinsame Vor­

fahren-Gen a zurück, die Gene bM und bS auf das Vorfahren-Gen b.

Dementsprechend sind die Gen-Pärchen (aM, aS) und (bM, bS) ortho­

63

Page 66: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Gen-Bäume in der Phylogenie

log zueinander. Wird der Gen-Baum anhand orthologer Sequenzen re­

konstruiert, ist er in diesem Beispiel mit dem Spezies-Baum identisch.

Paraloge Sequenzen haben keinen gemeinsamen Ursprung (grie­

chisch para = abweichend). In Abbildung 23 gilt dies für die Kombi­

nation der Gene aM und bS sowie für die der Gene bM und aS . Wenn

die untersuchten Gene bekannt sind, mag es trivial erscheinen, para­

loge Sequenzen zu erkennen. In der Forschung ist die Funktion der

untersuchten Gene oft nicht bekannt, und dann können die Ähnlich­

keiten ihrer Sequenzen dazu führen, dass fälschlicherweise ein

gemeinsamer Ursprung angenommen wird. Bleibt die Paralogie

unerkannt, kann der rekonstruierte Gen-Baum vom Spezies-Baum

abweichen.

Ein Ausweg besteht darin, nur solche Gene zu analysieren, die in

einfacher Kopie vorliegen (single-copy Gene). Soll zum Beispiel unter­

sucht werden, ob ein menschliches Gen in einfacher oder mehrfa­

cher Kopie vorliegt, kann in der Datenbank des kompletten mensch­

lichen Genoms nach homologen Sequenzen gesucht werden. Findet

sich im gesamten Genom keine ähnliche Sequenz, so liegt das Gen

wahrscheinlich in einfacher Kopie vor. Die Situation verkompliziert

sich, wenn Gene nach ihrer Duplikation wieder verloren gehen (Dele­

tionen). Es besteht dann kaum eine Chance, dass die Orthologie be­

ziehungsweise Paralogie von Sequenzen erkannt wird.

Gen-Duplikationen als Motor der physiologischen Feinabstimmung

Das Wissen um Gen-Duplikationen ist zum einen wichtig für die kor­

rekte Rekonstruktion von Stammbäumen. Andererseits offenbaren

Gen-Duplikationen faszinierende Einsichten in die Dynamik der

molekularen Evolution. Mit der Duplikation eines Gens gehen oft

Änderungen der Funktion sowie vielfache Spezialisierungen in einer

oder sogar in beiden Kopien einher.

64

Page 67: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Gen-Duplikationen als Motor der physiologischen Feinabstimmung

In der Proteinfamilie der Globin-Gene ist dieses Phänomen sehr gut

studiert (Abbildung 24).GIobine sind für den Sauerstoff-Haushalt im

Organismus verantwortlich. Bereits vor 600-800 Millionen Jahren

wurde das »Ur-Globin-Gen« dupliziert. Die verdoppelten Gene diffe­

renzierten sich zum Myoglobin und zur Familie der »Ur«-Hämoglo­

bine. Das Myoglobin-Gen befindet sich beim Menschen auf dem

Chromosom 22. Es reguliert die Speicherung des Sauerstoffs in den

Muskeln.

Vor 450-500 Millionen Jahren bildeten sich durch Duplikation des

»Ur«-Hämoglobins die Familie der D-Globine und der E-Globine. Das

Hämoglobin ist verantwortlich für den Transport des Sauerstoffs im

Blut.

Die Familie der D-Globine, die beim Menschen auf dem Chromo­

som 16 liegt, besteht aus den vier funktionellen Genen -, D1, D2 und

T1 sowie drei Pseudogenen (<-, <D1, <D2). Pseudogene haben

keine Funktion, aber weisen noch immer die Strukturmerkmale von

Genen auf. Das d-Gen entstand vor mehr als 300 Millionen Jahren

und wird nur im Embryo aktiviert. Die Aufspaltung in das T1-Gen und

die D-Gene fand vor 260 Millionen Jahren statt. Der Zeitpunkt für die

Entstehung des D1- und D2-Gens ist derzeit ungeklärt, da die Se­

quenzen nahezu identisch sind. Da aber beide Gene auch in den

Affen vorkommen, sollten sie vor wenigsten 20 Millionen Jahren ent­

standen sein. Das Alter der Pseudogene lässt sich nicht schätzen.

Die E-Globin-Familie befindet sich auf dem Chromosom 11. Es um­

fasst die fünf funktionellen Gene H, GJ, AJ, E und G sowie das Pseu­

dogen <E. Im Menschen wird das e-Gen in der frühen Embryonal­

entwicklung aktiviert (1.-8. Schwangerschaftswoche), während die

zwei J-Gene für den Sauerstoff-Transport im heranwachsenden

Fötus (ab der 9.Schwangerschaftswoche) verantwortlich sind. Die E-und G-Gene werden erst im erwachsenen Menschen aktiviert.

Die Aufspaltung der E-Globin-Gene begann vor 150-200 Millionen

Jahren.

65

Page 68: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Gen-Bäume in der Phylogenie

An diesem Beispiel wird deutlich, dass Gen-Duplikationen dem un­

terschiedlichen Sauerstoffbedarf in der Entwicklung des mensch­

lichen Organismus bereits auf molekularer Ebene Rechnung tragen.

Gen-Duplikationen können also zu einer erstaunlichen Feinabstim­

mung in der Physiologie beitragen. Inzwischen ist die Evolutionsge­

schichte weiterer Gen-Familien rekonstruiert worden, wie beispiels­

weise die der Homöobox- (Hox-) Gene. Sie steuern die embryonale

Segmentierung des Körpers entlang der Kopf-Schwanz-Achse. Zu

den bemerkenswertesten Ergebnissen der Forschung der letzten

Jahre gehörte es, dass Hox-Gene bei fast allen Tieren einschließlich

des Menschen und sogar bei Pflanzen zu finden sind. Es stellte sich

sogar heraus, dass Fliegen, denen das für die Entstehung des Auges

verantwortliche homöotische Gen einer Maus eingepflanzt wurde,

ein zusätzliches Facettenauge entwickelten. Offenbar sind die Gene,

welche die Entwicklung der Augen einleiten, bei Säugetieren und

Insekten sehr ähnlich. In naher Zukunft sind auf diesem Sektor noch

viele spannende Ergebnisse zu erwarten, die unser Verständnis über

das molekulare Evolutionsgeschehen erweitern werden.

6 GEN-BÄUME IN POPULATIONEN

Gen-Bäume sind auch für die Aufklärung der Verwandtschaftsver­

hältnisse zwischen den Individuen einer Art beziehungsweise Popu­

lation von großer Bedeutung. Das Aufstellen solcher Bäume öffnet

ein völlig neues Feld für die Erforschung der molekularen Evolu­

tionstheorie. Das Paradebeispiel sind die Ergebnisse der Untersu­

chungen zur jüngeren Geschichte des modernen Menschen. Anhand

von DNA-Sequenzen konnten Wissenschaftler die Geschichte des

modernen Menschen neu interpretieren.

Abb.24: Gen-Baum der menschlichen Globin-Gene. Grüne Kreise symbolisieren

jeweils eine Gen-Duplikation; Datierung in Millionen Jahren.

66

Page 69: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Gen-Bäume in Populationen

67

Page 70: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Gen-Bäume in Populationen

Rekonstruktion der Populationsgeschichte anhand von DNA-Sequenzen

Die Geschichte einer Population wird anhand der Sequenzen einer

Stichprobe von zufällig ausgewählten Individuen untersucht. Dafür

werden bevorzugt die variablen Regionen des Genoms untersucht,

denn nur hier gibt es überhaupt eine Chance, dass sich die Sequen­

zen zwischen den Individuen einer Population unterscheiden. Für die

Populationsgeschichte des Menschen und anderer Tierpopulationen

wird dafür bevorzugt die Kontrollregion des Mitochondrien-Genoms

analysiert. Aus dem resultierenden Sequenzalignement wird mit

den in Kapitel 4 dargestellten Methoden ein Gen-Baum berechnet.

Im Unterschied zu einem phylogenetischen Datensatz sind die Se­

quenzen zwischen den Individuen eines Populations-Alignements

entweder sehr ähnlich oder häufig sogar identisch (Abbildung 25b).

Daher braucht man keine komplizierten Methoden wie Maximum-

Likelihood oder distanzbasierte Methoden, um multiple Substitutio­

nen im Alignement zu korrigieren. Maximum-Parsimonie reicht aus,

um den Gen-Baum zu bestimmen.

Ein Beispiel soll dies veranschaulichen. Gegeben sei eine über die

Zeit konstante Population. Aus der heutigen Generation werden

zufällig acht Individuen, A bis H, ausgewählt und für jedes Individu­

um die gleiche Region im Genom sequenziert.

Die Analyse der Sequenzen ergibt folgendes Bild (Abbildung 25a):

Die Sequenz S1 wurde in den drei Individuen A, B und C gefunden. Die

Sequenz S2 war in den zwei Individuen G und H präsent, während die

drei verbleibenden Sequenzen S3, S4 und S5 nur in jeweils einem

Individuum vorkommen.

Für die Rekonstruktion des Gen-Baums (Abbildung 25b) ist nur die

Anzahl der unterschiedlichen Sequenzen relevant; für das Beispiel

also die fünf Sequenzen S1 bis S5. Die Häufigkeit der einzelnen Se­

quenzen wird im Gen-Baum vernachlässigt, oder wie in Abbildung

68

Page 71: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Rekonstruktion der Populationsgeschichte

Abb.25a: Sequenz-Alignement einer Stichprobe von acht Individuen (A-H).

Abb.25b: Maximum-Parsimonie-Baum der fünf unterschiedlichen Sequenzen S1

bis S5. Insgesamt sind fünf Mutationen, m1 bis m5, für die Rekonstruktion not­

wendig. Der kleine weiße Kreis zeigt eine in der Population nicht gefundene

Sequenz an.

25b lediglich durch die Größe der Knoten symbolisiert. Wie oft eine

Sequenz in einer Stichprobe gefunden wurde, liefert aber wichtige

Informationen über die genetische Vielfalt innerhalb der Population.

Die Verzweigungsstruktur des Gen-Baums spiegelt die verwandt­

schaftlichen Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Sequen­

69

Page 72: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Gen-Bäume in Populationen

S.103

S.105

zen wider. Insgesamt sind fünf Mutationen (m1 bis m5) nötig, um die

Variabilität im Sequenz-Alignement zu erklären. Die Sequenzen S2

und S3 stehen im Gen-Baum an inneren Knoten (Abbildung 25b). Sie

sind damit »gleichzeitig« rezente Sequenzen (die in der heutigen Po­

pulation vorkommen) als auch Vorfahr-Sequenzen für die anderen

Individuen. Diese Doppelfunktion einer Sequenz als Vorfahr-Sequenz

und als rezente Sequenz ist typisch für die Analyse populationsge­

netischer Datensätze.

Die Individuen mit einer identischen Sequenz, nämlich A, B und C

(Si) sowie G und H (S2) sind in jeweils einem Knoten vereinigt. Die

Verwandtschaftsstruktur zwischen den Individuen innerhalb eines

Knotens lässt sich mit dem bisherigen Methoden besteck nicht auf­

klären. Um etwas über die Geschichte einer Population auszusagen,

sind wiederum statistische Methoden notwendig.

Die Genealogie einer Stichprobe

Der Gen-Baum in Abbildung 25b zeigt die verwandtschaftlichen

Beziehungen zwischen den fünf Sequenzen Si bis S5. Wie kann die

Verwandtschaftsstruktur zwischen den Individuen bestimmt wer­

den? Wo liegt die Wurzel des Gen-Baums, also der jüngste gemein­

same Vorfahre (MRCA) der Stichprobe und wann lebte er? Diese Fra­

gen werden bei der phylogenetischen Rekonstruktion durch das

Hinzuziehen einer Außengruppe beziehungsweise durch die mole­

kulare Uhr beantwortet. In einer Population mit vielen Sequenzen

muss der Prozess der Vorfahrenfindung am Computer modelliert

werden (Coalescent-Prozess). Die resultierenden Bäume heißen

Genealogien, abgeleitet von dem griechischen Wort genealogia für

Geburt beziehungsweise Abstammung. Im Gegensatz zur genba­

sierten Stammbaumrekonstruktion sind in einer Genealogie weder

das Verzweigungsmuster noch die Kantenlängen feste Größen. Es

wird angenommen, dass die Genealogie im Verlauf der Evolution

70

Page 73: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Die Genealogie einer Stichprobe

Abb.26: Drei mögliche Genealogien für die Individuen A, B und C.

zufällig entstanden ist. Was heißt dies für das Beispiel in Abbildung

25? Die Individuen A, B und C haben die gleiche Sequenz S1. Abbil­

dung 26 zeigt die drei gleichwahrscheinlichen Topologien ((A, B) C),

((A, C) B), (A (B, C)). Darin sind die Verzweigungsmuster und die Zeit­

punkte, an denen die Sequenzen ihren jüngsten gemeinsamen Vor­

fahren finden, unterschiedlich. Die Zeit kann in der Anzahl der Gene­

rationen gemessen werden.

Für die acht untersuchten Individuen A bis H aus der konstanten

Population zeigt Abbildung 27 eine mögliche Genealogie. Jedes Indi­

viduum ist durch einen Kreis dargestellt, jede Zeile repräsentiert die

Individuen beziehungsweise Gene einer Generation. Der Zeitpfeil

läuft von der Vergangenheit in die Gegenwart und ist ein Maß für

die Anzahl an Generationen. Die hypothetischen Zeitpunkte für das

Auftreten der fünf Mutationen m1 bis m5 sind eingezeichnet. Der

weiße Kreis an der Basis der Genealogie zeigt den jüngsten gemein­

samen Vorfahren aller acht Sequenzen. Wie für die phylogenetischen

71

Page 74: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Gen-Bäume in Populationen

S.105

Bäume gilt auch bei den Genealogien, dass die Anzahl der Bäume

mit der Anzahl der Individuen exponentiell ansteigt.

Wann lebte der jüngste Vorfahre der menschlichen Population?

In Abbildung 27 wird ein weiteres Phänomen deutlich: Die Zeit zum

jüngsten gemeinsamen Vorfahren (MRCA) hängt sowohl von der

Stichprobengröße als auch der Populationsgröße ab. Die Zeit bis zum

MRCA wird in einer großen Stichprobe beziehungsweise Population

größer sein als in einer kleineren, da mehr Sequenzen zu einem ge­

meinsamen Vorfahren verschmelzen müssen. Dabei wird diese Zeit

in der Anzahl an Generationen zwischen der heutigen Population

und deren MRCA gemessen.

Werden nur die drei Individuen A, B und C aus Abbildung 27 be­

trachtet, wird deren gemeinsamer Vorfahre bereits nach zwölf Gene­

rationen gefunden. Dies gilt auch, wenn nur eine kleine Population

untersucht wird. Für acht untersuchte Individuen ist die Zeit zum

MRCA entsprechend größer. In dem dargestellten Beispiel (Abbil­

dung 27) nämlich wird der jüngste gemeinsame Vorfahre nach fünf­

zig Generationen gefunden. Dasselbe gilt für eine große Population.

Eine theoretische Überlegung aus dem Coalescent-Prozess zeigt,

dass in einer Population konstanter Größe die Zeit TMRCA bis zum

jüngsten gemeinsamen Vorfahren nach folgender Gleichung be­

rechnet wird

TMRCA = 2G (1-1/n) .

Darin ist n die Stichprobengröße und G die Populationsgröße für das

untersuchte Gen, das heißt die Anzahl der Kopien eines Gens in einer

Population. Ist die untersuchte Stichprobe nicht zu klein, vereinfacht

Abb.27: Eine mögliche Genealogie für acht Individuen

72

Page 75: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Wann lebte der jüngste Vorfahre der menschlichen Population?

73

Page 76: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Gen-Bäume in Populationen

Tabelle 4: Alter des jüngsten gemeinsamen Vorfahren (MRCA) in einer Population

mit konstanter Populationsgröße N

sich die Gleichung zu

TMSCA § 2G.

Überraschenderweise entspricht somit die Zeit bis zum jüngsten

gemeinsamen Vorfahren der doppelten Populationsgröße G für das

untersuchte Gen.

In einer Säugetier-Population der Größe N wird angenommen, dass

die Anzahl der reproduzierenden Weibchen (NW) gleich der Anzahl

der reproduzierenden Männchen (Nm) ist. Dann gilt

N = NW + Nm

und

NW = Nm = N/2.

In Tabelle 4 wird für eine solche Population zunächst die Anzahl der

untersuchten Gene im Mitochondrien-Genom, auf den Y- respektive

X-Chromosomen sowie den autosomalen Chromosomen berechnet.

Einfache Überlegungen führen zu folgenden Ergebnissen: Für die

74

Page 77: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Wann lebte der jüngste Vorfahre der menschlichen Population?

Tabelle 5: Geschätzte Zeiten zum jüngsten gemeinsamen Vorfahren (MRCA) für

unterschiedliche Genregionen des modernen Menschen

Gene auf dem Mitochondrien-Genom, die nur über die mütterlichen

Linien vererbt werden, entspricht die Populationsgröße G der Anzahl

der Weibchen in der Population (G = Nw). Für Gene auf dem Y-Chro­

mosom,das nur bei den Männchen vorkommt und zwar in einfacher

Kopie, ist die Populationsgröße G gleich der Anzahl der Männchen

(Nm) in der Population (G = Nm). Für Gene, die sich auf dem X-Chro­

mosom befinden, berechnet sich die Populationsgröße G aus der

doppelten Anzahl der Weibchen in einer Population (die zwei X-

Chromosomen besitzen) plus der Anzahl der Männchen (die nur ein

X-Chromosom tragen). Für die Populationsgröße dieser Gene gilt

dann G = 2 Nw + Nm. Für alle autosomalen Gene, die sowohl bei den

Männchen als auch bei den Weibchen in doppelter Kopie vorliegen,

berechnet sich die Populationsgröße zu G = 2 (Nw + Nm). Aus der Populationsgröße für jedes Gen lassen sich nach der obi­

gen Näherung TMRCA § 2G und der Gleichung Nw = Nm = N/2 die Zeiten

bis zum jüngsten gemeinsamen Vorfahren einer heutigen Popu­

lation angeben (Tabelle 4). Die Gene auf dem Mitochondrien-Genom

sowie die Gene auf dem Y-Chromosom werden nach N Generatio­

nen ihren jeweiligen Vorfahren finden. Die Gene auf dem X-Chromo­

75

Page 78: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Gen-Bäume in Populationen

som und die autosomalen Gene brauchen eine drei- respektive vier­

mal so lange Zeit. Sie finden ihren gemeinsamen Vorfahren erst

nach 3N respektive nach 4N Generationen. Das führt zu einem be­

deutenden Schluss: Der gemeinsame Vorfahre einer Population ist je

nach Lage der untersuchten Sequenz im Genom unterschiedlich alt.

Daraus ergibt sich die überraschende Konsequenz: Für die Gesamt­

heit der Gene einer Population gibt es keinen gemeinsamen Zeit­

punkt für das Auftreten des jüngsten gemeinsamen Vorfahren.

Obwohl diese theoretischen Vorhersagen für idealisierte Popula­

tionen entwickelt wurden, treffen sie auch bei der Analyse verschie­

dener Regionen im Genom des modernen Menschen erstaunlich gut

zu (Tabelle 5).

Daraus folgt: Die genetischen Vorfahren des modernen Menschen

haben je nach Lage des untersuchten Gens oder der untersuchten

Sequenz zu sehr unterschiedlichen Zeiten gelebt. Wir heutigen Men­

schen sind genetische Mosaiktypen, die auf ganz verschiedene Vor­

fahren zurückgehen. Die Vorstellung einer »Eva« oder eines »Adams«,

aus denen der moderne Mensch entstanden sei, ist auf genetischer

Ebene nicht zu rechtfertigen. Jeder DNA-Abschnitt hat seine eigene

»Eva« respektive seinen eigenen »Adam«. Darüber hinaus waren die

jeweiligen genetischen »Evas« und »Adams« zu ihrer Zeit auch nicht

allein, sondern stets Mitglieder einer Population. Daraus folgt, dass

die Zeitpunkte der jüngsten gemeinsamen Vorfahren nicht notwen­

digerweise mit dem Zeitpunkt der Entstehung des modernen Men­

schen korrelieren.

Demographie

Bislang wurde der Coalescent-Prozess nur in Populationen mit kon­

stanter Größe betrachtet. Wie ändert sich die Genealogie, wenn sich

die Größe der Population ändert? Wie kann die demographische Ge­

schichte aus einem Alignement erschlossen werden?

76

Page 79: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Demographie

Die Demographie einer (menschlichen) Population beschreibt ihre

»Bevölkerungsentwicklung« im Laufe der Zeit. Als illustrative Bei­

spiele unterschiedlicher Bevölkerungsentwicklung und ihr Einfluss

auf die Genealogien werden exemplarisch drei Szenarien vorgestellt,

die in Abbildung 28 zusammengefasst sind.

Abbildungen 28a und b zeigen jeweils eine typische Genealogie

für acht Sequenzen einer kleinen Population (G = 2500) und einer

viermal größeren Population (G = 10000). Von diesen Populationen

nehmen wir an, dass ihre Größe, die durch das graue Feld symboli­

siert ist, konstant bleibt. Im dritten Fall (Abbildung 28c) wächst eine

kleine ursprüngliche Population (G = 500) innerhalb von 800 Gene­

rationen auf G = 10 000 Gene. Die Population hat sich in 800 Gene­

rationen um das Zwanzigfache vergrößert, was einer Wachstumsrate

von 0,375% pro Generation entspricht. Eine solche Populationsge­

schichte wird unter dem Begriff bottleneck, »Flaschenhals«, zusam­

mengefasst. Optisch entsteht annähernd der Eindruck einer nach

unten geöffneten Flasche, wobei nur wenige Individuen in dem Fla­

schenhals lebten.

Für die konstanten Populationen (Abbildung 28a, b), die dem

Wright-Fisher-Modell entsprechen, berechnet man die Zeit zum

MRCA (Coalescent-Prozess) mit 4375 beziehungsweise 17 500 Gene­

rationen. Die zufälligen Genealogien (Abbildung 28) stimmen gut

mit den Erwartungswerten überein. Für größere Stichproben wird

sich die Zeit zum MRCA dem Wert 2G nähern.

Ändert sich die Populationsgröße im Laufe der Zeit (Flaschenhals-

Beispiel), so lässt sich die erwartete Zeit bis zum MRCA nicht mehr

berechnen. Man muss auf Computersimulationen zurückgreifen. Im

gezeigten Beispiel (Abbildung 28c) vergehen 2800 Generationen bis

zum MRCA. Die Zeit zum jüngsten gemeinsamen Vorfahren ist in der

Flaschenhals-Population viel kleiner als in den beiden konstanten

Populationen. Die Genealogie der Flaschenhals-Population, deren

Demographie seit 2000 Generationen identisch mit der großen Po­

77

S.105

Page 80: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Gen-Bäume in Populationen

S.109

pulation ist, wird also im Flaschenhals extrem verkürzt. Durch die

Verkleinerung der Populationsgröße kommt es zu einer Beschleuni­

gung des Coalescent-Prozesses, der die noch vorhandenen Linien

innerhalb kurzer Zeit (im Beispiel 800 Generationen) zusammen­

schmelzen lässt.

Wie wirkt sich die veränderte Gestalt der Genealogie auf die gene­

tische Variabilität einer Population aus? Es wird angenommen, dass

jede Substitution an einer neuen Position der Sequenz stattfindet

und dass es keine Rückmutationen gibt (infinite-sites-model). Die

grünen Balken in Abbildung 28 zeigen die Verteilung der Substitu­

tionen auf die Genealogien. Als Maß für die genetische Variabilität

einer Stichprobe wird die Verteilung der paarweisen Unterschiede

zwischen den Sequenzen und die Zahl der variablen Positionen im

Alignement herangezogen.

Zur Bestimmung der Häufigkeitsverteilung paarweiser Unter­

schiede in einer Stichprobe wird für jedes Paar von Sequenzen die

Anzahl der unterschiedlichen Positionen ausgezählt und in einem

Balkendiagramm aufgetragen. Man zählt also aus, wie viele Se­

quenzpaare identisch sind (Anzahl der Unterschiede gleich Null),

und wie viele sich an einer, zwei, drei,... Positionen unterscheiden.

Abbildung 29 zeigt die Verteilung der paarweisen Sequenzunter-

schiede für die drei Genealogien aus Abbildung 28, nämlich a) für die

kleine, konstante Population (G = 2500), b) für die große, konstante

Population (G = 10000) und c) für die Flaschenhals-Population.

Bei der kleinen, konstanten Population (a) ist die Verteilung der

paarweisen Unterschiede sehr weit gestreut. Es gibt Sequenzen, die

relativ nah verwandt miteinander sind und daher wenige Unter­

schiede haben. Andererseits gibt es auch viele Sequenzpaare, die

sechs oder mehr Unterschiede zeigen. Dies sind gerade jene Se­

quenzpaare, die ihren gemeinsamen Vorfahren vor etwa 5000 Gene­

rationen hatten. In der großen, konstanten Population (b) sieht die

Verteilung der paarweisen Unterschiede ähnlich aus, allerdings sind

78

Page 81: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Demographie

Abb.28: Der Einfluss der demographischen Geschichte auf die Genealogie. Die Ent­

wicklung der Populationsgröße wird durch die graue Fläche symbolisiert. Die Zeit

wird in Generationen gemessen.

a) Genealogie einer kleinen Population, b) Genealogie einer großen Population,

c) bottleneck-Population.

die absoluten Unterschiede zwischen den Sequenzen größer. Auch

hier gibt es eine Reihe von Sequenzen, die nah miteinander ver­

wandt sind, während die nicht näher verwandten Sequenzen bis zu

32 Unterschiede haben (vergleiche Abbildung 28b). Die Flaschen­

hals-Population (c) hat eine eingipfelige Verteilung. Das Maximum

der Verteilung liegt bei zwei bis drei Unterschieden. Die Verteilung

ähnelt der bekannten Gauß'schen Glockenkurve.

79

Page 82: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Gen-Bäume in Populationen

Offensichtlich beeinflusst die Genealogie nicht nur die Zahl der Un­

terschiede, sondern auch die Form der Distanzverteilung. Die Gene­

alogien konstanter Populationen sind gekennzeichnet durch zwei

lange Kanten oder Linien, die zum MRCA verschmelzen. Auf diesen

Linien sammeln sich viele Substitutionen an. Sequenzpaare, deren

gemeinsamer Vorfahre mit dem MRCA der gesamten Genealogie

zusammenfällt, werden also sehr viele Sequenzunterschiede tragen.

Sequenzpaare, deren gemeinsamer Vorfahre wesentlich jünger ist,

werden sich sehr ähnlich sein. Dies erklärt im Beispiel der konstan­

ten Populationen die Streuung der paarweisen Distanzen und die

irreguläre Form ihrer Verteilung.

Die Genealogie der Flaschenhals-Population hat nicht das tiefe

Verzweigungsmuster wie die Populationen mit konstanter Größe.

Nach 2000 Generationen schmilzt die Populationsgröße innerhalb

von 800 Generationen auf G = 500. Die Wartezeit zum MRCA der

Stichprobe wird extrem verkürzt, so dass die Zahl an Substitutionen

in diesem Zeitraum dramatisch reduziert ist. Im gezeigten Beispiel

finden im eigentlichen Flaschenhals keine Substitutionen statt. Die

Distanz zwischen den Sequenzen wird also im Wesentlichen durch

die Zeit bis zum Flaschenhals (ca. 2000 Generationen) bestimmt.

Dies erklärt die glockenförmige Verteilung der paarweisen Distan­

zen in einer Flaschenhals-Population.

Die Betrachtung der paarweisen Distanzverteilung einer Stichpro­

be liefert also einen anschaulichen Hinweis auf die demographische

Geschichte einer Population. Konstante Populationen haben eine ir­

reguläre Distanzverteilung und Flaschenhals-Populationen eine

glockenförmige Distanzverteilung.

Abb.29: Häufigkeitsverteilung der paarweisen Distanzen für drei Populationen

mit unterschiedlicher demographischer Geschichte: a) kleine, konstante Popula­

tion; b) große, konstante Population (beachte anderen Maßstab!); c) Flaschenhals-

Population; die Sequenzen sind Abbildung 28 entnommen, die Zahlen an den Pfei­

len geben die mittlere Anzahl der paarweisen Unterschiede an.

80

Page 83: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Demographie

81

Page 84: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Gen-Bäume in Populationen

Abb. 30: Gen-Baum der Menschenaffen. Das auf dem X-Chromosom gelegene Gen

Xq13 wurde in 70 Menschen, 30 Schimpansen, 11 Gorillas und 14 Orang-Utans

untersucht.

Um die anschauliche Deutung statistisch abzusichern, sind eine Rei­

he von Tests entwickelt worden. Dazu berechnet man zunächst die

mittlere Zahl an paarweisen Unterschieden. Die Sequenzen der zwei

konstanten Populationen unterscheiden sich im Mittel an 4,9 Posi­

tionen in der kleinen Population und 17,7 Positionen in der großen Po­

pulation. Hingegen beträgt der mittlere Unterschied zwischen den

Sequenzen der Flaschenhals-Population 2,9 Positionen. Nun liefert

der Mittelwert allein keinen Hinweis auf die Demographie, da die 2,9

unterschiedlichen Positionen auch mit einer kleinen Populationsgrö­

ße erklärt werden können (Genetische Variabilität einer Population).

Die mittleren paarweisen Distanzen einer Stichprobe müssen also

mit einem weiteren Maß für genetische Variabilität verglichen wer­

den. Hier bietet sich die Zahl an variablen Positionen Sn im Aligne­

ment an, die im infinite-sites-model gleich der Anzahl der stattge­

fundenen Substitutionen (grüne Balken in Abbildung 28) ist. klein groß bottleneck Im Beispiel findet man S8 = 13, S8 = 38 und s8 = 10. Die

kleine Population hat annähernd ein Drittel der genetischen Variabi­

lität der großen Population. Theoretisch erwartet man viermal mehr

variable Positionen in der großen Population. Da es sich beim Coales­

S.109

82

Page 85: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Demographie

Abb.31: Zwei Hypothesen zur Evolution des modernen Menschen Homo sapiens.

cent- und beim Substitutions-Prozess um Zufallsereignisse handelt,

sind Abweichungen von den erwarteten Werten wahrscheinlich.

Die Flaschenhals-Population hat mit zehn Substitutionen bezie­

hungsweise variablen Positionen nur ein Viertel der genetischen

Variabilität der großen, konstanten Population. Im Vergleich zur klei­

nen Population hat die sprunghaft gewachsene Population nur et­

was weniger variable Positionen. Wenn die Demographie der Fla­

schenhals-Population unbekannt ist, würde man aufgrund der zehn

variablen Positionen folgern, dass die Flaschenhals-Population eine

ähnliche Populationsgeschichte wie die kleine Population hat; ange­

sichts der heutigen Populationsgröße von G = 10000 ein erstaunli­

ches Ergebnis.

Die Zahl der variablen Positionen allein gibt also ebenso wie die

mittlere paarweise Distanz keine Information über die demographi­

sche Entwicklung einer Population. Die geringe Zahl an variablen

Positionen kann auch mit einer kleinen Populationsgröße erklärt

83

Page 86: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Gen-Bäume in Populationen

werden. Nur der Vergleich zwischen den mittleren paarweisen Dis­

tanzen und der Anzahl der variablen Positionen liefert einen Test, der

die demographische Geschichte einer Population aufdeckt und so­

mit eine statistisch fundierte Aussage über die Demographie er­

laubt. Dieser Test basiert auf der Tatsache, dass sich aus der mittle­

ren paarweisen Distanz und der Anzahl an variablen Positionen die

Populationsgröße einer konstanten Population bestimmen lässt.

Weichen die beiden geschätzten Populationsgrößen signifikant von­

einander ab, so kann die Populationsgröße nicht konstant geblieben

sein.

Da sowohl die mittlere Distanz als auch die Zahl der variablen Posi­

tionen in einem Sequenzalignement leicht zu bestimmen sind, er­

staunt es nicht, dass die Aufdeckung der demographischen Ge­

schichte mittels Sequenzstichproben aus einer Population weite

Verbreitung gefunden hat. Zumal in jüngster Vergangenheit die

Analysemethoden wesentlich genauer geworden sind als die hier

vorgestellte, sehr einfache Methode.

Mit diesem Ansatz wurde in den letzten Jahren insbesondere die

Populationsgeschichte des modernen Menschen genauer unter­

sucht. Bei der vergleichenden Analyse der genetischen Variabilität

des modernen Menschen und seines nächsten Verwandten, dem

Schimpansen, zeigte sich überraschenderweise, dass die genetische

Variabilität der Schimpansen rund viermal größer ist als die des

Menschen. Bedenkt man, dass der moderne Mensch weltweit ver­

breitet ist und mit sechs Milliarden Menschen eine im Vergleich zum

Schimpansen gigantische Populationsgröße hat, liegt die Erklärung

nahe, dass der Mensch in seiner jüngsten Vergangenheit gewaltig

angewachsen ist. Dieses Wachstum hat vor ungefähr 100 000 ­

200 000 Jahren begonnen. Abbildung 30 zeigt den Gen-Baum für

den Menschen und die drei nächstverwandten Menschenaffen. Er

basiert auf Sequenzen des Xq13-Gens, das auf dem X-Chromosom

liegt. An der Verzweigungstiefe innerhalb der vier untersuchten Ar­

84

Page 87: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Wo kommen wir her?

Abb.32: Schematische Illustration des geographischen Ursprungs der modernen

Menschen. Die Sequenzen von sechs Afrikanern (A1 bis A6) stehen basal zu den

vier nicht-afrikanischen Sequenzen (E7 bis E10), die von Eurasiern und Amerika­

nern stammen.

ten zeigt sich, dass der Mensch mit seinem relativen Alter von ca. 0,5

Millionen Jahren sowohl der jüngste Vertreter der untersuchten Ar­

ten ist als auch die geringste genetische Vielfalt trägt. Die Menschen

haben sich also als letzte Form der großen Menschenaffen etabliert

und wir sind alle miteinander näher verwandt, als das für die einzel­

nen Populationen der Schimpansen, Gorillas oder Orang-Utans der

Fall ist.

Wo kommen wir her?

Die geographische Herkunft der modernen Menschen ist noch

immer ein Rätsel, was vor allem an der Lückenhaftigkeit der Fossil­

85

Page 88: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Gen-Bäume in Populationen

funde liegt. Dass die Wiege der Hominiden, das heißt alle heutigen

Menschen zusammen mit den ausgestorbenen Vor- und Frühmen­

schen, in Afrika steht, ist mittlerweile unumstritten. Bezüglich der

weiteren Besiedlung und Ausbreitung des modernen Menschen ste­

hen sich zwei Hypothesen gegenüber, nämlich das Multiregionale

Modell und das Arche-Noah-Modell (Abbildung 31).

Nach dem Multiregionalen Modell entstand die geographische

Vielfalt der heutigen Menschen schon vor ein bis zwei Millionen Jah­

ren, als sich Homo erectus von Afrika aus über die anderen Kontinente

ausbreitete. Die charakteristischen Merkmalsunterschiede zwi­

schen den heutigen Großgruppen wie Afrikaner, Asiaten oder

Europäer haben sich demnach in einem sehr langen Zeitraum in den

entsprechenden Regionen herausgebildet. Die genetische Ähnlich­

keit aller modernen Menschen wird damit erklärt, dass durch Kreu­

zungen zwischen benachbarten Populationen ein anhaltender Gen­

fluss durch das gesamte geographische Verbreitungsgebiet des

Menschen entstand.

Im Arche-Noah-Modell wird davon ausgegangen, dass sich nur

eine kleine Population des Homo erectus in Afrika zum Homo sapiens entwickelte. Nur diese Homo-sapiens-Population verließ vor etwa

100000 bis 200000 Jahren Afrika und besiedelte nachfolgend die

gesamte Welt. Alle Nachfahren des Homo erectus, einschließlich des

in Mitteleuropa lebenden Neandertalers, starben aus, ohne zum

Genpool der heutigen Menschen beizutragen. Nach dieser Hypothe­

se, die auch Out-of-Africa-Modell genannt wird, sind die heutigen

Menschen viel näher verwandt, als nach dem Multiregionalen Mo­

dell angenommen werden muss.

Die Molekulargenetik hat sich ebenfalls der Frage angenommen,

wo der geographische Ursprung des modernen Menschen liegt.

Dazu wurden bisher Hunderte von mitochondrialen DNA-Sequen­

zen nahezu aller Volksgruppen analysiert. Sämtliche Untersuchun­

gen stützen das Arche-Noah-Modell. In Abbildung 32 wurden zufäl­

86

Page 89: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Die Zukunft

lig zehn Sequenzen von heutigen Menschen herausgegriffen. Sechs

von ihnen (A1 bis A6) stammen aus Afrika, die restlichen vier (E7 bis

E10) aus Eurasien und Amerika. Der Gen-Baum wurde mit der Se­

quenz des Schimpansen gewurzelt.

Wie lässt sich dieser Baum bezüglich des geographischen Ur­

sprungs der heutigen Menschheit interpretieren? In Afrika gibt es

zum einen die Sequenzen A1, A2 und A3, die im Gen-Baum basal ste­

hen und nicht näher mit den verbleibenden Sequenzen A4, A5 und

A6 verwandt sind. Diese letzen drei afrikanischen Sequenzen sind

näher mit den eurasischen und amerikanischen Sequenzen E7 bis

E10 verwandt als mit den afrikanischen Sequenzen Ai bis A3. Daraus

folgt, die sechs afrikanischen Sequenzen sind nicht monophyletisch.

Die sparsamste Erklärung für den dargestellten Baum nach dem Par-

simonie-Prinzip ist ein geographischer Ursprung der zehn zufällig

ausgewählten Menschen in Afrika. Das legt den Schluss nahe, dass

der moderne Mensch vor etwa 100000 bis 200000 Jahren in Afrika

entstanden ist und sich anschließend über die ganze Welt verbreitet

hat. Dieses Modell wird auch dadurch erhärtet, dass sich das grund­

sätzliche Verzweigungsmuster des Gen-Baums auch dann nicht

ändert, wenn außer den bisherigen zehn Sequenzen weitere mito­

chondriale DNA-Sequenzen hinzugezogen oder zusätzlich Genregio­

nen des X- respektive Y-Chromosoms analysiert werden.

7 DIE ZUKUNFT

Mit der Ansammlung molekulargenetischer Daten erlebt die Rekon­

struktion der Stammesgeschichte einen Aufschwung, der weit über

die klassische Phylogenie als Wissenschaft von der Klassifikation des

Lebenden hinausgeht. Sequenzdaten werden auch in Zukunft eine

bedeutende Rolle bei der Aufklärung der verwandtschaftlichen Be­

ziehungen zwischen den Organismen spielen und dabei die Daten

87

Page 90: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Die Zukunft

aus der Morphologie, Ontologie, Ethologie und geographischer Ver­

breitung der Taxa ergänzen.

Die Erkenntnis, dass Gen-Bäume die Phylogenie der Organismen

widerspiegeln, hat in den 70er Jahren zur Rekonstruktion des univer­

sellen Baums des Lebens geführt (siehe Abbildung auf der letzten

Seite). Von besonderem Interesse sind dabei die basalen Verzwei­

gungsmuster zwischen den drei großen Reichen des Lebens. Im Ein­

zelnen sind dies die Archaebakterien, die sehr ursprüngliche (grie­

chisch arche = Anfang) Bakterien sind und an extremen Standorten

wie Salzseen oder heißen Quellen vorkommen. Weiterhin die echten

Bakterien (Eubakterien), aus denen sich zum Beispiel die Darmflora

zusammensetzt, und die Eukaryoten. Letztere sind Organismen, die

einen echten Zellkern enthalten und zu denen unter anderem die

Pflanzen, Pilze, Tiere und wir Menschen gehören.

Der auf der letzten Seite abgebildete Baum beruht auf der Analyse

eines einzigen Moleküls, nämlich der kleinen Untereinheit der ribo­

somalen RNA (small subunit ribosomal RNA, abgekürzt SSU rRNA).

Dieses Molekül kommt in allen Organismen vor und evolviert sehr

langsam. Die Sequenzen lassen sich daher auch noch zwischen so

unterschiedlichen Gruppen wie Bakterien und Säugetieren alignie­

ren. Die universelle Phylogenie spiegelt die Unterteilung in die drei

großen Reiche Archaebakterien, Eubakterien und Eukaryoten wider.

Diese Dreiteilung wird auch durch andere biochemische Befunde

gestützt. Außerdem wurde die Endosymbinontentheorie bestätigt.

Diese Theorie geht davon aus, dass die Mitochondrien und Chloro­

plasten der heutigen Eukaryoten einst eigenständige kleine, bakte­

rienähnliche Zellen waren. Sie wurden in einem frühen Stadium der

Evolution von den Vorläufern der Eukaryoten aufgenommen. In der

universellen Phylogenie sind Bakterien (zum Beispiel Agrobacterium tumefaciens und Escherichia coli) die nächsten Verwandten der Mito­

chondrien, die mit Hilfe von Sauerstoff aus organischer Nahrung

Energie gewinnen. Die Chloroplasten sind aller Wahrscheinlichkeit

88

Page 91: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Die Zukunft

nach aus Blaualgen (Cyanobakterien) hervorgegangen, die ihrerseits

Photosynthese betreiben, das heißt Strahlungsenergie des Sonnen­

lichts in chemisch gebundene Energie umwandeln.

Der anfängliche Optimismus, mit der kleinen Untereinheit der ri­

bosomalen RNA über ein universelles Werkzeug zur phylogeneti­

schen Rekonstruktion zu verfügen, wurde im Laufe der Jahre er­

schüttert. Verschiedene Gene führen nicht notwendigerweise zu

den gleichen Bäumen. Selbst wenn zufällige Effekte bei der Erhebung

der Daten vernachlässigt werden, ist die Idee von einem universellen

Baum des Lebens (tree of life) in der naiven Form, nach der alle heu­

tigen Lebewesen auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgehen,

so nicht haltbar.

Die Evolution einzelner Gene lässt sich in den meisten Fällen mit

einem phylogenetischen Baum beschreiben, im Extremfall hat aber

jedes Gen seinen eigenen Baum. Zusätzliche Effekte wie Gendupli­

kationen, unvollständiges Aussortieren der Linien (lineage sorting) oder horizontaler Gentransferführen dazu, dass es zu einem Spezies-

Baum oft viele Gen-Bäume gibt. Eine spannende Frage bleibt, wie

sich aus einer Kollektion verschiedener Gen-Bäume ein allgemein­

gültiger »Speziationsbaum« rekonstruieren lässt.

Eine weitere Besonderheit kennzeichnet die Evolution der Bakte­

rien. Während Eukaryoten hauptsächlich durch Veränderung ihrer

vorhandenen genomischen Information evolvieren, haben Bakterien

anscheinend einen großen Teil ihrer genetischen Diversität durch

Einverleibung von DNA-Abschnitten verwandtschaftlich weit ent­

fernter Organismen erworben. Dieses Phänomen bezeichnet man

als horizontalen Gentransfer. Durch die Sequenzierung ganzer Geno­

me ist offensichtlich geworden, dass Genduplikation und horizonta­

ler Gentransfer wesentliche Motoren der bakteriellen Evolution sind.

Die zur Verfügung stehenden Daten deuten darauf hin, dass kein

Organismus immun ist gegen horizontalen Gentransfer. Dabei wer­

den Gene, die eine zentrale Rolle im Stoffwechsel spielen, oder Gene,

89

Page 92: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Die Zukunft

die vollständige biochemische Stoffwechselwege kodieren, aber

auch Teile der Transkriptions- und Translationsmaschinerie und so­

gar ribosomale Proteine und ribosomale RNA von einem Organis­

mus in einen phylogenetisch weit entfernten Organismus transfe­

riert. Hier müssen neuartige Methoden in der molekularen Evolution

entwickelt werden, um die komplexe Dynamik des Evolutionsge­

schehens besser zu verstehen.

Der universelle Baum des Lebens wird sicher eines Tages durch ein

Netzwerk ersetzt werden, in dem die vielfältigen Transferereignisse

auf molekularem Niveau besser dargestellt werden als indem stren­

gen, dichotomen Baum, der auf der letzten Seite abgebildet ist. Erste

Schritte zu solchen Analysen wurden unternommen, aber der »Baum

des Lebens« wird eines der ganz spannenden Felder zukünftiger For­

schung bleiben.

Auch mit der Sequenzierung ganzer Genome werden neue Her­

ausforderungen an die molekulare Evolutionstheorie gestellt. Bis­

lang wurde hauptsächlich die Evolution einzelner Gene untersucht.

Ganze Genome erfordern die Analyse einer heterogenen Sammlung

von DNA-Sequenzen, die aus kodierenden und nicht-kodierenden

Genen, repetitiver DNA, regulatorischen Sequenzen (siehe Abbil­

dung 3) usw. besteht. Unser mikroskopischer Blick auf einzelne Gene

wird durch die Betrachtung ganzer Genome enorm erweitert. Neue

Fragen sind dabei beispielsweise, ob die Evolution in verschiedenen

Teilen des Genoms, zum Beispiel auf unterschiedlichen Chromoso­

men, verschieden abläuft und falls ja, warum?

Die Analyse solcher Fragen erfordert die Entwicklung neuer Algo­

rithmen. Das Alignement ganzer genomischer Sequenzbereiche wird

rechentechnisch aufwändiger, da die Sequenzen länger und hetero­

gener sind und Inversionen und Translokationen das Bild zusätzlich

verkomplizieren. Neue effiziente Algorithmen sowie eine erweiterte

Theorie der molekularen Evolution müssen entwickelt werden und

werden derzeit auch intensiv bearbeitet.

90

Page 93: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Molekulare Techniken

VERTIEFUNGEN

Molekulare Techniken

Das mittlerweile sehr umfangreiche Wissen über die Struktur und

Evolution von Genen und DNA- beziehungsweise RNA-Sequenzen

geht einher mit den rasanten technischen Entwicklungen auf dem

Gebiet der Molekularbiologie. Aus jedem Organismus kann im Labor

die gesamte DNA beziehungsweise RNA isoliert und analysiert wer­

den. Fast alle gentechnischen Anwendungen beruhen auf der Kennt­

nis der genauen Abfolge der Nukleotide (Nukleotidsequenzen) in

den Organismen. Für eine solche Sequenzanalyse reicht ein einziges

DNA-Molekül nicht aus, dafür sind einige tausend Kopien des DNA-

Moleküls erforderlich. Stehen nur wenige DNA-Moleküle zur Verfü­

gung, müssen diese zunächst vervielfältigt werden. Handelt es sich

dabei um einen relativ großen DNA-Abschnitt, nutzt man das ver­

hältnismäßig aufwändige und langwierige Klonieren. Kleinere DNA-

Abschnitte können mit Hilfe der Polymerase-Kettenreaktion (PCR) in

relativ kurzer Zeit millionenfach kopiert werden.

Bei vielen molekularen Techniken werden - wie bei den Stoffwech­

selvorgängen im lebenden Organismus - spezielle Enzyme (gekenn­

zeichnet durch die Endung -ase) verwendet, wobei es für jedes Ver­

fahren ein Temperaturoptimum gibt. Grundlegende Operationen in

der Molekularbiologie sind:

• Isolieren der DNA aus einem Organismus,

• Trennen eines DNA-Strangs in zwei Einzelstränge,

• Vervielfältigen eines DNA-Abschnittes mit Polymerasen,

• Ausschneiden von DNA-Fragmenten mit Endonucleasen,

• Verbinden zweier DNA-Moleküle mit Hilfe von DNA-Ligasen,

• Übertragen von DNA-Molekülen in Bakterienzellen,

91

91

Page 94: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Molekulare Techniken

92 • Zerschneiden von DNA-Strängen mit Restriktionsenzymen,

• Auftrennen von DNA-Fragmenten durch Gel-Elektrophorese,

• Bestimmen der DNA-Sequenz mit Hilfe einer Sequenziermaschine.

Das Klonieren dient der Vervielfältigung großer DNA-Abschnitte. Die

hierzu erforderlichen Arbeitsschritte sind in Abbildung 33 schema­

tisch dargestellt. Im ersten Schritt zerschneiden Restriktionsenzyme

die DNA an spezifischen, nur wenige Nukleotide langen Erkennungs­

sequenzen. Das Alul-Enzym erkennt zum Beispiel die Sequenz AGCT,

das EcoRI-Enzym die Sequenz GAATTC. Die resultierenden DNA-Frag­

mente sind bis zu 50000 Basenpaare lang.

Anschließend werden die zahlreichen DNA-Fragmente getrennt.

Dazu sind Überträger-Moleküle (Vektoren) notwendig, die ebenfalls

aus DNA bestehen. Die gebräuchlichsten Vektoren sind Plasmide.

Hierbei handelt es sich um kleine ringförmige DNA-Moleküle, die

aus dem Zellplasma von Bakterien oder Hefen isoliert werden. Die zu

trennenden DNA-Fragmente werden in die Plasmide eingebaut.

Dazu werden die ringförmigen Bakterien-Plasmide aufgeschnitten,

um die fremden DNA-Abschnitte in die ursprüngliche Plasmid-DNA

einzubinden. Dieser Schritt heißt Ligation. Das so entstandene

Hybrid-Molekül wird anschließend in eine lebende Bakterienzelle

eingeschleust. Dieser Umwandlungsprozess der Bakterienzelle heißt

Transformation. Die Bakterienzelle enthält nun zusätzlich zu ihrer

eigenen Bakterien-DNA das fremde DNA-Hybrid-Molekül. Die Trans­

formation ist der entscheidende Schritt im Trennungsvorgang der

ursprünglichen DNA-Fragmente, da jede Bakterienzelle nur ein Hyb­

rid-Molekül aufnimmt und somit die Fragmente in den Bakterien­

zellen räumlich voneinander getrennt werden.

In einem weiteren Schritt, der eigentlichen Klonierung, wird je­

weils eine transformierte Bakterienzelle auf einer Nährst off platte

angezüchtet, wobei sich die Bakterien durch Zellteilung sehr schnell

vermehren. Bei diesem Prozess entstehen zahlreiche identische Ko­

92

Page 95: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Molekulare Techniken

pien der Bakterienzelle: die Klone. Die in den Bakterienzellen enthal­

tenen DNA-Hybrid-Moleküle werden auf diesem Wege ebenfalls ver­

vielfältigt. Zur weiteren Untersuchung werden die Hybrid-Moleküle

aus den Bakterienzellen isoliert. Schließlich werden aus der riesigen

Anzahl der DNA-Hybrid-Moleküle die ursprünglichen DNA-Fragmen­

te wieder freigesetzt, die nun in genügender Anzahl für weiterfüh­

rende Forschungen zur Verfügung stehen.

Da sich transformierte Bakterienzellen problemlos züchten und

lagern lassen, stehen jederzeit beliebige Mengen eines gewünsch­

ten DNA-Fragments zur Verfügung. Eine solche Sammlung von DNA-

Fragmenten eines Genoms wird Genombibliothek genannt.

Eine schnellere und vielseitigere Möglichkeit zur Vervielfältigung

kleinster Mengen spezifischer DNA-Abschnitte ist die Polymerase-

Kettenreaktion (PCR). Die PCR hat die Molekularbiologie in zweifa­

cher Weise grundlegend revolutioniert: Zum einen lassen sich DNA-

Fragmente im Reagenzglas vervielfältigen. Der aufwändige Umweg

über die Einschleusung in lebende Bakterienzellen entfällt. Zum an­

deren sind nur winzige Mengen an Ausgangs-DNA notwendig.

Kleinste Reste von Hautschuppen, Haaren oder Blut reichen aus, um

genügende Mengen an neu synthetisierter DNA zu gewinnen.

Das Prinzip der PCR ist die Vervielfältigung eines DNA-Abschnittes

mit Hilfe der DNA-Polymerase. Dieses Enzym synthetisiert DNA. Im

lebenden Organismus ist es unter anderem für die Reparatur und die

Vervielfältigung der DNA bei der Zellteilung verantwortlich.

Bei der PCR wird selektiv ein DNA-Abschnitt vervielfältigt. Eine

zwingende Voraussetzung für die Anwendung der PCR ist die Kennt­

nis über die Abfolge der Nukleotide in den beiden Randzonen des

DNA-Abschnitts. Vor der PCR werden für diese zwei Regionen die

dazu passenden komplementären Basen als Startermoleküle syn­

thetisch hergestellt. Diese kurzen Nukleotid-Moleküle heißen Primer.

Sie sind etwa zwanzig Basenpaare lang und lagern sich während der

PCR an die Randzonen an. Dies geschieht allerdings nur, wenn der

93

93

Page 96: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Molekulare Techniken

94

94

Page 97: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Molekulare Techniken

DNA-Doppelstrang zuvor in die beiden Einzelstränge aufgetrennt wurde. Die PCR umfasst somit drei Schritte (Abbildung 34):

(1) Denaturierung des DNA-Abschnitts in zwei Einzelstränge,

(2) Anlagerung von zwei Startermolekülen (Primer) an die

Randzonen und

(3) DNA-Synthese der komplementären Stränge zu neuen

vollständigen Doppelsträngen dieses DNA-Abschnitts.

Jeder Arbeitsschritt der PCR erfordert eine andere Temperatur. Die

Steuerung der Temperatur übernimmt ein Wärmebad oderThermo­

cycler. Dieses Gerät reguliert außer der Temperatur auch die Zeit­

dauer der einzelnen Schritte und die Anzahl der Wiederholungen.

Der »PCR-Cocktail«, in dem die Reaktionen stattfinden, enthält die

Ausgangs-DNA, die zwei zuvor synthetisch hergestellten Primer, die

DNA-Polymerase sowie die vier DNA-Bausteine A, G, C und T.

Im Thermocycler wird das Reaktionsgemisch einem dreistufigen

Temperaturregime unterworfen. Für die Denaturierung der DNA ist

eine Temperatur von 94°C erforderlich. Erst dann lösen sich die Was­

serstoffbrückenbindungen zwischen den Doppelsträngen der Aus-

gangs-DNA auf. Es bilden sich Einzelstränge. Nach dem Abkühlen

auf Temperaturen von 5O-55°C lagern sich die zwei Primer an die

Bindungsstellen in den Randzonen an. Dann synthetisiert das Enzym

DNA-Polymerase den jeweils komplementären DNA-Strang. Da sich

stets nur die Nukleotide Cytosin und Thymin sowie Guanin und Ade­

nin verbinden, dienen die zwei getrennten DNA-Stränge als Matrizen

für die Bildung von zwei neuen, vollständigen DNA-Strängen.

Das Temperaturoptimum dieser Reaktion liegt bei 68°C.

Aufgrund der hohen Temperaturen benötigt die PCR hitzestabile

Enzyme. Die DNA-Polymerase wird aus Bakterien isoliert, die in hei­

ßen Quellen leben. Diese Enzyme verfügen über spezielle Schutzme­

Abb.33: Die wichtigsten Schritte beim Klonieren

95

95

Page 98: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Molekulare Techniken

96

Abb.34: Prinzip der Polymerase-Kettenreaktion (PCR)

chanismen, so dass sie auch bei extremen Temperaturen noch aktiv

sind. Das am häufigsten verwendete Enzym ist die Taq-Polymerase.

Diese Bezeichnung leitet sich vom Namen des Bakteriums ab, das

Thermus aquaticus heißt.

Der Zyklus aus Denaturierung, Primeranlagerung und DNA-Syn­

these wird 25-40 Mal wiederholt. Alle neu synthetisierten DNA-

Fragmente stehen den nachfolgenden Vermehrungszyklen wieder

als Ausgangs-DNA zur Verfügung. Dies erklärt den exponentiellen

Zuwachs an DNA und den Namen »Kettenreaktion«. Bei optimalen

Bedingungen werden in einer PCR-Reaktion theoretisch nach 25 Wie­

96

Page 99: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Molekulare Techniken

derholungen 225 Kopien eines gewünschten DNA-Fragments synthe­

tisiert. In Wirklichkeit sind es »nur« 105 bis 106 Kopien. Daher reichen

selbst kleinste Ausgangsmengen an DNA, im Extremfall nur ein ein­

ziges DNA-Fragment, um genügende Mengen an DNA-Kopien für

die weitere Analyse zu synthetisieren. Als Vervielfältigungsmethode

erreicht die PCR ihre Grenzen dann, wenn die Länge der DNA-Ab­

schnitte 5000 bis 8000 Basenpaare überschreitet. Sie ist also nur für

die Vermehrung relativ kurzer DNA-Abschnitte geeignet.

Bei der DNA-Sequenzierung wird die genaue Abfolge der Nukleoti­

de entlang eines DNA-Strangs bestimmt. Hierfür gibt es verschiede­

ne Verfahren. Heute wird meist die Kettenabbruch-Methode ange­

wandt, die Frederick Sanger und Kollegen in den 1970er Jahren

entwickelten. Das Grundprinzip ist die enzymatische Synthetisie­

rung eines DNA-Strangs und erinnert in seinen Grundzügen an die

Polymerase-Kettenreaktion (PCR). Auch bei der DNA-Sequenzierung

werden die drei Schritte (1) Denaturierung, (2) Primeranlagerung und

(3) DNA-Synthese durchlaufen. Das Raffinierte an der Methode nach

Sanger ist der gezielte Einsatz von vier »Stopp-Nukleotiden« (Dide­

soxynukleotide). Ihnen fehlt eine OH-Gruppe am Zuckerrest. Die

Stopp-Nukleotide werden zwar von der Polymerase noch an der zu­

gehörigen Stelle in den neu synthetisierten DNA-Strang eingebaut,

aber die Synthese bricht danach ab. So erklärt sich auch der Name

Kettenabbruch-Methode. Für die spätere Entschlüsselung der DNA-

Sequenz gibt es unterschiedliche Markierungssysteme für die

Stopp-Nukleotide. So kann etwa an jedes der vier Stopp-Nukleotide

ein jeweils anderer Fluoreszenz-Farbstoff gebunden werden.

Ein weiterer Unterschied zur Polymerase-Kettenreaktion besteht

darin, dass nur ein Primer, nämlich der Sequenzier-Primer, verwendet

wird. Bei der PCR dienen beide Einzelstränge als Matrizen für die neu

synthetisierte DNA. Bei der DNA-Sequenzierung lagert sich der

Sequenzier-Primer nur an einen der beiden DNA-Stränge an, der

damit als Matrize für die Neusynthese dient. Der zweite Strang wird

97

97

Page 100: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Molekulare Techniken

98 nicht analysiert. Die Sequenzierung der DNA verläuft daher aus­

schließlich in eine Richtung.

Damit enthält der »Sequenzier-Cocktail« bei der Kettenabbruch-

Methode die zu sequenzierende DNA, einen Sequenzier-Primer (P),

das Enzym Polymerase, die vier DNA-Bausteine A, G, C und T sowie ­

in geringer Konzentration - die vier farbig markierten Stopp-Nukleo­

tide.Wie bei der PCR wird dieses Gemisch im Thermocycler nachein­

ander drei unterschiedlichen Reaktionsbedingungen ausgesetzt.

Nach der Denaturierung lagert sich der Sequenzier-Primer (P) an

einen der beiden DNA-Stränge an. Im dritten Schritt wird der kom­

plementäre DNA-Strang synthetisiert. Die DNA-Synthese endet,

wenn ein Stopp-Nukleotid eingebaut wird. Bei 25 bis 35 Wiederho­

lungszyklen darf davon ausgegangen werden, dass sich an jedes Nu­

kleotid der Ausgangs-DNA ein passendes Stopp-Nukleotid anlagert.

Dadurch entstehen aus den ursprünglichen, gleich langen DNA-

Strängen zahlreiche neue DNA-Fragmente unterschiedlicher Länge.

Ein kleines Beispiel soll das Prinzip der Kettenabbruch-Methode

veranschaulichen: Gegeben sei der zu analysierende DNA-Strang

TAGGTACT. Im Ergebnis der DNA-Sequenzierung entstehen die acht

verschieden langen, jeweils neu synthetisierten DNA-Fragmente T,

TA, TAG, TAGG, TAGGT, TAGGTA, TAGGTAC und TAGGTACT, die jeweils

an den Sequenzier-Primer (P) gebunden sind. Die Länge der verschie­

denen DNA-Fragmente lässt sich mit Hilfe der Gel-Elektrophorese

bestimmen. Abbildung 35a zeigt das Gemisch aus den acht verschie­

den langen DNA-Fragmenten. Dieses Gemisch wird in Abbildung 35b

auf ein Sequenzier-Gel gegeben. Zum Auftragen der Probe enthält

der obere Rand des Gels Vertiefungen oder Kerben. Am unteren Rand

des Gels befindet sich der Laser, der die Farbmarkierungen erkennt

und diese Signale über einen Detektor an den Computer weiterlei­

tet. Für das Auftrennen der unterschiedlich langen DNA-Fragmente

entsprechend ihrer Masse nutzt man die Bewegung elektrisch gela­

dener Körper in einem elektrischen Feld. Dazu wird an das Gel eine

98

Page 101: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Molekulare Techniken

99

Abb.35: Auftrennung von DNA-Fragmenten in einem Sequenzier-Gel.

a) Gemisch von unterschiedlich langen DNA-Fragmenten nach der DNA-Sequen­

zierung; P kennzeichnet den Sequenzier-Primer, die vier Stopp-Nukleotide sind far­

big markiert.

b) Auftragen der Probe auf das Sequenzier-Gel.

c) Trennung der DNA-Fragmente im elektrischen Feld und Signalempfang durch

einen Laser.

Spannung angelegt (Abbildung 35c). Da die DNA negativ geladen ist,

bewegen sich alle DNA-Fragmente von der Kathode (-) zur Anode

(+), nur verschieden schnell. Die kurzen und damit leichteren Frag­

mente wandern am schnellsten, während die längeren und somit

schwereren Fragmente entsprechend langsamer sind. Daher erfolgt

im elektrischen Feld das Sortieren der zahlreichen, unterschiedlich

langen DNA-Fragmente nach ihrer jeweiligen Länge. Die kürzesten

99

Page 102: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Genetische Drift

100 Fragmente (P-T, P-TA, P-TAC.) kommen zuerst am Laser an, die län­

geren Fragmente später.

Der Laser regt die vier verschiedenen Fluoreszenz-Farbstoffe an, die

an die jeweiligen Stopp-Nukleotide gebunden sind. Die vier unter­

schiedlichen Lichtimpulse werden von der Sequenziermaschine auto­

matisch registriert und in die Sequenz-Datei des zu analysierenden

DNA-Strangs umgeschrieben. Pro Durchlauf lassen sich DNA-Frag­

mente mit einer Länge von 600 bis 800 Basenpaaren analysieren.

Genetische Drift

Die Idee der genetischen Drift ist einer der Grundbausteine für die

Theorie der neutralen Evolution. Sie verdient es, genauer erläutert zu

werden. In einer Population existiert ein Gen typischerweise in ver­

schiedenen Versionen (so genannte Allele), die sich in ihrer DNA-

Sequenz unterscheiden. In Abwesenheit anderer evolutionär wirksa­

mer Faktoren wie Selektion, Mutation und Migration erwartet man,

dass die Allelfrequenzen in jeder Generation gleich sind. Da Popula­

tionen eine endliche Größe haben, kommt es bei der Weitergabe der

Allele einer Elterngeneration an ihre Nachkommen zu zufälligen Än­

derungen der Allelfrequenzen. Einige Individuen werden keine Nach­

kommen haben, ihre Allele sterben aus. Andere Individuen haben

mehrere Nachkommen, die entsprechenden Allele werden in der

nächsten Generation häufiger vertreten sein. Daraus ergeben sich

Schwankungen in der Nachkommenzahl pro Individuum, die zwi­

schen den jeweiligen Generationen zu unterschiedlichen Allelfre­

quenzen führen.

Dieser Zufallsprozess heißt (zufällige) genetische Drift. Er wurde

von Sewall Wright (1889-1988) beschrieben, einem der Urväter der

theoretischen Populationsgenetik. Zufällige Schwankungen in den

Allelfrequenzen führen dazu, dass letztendlich nur ein Allel in der

Population fixiert wird. Die Population verliert durch Drift ihre gene­

100

Page 103: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Die neutrale Theorie der Molekularen Evolution

tische Variabilität. In einer kleinen Population geschieht dies schnel­

ler als in einer sehr großen Population.

Die neutrale Theorie der Molekularen Evolution

Motoo Kimura (1924-1994) formulierte 1968 die neutrale Theorie

der Molekularen Evolution, um das Ausmaß an Variabilität in einer

Population auf molekularem Niveau zu erklären. Die Theorie besagt,

dass der Großteil der Substitutionen neutral sind, das heißt sie

haben keinen Einfluss auf die Anzahl der Nachkommen des betrof­

fenen Individuums.

Das heißt aber nicht, dass es keine Selektion gibt. Kimura postu­

lierte lediglich, dass die Mehrzahl der Basenaustausche auf moleku­

larem Niveau nicht adaptiv, das heißt für das Individuum nicht vor­

teilhaft sind. Finden solche vorteilhaften Mutationen statt, dann

führt dies zu einer besseren Anpassung an die herrschenden Um­

weltbedingungen, und die Nachkommen dieser Individuen verbrei­

ten sich schneller durch die Population (so genannte positive oder

Darwinsche Selektion). Diese seltenen Mutationen wurden von Ki­

mura nicht weiter untersucht. Auch schädliche (deleterious) Muta­

tionen wurden von Kimura nicht betrachtet, da sie schnell aus der

Population verschwinden. Individuen, die schädliche Mutationen

tragen, sterben entweder sehr schnell oder haben keine respektive

schlecht angepasste Nachkommen. Diese Form der Selektion heißt

in der Fachsprache negative oder reinigende Selektion (purifying selection). Schädliche Mutationen sind für die Mehrzahl der Veränderungen im

Genom verantwortlich, während sie die genetische Variabilität einer

Population nur unwesentlich beeinträchtigen. Es sind die vorteilhaf­

ten und neutralen Substitutionen, die für die Evolution einer Popula­

tion wichtig sind. Welchen genauen Anteil dabei die neutralen Sub­

stitutionen haben, wird nach wie vor unter Fachleuten diskutiert.

101

101

Page 104: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Die neutrale Theorie der Molekularen Evolution

102 Für die neutrale Mutante eines Gens kann nicht die natürliche Se­

lektion als treibende Kraft der Evolution herangezogen werden. Neu­

trale Mutanten können allein durch die Wirkung des Zufalls in einer

Population fixiert werden, das heißt alle Individuen der Population

sind nach einiger Zeit Träger dieser Mutation. Die Evolutionsrate gibt

die Geschwindigkeit an, mit der eine neutrale Mutante in der Popu­

lation fixiert wird.

Überraschenderweise hat die Größe der Population keinen Einfluss

auf die Evolutionsgeschwindigkeit. In einer Wright-Fisher-Population

ist die Evolutionsrate gleich der Substitutionsrate.

Die im Lauf der letzten Jahrzehnte angesammelten molekularen

Daten ermöglichen es, die von der Theorie vorhergesagten Effekte zu

überprüfen.

Da die Evolutionsrate im neutralen Fall nur von der Rate abhängt,

mit der neutrale Substitutionen auftreten, bestimmt die Substitu­

tionsrate die Evolutionsgeschwindigkeit. Betrachtet man Gene, bei

denen die meisten Aminosäuren für die Funktion des resultierenden

Proteins wichtig sind, so sind die meisten Mutationen schädlich und

werden sofort durch negative Selektion eliminiert. In einem solchen

Szenario ist nur ein kleiner Anteil aller auftretenden Mutationen

selektiv neutral. Allgemein gilt für protein-codierende Sequenzen,

dass die Substitutionsrate an nicht-synonymen Positionen kleiner

als an synonymen Positionen ist (siehe Tabelle 1). Ursache dafür ist,

dass nur die nicht-synonymen Substitutionen die Aminosäure-Se­

quenz ändern und somit unter Umständen zu einem funktionsunfä­

higen Protein führen. Im Gegensatz dazu haben Pseudogene, das

heißt funktionslos gewordene DNA-Abschnitte, die höchste Evolu­

tionsrate.

Kimuras Modell der neutralen Evolutionstheorie ist nicht unum­

stritten, hat aber aufgrund seiner Einfachheit und seiner quantitati­

ven Natur den Vorteil, dass es testbare Vorhersagen macht, die sich

anhand molekularer Daten überprüfen lassen. Stimmen die Daten

102

Page 105: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Die molekulare Uhr

mit den Vorhersagen überein, so kann dies als ein Erfolg der Theorie

gewertet werden. Eine klassische Vorhersage der neutralen Theorie

ist die Existenz einer molekularen Uhr.

Die molekulare Uhr

Emile Zuckerkandl und Linus Pauling (1901-1994) machten 1965 die

Aufsehen erregende Entdeckung, dass die Unterschiede zwischen

Aminosäuresequenzen proportional zur Aufspaltungszeit der Arten

sind (Abbildung 36). Sie schlugen daher vor, dass für jedes Protein die

Evolutionsrate mehr oder weniger konstant in der Zeit ist. Eine Be­

obachtung, die sicher auch Kimura bei der Formulierung der neutra­

len Theorie inspiriert hat.

Mit einer molekularen Uhr und der Kenntnis der Evolutionsrate

können Aufspaltungsereignisse von Arten ohne fossile Funde datiert

werden. Da die Anzahl der Substitutionen (d) proportional zum Pro­

dukt aus der Zeit (t) seit dem Aufspaltungsereignis und der Evolu­

tionsrate (m) der Sequenz ist, kann man die Beziehung

d = 2 · P · t

benutzen, um anhand zweier rezenter Sequenzen entweder die Zeit

(t) oder die Evolutionsrate (P) zu schätzen. Die Evolutionsrate einer

Art kann dann beispielsweise benutzt werden, um für andere Arten,

bei denen die paläontologischen Aufspaltungszeiten unbekannt

sind, die Aufspaltungszeit zu ermitteln.

Die Evolutionsrate für die nicht-synonymen Substitutionen des D-Hämoglobins beträgt P = 0,56 · 10-9 Substitutionen pro Position und

Jahr. Der Vergleich der a-Hämoglobin-Sequenzen zwischen Mensch

und Ratte ergibt d = 0,093 Substitutionen pro Position. Somit haben

sich die Hämoglobin-Sequenzen von Mensch und Ratte vor

t = 0,093 / (2 · 0,56 · 10-9) = 80 000 000

103

102

Page 106: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Die molekulare Uhr

104

Abb.36: Lineare Beziehung zwischen paläontologischen Aufspaltungszeiten und

der Substitutionsrate verschiedener Proteine.

Jahren aufgespalten. Die Einfachheit dieser Idee und ihre universelle

Anwendbarkeit hat in den folgenden Jahren zu einer Flut von Datie­

rungen geführt, die vorher nicht möglich waren. Zu den spektakulärs­

ten Ergebnissen der Datierung mit Hilfe der molekularen Uhr gehö­

ren die Schätzungen der Aufspaltungszeiten für Prokaryoten und

Eukaryoten (2,0 bis 2,6 Milliarden Jahre), für Pflanzen, Pilze und Tiere

(1,0 bis 1,2 Milliarden Jahren) sowie für Mensch und Schimpanse (5,0

Millionen Jahre). Die geschätzte Aufspaltungszeit für Mensch und

Schimpanse widersprach dramatisch den damaligen paläontologi­

schen Schätzungen, die von 15 Millionen Jahren ausgingen.

Mit der zunehmenden Anzahl an ausgewerteten Sequenzen

(meistens Aminosäuresequenzen) wurde die Existenz der molekula­

ren Uhr ein wenig abgeschwächt. Kimura schrieb 1983:

»For each protein, the rate of evolution in terms of amino acid sub­

stitutions is approximately constant per year per site for various

104

Page 107: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Der Coalescent-Prozess

lines, as long as the function and tertiary structure of the molecule

remains essentially unaltered.«

Wenn ein Gen beispielsweise seine Funktion oder Teile seiner Funk­

tionalität verliert beziehungsweise eine neue biologische Funktion

erhält, greift der zweite Teil von Kimuras Zitat. Die Funktionsände­

rung des Gens führt zu einer Änderung der funktionellen Beschrän­

kungen, die auf das Gen wirken. Eine Konsequenz ist eine Änderung

der Substitutionsrate.

Die Diskussion über die Existenz einer molekularen Uhr ist auch

heute noch nicht abgeschlossen. Eine Reihe von Hypothesen wurden

und werden diskutiert, um Abweichungen von der molekularen Uhr

zu erklären. Die Hypothesen lassen sich grob in zwei Klassen eintei­

len: (1) Replikations-abhängige Faktoren wie Generationszeit und

Effizienz der DNA-Reparatur und (2) Replikations-unabhängige Fak­

toren wie Grundstoffwechsel, Körpergröße und Umwelteinflüsse.

Welchen Einfluss die jeweiligen Faktoren tatsächlich haben, wird

noch kontrovers diskutiert. Sicher ist, dass sowohl (1) als auch (2) ver­

schieden starke Abweichungen von der molekularen Uhr verursa­

chen. Daher ist es extrem schwierig, den Beitrag eines einzelnen Fak­

tors zu ermitteln.

Der Coalescent-Prozess

Der Coalescent-Prozess beschreibt die Entstehung einer Genealogie

in einer Population beim Zurücklaufen in der Zeit und ist somit eine

theoretische »Umkehrung« der genetischen Drift, bei der das Schick­

sal einzelner Sequenzen vom Jetzt-Zeitpunkt aus in die Zukunft ver­

folgt wird. Beim Coalescent-Prozess verfolgt man das Schicksal von

Sequenzen vom Jetzt-Zeitpunkt zurück in die Vergangenheit.

Entscheidend beim Coalescent-Prozess ist das Verschmelzen von

Linien (Individuen oder homologe Sequenzabschnitte). Zum Zeit­

punkt des Verschmelzens »entsteht« der gemeinsame Vorfahre der

105

105

Page 108: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Der Coalescent-Prozess

106 verschmolzenen Linien. Startet man mit vielen Kopien eines Gens, so

nimmt deren Anzahl aufgrund der Verschmelzung einzelner Kopien

im Laufe der Zeit ab. Letztendlich wird es einen einzigen gemeinsa­

men Vorfahren aller Linien geben (most recent common ancestor, abgekürzt MRCA). Solange keine Rekombination stattfindet, ent­

steht durch den Coalescent-Prozess ein Baum, die so genannte Ge­

nealogie. Diese Genealogie beschreibt die zufällige Verwandtschaft

einer Stichprobe von Genkopien. Im Gegensatz zu einem phylogene­

tischen Baum, der eine einzige Realisierung eines geschichtlichen

Prozesses ist, ist die Genealogie immer zufällig.

Die große Popularität von Genealogien basiert auf der Tatsache,

dass sich nicht nur evolutionäre Prozesse wie Selektion und Drift, son­

dern auch unterschiedliche demographische Faktoren, wie Wachs­

tum oder Schrumpfung einer Population aus den verschiedenen Ver­

zweigungsmustern ableiten lassen. Anders ausgedrückt: Aus einer

Genealogie beziehungsweise deren Verzweigungsmuster kann auf

diejenigen Prozesse geschlossen werden, die der Population ihre heu­

tige Struktur verliehen haben. Umgekehrt lassen sich populations­

genetische Phänomene (etwa die Ausbreitung erblicher Krankhei­

ten) mithilfe der Coalescent-Theorie sehr einfach auf dem Computer

simulieren. Die Tatsache, dass sich auch komplizierte evolutionäre

Szenarien mittels effizienter Computerprogramme simulieren las­

sen, die dann mit den tatsächlichen Daten verglichen werden, macht

den Coalescent-Prozess mit seinen Modifikationen zu einem der

wichtigsten Werkzeuge der Populationsgenetik.

Der mathematische Grundgedanke der Coalescent-Theorie wird hier

vereinfacht dargestellt. Eine Grundvoraussetzung ist, dass sich die

Population nach dem Wright-Fisher-Modell entwickelt. Das Wright-

Fisher-Modell ist gewissermaßen das Null-Modell der Populations­

biologie, es macht die folgenden vereinfachenden Annahmen: Es sei

G die Anzahl der Kopien eines Gens in einer Population. G ist in jeder

Generation gleich groß, so dass die Population in ihrer Größe weder

106

Page 109: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Der Coalescent-Prozess

wächst noch schrumpft. Die Paarung zwischen den einzelnen Mit­

gliedern der Population ist zufällig und wird nicht von Selektionsfak­

toren oder geographischer Isolierung beeinflusst. In der Fachsprache

wird hierfür der Begriff Panmixie (Allmischung) verwendet. Zwi­

schen einer Vorfahrengeneration und deren Nachkommen gibt es

keine Überlappung, das heißt dass sich immer nur die Individuen

einer Generation paaren. Die Anzahl der Nachkommen pro Individu­

um ist zufällig. Einige Individuen haben keine Nachkommen, andere

haben genau einen, zwei oder mehrere Nachfahren. Die Gesamtan­

zahl der Nachkommen ist aber in jeder Generation gleich groß.

Selektion findet nicht statt. Jedes Individuum hat mit der gleichen

Wahrscheinlichkeit Nachkommen, der Reproduktionserfolg ist daher

eine zufällige Größe.

Werden diese Annahmen erfüllt, lässt sich beispielsweise die mitt­

lere Zeitspanne (gemessen in der Zahl der Generationen) berechnen,

bis zwei zufällig ausgewählte Individuen beziehungsweise Gene I1

und I2 ihren gemeinsamen Vorfahren finden. Es ist klar, dass I1 von

einer der G-Kopien der Vorgängergeneration abstammt. Mit Wahr­

scheinlichkeit 1/G stammt I2 auch von genau diesem Vorfahren ab.

Tritt dieses Ereignis ein, so liegt der gemeinsame Vorfahre (MRCA)

der beiden Gene nur eine Generation zurück. Mit einer Wahrschein­

lichkeit von 1–1/G haben I1 und I2 verschiedene Vorfahren. Ihr MRCA

liegt dann wenigstens zwei Generationen zurück.

Die eben angestellte Überlegung kann für die direkten Vorfahren

von I1 und I2 wiederholt werden. Die Eltern von I1 und I2 haben mit

der Wahrscheinlichkeit 1/G ihren MRCA in der Vorgängergeneration

oder mit der Wahrscheinlichkeit 1-1/G verschiedene Vorfahren. So­

mit ist die Wahrscheinlichkeit, dass I1 und I2 ihren MRCA in der 2. Vor­

fahrgeneration haben

(1 – 1/G) · (1/G).

Daraus lässt sich die Wahrscheinlichkeit P2(i) berechnen, nach der I1

107

107

Page 110: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Der Coalescent-Prozess

108 und I2 in der i-ten Vorfahrgeneration verschmelzen. Sie ist

P2(i) = (1-1/G)i-1 – (1/G) für i = 1,2,...

Dies ist die geometrische Verteilung mit dem Parameter 1/G. Für die

geometrische Verteilung ist der Mittelwert gerade G. Es werden also

durchschnittlich G Generationen bis zum MRCA benötigt.

Wie lange dauert es, bis eine Stichprobe von drei Genen ihren

MRCA gefunden hat? Wieder genügt es, den Übergang von der heu­

tigen Generation zur Elterngeneration zu betrachten. Abbildung 37

zeigt die möglichen Verschmelzungsereignisse für drei Gene.

Die Wahrscheinlichkeit für wenigstens eine Verschmelzung ist die

Summe der Einzelwahrscheinlichkeiten in Abbildung 37. Man erhält

3(G-1)/G2 + 1/G2 § 3/G.

Der erste Summand gibt die Wahrscheinlichkeit für genau eine Ver­

schmelzung an, es bleiben also zwei Linien übrig (Abbildung 37 links).

Der zweite Summand steht für das sehr unwahrscheinliche Ereignis,

dass die drei Linien gleichzeitig verschmelzen (Abbildung 37 rechts).

Da simultane Verschmelzungen sehr unwahrscheinlich sind, wird

der zweite Summand nicht weiter berücksichtigt. Daraus folgt, dass

mit der Wahrscheinlichkeit 5/G pro Generation ein Verschmelzungs­

ereignis stattfindet. Die Wartezeit bis zum ersten Verschmelzungs­

ereignis beträgt nun G/3 Generationen. Die Stichprobe ist von drei

Linien auf zwei Linien verkleinert.

In einer zufälligen Stichprobe von n Genkopien aus einer Popula­

tion gibt es n·(n-1)/2 mögliche Gen-Paare, die einen gemeinsamen

Vorfahren in der vorhergegangenen Generation haben können. Ist n im Verhältnis zu G klein, dann ist die Wahrscheinlichkeit für das erste

Coalescent- beziehungsweise Verschmelzungs-Ereignis in der i-ten

Generation

108

Page 111: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Die genetische Variabilität einer Population

für i = 1, 2, ... Die mittlere Wartezeit Tn bis zwei von n Linien ver­

schmelzen ist somit

Tn = 2·G/n·(n-1).

Je größer die Stichprobe, desto schneller findet das erste Coalescent­

ereignis statt, da T2 = G, T3 = G/3, T4 = G/6 usw.

Hat ein Coalescentereignis stattgefunden, startet der Prozess der

Verschmelzung von Linien mit n-1 Linien neu. Bis die letzten beiden

Linien verschmolzen sind, vergehen also

TMRCA = Tn + Tn-1 + ... + T2 =

2·G·{1/n·(n-1) + 1/(n-1)·(n-2) + ... 1} = 2·G·(1-1/n) § 2·G

Generationen. Nach 2G Generationen sind alle Linien auf ihren

MRCA, ihren gemeinsamen Vorfahren, zurückgeführt.

Computersimulationen machen es heute möglich, den Coales­

cent-Prozess auch für Populationen zu modellieren, die nicht wie das

einfache Wright-Fisher-Modell evolvieren. Dafür ist dann die mathe­

matische Behandlung des Modells in vielen Fällen nicht mehr mög­

lich.

Die genetische Variabilität einer Population

Im Allgemeinen bezeichnet man mit genetischer Variabilität oder

genetischen Polymorphismen (Vielgestaltigkeit) das Vorhandensein

verschiedener Zustände eines vererbbaren Merkmals in einer Popu­

lation. Polymorphismen gibt es auf den unterschiedlichsten Ebenen,

zum Beispiel morphologische Varianten in einer Population, chromo­

somale Variabilität, verschiedene Allele eines Proteins und letztend­

lich auch Nukleotidvariationen auf dem DNA-Niveau. Die Variabilität

zeichnet die Spuren der Evolutionsgeschichte in einer Population

109

109

Page 112: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Das Jukes-Cantor-Modell der Sequenzevolution

110 nach. Die genetische Variabilität eines Gens in einer Population kann

nur während der Zeitspanne vom MRCA bis heute entstanden sein.

Im Wright-Fisher-Modell stehen also 2G Generationen zur Verfü­

gung. Da das Wright-Fisher-Modell sehr einfach ist, kann die erwar­

tete Variabilität auf dem Sequenzniveau berechnet werden.

Ein Maß für die genetische Variabilität in einer Stichprobe von n

Sequenzen ist das arithmetische Mittel der paarweisen Sequenz-

unterschiede (D), wenn das infinite-sites-model zugrunde liegt. Das

arithmetische Mittel kann leicht anhand der Daten berechnet wer­

den. Theoretische Überlegungen zeigen, dass

(1) D = 2 · G · P = TMRCA · P

ist, wobei P die Substitutionsrate pro Sequenz und Generation ist.

Die genetische Variabilität, gemessen als mittlerer paarweiser Se­

quenzunterschied, wird also bestimmt durch die Anzahl der Genko­

pien in der Population und die Mutationsrate. Je mehr Kopien eines

Gens vorhanden sind, umso größer ist die Variabilität.

Anstelle der erwarteten Anzahl an paarweisen Unterschieden

kann auch die erwartete Anzahl an variablen Positionen Sn in einer

Stichprobe von n Sequenzen bestimmt werden. Es gilt

(2) Sn = 2·G·P·(1+1/2 + 1/3 +... +1/(n-1)).

Die Formeln (1) und (2) gelten nur für Populationen mit Wright-Fisher-

Modell. Sn ist dabei proportional zu D und die Proportionalitätskon­

stante (1 + 1/2 +1/s + ...+1/(n-1)) hängt von der Stichprobengröße ab.

Das Jukes-Cantor-Modell der Sequenzevolution

In den letzten Jahren wurden eine Vielzahl von Modellen zur Se­

quenzevolution entwickelt, die zum Ziel haben, den Prozess des Nu­

kleotidaustausches realistischer abzubilden. Getrieben wurden und

werden diese Entwicklungen durch die ständige Akkumulation von

110

Page 113: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Das Jukes-Cantor-Modell der Sequenzevolution

111

Abb.37: Mögliche Verschmelzungsereignisse (zwei Gene verschmelzen und das

dritte nicht; alle drei Gene verschmelzen) für drei Gene mit den jeweiligen Wahr­

scheinlichkeiten.

neuen Sequenzdaten. So ergaben die Auswertungen beispielsweise,

dass Transitionen wahrscheinlicher sind als Transversionen, dass die

Basenhäufigkeiten in unterschiedlichen Regionen des Genoms vari­

ieren, dass einzelne Positionen eine hohe Mutationsrate haben, wäh­

rend andere Positionen invariabel sind. Diese Beobachtungen kön­

nen alle in ein einheitliches Evolutionsmodell integriert werden, das

dann bei der Auswertung beliebiger Sequenzalignements zur Verfü­

gung steht.

Um die prinzipielle Idee von Substitutionsmodellen zu erläutern,

wird hier das relativ einfache Jukes-Cantor-Modell vorgestellt. Für

eine mathematische Handhabbarkeit werden eine Reihe von Verein­

fachungen gemacht: Die vier Nukleotide kommen mit gleicher Häu­

figkeit vor und alle Substitutionen (Transitionen und Transversionen)

sind gleich wahrscheinlich. Daraus folgt, dass Nukleotid-Austausche

an jeder Position der Sequenz mit gleicher Wahrscheinlichkeit auf­

treten. Findet eine Substitution statt, so wird das vorhandene

Nukleotid durch eines der drei anderen Nukleotide mit gleicher Rate

a ersetzt, wobei a zum Beispiel in Jahren gemessen wird. Eine Posi­

tion in der Sequenz evolviert mit der Gesamtrate r=3D. Der Parame­

111

Page 114: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Wer sind die nächsten Verwandten der Wale?

112 terrist die Evolutionsrate pro Position und Jahr. Er ist typischerweise

so klein, dass rauch als Wahrscheinlichkeit für eine Substitution pro

Jahr interpretiert werden kann. Innerhalb von t Jahren finden daher

im Mittel r · t Substitutionen an einer Position statt. Dann ist

Pxx(d) = 1/4 + (3/4) exp[-4·d/3]

die Wahrscheinlichkeit für ein identisches Nukleotidpaar, wenn d Substitutionen stattgefunden haben. Mit dieser Gleichung kann aus

der Wahrscheinlichkeit für ein identisches Nukleotidpaar die Zahl

der tatsächlich stattgefundenen Substitutionen berechnet werden

d = –(3/4) ln [1–(4/3)·p)]

wobei p = 1-Pxx(d) die Wahrscheinlichkeit für ein verschiedenes Nu­

kleotidpaar ist. Diese Formel ist die so genannte Jukes-Cantor-Kor­

rekturformel zur Berechnung der Zahl an Substitutionen aus den

beobachteten Unterschieden.

Die Berechnung zeigt, dass für zwei Sequenzen nur die Zahl der

Substitutionen geschätzt werden kann, aber nicht die Evolutionsra­

te r oder die Zeit W. In der Praxis wird für zwei Sequenzen der Wert von p geschätzt,

indem die Zahl unterschiedlicher Nukleotidpaare durch die Länge

der alignierten Sequenzen geteilt wird; p eingesetzt in die Jukes­

Cantor-Korrekturformel ergibt die geschätzte Zahl an stattgefunde­

nen Substitutionen.

Wer sind die nächsten Verwandten der Wale? Ein nicht-sequenzbasierter Ansatz zur Aufklärung

der Phylogenie

Neben der sequenzbasierten Rekonstruktion von Stammbäumen

können auch andere genetische Merkmale für die Untersuchung der

verwandtschaftlichen Beziehungen von Organismen herangezogen

112

Page 115: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Wer sind die nächsten Verwandten der Wale?

113

Abb.38: Cladogramm der Paarhufer und Wale (Cerartidactyla).

Die Pfeile markieren jeweils die Insertion eines SINEs oder LINEs.

werden. Ausgezeichnete Kandidaten sind zum Beispiel die SINEs und

LINEs der Eukaryoten (siehe Abbildung 3). SINEs sind repetitive DNA-

Abschnitte von 80-400bp Länge, wohingegen die LINEs von einigen

loo bis zu einigen 1000bp lang sind. SINEs und LINEs sind von tRNAs

abgeleitete Retrotransposons, das heißt »bewegliche« genetische

Elemente, die zur Selbstreplikation in der Lage sind. Anders als bei

der Transkription von Genen, bei der die DNA-Sequenz in mRNA um­

geschrieben wird, dient hier eine tRNA-Sequenz als Matrize für die

zu synthetisierende DNA. Deshalb werden die transponierbaren Ele­

113

Page 116: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Wer sind die nächsten Verwandten der Wale?

114 mente als Retrotransposons (retro = rückwärts) bezeichnet. Die repli­

zierten SINEs oder LINEs werden dann zufällig in das Genom des

Organismus integriert. Meist - aber nicht immer! -findet dieser Ein­

bau in einer nicht-kodierenden Region statt. SINEs und LINEs verhal­

ten sich dann selektiv neutral. Es wird angenommen, dass Insertio­

nen von SINEs und LINEs einmalige, irreversible Prozesse sind und es

daher sehr unwahrscheinlich ist, dass sie mehrfach unabhängig von­

einander an der gleichen Stelle im Genom eingebaut werden. Wenn

sie einmal an einem bestimmten Ort im Chromosom vorkommen,

gehen sie im Verlauf der Evolution so gut wie nie verloren. Ausnah­

men sind großräumige Deletionen ganzer genomischer Abschnitte.

Die Anwesenheit identischer SINEs oder LINEs in relativ nah ver­

wandten Lebewesen ist daher ein starkes Indiz für einen gemeinsa­

men Vorfahren. Solche Daten werden durch eine 0-1-Matix reprä­

sentiert: Ein Transposon ist entweder vorhanden (i) oder nicht

vorhanden (o). Für diese Datenmatrix lässt sich dann mittels Maxi-

mum-Parsimonie der zugehörige Baum bestimmen, wobei die Merk­

male nun die Insertion eines SINEs oder LINEs sind und nicht die

Substitution eines Nukleotids. Da die Insertion eines SINEs oder

LINEs an einer Stelle im Genom ein einmaliges Ereignis ist und sogar

der ursprüngliche Zustand (keine Insertion) bekannt ist, eignen sich

auf Parsimonie basierte Rekonstruktionsmethoden sehr gut dazu,

den zugehörigen Baum zu rekonstruieren.

Ein bekanntes Anwendungsbeispiel ist die Aufklärung der ver­

wandtschaftlichen Beziehung von Walen (Cetacea) und Paarhufern

(Artiodactyla) mittels Retrotransposons. Anhand morphologischer

und paläontologischer Daten wurde bisher vermutet, dass Wale die

Schwestergruppe der Paarhufer sind. Der in Abbildung 38 dargestellte

Baum basierend auf der Analyse von 21 verschiedenen SINEs und

LINEs zeigt, dass die Wale eine monophyletische Gruppe innerhalb

der Paarhufer (Artiodactyla) sind und die Schwestergruppe zu den

Flusspferden (Hippopotamus) bilden. Bisher übersehene oder unbe­

114

Page 117: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

»Fossile DNA« - eine Zeitreise in die Vergangenheit

achtete morphologische Ähnlichkeiten zwischen Flusspferden und

Walen stützen die Schwestergruppen-Hypothese: etwa das Fehlen

von Körperhaaren, die Aufzucht der Jungen unter Wasser und die

Unterwasserkommunikation. Es wurde daher vorgeschlagen, die

Paarhufer unter Einschluss der Wale in der umbenannten Ordnung

Cerartiodactlya zusammenzufassen.

Dennoch sind SINEs und LINEs nicht der Weisheit letzter Schluss,

da es auch die gleichen Probleme wie bei der sequenzbasierten

Baumrekonstruktion gibt. Dazu zählen vor allem das unvollständige

Aussortieren der Linien (incomplete lineage sorting). Auch SINE- und

LINE-Bäume können sich vom Spezies-Baum unterscheiden. In dem

speziellen Beispiel der Paarhufer und Wale werden die einzelnen

Kanten des Baumes durch mehrere SINEs gestützt, die an ganz ver­

schiedenen Stellen im Genom liegen und jeweils die gleiche Ver­

zweigung stützen. Zusätzlich gibt es eine sehr hohe Kongruenz zwi­

schen dem Auftreten der SINEs und LINEs und der sequenzbasierten

Phylogenie (15 mitochondriale und nukleare Gene), so dass es un­

wahrscheinlich ist, dass der vorgeschlagene Baum nicht auch der

Spezies-Baum ist.

»Fossile DNA« – eine Zeitreise in die Vergangenheit

DNA ist ein sehr instabiles Molekül, das durch Wasser oder Sauer­

stoff abgebaut wird. Dabei kommt es an den Nukleotiden unter

anderem zur hydrolytischen Abspaltung von Stickstoff-Gruppen

(= Deaminierung) oder ganzen Purinbasen (= Depurinierung). Im le­

benden Säugetier ereignen sich spontane Deaminierungen schätz­

ungsweise 400 Mal pro Tag, die aber von dem Enzym DNA-Glyko­

sylase sofort erkannt und repariert werden. Zusätzlich bilden sich

aus den Nebenprodukten der Atmungskette und beim Einwirken

ionisierender Strahlung zum Beispiel aus der Atmosphäre (= Hinter­

115

115

Page 118: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

»Fossile DNA« - eine Zeitreise in die Vergangenheit

116

Abb.39: Geologische Zeittafel (in Millionen Jahren) mit angeblichen Nachweisen

über fossile DNA. Gesicherte Funde gibt es nur aus dem Quartär (bis maximal

100000 Jahre).

grundstrahlung) freie Radikale, die zu oxidativen Basenschädigun­

gen führen. Auch hier gibt es in den lebenden Zellen mehrere Repa­

raturwege, um schwere Schäden zu vermeiden. Nach dem Tod eines

Organismus und dem Aussetzen jeglicher Reparaturmechanismen

ist es daher unwahrscheinlich, dass DNA über lange Zeiträume un­

beschädigt erhalten bleibt.

116

Page 119: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

»Fossile DNA« - eine Zeitreise in die Vergangenheit

Theoretische Studien haben gezeigt, dass aufgrund kumulativer

Umwelteinflüsse die DNA nach 100000 Jahren zerstört beziehungs­

weise nicht mehr »abrufbar« ist. Unter sehr speziellen Umweltbe­

dingungen wird dieser Abbau allerdings verzögert. Dazu zählen vor

allem Kälte, Trockenheit und Sauerstoffmangel. Dies erklärt, warum

fossile und subfossile Funde aus Gletschern und dem Packeis der Pole

sowie aus Permafrost-Böden beziehungsweise sauerstofffreien Ein­

schlüssen in Mooren trotz ihres Alters noch hinreichend viel DNA liefern.

Trotz dieser vielen Einschränkungen wurde dennoch versucht, alte

DNA zu sequenzieren. Die ersten Arbeiten an Museumsstücken be­

gannen in den 1980er Jahren. In der Arbeitsgruppe von Allan Wilson

(1934-1991) an der Universität Berkeley, Kalifornien, wurde 1984

erfolgreich DNA aus einem 140 Jahre alten Quagga kloniert. Diese

Zebraart aus dem südlichen Afrika war vor ca. 120 Jahren ausgestor­

ben. Als nächstes wurde in Schweden DNA aus 2400 Jahre alten

ägyptischen Mumien amplifiziert. Allerdings war die Klonierung

wenig effizient, da zum einen große Mengen an Ausgangs-DNA

benötigt wurden und es viele Kopierfehler gab.

Erst mit der Erfindung der PCR wurde es möglich, kleinste Mengen

an DNA zu vervielfältigen. Damit begann eine neue Ära in der Biolo­

gie; prähistorische Funde ließen sich nun auch mit molekularen

Techniken bearbeiten. Mit der Untersuchung von alter, »fossiler«

DNA wurde die Molekularbiologie um die zeitliche Dimension berei­

chert. Die Ergebnisse erlauben Einblicke in die molekulare Vergan­

genheit der Organismen. Die Fachrichtung, die molekulare Metho­

den mit der traditionellen Ahnenkunde verbindet, wird auch als

Molekulare Archäologie bezeichnet.

Kurz nach der Etablierung der PCR berichteten 1992 kalifornische

Wissenschaftler über die erfolgreiche Isolierung und Vervielfälti­

gung kurzer DNA-Bruchstücke aus einer 25-40 Millionen Jahre alten

Bienenart (Proplebeia dominicana). Die Biene war im dominikani­

schen Bernstein eingeschlossen. Wenig später erlangten Termiten

117

117

Page 120: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

»Fossile DNA« - eine Zeitreise in die Vergangenheit

118 und Käfer aus libanesischem Bernstein vergleichbare Berühmtheit,

deren Alter sogar auf bis zu 135 Millionen Jahre geschätzt wurde (Ab­

bildung 39). 1994 gelang angeblich ein weiterer Durchbruch, näm­

lich die Sequenzierung eines 170 Basenpaare langen DNA-Ab­

schnitts aus einem 80 Millionen Jahre alten Dinosaurier-Knochen.

Weitere Forschungsgruppen berichteten über die DNA-Isolierung

aus 8-18 Millionen Jahre altem Pflanzenmaterial, darunter Magno­

lien-Blätter aus limnischen Sedimenten in Idaho (USA).

All diese Ergebnisse wurden vom wissenschaftlichen Publikum teils

mit Begeisterung, teils mit größter Zurückhaltung aufgenommen.

Die Hauptkritik bestand darin, dass keine ausreichenden Vorkehrun­

gen gegen Kontamination getroffen wurden und nicht eine einzige

DNA-Isolierung von unabhängigen Labors bestätigt werden konnte.

In den 1990er Jahren zeigte eine Arbeitsgruppe des Naturhistori­

schen Museums London, dass sämtliche alte DNA aus in Bernstein

eingeschlossenen Insekten Artefakte sind. Die tatsächlich amplifi­

zierte DNA stammte aus anderen, mit den untersuchten Objekten

nicht näher verwandten Arten. Selbst viel jüngere Insekten, die im

weichen Copal (Vorform des Bernsteins) eingebettet sind, enthalten

keine DNA. Da Bernstein gasdurchlässige Mikroporen besitzt, wird

die eingeschlossene DNA im Laufe der Jahrmillionen durch Oxida­

tionsprozesse zersetzt. Daher sind im Bernstein die Bedingungen für

die Konservierung von DNA ausgesprochen schlecht, wenngleich

Insekten und anderes organisches Material makroskopisch sehr gut

erhalten bleiben. Bei der Dinosaurier-DNA haben mehrere Forscher­

gruppen nachgewiesen, dass die vermeintliche fossile Sequenz ein

menschliches Pseudogen ist. Es handelt sich dabei um mitochondri­

ale DNA-Fragmente, die in das nukleare Genom des Zellkerns inkor­

poriert wurden. Die Fremd-DNA wurde von den Forschern im Labor

ins Reagenzglas übertragen.

Dass die Ergebnisse mit alter DNA anfänglich viel Skepsis hervor­

riefen, ist daher gut zu verstehen. Mittlerweile sind die Schwierig­

118

Page 121: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

»Fossile DNA« - eine Zeitreise in die Vergangenheit

keiten aber erkannt worden und allgemein akzeptierte, strenge

Richtlinien sollen helfen, solche Irrtümer in Zukunft zu verhindern.

Eine Erfolgsgeschichte bei der Analyse alter DNA zeichnet sich bei

der Sequenzierung von DNA aus 50000-100000 Jahre alten Über­

resten ab. Einige Forschergruppen haben die verwandtschaftlichen

Beziehungen von ausgestorbenen Arten zu ihren rezenten Vertre­

tern analysiert. Zu nennen sind hier unter anderem die mitochondri­

alen DNA-Studien (mtDNA) am australischen Beutelwolf. Diese zu

Beginn des 20. Jahrhunderts ausgestorbene Art ist näher mit den

Beuteltieren des australischen Kontinents verwandt als mit süd­

amerikanischen Beutelraubtieren, denen sie morphologisch sehr

ähnlich sind. Ebenso liefert die fossile mtDNA Hinweise, dass Neu­

seeland zweimal von Vorfahren flugunfähiger, straußenartiger Vögel

besiedelt wurde (Abbildung 40). Die Kiwis und die bereits ausge­

storbenen Moas sind keine Schwestergruppe, was bislang aufgrund

morphologischer Untersuchungen angenommen wurde. Die Vor­

fahren der Moas haben Neuseeland wahrscheinlich in einer ersten

Immigrationswelle vor ca. 80 Millionen Jahren besiedelt, als sich die

Inseln vom Urkontinent Gondwana abtrennten. Die Entwicklungsli­

nie der Kiwis scheint sich erst später, vor ca. 30 Millionen Jahren, von

der des australischen Emus abgespalten zu haben. Die Kiwis erreich­

ten Neuseeland erst während einer zweiten Immigrationswelle.

Die umfangreichen und gut konservierten fossilen Funde aus den

arktischen Permafrostböden erlauben nun auch Untersuchungen zu

populationsgenetischen Aspekten. Damit lässt sich ein Bild von der

genetischen Komposition einzelner Populationen vor und während

der letzten Eiszeit rekonstruieren, die dann mit den Daten der heuti­

gen Populationen in Verbindung gebracht werden. Die mitochondri­

alen DNA-Linien der Alaska-Braunbären, die heute in getrennten

geographischen Regionen vorkommen, haben vor ca. 30000 Jahren

in derselben Population zusammengelebt. In einer anderen Studie

wurde die mtDNA von 191 rezenten Pferden mit der von 16 fossilen

119

119

Page 122: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

»Fossile DNA« - eine Zeitreise in die Vergangenheit

120

Abb.40: Stammbaum der flugunfähigen Straußenvögel, basierend auf mitochon­

drialen DNA-Sequenzen

Pferden aus Nordamerika, Estland und Schweden verglichen. Der äl­

teste Knochenfund war 28000 Jahre alt. Die Untersuchungen zeig­

ten, dass ein Großteil der ursprünglichen Variabilität der Pferde bei

120

Page 123: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

»Fossile DNA« - eine Zeitreise in die Vergangenheit

ihrer mehrfachen Domestizierung erhalten blieb. Wieder andere Un­

tersuchungen befassen sich mit der Populationsstruktur der vor et­

wa 10000 Jahren ausgestorbenen Höhlenbären und deren Bezie­

hungen zu heutigen Braunbären oder untersuchen die veränderte

Evolutionsrate bei Adelie-Pinguinen im antarktischen Eis.

Großes Aufsehen haben die Untersuchungen von lange verstorbe­

nen oder bereits fossilisierten Menschen erregt, weil gerade damit

unsere eigene Geschichte im Spiegel der Zeit beleuchtet wird. Wie

bereits erwähnt, wurde mit den ägyptischen Mumien ein erster

Meilenstein gelegt. Kurze Zeit später folgte die Analyse des ca.5000

Jahre alten Tiroler Eismannes, genannt Ötzi. 1997 wurde die erste Se­

quenz eines Neandertalers veröffentlicht. Hierbei handelte es sich

um das Typus-Exemplar aus dem Neandertal bei Düsseldorf. Die mi­

tochondriale DNA-Sequenz des Neandertalers ist in der heutigen

menschlichen Weltpopulation nicht mehr vertreten, sondern spal­

tete sich vor ca. 500000 Jahren von der Linie zum modernen Men­

schen ab, lange bevor der jüngste gemeinsame Vorfahre (MRCA) des

modernen Menschen Homo sapiens sapiens lebte, der ca. 170000

Jahre alt ist. Diese Ergebnisse sind eine weitere Bestätigung für die

Arche-Noah-Theorie. Mittlerweile sind DNA-Sequenzen zweier wei­

terer Neandertaler ermittelt worden, welche die bisherigen Ergeb­

nisse untermauern.

Mit der alten oder fossilen DNA ist die molekulare Evolution in

neue Dimensionen der phylogenetischen Analysen vorgestoßen,

auch wenn Spekulationen über einen Jurassic Park oder die Wieder­

belebung bereits ausgestorbener Arten sicher nicht im Bereich der

technischen Möglichkeiten liegen.

121

121

Page 124: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Alignement dot-plot

GLOSSAR

Alignement - Besteht aus zwei Sequenzen, die durch Einführung

eines Extra-Zeichens (»-«) auf gleiche Länge gebracht werden.

s.S.23f.,45ff.,76

Allel - Verschiedene Zustandsformen eines Gens, die auf dem glei­

chen chromosomalen Abschnitt liegen. s. S. 100

Außengruppe - Ein Taxon, das sich von einer Gruppe anderer Taxa

abspaltete, bevor diese untereinander divergierten. s. S. 29,49, 70

Baumtopologie - Verzweigungsmuster eines phylogenetischen

Baumes. s. S. 40,46,54

bottleneck - (Flaschenhals) drastische Verkleinerung einer Popula­

tion. s. S. 77,79

Codon - Nukleotidtriplett in der DNA beziehungsweise mRNA, das

eine Aminosäure festlegt oder das Ende einer Polypeptidkette sig­

nalisiert (Stopp-Codon). s .S. 7,9,12

Clusterungsmethoden -Verfahren zum Gruppieren und Klassifizie­

ren von Objekten (Lebewesen), die durch eine Menge von Eigen­

schaften (Spalten im Sequenzalignement) beschrieben werden.

s. S. 44

Dichotomie-Aufspaltung einer Linie in zwei neue Linien. s.S.25

dot-plot - Einfache graphische Darstellung zum Vergleich zweier

Sequenzen. s. S. 23f.

122

Page 125: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Evolutionsrate lineage sorting

Evolutionsrate - Geschwindigkeit, mit der eine Mutation in einer

Population fixiert wird. s. S. 702f., 112,121

Genealogie - Gen-Baum, der die Verwandtschaftsverhältnisse von

Allelen eines Gens in einer Population beschreibt. s. S. 70ff.,76ff., 105f.

Gen-Baum -Stammbaum eines Gens. s. S. 36,42, 55ff.

Genom - Die gesamte DNA eines Organismus. Bei Eukaryoten

umfasst dies auch die nicht im Kern vorkommende Mitochondrien-

und Plastiden-DNA. s. S. 4,7ff.,74ff.

Homolog- Die untersuchten Merkmale gehen auf einen gemeinsa­

men Vorfahren zurück. s. S. 8, 63f., 105

Indel - Extra-Zeichen, das in ein Sequenzalignement eingeführt

wird, um die während der Evolution aufgetretenen Insertionen oder

Deletionen anzuzeigen. s. S. 22f.

infinite-site-model - DNA-Substitutionsmodell, bei dem jede Posi­

tion einer Sequenz nur einmal mutiert. s. S. 78, 82,110

Intron - Nicht-kodierende DNA zwischen den Exons eines Gens.

s. S. 11

Klonierung - Selektive Vermehrung eines gewünschten DNA-Frag­

ments. Dabei entstehen zahlreiche identische Moleküle (= Klone),

die alle von einem einzigen Vorläufer abstammen. s. S. 4,92,117

lineage sorting - Ursprüngliche Polymorphien bleiben über Artauf­

spaltungsereignisse erhalten. s. S. 60, 89, 775

123

Page 126: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Linie Ortholog

Linie - Lückenloser Fortbestand einer Ahnenreihe. s. S. 23,32,59f.

Minimale Evolution - Distanzbasierte Baumrekonstruktionsmetho­

de, s. S. 44

Modell der Sequenzevolution - Mathematische Beschreibung des

Substitutionsprozesses. s .S. 21,45f., 110f.

Monophyletische Gruppe - Umschließt alle Nachfahren des MRCA

einer Gruppe. s. S. 28ff., 52, 114

MRCA (most recent common ancestor) - Der jüngste gemeinsame

Vorfahre einer Kollektion von Sequenzen, Individuen oder Arten.

s. S. 37, 70, 72

Negative Selektion - Eliminierung nachteiliger Mutanten aus einer

Population. s. S. 102

Neighbor-Joining - Clusterungsverfahren zur Rekonstruktion von

distanzbasierten Bäumen. s. S. 39,44f.

Nicht-synonyme Substitution - Der Austausch eines Nukleotids im

Codon führt zu einer Änderung der Aminosäure. s. S. 76

Nukleotid - Eine Base (Adenin, Cytosin, Guanin, Thymin oder Uracil),

die mit einem Zuckermolekül (Ribose oder Desoxyribose) und einer

Phosphatgruppe verbunden ist. s. S. 5, 7,14ff.

Ortholog - Nennt man zwei Gene, wenn sie aufgrund eines Spezia­

tionsereignisses entstanden sind. s. S. 63

124

Page 127: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Paralog Substitutionsmodelle

Paralog - Nennt man zwei Gene, wenn sie aufgrund einer Gendupli­

kation entstanden sind. s. S. 63

Paraphyletische Gruppen - Enthalten nicht alle Nachkommen einer

Stammart. s. S .29f.

PCR (Polymerase Chain Reaction) - Enzymatische Vervielfältigung

eines DNA-Abschnittes unter Verwendung von zwei Oligonukleotid-

Primern. s. S. 4,93ff., 117

Polyphyletische Gruppen - Enthalten alle Nachkommen verschiede­

ner Stammarten, wobei nicht alle Nachfahren des gemeinsamen

Vorfahren der Stammarten in der Gruppe vorkommen. s. S.29f.

Polytomie - Eine Stammart produziert gleichzeitig mehr als zwei

neue Linien. s. S. 25f.

Positive Selektion - Beschreibt das Phänomen, dass sich eine besser

angepasste Mutation in der Population ausbreitet. s. S. 101

Schwestergruppe - Die zu einer monophyletischen Gruppe nächst­

verwandte monophyletische Gruppe in einem dichotomen Baum,

s. S. 30, 58, 114

Spezies-Baum - Stammbaum, der die Aufspaltungsfolge einer

Artengruppe darstellt. s. S. 53, 56ff., 115

Stammart - Die Vorfahrenart, aus der eine monophyletische Gruppe

entsteht, s. S. 26,28f., 58ff.

Substitutionsmodelle - Austausch eines Nukleotids oder einer Amino­

säure wird mittels mathematischer Modelle beschrieben. s. S. 22, 111

125

Page 128: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Substitutionsrate Zufälliger Fehler

Substitutionsrate - Mittlere Anzahl von Nukleotid- oder Aminosäu­

reaustauschen. s. S. 17ff.,51, 102

Synonyme Substitution - Der Austausch eines Nukleotids im Codon

führt nicht zu einer Änderung der kodierten Aminosäure. s. S. 16

Systematischer Fehler- Fehler unterschiedlichster Art, die unabhän­

gig von der Stichprobengröße zu einer Verzerrung des Ergebnisses

führen. s. S. 48,50f.

Transition - Basenaustausch zwischen Purinen (Adenin vs. Guanin)

oder zwischen Pyrimidinen (Thymin vs. Cytosin). s. S. 15,47, 110

Transversion - Austausch zwischen einer Purin- und einer Pyrimidin­

base. s. S. 75, 19, 22

Wright-Fisher-Modell - Das Nullmodell der mathematischen Popu­

lationsbiologie. s. S. 77,106, 109f.

Zufälliger Fehler - Abweichungen, die aufgrund der Zufallsauswahl

der erhobenen Daten entstehen. s.S. 48

126

Page 129: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Literaturhinweise

ALLGEMEINE REFERENZEN

Avise J. C: PhylogeographyrThe History and For­

mation of Species. Harvard University Press

2OOO, Cambridge, Massachusetts.

Graur, D. und Li,W.-H.: Fundamentals of Molecular

Evolution, 2nd edition. Sinauer Associates

2000, Sunderland, MA.

Hillis, D. M. et al. (Hg.): Molecular Systematics.

2. Auflage. Sinauer Associates 1998, Sunder­

jand, MA.

Kimura, M.:The neutral theory of molecular

evolution. Cambridge University Press 1983,

Cambridge.

Klein, J., und Takahata, N.: Where Do We Come

from: The Molecular Evidence of Human

Descent. Springer-Verlag 2002, Heidelberg.

Knippers, R.: Molekulare Genetik. Thieme Verlag

2001, StuttgartLewin, B-: Genes VII. Oxford

University Press

2000, Oxford.

Li, W.-H.: Molecular Evolution. Sinauer

Associates

1997, Sunderland, AAA.

Nelson, D. und Cox, M.: Lehninger Biochemie.

3. Auflage, Springer-Verlag 2001, Berlin.

Net, M. und Kumar, S.: Molecuiar Evolution and

Phylogenetics. Oxford University Press 2000,

New York.

Pagel, M. D. fHg.): Enydopedia of Evolution.

Volume l und 2. Oxford University Press 2002,

Oxford.

Page, R. D. M. und Holmes, E. C: Molecuiar

Evolution: A phyiogenetic approach. Blackwell

Science 1998, Oxford.

Swofford, D. L et al.: Phyiogenetic inference.

In-. Molecular Systematics, 2. Auflage.

Hillis D M., et al. (Hg.), Seiten 407-514, Sinauer

Associates 1996, Sunderland, MA.

Wageie,J.-W.:Grundlagen der Phylogenetischen

Systematik. Verlag Dr. Friedrich Pfeil 2000,

München.

SPEZIELLE ARBEITEN

Austin, J. i. et al.: Palaeontology in a molecular

world: the research for authentic ancient DNA.

Trends in Ecology and Evolution 12 (1997):

303-306.

Cann, R. L, et a!.: Mitochondrial DNA and human

evolution. Nature 325 (1987): 31-36.

Dayhoff, M.O.Atlas of Protein Sequences and

Structure, Vol. 5, Natl. Biomed. Res. Found. 1972,

Washington, DC.

Donnelly, P., und Tavare, S.: Coalescence and

Genealogical Structure under Neutrality. Ann.

Rev. Genet. 20 (1995): 410-421.

Fitch, W. M.: Toward defining the course of evolution:

Minimum change for a specific tree topology. Syst. Zoo!.

20 (1971): 406-416.

von Haesele^A., et al̂ Thegenetical archaeology

of the human genome. Nature 14 (1996):

135-140.

Hillis, D. M. et al.: Experimental Phylogenetics:

Generation of a known phylogeny Science 255

(1992) : 589-592.

Hofreiter, M. et at.: Ancient DNA. Nature Reviews

Genetics 2 (2001): 353-359.

Hudson, R. R.: Gene genealogies and the coalescent

process. Oxford surveys in evoiutionary

biology-7 (ig9o),i-44.

Janke, A., et ai.:The mitochondrial genome of a

monotreme - the platypus (Ornithorhynchus

anatinus)J.Mol. Evol.42 (1996): 153-159.

Jukes, T. H. und Cantor, CR.: Evolution of protein

molecules. In: Mammalian protein metabolism. H. N.

Munro (Hg.), 21-132. Academic Press

1969, New York.

Kaessmann, H., et al. DNA sequence variation in

a non-coding region of low recombination on

the human X chromosome. Nature 22 (1999):

78-81.

Kaessmann, H.: Great ape DNA sequences reveal

a reduced diversity and an expansion in

humans. Nature Genetics 27 (2001): 155-156.

127

Page 130: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Literaturhinweise

Mullis, K. 8., und Faloona, F.: Specific synthesis of

DNA in vitro via a polymerase catalyzed chain

reaction. Methods Enzyrmo!. 155 {1987):

335-350.

Muse, S.V. und Weir, B. S,: Testing for equality of

evolutionary rates. Genetics 132 (1992): 269276.

Nikaido, M. et al.: Phylogenetic relationships

among cetartiodactyis based from evidence

from SlNEs and LINES: Hippopotamuses are

the closest extant relatives of the whales Proc.

Natl. Acad. Sei. 96 (1999): 10261-10266.

Nordborg, M.:Coatescent Theory, in: The Handbook

of Statistical Genetics, D.J. Balding et al.

(Hg.}, 179-212, Chichester 2001.

Ou, C.-Y. et al.:Mofecular Epidemiology of HIV

transmission in a dental practice. Science 256

(1992): 1165-1171.

Pamilo, N., ur›d Nei, M.: Relationships between

gene trees and species trees. Mol. Biol. Evol. 5

(1988): 568-583.

Saitou N-, und Nei, M.:The neighbor-joining

method: A new method for reconstructing

phylogenetic trees. Mol. Biol. Evot. 4 (1987):

406-425.

5arich,V M. und Wilson, A.C.: Immunological

time scale for hominid evolution. Science 158

(19 67} :i 200-1203.

Satta,Y.,et al.: DNA archives and our nearest

relative: The trichotomy problem revisited. Moi.

Phyl. Evol. 5 (2000): 259-275.

Tajima, F.: The effect of change in population size

on DNA polymorphisms. Genetics 123 (1989):

597-601.

Tajima, F,; Statistical Tests for testing the neutral

mutation hypothesis by DNA polymorphism.

Genetics 123 (1986): 585-595.

Vigilant, L, et al.: African population and the evolution of

human mitochondria! DNA. Science

253 (1991): 1503-1507.

Watterson, G.A.: On the number of segregating

sites in genetica! models without recombination. Theor.

Pop. Biol. 7 (1975): 256-276.

Woese C. R.;The universal ancestor. Proc. Natl.

Acad. Sei. 95: (1998): 6854-6859.

Zuckerkandl, E., und Pauling, L: Evolutionary

divergence and convergence in proteins. In

Evolving genes and proteins. V. Bryson und HJ.

Vogel (Hg.), 97-166. Academic Press 1965, New

York.

Danksagung Unser Dank geht an alle, die unser Vorhaben aktiv unterstützt haben. Für ihre Geduld bedanken wir uns besonders bei Ulrike Friedrichs und Andreas Heibig. Ganz besonders herzlich danken wir Klaus Liebers, der mit seiner Sorgfalt und reichen Erfahrung wesentlich zum Gelingen des Vorhabens beigetragen hat.

Abbildungsnachweise: Abb. 4 nach: Bayrhuber, H. und Kuli, U. (Hg,). Linder Biologie, 1989; Abb. 9 u. 11

nach: Page, R. D. M. und Holmes, E. C, 1998; Abb. 17 nach: Hitiis, D, M. et al.,1992; Abb. 24 nach: Li, W.-H.,

1997; Abb. 30 nach: Kaessmann, H„ 2001; Abb. 31 nach: Weber, U. (Hg.): Biologie Oberstufe, 2001; Abb. 32

nach: von Haese!er, A., et al., 1996; Abb. 36 nach: Graur, D. und Li, W.-H., 2000; Abb. 38 nach: Nikaido, M.

et al., 1999; Abb. 39 nach: Austin, j. J. et al., 1997; Abb. 40 nach: Pääbo, S.: DNA aus alter Zeit. Spektrum

der Wissenschaft, Januar 1994; Abb. U3 nach: Pagel M. D. (Hg.), 2002. Da mehrere Rechteinhaber trotz

aller Bemühungen nicht feststellbar oder erreichbar waren, verpflichtet sich der Verlag, nachträglich

geltend gemachte rechtmäßige Ansprüche nach den üblichen Honorarsätzen zu vergüten.

Page 131: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution
Page 132: Haeseler, Liebers - Molekulare Evolution

Recommended