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gesichter europas 20130413 - deutschlandfunk.de€¦ · Ich wusste nicht, was das heißt: Jude zu...

Date post: 17-Sep-2018
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1 Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 13. April 2013 – 11.05 – 12.00 Uhr Der fremde Nachbar - Juden in Polen Eine Sendung von Johanna Herzing und Melanie Longerich Redaktion: Katrin Michaelsen Musikauswahl: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar – Viele Leute damals in Warschau dachten: Das ist nicht „unser Problem“, was mit den Juden im Getto geschah. Das war nicht „ihre Tragödie“, das war nicht „ihr Aufstand“. Ich wusste nicht, was das heißt: Jude zu sein. Ich wusste nur, dass ich sie hasse. Wenn man nicht nach vorne schaut, vergibt und nicht versucht, es besser zu machen, was kann man sonst daraus lernen? Für unsere Kinder, für unsere Zukunft. Deshalb glaube ich auch, dass es kein Zufall ist, dass ich heute in Polen bin. Der fremde Nachbar. Gesichter Europas über Juden in Polen. Eine Sendung von Johanna Herzing und Melanie Longerich.
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Deutschlandfunk

GESICHTER EUROPAS

Samstag, 13. April 2013 – 11.05 – 12.00 Uhr

Der fremde Nachbar - Juden in Polen

Eine Sendung von

Johanna Herzing und Melanie Longerich Redaktion: Katrin Michaelsen Musikauswahl: Babette Michel

Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.

©

- unkorrigiertes Exemplar –

Viele Leute damals in Warschau dachten: Das ist nicht „unser Problem“, was mit den Juden im Getto geschah. Das war nicht „ihre Tragödie“, das war nicht „ihr Aufstand“.

Ich wusste nicht, was das heißt: Jude zu sein. Ich wusste nur, dass ich sie hasse.

Wenn man nicht nach vorne schaut, vergibt und nicht versucht, es besser zu machen, was kann man sonst daraus lernen? Für unsere Kinder, für unsere Zukunft. Deshalb glaube ich auch, dass es kein Zufall ist, dass ich heute in Polen bin.

Der fremde Nachbar. Gesichter Europas über Juden in Polen.

Eine Sendung von Johanna Herzing und Melanie Longerich.

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REPORTAGE 1

Krystyna Budnicka – Eine Überlebende des Warschauer Ghettos.

Grau in Grau – farblich hebt sich der Wohnblock vom Himmel über Warschau

kaum ab. Ein typischer Betonbau aus den 70er Jahren, 15 Stockwerke hoch, ein

kleiner Kiosk im Eingangsbereich. Krystyna Budnicka wohnt im 14. Stock. Der

Aufzug, gerade erneuert, braucht nur wenige Minuten.

Krystyna Budnicka wartet bereits an der Wohnungstür. Mit leicht

schwankendem Gang führt sie in ihr 2-Zimmer-Appartment; im vergangenen

Sommer hat sie sich den Fuß gebrochen, ein paar Schrauben halten jetzt das

Gelenk zusammen. Budnicka wird im Mai 81. Eigentlich ist sie noch recht gut

beieinander, reist, wandert, oder: erzählt ihre Geschichte.

Also dann los, ich soll mich bestimmt vorstellen, oder? Ich heiße Krystyna

Budnicka; mein Geburtsname, den ich von meinen Eltern bekommen habe, ist

Hena Kuczer. Ich bin in Warschau geboren, in einer jüdischen, traditionellen,

in einer religiösen Familie. Mein Vater war Schreiner, mit meinen älteren

Brüdern hat er gemeinsam in der Werkstatt gearbeitet, die in unserem

Wohnort war, also am Muranowski-Platz 10; diesen Ort gibt es heute auf den

Karten selbstverständlich nicht mehr. Das war Muranow, ein jüdisches Viertel

… Ich war das achte, jüngste Kind in der Familie; ich hatte 6 Brüder und eine

Schwester…

Als der Krieg ausbricht und Warschau angegriffen wird, ist Krystyna Budnicka

oder Hena Kuczer, wie sie damals noch heißt, gerade 7 Jahre alt. Selbst nach der

Besetzung durch die Deutschen sei ihre Welt erst einmal intakt geblieben, sagt

Budnicka, inzwischen auf dem Sofa sitzend. Die Hände liegen exakt parallel

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zueinander auf den Oberschenkeln, exakt auch die Welle ihrer graumelierten

Kurzhaarfrisur, exakt und ordentlich wie alles an ihr und ihrer kleinen

Wohnung. 1940, fährt sie fort, als die Nationalsozialisten das Ghetto mit einer

Mauer absperrten, habe sich für sie erst einmal nicht viel geändert.

Ja sie nie wprowadzalam do getta.

Sie sei schließlich nicht ins Ghetto gezogen. Vielmehr kam das Ghetto zu ihr.

Budnickas Elternhaus befand sich bereits auf dem Gelände.

Ich habe meinen gewohnten Ort, an dem ich geschlafen habe, nicht verloren,

auch nicht meine geliebte Stoffpuppe. Als Kind hatte ich nicht das Gefühl,

dass etwas über mir zusammenbricht. Dauernd werde ich gefragt: Was haben

Sie da gedacht, was da… Ich weiß nicht, vielleicht war ich ja ein bisschen zu

dumm, um mir viel zu denken (lacht) Das kann schon sein…

Von dem rund 3 Quadratkilometer großen Areal im Zentrum der Stadt, das

damals zum Ghetto erklärt wurde, ist heute kaum noch etwas zu sehen,

stattdessen Nachkriegs-Wohnblocks wie der, in dem Krystyna Budnicka lebt.

Der Ort, an dem die Nationalsozialisten zwischen 1940 und 1943

Hunderttausende Juden einpferchten, ist von der Karte getilgt worden. Die Nazis

machten ihn dem Erdboden gleich. Die Antwort auf den Ghetto-Aufstand im

Frühjahr 1943. Wenige hundert schlecht bewaffnete junge Männer und Frauen

hatten damals, vor 70 Jahren, den Kampf gewagt – und schließlich verloren.

Krystyna Budnicka zuckt mit den Schultern; alles hat sich verändert. Sie zieht

ein Buch aus dem Regal, breitet eine Karte auf dem Esstisch aus:

Diese weißen hier, das sind die Vorkriegsstraßen, die blauen sind die heutigen

Straßen. Hier haben wir die Werkstätten und das ist die Straße, wo mein

Bunker war, hier in der Zamenhof-Straße, unterirdisch, noch ziemlich weit

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entfernt von der Ghettomauer. Ich weiß aber nicht, wo genau wir auf der

arischen Seite rausgekommen sind…

Mit einem Kopfschütteln faltet sie die Karten wieder zusammen. Der Bunker,

den ihre älteren Brüder 1942 anlegten und in den Budnickas Familie gemeinsam

mit anderen jüdischen Familien im Januar 1943 einzog, dieser Bunker rettete

Krystyna das Leben. Ihre Brüder schlossen sich dem Aufstand an. Die Tage

nach der Niederschlagung, beschreibt Krystyna Budnicka in allen Einzelheiten,

wenn auch beinahe emotionslos:

Um uns herum brannte es, alles wurde mit Benzin übergossen, Haus für Haus

wurde abgebrannt und unser Bunker verwandelte sich plötzlich in einen Ofen,

nicht zum Aushalten. Und wir? Wir konnten ja nicht in dieser Hitze bleiben,

also sind wir in den Kanal, da waren solche Abdeckungen und darauf saßen

wir. Wir sahen Leichen vorbeischwimmen, Ratten. Als die Deutschen

herausfanden, dass sich in den Kanälen etwas tut, warfen sie Gasbomben in

die Kanalschächte. Da hatten wir also auf der einen Seite den Ofen und auf

der anderen Seite Gas.

Nach etlichen Monaten im Bunker und mehreren Tagen im Kanal gelingt die

Flucht auf die sogenannte „arische“ Seite. Doch von Budnickas Familie schaffen

es nur sie selbst und zwei Brüder. Eltern und Geschwister bleiben zurück,

werden verraten, ermordet wie Hunderttausende andere Juden aus dem

Warschauer Ghetto. Sie selbst überlebt, versteckt in einem katholischen

Waisenhaus.

Geblieben ist ihr nur ein Foto ihres ältesten Bruders Izaak.

Izaak, Baruch, Chaja, Rafal, Chaim i Yehuda

Ansonsten sind da nur noch Namen und Erinnerungen.

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Ich hatte solche Träume, anfangs, nach dem Krieg: Ich gehe in mein Haus,

ich suche, finde aber niemanden, ich weine und rufe nach meiner Mama,

aber die Zeit räumt da Gott sei Dank auf, sie schafft Ordnung in diesen

Gedanken und Träumen.

Und doch taucht die Vergangenheit manchmal ganz unerwartet wieder auf, sagt

Krystyna Budnicka. Sie sitzt jetzt sehr aufrecht auf ihrem Sofa:

Vor nicht allzu langer Zeit haben sie auf dem Friedhof aufgeräumt und eine

Inventur gemacht, na, und da hab ich sie gefunden: Großmutter und

Großvater. Das ist für mich sehr wichtig, denn dort habe ich meine Wurzeln;

ich komme nicht vom Mond, bin nicht vom Himmel gefallen. Das ist der

einzige Ort, den es gibt, an dem ganz sicher meine Eltern standen, und wenn

es auch nur beim Begräbnis meiner Großeltern war.

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LYRIK

Wislawa Szymborska Heimlichkeiten mit den Toten

Bei welcher Gelegenheit träumst du von den Toten?

Denkst du an sie, bevor du einschläfst, oft?

Wer erscheint dir als erster?

Immer derselbe?

Vorname? Name? Sterbedatum? Friedhof?

Worauf berufen sie sich?

Die alte Bekanntschaft? Verwandtschaft? Heimat?

Sagen, woher sie kommen?

Wer steht hinter ihnen?

Und wem außer dir erscheinen sie noch im Traum?

Ob ihre Gesichter dem Lichtbild ähneln?

Sind sie im Laufe der Jahre gealtert?

Rüstig? Verhärmt?

Hatten die Wunden der Hingerichteten Zeit zu

Vernarben?

Erinnern sie sich, wer sie umgebracht hat?

(…)

Stellen sie Fragen, besorgniserregende?

Was antwortest du ihnen dann?

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Anstatt mit Umsicht zu schweigen?

Das Thema verlegen zu wechseln?

Rechtzeitig aufzuwachen?

REPORTAGE 2

Beata Chomatowska schließt die Gedächtnislücken im

Warschauer Stadtteil Muranów.

Vor dem kleinen Programmkino wartet Beata Chomatowska. Hier in Muranów

lebten vor dem zweiten Weltkrieg besonders viele Juden, hier errichteten die

Nationalsozialisten auch das Ghetto. Beata Chomatowska hat die Kapuze ihres

dunklen Parkas tief ins Gesicht gezogen: Zierlich, dunkler Haarschopf,

blitzblaue Augen. Die 35-jährige Journalistin hat ein dickes Buch über die

bewegte Geschichte des Stadtteils geschrieben. Als sie 2005 von Krakau nach

Warschau zog, spürte sie, dass hier irgendetwas nicht stimmte.

In Krakau erzählt sie, sei es wie in Berlin, an jeder Ecke Leben, mit vielen

Cafés. In Muranów gab es damals kein einziges. Alles schien Pleite zu gehen,

die Rache der getöteten Juden, hörte sie damals die Menschen oft munkeln. Die

Journalistin wollte mehr wissen - und begann zu lesen. Sie fand viele Bücher

über die Zeit des Holocaust. Aber die Zeit nach dem Krieg schien ihr wie ein

großes schwarzes Loch. Mit ihrem Buch hat Beata Chomatowska das nun

gefüllt: Stacja Muranów – Haltestelle Muranów so der Titel. Normalerweise ist

sie Wirtschaftsredakteurin bei der konservativen Tageszeitung Rzeczpospolita.

Ihre Mittagspause ist kurz.

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Wir gehen mal dort zu den Terrassen hinter dem Kino. Bis zu der Treppe hier.

Die führt zu dem großen Wohngebäude dort oben. Das neue Muranów wurde

ja auf den Trümmerhalden des zerstörten Ghettos gebaut. Deshalb liegen die

Häuser auf verschiedenen Ebenen. Der Höhenunterschied kann bis zu drei

Metern betragen. Und genau hier sieht man das am besten.

Vor dem Krieg war Muranów ein geschäftiger Stadtteil, erzählt sie. Prächtige

Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, dazwischen kleine Handwerksläden,

Gemüsehändler, Druckereien: Mehr als 20 jüdische Tageszeitungen wurden hier

gedruckt und weit über das Land hinaus gelesen. Nach dem Krieg lag das

Viertel in Schutt und Asche. Als aus Polen dann eine Volksrepublik wurde,

sollte der Neuanfang auch im Baustil sichtbar werden. Beata Chromatowska

schaut zu dem mächtigen grauen Gebäude, das wie eine Wand vor ihr steht:

Geplant wurde all das hier von Bohdan Lachert, erzählt sie. Der Architekt

gehörte in den neunzehnhundertzwanziger Jahren zu den wichtigsten Vertretern

der Moderne. Er war Mitglied bei der Künstlervereinigung Praesens, die sich

mit Le Corbusier und der Bauhaus-Gruppe gut verstand.

Bohdan Lachert startete 1948 sein Warschauer Prestigeprojekt. Einerseits war es

damals unmöglich, die Trümmerberge eines ganzen Viertels abzutragen.

Andererseits wollte Lachert unbedingt den getöteten Juden ein Denkmal setzen.

Wie Phönix aus der Asche sollte Muranów aufsteigen. Mit modernen,

funktionalen Gebäuden und kurzen Wegen. Doch schnell zeigte sich, dass sein

Traum von der Moderne mit den Kommunisten nicht zu verwirklichen war.

Mehr Pomp forderten die und mehr von dem Zuckerbäckerstil des Kulturpalasts.

Den hatte Stalin den Warschauern zur gleichen Zeit geschenkt. Lachert musste

nachbessern. Immer wieder. Beata Chomatowska zeigt auf den pompösen

Torbogen, der mit großem Ego die schlichte Häuserfront durchbricht:

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Wenn man da mal hinschaut, da dieses Tor, das sieht doch aus wie ein

Triumphbogen. Völlig überdimensioniert. Die Proportionen passen doch gar

nicht zu den Häusern. Es sieht aus, als hätte man sich da einen Witz erlaubt.

Bohdan Lachert zog sich zurück, vergrub sich in die Lehre an der Hochschule.

Er war zwar ein Anhänger des Sozialismus, doch er hatte nicht mit den realen

Betonköpfen gerechnet, erzählt Beata. Seine Schüler beendeten das Projekt

1952. Da wollte die staatliche Propaganda schon nichts mehr von den Juden

wissen: Das neue Muranów sollte den neuen Helden gewidmet sein: Den

Arbeitern. Beata führt durch den Torbogen in die Siedlung.

Still ist es hier. Die Häuser zählen vier Etagen. In der Mitte: Bäume, holpriger

Rasen. Autos parken dicht an dicht in den engen Straßen:

Also faktisch wurde alles, was hier lag, zu neuem Baumaterial verarbeitet.

Das klingt furchtbar, aber so war es. Es gab hier nach dem Krieg keine

Exhumierungen. In den Ziegeln sind Knochen drin, alles Mögliche. Und die

Häuser waren anfangs nicht so schön verputzt wie heute. Die waren so

rostfarben, wie Ziegel halt. Damals erinnerte das alle an das Blut, das hier

vergossen wurde. Da kann man sich natürlich vorstellen, dass das den

Menschen, die hier wohnten, naja, eher „mäßig“ gefiel.“

Beata Chomatowska weicht einem Auto aus. Die neuen Bewohnern, die aus der

ganzen Volksrepublik hierher zogen, hatten ihre eigenen Themen: Die meisten

waren selbst Vertriebene aus den Ostgebieten, die Polen an Stalin abtreten

musste:

Viele Leute dachten damals in Warschau: Das das ist nicht „unser Problem“,

was mit den Juden im Getto geschah. Das war nicht „ihre Tragödie“, das war

nicht „ihr Aufstand.

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Viele denken auch heute noch so in Muranów, erzählt die Journalistin. Nur

wenn wieder mal eine Straße in die Tiefe sackt, in die alten Keller, dringt

wieder ins Bewusstsein, dass da immer noch eine alte Welt unter der neuen

überdauert, erzählt sie. Genau wie die alten Geschichten. „Urban Legends“,

moderne Großstadtsagen, nennt sie die:

OT 6 Geister

„Die Menschen erzählen sich hier viele Geschichten, von Geistern, die durch

Wohnungen und schlechte Träume wandern. Ich selber glaub da nicht so dran,

ich hab auch noch keine Geister gesehen. Die Jungen aber, die jetzt neu hierhin

ziehen, interessiert das und sie wollen sie hören. Ich glaube, so kommt langsam

das Gedächtnis an den Ort zurück.“

REPORTAGE 3

Auf Jiddisch flirten - In der Seniorenuniversität.

OKeee, Lejtsan, katan, lehmat....

Früher Nachmittag im Zentrum für jüdische Kultur der Seniorenuniversität. Hier

können Rentner – es sind vor allem Frauen - jüdische Tänze lernen oder

Vorträge hören über die jüdische Kultur. Aber heute sind alle wegen Jacob

Weitzner hier – oder Kobi, wie sie ihn bewundernd nennen. Der 61-Jährige

Israeli – groß, schlank, mit Schiebermütze auf dem ergrauten Haar, gibt hier

Hebräisch- und Jiddisch-Unterricht. Er ist Hahn im Korb. Einer, für den frau

sich schick macht. Heute ist Hebräisch dran. Während Kobi entspannt

verschlungene Buchstaben auf einen Flipchart schreibt, haben seine acht

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Schülerinnen die Lesebrillen zur Nasenspitze geschoben und blicken

abwechselnd in ihre Hefte - und auf seinen Po.

Weitzner hält inne, malt mit dem Filzstift ein Fragezeichen in die Luft. Ulai –

was das Wort heißt, viel er wissen. Ulai – heißt „Vielleicht“ gurren die

Schülerinnen. Ob alle die Filmszene kennen mit der Schauspielerin Melanie

Griffith, fragt ihr Lehrer in die Runde. Die mit dem Heiratsantrag. Den Griffith

nur mit „Vielleicht“ beantwortet. Und genau dieses „Vielleicht“ sei hier

gemeint, gockelt Weitzner und lässt seinen Blick aus dem Fenster schweifen. Er

liebt Dramatik, schließlich ist er eigentlich ein Mann des Theaters, hat in New

York, Tel Aviv und Jerusalem Schauspielschüler unterrichtet. Wenn er nicht

Sprachunterricht gibt, arbeitet er in Warschau als Dramaturg - schreibt Stücke

fürs Jüdische Theater, meist auf Jiddisch. „Ein Lebemann....und so belesen“,

flüstert die Seniorin mit der Bob-Frisur, orange gefärbt – und pinken Lippen.

Sie hört ergriffen zu, als Kobi über die Liebe sinniert: In der Liebe nämlich,

seufzt der, gebe es niemals ein Ulai, niemals ein Vielleicht. Die Damen

schwelgen:

Ulai, Ulai......

Jude – oder nicht. Hier an der Seniorenuniversität wird nicht nach der

Konfession gefragt, die meisten aber sind Katholiken. Ihre Neugier auf die

jüdische Kultur wurde mit einem Besuch im jüdischen Theater geweckt, das die

Seniorenuni zusammen mit dem Kulturministerium finanziert. Auch bei Halina

Kobza-Orlowska war das so. Ihr Traum ist es, einmal Israel zu sehen, sagt die

63-Jährige. Das hat sie schon zu ihrer Mutter gesagt, als die noch lebte. Die

füllige Frau ganz in schwarz hat ihren blonden langen Zopf zu einem hohen

Turm auf ihrem Kopf gewunden, ein Haarband aus schwarzem Flausch hält in

zusammen:

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Halina erzählt von der Medaille, mit der ihre Mutter Leontyna Matejko von der

israelischen Gedenkstätte Yad Vashem ausgezeichnet wurde. Weil sie eine

„Gerechte unter den Völkern“ war. Erlebt hat ihre Mutter die Verleihung nicht

mehr, denn sie starb kurz vorher. Deshalb hat Tochter Halina die Medaille in

der israelischen Botschaft in Warschau entgegen genommen. Leontyna Matejko

hatte unter deutscher Besatzung Juden versteckt. Sie war damals kaum älter als

20 Jahre. Halina erzählt von ihrer Mutter, und von deren ganz besonderen

Bindung zu einer gleichaltrigen Jüdin:

Die Nazis haben geahnt, dass meine Mutter Menschen versteckt. Sie haben sie

an die Wand gestellt und ihr gedroht, sie zu erschießen. Aber sie haben die

Jüdin nicht gefunden. Nach dem Krieg ist sie nach Israel ausgewandert. Sie

ist auch schon tot. Doch mit ihrer Tochter habe ich Kontakt. Wir sind wie

Schwestern. Denn sie sagt, ohne meine Mutter wäre sie nicht auf der Welt. So

denken viele, denen Menschen wie meine Mutter geholfen haben.

Schweigen als Halina Kobza-Orlowska den Blick von ihren Händen in die

Runde hebt.

Betroffenheit löst sich in Lachen auf. Sie alle seien froh, heute darüber so offen

reden zu können, sagt Halina. In Zeiten des Sozialismus war das nicht möglich:

Da wurde propagiert, dass Polen nur aus einer Ethnie besteht. Heute ist klar:

Polen war schon immer multiethnisch: Katholiken, Lutheraner, muslimische

Tataren – und eben Juden, zählt Halina auf. Kobi Weitzner nickt anerkennend.

Da sitzt die nächste Angela Merkel, sagt er, lächelt sanft. Halina nestelt verlegen

an ihrem Haarturm. Auch in den beiden Sprachen gäbe es viel Verbindendes,

sagt er und lenkt die Blicke der Damen zurück ins Lehrbuch:

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Ein junger, ungebundener Mann, im Hebräischen sei das der Bachur. Im

Polnischen der Bachor, obwohl man das Wort heute kaum noch benutzt. Einer

wie er halt, ein Single. Zumindest seit er wieder in Polen lebt, nickt Kobi

vielsagend.

Vor der Tür wartet Anna Mass geduldig, bis Kobi Weitzners Sprachkurs endet.

Ihr Kurs fürs Gedächtnistraining ist gerade zu Ende. Kobis ältester Fan in der

Seniorenuni nutzt jede Gelegenheit, mit ihm ein wenig Jiddisch zu plaudern. Die

94-Jährige mit schlohweißem Haar ist einige der wenigen Jüdinnen hier. Ihre

Familie floh vor dem Holocaust nach Sibirien, überlebte dort.

Spätestens als der Vater vor mehr als 50 Jahren starb, gab es keine Gelegenheit

mehr, Jiddisch zu sprechen, erzählt sie. Obwohl es ihre Muttersprache sei. Man

hätte nach dem Krieg andere Sorgen gehabt, als die jüdische Kultur zu pflegen,

erzählt sie. Anna Mass heiratete einen Polen, spricht nur Polnisch. Doch

verstehen geht noch ganz gut. Trotzdem: Die jüdische Kultur heute in Polen –

für Anna Mass ist das ein Kunstprodukt:

Ich glaube, die jüdische Kultur ist unwiederbringlich verloren. Es sind doch

alle tot. Einige Juden kamen zwar nach dem Krieg zurück. Aber der

Antisemitismus danach hat viele endgültig aus dem Land getrieben.

Heute sagt sie, und es klingt fast amüsiert, sei „der Jude“ doch für viele Polen

nur eine ganz abstrakte Angst. Weil es doch kaum mehr welche gibt:

In meinem Block, wo 12 Parteien wohnen, oder noch mehr, da sind durchaus

Antisemiten darunter. Aber es gab nie Probleme, weil alle nach dem Motto

leben: ‚Mein Jude, ist ein guter Jude. Der andere da, den ich nicht kenne, der

ist schlecht. Aber meiner, der ist gut.

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LYRIK 2

Wislawa Szymborska Beitrag zur Statistik

Auf hundert Menschen

die alles besser wissen

- Zweiundfünfzig;

die um jeden Schritt bangen

- fast der ganze Rest;

Hilfsbereite,

wenn´s nicht zu lange dauert

- sogar neunundvierzig;

beständig Gute,

weil sie nicht anders können

- vier, vielleicht auch fünf;

(…)

Grausame,

wenn die Umstände sie dazu zwingen

- das sollte man lieber nicht wissen,

nicht einmal annähernd;

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die nach dem Schaden klug sind

- nicht viel mehr

als die vor dem Schaden klug sind;

die dem Leben nichts abgewinnen außer Sachen

- vierzig,

obwohl ich mich gern täuschen würde;

Geduckte, Leidgeprüfte,

ohne eine Laterne im Dunkel

- dreiundachtzig,

früher oder später;

Bemitleidenswerte

- neunundneunzig;

Sterbliche

- hundert auf hundert.

Eine Zahl, die sich vorerst nicht ändert.

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REPORTAGE 4

Koscheres Kochen mit Pawel Bramson.

Gerade kochen wir ein Schabbat-Mahl für 70 Personen – Krzysiek, für 70,

oder? – für 68! – Ach so, ja, also 68 Personen… Suppe und Lachs!

Pawel Bramson wird nicht poetisch, wenn es um Essen geht. Schäumchen,

Variationen, raffinierte Marinaden – das ist nicht seine Welt. Auch wenn es hier

sonst, im Hotel Marriott, doch eher fein zugeht. Zwar trägt Pawel Bramson eine

weiße Küchenkluft wie alle anderen im Raum, aber für das Kochen sind

Krzysiek und Darek zuständig; Pawel hingegen hat sich rechts vom Herd

postiert:

Ich stehe hier rum, schau ihm auf die Finger – auch wenn er das nicht gern

hat, aber da gibt’s kein Drumherum… (lacht) Nein, im Ernst, ich prüfe die

Eier, ob da auch kein Blut drin ist, achte auf den Salat, schalte Herde und

Öfen an, prüfe, ob alle Produkte, die für die Suppe oder was auch immer

verwendet werden, auch ein Koscher-Zertifikat haben. Vom Pfeffer, über Öl

oder Thunfisch, ob das auch alles so ist, wie es sein sollte.

Koscher essen kann man hier im Hotel erst seit etwa 2 Jahren und auch dann nur

auf Vorbestellung. Die jüdische Gemeinde in Polen, sie wächst zwar, aber ein

tägliches koscheres Angebot, lohnt sich einfach nicht. Schließlich ist der

Aufwand recht hoch: Das Essen darf nur in einer kleinen Spezialküche

zubereitet werden, alle Gerätschaften und Produkte müssen die Kriterien

jüdischer Speisegesetze erfüllen. Das sicher zu stellen, ist Pawels Aufgabe. Seit

gut 10 Jahren arbeitet er als Kontrolleur; prüft auf Anfrage Fabriken und

Restaurants in ganz Polen. Heute drängt die Zeit, denn es ist Freitag und mit

Sonnenuntergang beginnt der Schabbat. Gekocht werden darf dann nicht mehr,

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selbst wenn das Essen erst für den späten Abend vorgesehen ist. Bis dahin wird

es in speziellen Maschinen oder in der sogenannten Hot Box warm gehalten.

Pawel Bramson verschwindet in einen kleinen Nebenraum der Küche.

Teraz musze koszerowac pietruszke!

Petersilie koschern, sagt er.

Wasser, Salz, Petersilie! Da darf später kein einziger Käfer, kein Insekt drin

sein. Ich muss jedes Blatt untersuchen, ob da auch kein Tier drauf sitzt.

Über das Waschbecken gebeugt sortiert Pawel Bramson die einzelnen Stängel.

Dass ich Jude bin, habe ich erfahren, als ich ungefähr 22 Jahre alt war. Aber

das heißt ja nicht, dass ich gleich ein religiöser Jude sein muss. Trotzdem, ich

hab mir eben gesagt: wenn es wirklich so ist, dann werde ich eben als Jude

leben. Ich bin also zum Rabbiner um ihn zu fragen, wie das funktioniert, was

das bedeutet. Er hat mir verschiedene Bücher gegeben, die hab ich gelesen,

und je mehr ich gelesen habe, desto mehr wollte ich auch so leben.

Was folgte, war ein beinahe kompletter Bruch mit seinem früheren Leben. Nur

die Ehe mit seiner Jugendliebe hielt. Sie, die schon früher von ihrer jüdischen

Herkunft wusste, hatte im Jüdischen Historischen Institut von Warschau durch

Zufall herausgefunden, dass auch die Familie ihres Mannes jüdisch war. Pawel

Bramson hatte plötzlich ein Problem:

Ich wusste nicht, was das heißt: Jude zu sein. Ich wusste nur, dass ich sie

hasse.

Als Anhänger des Warschauer Fußballvereins Legia gehörte er der rechten

Hooligan-Szene an, mit kahlrasiertem Schädel und immer bereit für eine

Prügelei. Warum er trotzdem eine Jüdin heiratete, wo er von seiner eigenen

Herkunft doch noch gar nichts wusste? Pawel Bramson schiebt seine kurze

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Schläfenlocke hinters Ohr, grinst etwas schief. Auch jetzt noch, mit Vollbart,

Kippa und Zitzit, also Gebots-Quasten an seinem Hemd, mag er es, sein

Gegenüber herauszufordern – sei es auch nur verbal:

Vielleicht ist meine Liebe für sie so groß, dass ich darauf nicht geachtet habe.

Meine Schwiegermutter hat mal so ein bisschen boshaft zu mir gesagt: So,

jetzt heiratest du also eine Jüdin… Ich hab ihr dann gesagt: Hör mal, manche

züchten Hunde, andere halten sich Fische, ich halte mir halt eine Jüdin. Also,

geb‘ Ruhe!

Nebenan wird inzwischen der Lachs gebraten, gut 30 blass-orange Filetstücke

brutzeln auf einer heißen Platte; Pawel nickt zufrieden. Der Küchentrupp liegt

gar nicht so schlecht in der Zeit. Serviert wird später alles auf Porzellan-

Geschirr, das mit einem blauen Davidstern versehen ist. Vom Suppenteller bis

zum Salzstreuer – alles streng nach jüdischer Vorschrift.

Man kann auch nicht ein bisschen schwanger sein. Also: Heute halte ich

mich an den Schabbat, morgen nicht. Entweder ich bin jüdisch oder eben

nicht. Das, was wir tun, sollten wir auch zu 100 Prozent tun. Und wenn die

Gebote eben so sind… Wir bekommen schließlich das Gesetz von Gott und

nicht umgekehrt. Für mich gibt’s da keinen Mittelweg: entweder man macht

es ganz oder man lässt es.

Probleme mit Antisemitismus habe er nie, sagt Pawel Bramson. Das gäbe es hier

eigentlich gar nicht; mit seinem Sohn besucht er manchmal Fußballspiele, dann

betritt er seine frühere Arena, das Stadion: erhobenen Hauptes, mit Hut,

schwarzem Mantel und allem was dazu gehört.

Ich schäme mich nicht dafür, dass ich Legia-Fan bin, genauso wenig dafür,

dass ich Jude bin. Wenn mein linkes Auge höher als das rechte wäre und ich

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wie ein Quasimodo aussähe, dafür würde ich mich vielleicht schämen. Aber

so? Nein! Ich bin stolz darauf, wer ich bin!

REPORTAGE 5

Elinor will vergeben und versuchen, es besser zu machen.

In den Zloty Tarasy – zwischen Hauptbahnhof und Kulturpalast - lavieren sich

die Menschen mühsam aneinander vorbei. In den Händen: unzählige

Einkaufstüten- und taschen. Die „goldenen Terrassen“ sind Warschaus

mondänster Konsumtempel. Auf drei Etagen findet sich hier alles, was die

westliche Markenwelt zu bieten hat.

Dzien Dobry, Pani. Do you speak English?

Im Untergeschoss reicht ein junger Mann ganz in schwarz einer Passantin ein

schmales Stückchen Seife. „Vom Toten Meer“, sagt er. Ein Geschenk. Dann

schaut er auf deren Hände. Die seien ja ganz trocken, sagt er und lächelt. Ob er

Ihr da ein tolles Produkt zeigen dürfe….

Amit übt Verkaufsgespräche. Der 22-jährige Israeli ist neu im Team. Polnisch

spricht er kaum. Braucht er auch nicht. Hier kaufen vor allem Touristen. Und die

Polen, die sich einen Einkauf im Shoppingtempel leisten können, bewegen sich

beruflich oft auf internationalem Parkett. An dem goldenen Stand mit

Schönheitsprodukten vom Toten Meer beobachtet ihn seine Chefin Elinor

Hatuka.

Elinor

Amit blickt etwas unsicher zu Elinor. Die Chefin übernimmt.

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Hello, I am Elinor. Nail-Kit or Salt?

Maniküre-Set oder Körperpeeling? Die Kundin interessiert sich fürs Peeling.

Und ehe sie sich versieht, hat Elinor sie schon mit ihrem breiten Lächeln betört.

The Salt contains 26 Minerals and…

Die 33-Jährige erzählt vom Salz aus dem Toten Meer und von seinen 26

Mineralien. Und sie schwärmt vom Schwimmen dort, das eher wie Schweben

sei. So gesund und natürlich für die Haut. Normale Kosmetik ist reine Chemie,

sagt sie und greift mit der einen Hand nach der der Kundin. Und mit der anderen

zu einer Sprühflasche. Amit assistiert:

ELINOR: „So. Erst einmal müssen wir Ihre Hände waschen. Wir brauchen

also ein kleines bisschen Wasser….Und das ist hier das Salz. Und jetzt bitte

die Hände aneinander reiben. Und was macht das Salz, Amit?“ AMIT: Na,

das saugt alle Giftstoffe heraus ….“ ELINOR: Genau. So unterstützen wir die

Haut in ihrem Erneuerungsprozess. Nach einer Minute waschen wir Ihre

Hände wieder mit Wasser. ….. Sooo. Und dann fühlt sich ihre Haut an wie

ein Babypopo.“

Seit sechs Jahren verkauft die Graphikdesignerin aus Eilat am Roten Meer die

israelischen Schönheitsprodukte. Erst war sie in Texas, dann in Großbritannien.

Danach ging es weiter nach Budapest und vor zwei Jahren nach Warschau. In

Osteuropa boomt das Geschäft, sagt Elinor. Drei Stände und 20 Mitarbeiter

betreut sie in dem Shoppingcenter. Die Hälfte sind Einheimische, die anderen

Israelis. Elinor legt die Hand auf Amits Schulter. Sie macht jetzt Pause.

Neben einer Kaffeekette zieht sie die Brandschutztür auf. Ein langer Flur im

Neonlicht. Manchmal geht Elinor hier in ihrer Mittagspause hin, um

durchzuatmen. Zwölf Stunden freundlich sein. Das ist anstrengend. Ihre Familie

war entsetzt, als ihre Tochter nach Warschau ging. Obwohl sie keine

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Angehörigen im Holocaust verloren hat. Für viele Israelis bleibt Polen das Land

der Kollaborateure:

Wenn man nicht nach vorne schaut, vergibt und nicht versucht, es besser zu

machen, was kann man sonst daraus lernen? Für unsere Kinder, für unsere

Zukunft. Deshalb glaube ich auch, dass es kein Zufall ist, dass ich heute in

Polen bin. Ich versuche, das, was war, irgendwie zu reparieren, um es besser

zu machen. Auch für mich ganz persönlich.

Trotzdem, so einfach ist es nicht. Elinor ist froh, dass sich heute in Warschaus

Straßen kaum noch Spuren der Vergangenheit finden.

Ich will lieber glücklich sein als unglücklich. Und ich weiß, ich wäre traurig,

wenn ich die Orte des Ghettos oder Auschwitz besuchen würde. Das alles zu

sehen und mir dabei vorzustellen, wie die Juden dort lebten und was sie

durchmachen mussten, das wäre schwer. …Andererseits: Wenn sich

geschäftliche Möglichkeiten in den Stadtviertel ergeben würden, wo früher

das Ghetto war….so, warum nicht?

Juden machen Geschäfte. In Polen. Elinor verzieht den Mund. Diesen Spruch

musste sie sich schon ein paar Mal anhören. Sie hebt die Schultern. Geld

verdienen wolle doch jeder hier, dafür sei das boomende Warschau doch der

beste Beweis.

Elinor ist nicht religiös. Gelegentlich an hohen Feiertagen geht sie in die

Synagoge. Vor allem um ihren israelischen Kollegen einen Gefallen zu tun. Es

sei gefährlich, wenn Religion zu viel Einfluss gewinne, kritisiert sie. Israel sei

dafür doch der beste Beweis:

Religion, das sind für mich oft zu starre Regeln, denen sich die Menschen

unterzuordnen haben, anstatt dass sie die Menschen miteinander verbindet.

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Sie trennt die Menschen voneinander, umsonst gibt es nicht so viele Kriege in

der Welt.

In Warschau sind die wenigen Juden, die hier leben, tolerant, sagt Elinor. Wohl

auch, weil sie genau das von der katholischen Mehrheitsgesellschaft fordern. Da

schimpfe kein Gemeindemitglied, wenn am Schabbat mal ein Handy klingelt. In

Israel hingegen muss sie da immer mit Ärger rechnen.

In der Tasche vibriert ihr Handy.

Oh this is my boyfrind, I will tell him, that I`m here….

Ihr Freund. Piotr. Ein Warschauer. Ein Katholik. Elinor lacht. Seit eineinhalb

Jahren sind sie ein Paar. Er hatte Weihnachtsgeschenke für seine Familie bei ihr

gekauft. Liebe auf den ersten Blick, schwärmt sie. Die beiden reden Englisch

miteinander. Wenn sie zusammen seine Familie besuchen, muss er für Elinor

noch oft übersetzen. Und trotzdem fühlt sie sich dort zuhause. Sie will bleiben -

und wünscht sich, dass ihre Mutter sie so sieht:

Irgendwann wird sie schon kommen. Sie hat doch gar keine andere Wahl. Sie

muss doch meine Schwiegereltern kennenlernen. Und in irgendeinem Staat

dieser Welt, muss das doch möglich sein.

23

LYRIK 3

Der Zylinder - Wladyslaw Szlengel

Ich setz den Zylinder auf

Ich ziehe den Smoking an –

Ich bind mir mit Schwung die Krawatte...

Ich setz den Zylinder auf

Ich ziehe den Smoking an

Und geh auf die Wache.

Der Polizist ist höchst erstaunt,

der Polizist kriegt plötzlich Angst,

vielleicht versteckt er sich...

vielleicht denkt er auch,

vielleicht glaubt er auch,

dass jemand übergeschnappt ist.

Ich setz den Zylinder auf,

leg nicht die Armbinde an,

in meinem Kopf ist ein Orchester,

in meinem Kopf ist Phantasie,

im Herzen trag ich Verlangen,

als wärs am Silvestertag.

24

REPORTAGE 6

Rabbiner Schudrich bereit sich auf die Purim-Feier vor.

Michael Schudrich wandert in seinem Büro auf und ab, weicht schließlich mit

dem Handy in den Flur aus. Sein Arbeitszimmer, klein, voller Bücherstapel und

Kisten lässt keine große Bewegungsfreiheit zu. Sein Jackett hat der

Oberrabbiner von Polen irgendwo abgelegt, die Krawatte im 70er Jahre-Muster

baumelt lose um den Hals, die Ärmel sind hochgekrempelt.

Das war gerade Rabbiner Wojciechowicz. Wir waren mal wieder

unterschiedlicher Meinung, aber das ist schon in Ordnung. Er sagte zu mir:

Ach, ich brauch noch was für die Purim-Feier; hast du das vielleicht? Ich

hab‘ gesagt: klar, komm morgen vorbei und hol’s dir ab.

Michael Schudrich lässt sich auf einen alten Sessel fallen, nimmt einen Schluck

aus seiner Teetasse. Die Zusammenarbeit mit den Kollegen aus der reformierten

jüdischen Gemeinde laufe soweit ganz gut; Meinungsverschiedenheiten sagt er,

sind doch normal. Dass er selbst der orthodoxen jüdischen Gemeinde vorsteht,

ist ihm nicht anzusehen. Keine Schläfenlocken, statt Vollbart ein Drei-Tage-

Bart; nur die kleine Kippa auf dem kurzgeschnittenen Haar ist eindeutig. 1973

ist er zum ersten Mal aus seiner Heimatstadt New York nach Polen gereist, ein

ziemlicher Schock:

Die entscheidende Erinnerung an Polen in den 70ern? Einfach nur Grau.

Alles war Grau, das Wetter war grau, die Gebäude waren grau, das Essen war

grau, die Gemeinde war grau. Einfach nur Grau, da war ganz wenig

Hoffnung.

25

Trotzdem hat es ihn wieder hierher gezogen, 1990 ist er dauerhaft in das

Heimatland seiner Großeltern zurückgekehrt, um als Rabbiner die Gemeinde

wiederaufzubauen.

Das war damals eine Handvoll alter Menschen. In der Synagoge waren 12, 15

Leute, alle 70 Plus. Zwischen mir und dem Rest der Gemeinde waren etwa 30,

40 Jahre Altersunterschied. Und heute bin ich manchmal der Älteste in der

Synagoge.

Während des Kommunismus seien viele Juden ausgewandert oder hätten ihre

Religion verschwiegen. Jetzt, nach knapp 25 Jahren Demokratie gibt es wieder

mehr Offenheit, meint Schudrich. Besonders junge Polen würden ihre jüdischen

Wurzeln wiederentdecken. Die Gemeinde wächst, und sie verjüngt sich. Zahlen

will Schudrich nicht nennen; insgesamt gäbe es in Polen wohl zwischen 20- und

50.000 Juden.

Aus einem Pappkarton in einer Ecke seines Büros zieht Schudrich

plastikverschweißte bunte Gerätschaften: Ratschen und anderes Spielzeug;

unentbehrliche Utensilien für das Purim-Fest. Genauso wie Kostüme und

Masken. In wenigen Tagen ist es soweit.

It’s a very joyous holiday bordering on silliness.

Purim sei schon an der Grenze zur Albernheit, meint Schudrich und hält eine

Starwars-Maske in die Höhe.

I have here, em, from Star Wars, from Darth Vader. I’m not sure yet, how I’m

gonna use this one…

Aber wir sollten uns doch selbst ein Bild machen.

26

Ein paar Tage später. Draußen ist es bereits dunkel, die Nozyk-Synagoge, der

einzige erhaltene Gebetsraum aus der Vorkriegszeit in Warschau, ist bis in den

letzten Winkel hell erleuchtet. Zwerge, Blumenkinder, Prinzessinnen, ein

Infanterist - der hohe Hauptraum der Nozyk-Synagoge füllt sich mit Maskierten.

Männer und Frauen kommen gemeinsam, teilen sich dann auf und nehmen links

und rechts im Hauptraum Platz, voneinander getrennt durch einen hohen

Paravent.

In einer Bankreihe, umgeben von älteren Frauen, sitzt Krystyna Budnicka, die

damals als Kind dem Warschauer Ghetto und dem Tod nur knapp entkommen

ist:

Der Rabbiner hat mir gestern eine SMS geschickt; ich soll unbedingt

kommen: ‚Wir warten auf dich‘, hat er gesagt, ‚du wirst hier gebraucht‘

(lacht). Ja ja, wir sprechen uns immer mal wieder. Ach, schaut mal, der da

sieht ja lustig aus, den muss man mal fotografieren…

Weiter vorne im Raum erklimmt inzwischen ein Tiger das Lesepult, auf dem

eine Schriftrolle bereit liegt. Rabbiner Schudrich bittet um Ruhe, klappt dann die

Kapuze seines Ganzkörperkostüms nach hinten. Der Tiger beginnt zu singen:

Was folgt, ist ein Schauspiel, das dem Darsteller all seine Kräfte abverlangt,

denn es geht darum, das Böse lächerlich zu machen und die Rettung der Juden

aus großer Gefahr zu feiern. Eine gute Stunde dauert die gesungene Lesung aus

dem Buch Ester. Erinnert wird an eine Begebenheit aus vorchristlicher Zeit.

Haman, der höchste Regierungsbeamte des persischen Königs wollte alle Juden

im Reich an einem einzigen Tag ermorden lassen. Der jüdischen Königin Ester

aber gelang es, dies zu verhindern. „Haman“, ein Name, den es bei jeder

Gelegenheit zu schmähen gilt:

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Rasseln, Ratschen, Pfeifen, sie erfüllen ihren Zweck an diesem ausgelassenen

Abend in der Nozyk-Synagoge von Warschau. Krystyna Budnicka, die alte

Dame, lächelt und amüsiert sich mal wieder über die merkwürdigen Fragen der

Nachgeborenen:

Hat mich doch vorhin einer gefragt, ob im Ghetto auch Purim gefeiert wurde.

Also ich weiß nicht, da war einem doch nun wirklich nicht nach Freude und

Spaß. Aber vielleicht haben die Erwachsenen sich ja gedacht, dass dieser

Haman, dass das Hitler ist und sie haben eine Esther gesucht, die sie rettet.

Ja, so könnte das gewesen sein.

Langsam leert sich der Raum; der große Aufbruch hat begonnen. In einem

Hotel, ganz in der Nähe ist ein Saal reserviert. Warschaus jüdische Gemeinde

hat zum Purim-Ball geladen, ein lautes, buntes und fröhliches Fest; die Nacht,

sie ist noch jung.

Der fremde Nachbar. Das waren Gesichter Europas über Juden in Polen mit

Reportagen von Johanna Herzing und Melanie Longerich.

Die Gedichte hat Volker Risch gelesen.

Musik und Regie: Babette Michel,

Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Katrin Fidorra.

Redaktion: Katrin Michaelsen


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