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Gericht der Strasse - ACAT-Schweiz acatnews … · • Ralph Ginzburg (1962) «100 Years of...

Date post: 07-Jun-2018
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Nr. 12 | März 2017 Gericht der Strasse 10 11 9 10 Sekretariat Neuer Mitarbeiter Vereinsleben Strategieentwicklung Generalversammlung Menschenrechte Schweiz Neue Prioritäten Schattenberichte Kampagnen Karfreitag: Lynchjustiz in Togo Rückblick und Ausblick Fokus Lynchjustiz Seite 2
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Nr.

12 |

Mär

z 20

17

Gericht der Strasse

10 119 10SekretariatNeuer Mitarbeiter

VereinslebenStrategieentwicklungGeneralversammlung

Menschenrechte Schweiz Neue Prioritäten Schattenberichte

Kampagnen Karfreitag: Lynchjustiz in TogoRückblick und Ausblick

FokusLynchjustiz

Seite 2

Editorial

Was bringt eine Gruppe Menschen dazu, einen anderen Menschen auf brutale Art und Weise, ohne jede Möglichkeit zur Ver-teidigung, umzubringen? Ist es Mordlust eines entfesselten Mobs? Sind wir Men-schen von Natur aus grausam gegenüber anderen Menschen? Oder ist es der hilf-lose Versuch der Gesellschaft, so Verant-wortung für Recht und Gerechtigkeit zu übernehmen, die der Staat nicht fähig ist zu garantieren?

Diese entfesselten Mobs, diese lebensver-achtende Brutalität in Vergangenheit und Gegenwart lassen uns fassungslos zurück. Und doch müssen wir hinschauen und die Gründe für diese Grausamkeit suchen, um auch ein Phänomen wie die Todesstrafe einordnen zu können. Denn hier über-nimmt der Staat doch das Gewaltmonopol, lässt Beschuldigten zumindest theoretisch Raum für Verteidigung. Und missachtet da-bei trotzdem seine Verantwortung, bedin-gungslos für das Recht auf Leben für alle einzustehen.

ACAT Schweiz fordert in der Karfreitags-kampagne die togolesischen Behörden auf, Massnahmen zu ergreifen, um Lynch-justiz zu verhindern, das Gewaltmonopol innerhalb rechtsstaatlicher Grenzen aus-zuüben und das Recht auf Leben für alle zu verteidigen.

In der Meditation zur Karfreitagskampagne erinnert uns Pfarrer Dieter Zellweger dar-an, dass eine Parallele besteht zwischen den heutigen Fällen von Lynchjustiz und der Passion Jesu. Erinnern wir uns bei aller Empörung und allem Unverständnis über diese Grausamkeiten an die Worte Jesu: «Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.» SK

Impressum

Herausgeberin: ACAT-Schweiz, Aktion der Christen für die Abschaffung der FolterSpeichergasse 29, Postfach, 3001 BernTel. 031 312 20 44. [email protected] 12-39693-7Redaktionsteam: Sophie Kreutzberg (SK) (Verantwortliche, [email protected]), Bettina Ryser Ndeye (BR), Dominique Joris (DJ)Übersetzung: Bettina Ryser NdeyeTitelbild: Darstellung der Rassenunruhen in Atlanta, Georgia. Titelbild der französischen Zeitschrift «Le Petit Journal» vom 7. Oktober 1906 Gestaltung Layout-Raster: www.neuweiss.ch, Bea Würgler, BernDruck: Werner Druck & Medien AG, Basel Nächste Ausgabe: Juni 2017, Redaktionsschluss 1. Juni 2017 Auflage: 540 auf Deutsch, 580 auf Französisch

Editorial

Kampagne gegen Lynchjustiz von ACAT-Togo © ACAT-Togo 2017

«Lynchen ist der Ausdruck eines Vakuums zwischen

dem Rechtswesen und der Alltagswirklichkeit.»

Tomás Bernal Alanis

3Nr. 12 | März 2017

«Die Gesellschaft scheint überall aus den Fugen geraten zu sein und blutrünstige Dämonen fallen über uns her. […] Es scheint als habe sich der Charakter unserer Lands-leute plötzlich verändert. Tausende inter-pretieren das Gesetz, wie es ihnen gefällt.» (Niles Register, 1838)

«Die, welche das Lynchen kritisieren, mei-nen es hätte leicht verhindert werden kön-nen. Nur 15 Männer sind in das Gefängnis eingebrochen und haben den Neger ge-lyncht. Es gab keinen Versuch, das Gefäng-nis zu verteidigen. Kein einziger Schuss wurde abgegeben. Die Behörden haben absolut nichts unternommen, um die Tat zu verhindern.» (New York Herald, 1903)

Diese zwei historischen Artikel in amerika-nischen Zeitungen liegen mehr als 60 Jahre auseinander. Einer wurde vor dem Sezes-sionskrieg (12.4.1861 bis 23.6.1865) ver-fasst, einer danach. Trotzdem weisen beide auf die gleiche Problematik in den Vereinig-ten Staaten von Amerika hin – Lynchjustiz.

Im kolonialen Nordamerika (17/18 Jhd.) jedoch existierte «Lynchjustiz» – so wie wir sie heute verstehen und wie diese Zeitun-gen sie beschreiben – kaum. Vielmehr wa-ren Strafverfahren eigentliche Volksjustiz – ein öffentlicher Akt, an dem die Bevölke-rung Anteil hatte. Hauptsächlich weil Straf-verfolgung und Justiz damals noch nicht Monopol von Regierungsbeamten waren und auf diese Weise <Recht> gesprochen wurde. Der Beschuldigte hatte in diesen öffentlichen Volksjustizverfahren die Mög-lichkeit, Busse zu tun und Reue zu zeigen. Wenn das dem Volk gefiel, konnte es einen Beschuldigten begnadigen (was zwar sel-ten war, aber durchaus vorkam).

Das blieb weitgehend so bis ins späte 18. Jahrhundert. Die öffentlich stattfinden-den Hinrichtungen waren eine Wiederspie-gelung der Wertvorstellung der lokalen Be-völkerung und nicht zu vergleichen mit den brutalen Mob-Aktionen späterer Jahre, wel-che die eingangs erwähnten Zeitungen be-schreiben. Im Normalfall liefen die Verfah-ren schnell ab und grausame Hinrichtungen und Folter waren, verglichen mit Europa zu dieser Zeit, sehr selten.

Lynchjustiz Fokus

Das änderte sich je länger je mehr mit der Strafpraxis, die gegenüber Sklaven an-gewandt wurde. Der Historiker Manfred Berg sieht darin eine nachhaltige Wirkung auf die Geschichte der Strafjustiz und des Lynchens in den USA. Die «rassisch ko-dierte Sklaverei», so Berg, stellte gewisse Menschen ausserhalb von Gesetzen und Schutzrechten, was wiederum ein weitrei-chendes System der Gewalt begründete, in dem Menschen weisser Hautfarbe ge-gen Menschen schwarzer Hautfarbe tun und lassen konnten, was sie wollten, ohne rechtlich dafür belangt zu werden. Mit der ursprünglich gemeinschaftlich geübten Ge-rechtigkeit hatte dies nichts mehr zu tun.

So wurde Lynchjustiz, im heutigen Sinne, insbesondere nach Ende der amerikani-schen Revolution ein zunehmendes Pro-blem. Dies kann einerseits als Versuch gedeutet werden, die partizipatorische Tra-ditionen der Vormoderne wiederzubeleben und sich gegen den staatlichen Monopolan-spruch zu behaupten, und andererseits befeuerten Rassismus und Gruppierungen wie der Ku-Klux-Klan vor allem im Süden der USA Lynchjustiz. Es war erklärtes Ziel solcher Gruppierungen, Angst und Schre-cken unter der schwarzen Bevölkerung zu verbreiten. Dazu gehörte auch der men-schenverachtende Umgang mit dem Phäno-men: Postkarten mit den Leichen der Opfer wurden angefertigt und zur Belustigung an Bekannte und Verwandte geschickt.

Im 19. Jahrhundert erreichte Lynchjustiz in den USA ihren Höhepunkt. Die meisten Opfer von Lynchgewalt waren demnach Afroamerikaner, mehr als 80 Prozent allein in den Südstaaten. Die Strafen reichten vom Federn und Teeren bis zu Folter und Mord. Es gehörte nicht viel dazu, den Zorn eines Mobs auf sich zu ziehen. Eine häufi-ge und äusserst beliebig vorgebrachte An-schuldigung war, dass ein schwarzer Mann sich auf unzulässige Weise einer weissen Frau gegenüber verhielt.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Fälle von Lynchjustiz je länger je seltener. Ohne konkreten Anlass, jedoch, so argumentieren Historiker, war tatsächlich die Durchsetzung des staatlichen Gewalt-monopols ursächlich für den Rückgang. In der Konsequenz wurden aber deutlich mehr Todesstrafen von staatlicher Seite verhängt und vollstreckt. Nach Manfred Bergs Ana-lyse lasse sich in der Tat eine Verbindung herstellen zwischen dem Absinken der Lynchjustiz und dem Ansteigen der staatlich sanktionierten Todesstrafe. Daher auch die Schlussfolgerung, dass der Staat zum Teil die Funktion des Mobs übernommen habe. SK

Quellen:• Manfred Berg (2014) «Lynchjustiz in den USA» • Ralph Ginzburg (1962) «100 Years of Lynchings» • Katja Ridderbusch (2014) «Geschichte der

Todesstrafe in den USA» Detaillierte Quellenangaben finden Sie auf www.acat.ch

Lynchjustiz in den Vereinigten Staaten von AmerikaIn den Gründerjahren der Vereinigten Staaten von Amerika wurde die Justiz hauptsächlich gemeinschaftlich von der Bevölkerung gehandhabt, es war traditionell eine eigentliche Volksjustiz. Im Laufe der Zeit wandelte sich diese zu brutaler Lynchjustiz, um mit der Ausweitung der Staatsgewalt im 20. Jahrhundert nach und nach zu verschwinden. Historiker sehen dabei einen direkten Zusam-menhang mit der Todesstrafe.

Postkarte von Lynchmorden in Duluth, Minnesota vom 15. Juni 1920

4Nr. 12 | März 2017

Lynchjustiz

Zunahme der LynchfälleIm November 2016 wurde in Mananjary eine Frau geschlagen und verbrannt, weil sie Schweinefleisch in die heilige Stätte einer lokalen Ethnie geworfen hatte. Vier mutmassliche Mörder wurden in Amboangi-be zu Tod gelyncht, und in einem dritten Fall stürzte sich die Menge auf zwei Personen, die sie des Mordes verdächtigte. Im Januar 2017 wurde in der Gemeinde Namorona gar ein Gendarm von einer wutentbrannten Menschenmenge umgebracht, weil er sich gegen die Hinrichtung eines Brandstifters durch die Bevölkerung gestellt hatte. Sein Kollege wurde schwer verletzt, die Polizei-kaserne geplündert und zerstört. Der Bür-germeister hat die Dorfbewohner angeblich gar aufgestachelt, auf den Pyromanen los-zugehen, und hat den Zögernden mit Ver-geltung gedroht. Aus Frustration darüber, dass die Polizei drei Personen abführen wollte, die des gemei-nen Mordes an einer jungen Frau verdäch-tigt waren, haben neulich in einem anderen Fall Bewohner von Lopary Vangaidrano in einer angespannten Atmosphäre während Stunden die Nationalstrasse blockiert, um die Abführung der Verdächtigen und die An-kunft von Polizeiverstärkung zu verhindern. Lynchmord und Plünderung konnten trotz allem verhindert werden. Im Februar nahm ein Ereignis dramatischere und politischere Formen an: Zwei diensthabende Polizisten wurden in der Ortschaft Befandriana im

Fokus

Norden Madagaskars von einer Menschen-menge ermordet. Angeblich hatten sie zu-vor von den Dorfbewohnern Geld erpresst. Vier Tage später wurden 450 Hütten in fünf Dörfern niedergebrannt – offenbar von etwa dreissig Polizisten, die gekommen waren, um sich zu rächen. In den meisten dieser Dramen hatten die Sicherheitskräfte entweder nicht interveniert, oder sie waren von den an den Lynchakten Teilnehmenden daran gehindert worden. Allein in der Zeit-spanne von September bis Anfang Novem-ber 2016 sind laut der unabhängigen nati-onalen Menschenrechtskommission CNIDH 46 Personen durch Volksjustiz ums Leben gekommen.

Diese Fälle stehen aber offenbar nicht für ein neues Phänomen in der madagassi-schen Republik. Der vielbeachtete Fall von Nosy Be, bei dem zwei Franzosen und ein Madagasse im Oktober 2013 nach dem Verschwinden eines Mädchens unter dem Verdacht von Organhandel und Pädophilie gelyncht worden waren, fand im Oktober 2015 einen Abschuss mit der Verurteilung von zehn Personen zu Zwangsarbeit oder zu unbedingten bzw. bedingten Haftstrafen. Doch 25 weitere Angeklagte wurden man-gels Beweisen freigelassen, und eine Per-son wurde formell freigesprochen. Zahlrei-che ähnliche Tragödien bringen seit langer Zeit immer wieder Leid und Trauer in das Leben der Madagassen.

Ursachen der Lynchjustiz Laut einem Editorial der Gazette de la Grande Île zu diesem Thema sollen die Wur-zeln dieser Volksjustiz in einem regelrech-ten Überlebensinstinkt liegen und in der Frustration der Bevölkerung, welche seit vielen Jahren Armut, andauernde Korrupti-on, physische Aggressionen und Raub ihrer Güter und Ersparnisse erleidet. Verstärkt wird diese Frustration durch das fehlende Vertrauen der Bevölkerung gegenüber ei-nem zerfallenden Staat, einer Polizei, die ihre Schutzfunktion nicht mehr ausübt und einer korrupten Justiz, welche die Schuldi-gen selten oder dann sehr mild bestraft. So ist ein Teil der Bevölkerung dazu über-gegangen, selbst Recht zu sprechen. Der Journalist folgert daraus, die so handeln-den Personen seien eher Opfer als Täter.

Der madagassische Blogger Layandri aus Antananarivo seinerseits denkt nicht, dass das Phänomen der Volksjustiz in letzter Zeit zugenommen hat. Er meint, es sei dank der raschen Entwicklung der sozialen Netzwerke und der elektronischen Medien einfach besser sichtbar. Ein anderer Grund, der vielleicht die grössere Sichtbarkeit der jüngsten Fälle erklären könnte, ist laut dem Blogger der Frankophoniegipfel, der im No-vember 2016 im Land stattfand und den die Opposition ausgenützt haben könnte, um Aufmerksamkeit für diese Problematik zu schaffen.

Lynchjustiz in Madagaskar

Traditionelle Reisfelder in Madagaskar

Seit Herbst 2016 scheinen sich die Fälle von Lynchjustiz in Madagaskar zu vervielfachen. Medien und soziale Netzwerke haben verschiedene tragische Vorfälle aufgedeckt. Ist diese Zunahme neu oder ist die Volksjustiz ein «übliches» und wiederkehrendes Phänomen? Aus welchen Beweggründen spricht ein Teil der Bevölkerung selber Recht, und dies mit grausamen und schrecklichen Methoden, die vor aller Augen angewendet werden? Was «sagt» die Rechtsprechung des Landes dazu und was tun die Behörden, um das Problem einzudämmen? Welches sind die mittelfristigen Perspektiven, um dieses Problem zu lösen?

5Nr. 12 | März 2017

LynchjustizLynchjustiz Fokus

Das altüberlieferte System der DinaInteressant ist auch der Hinweis von Layan-dri auf den Einfluss eines althergebrachten madagassischen Rechtssystems, der Dina. Dies ist ein Normenwerk von traditionellem, lokal angewandtem Gewohnheitsrecht, das von den Dorfversammlungen beschlossen wird und Sanktionen bei Straftaten vor-sieht. Diese Strafen sollen massvoll sein und keine körperliche Gewalt beinhalten. Diese Dina wurden so ausgestaltet, dass sie einem echten Volkswillen entsprechen, und spielen in der madagassischen Ge-sellschaft eine bedeutende Rolle. Manche wurden von der Regierung erfolgreich ein-geführt, um den Dahalos, den Zebudieben, die mit ihrem Unwesen die Bevölkerung terrorisierten, teilweise das Handwerk zu legen. Die grosse Zahl der Dina und ihre Vielfalt jedoch haben die Anwendung pro-blematisch gestaltet: Eingriff in die rich-terlichen Kompetenzen, eine Unmenge an schwer zu kontrollierenden parallelen Ge-setzgebungen, Exzesse und Missbräuche mancher Dina-Anführer, Anstiftung zum Vergeltungsrecht mit Tötung von Festge-nommenen … Die Dina gelten jedoch als ein wesentliches Element der madagassi-schen Gesellschaft. Deshalb sind sie beibe-halten, wenn auch strenger durch Gesetze eingegrenzt worden.

Fehlende Strukturen Diese Massnahme ist jedoch nicht ausrei-chend, und die Vorfälle nehmen kein Ende. Werden Beteiligte an Lynchmorden festge-nommen und wird anschliessend gegen sie ermittelt, hat das meist keine Konsequen-zen, denn es fehlen Strukturen, um eine grosse Zahl von in Volksjustiz Involvierten ins Gefängnis zu bringen. Zudem geraten die Fälle schnell in Vergessenheit, weil die Medien die Dossiers nicht systematisch nachverfolgen. Schliesslich erschweren auch fehlende Mittel und eine unterbesetz-

te Polizei und Gendarmerie die Prävention und Eindämmung des Phänomens.

Interventionen von ACAT-MadagaskarMaria Raharinarivonirina, die Präsidentin von ACAT-Madagaskar, kann diese Tenden-zen nur bestätigen. Sie sagt, das Phänomen der Volksjustiz nehme in ihrem Land beun-ruhigende Ausmasse an, was vor allem auf das Versagen der Justiz zurückzuführen sei. Diese gelte bei der Bevölkerung als inkom-petent und als das korrupteste Gremium. Die engagierte Anwältin ist auch beunruhigt über eine Art Rebellion, die sich gegenüber den Sicherheitskräften (Polizei und Gen-darmerie) zu verbreiten scheint. Unter der Leitung von Maria Raharinarivonirina hat ACAT-Madagaskar übrigens am 8. Dezem-ber 2016 eine Podiumsveranstaltung mit verschiedenen Persönlichkeiten organisiert zum Thema «Gerechtere Gesellschaft ohne Todesstrafe, Lynchjustiz und gewaltsame Radikalisierung». Diese Veranstaltung steht im Zusammenhang mit der Umsetzung der Erklärung von Antananarivo für die Sensibi-lisierung und die Erziehung der Bürger zur Achtung des Rechts auf Leben.

Abschaffung der Todesstrafe, aber Zunahme der Lynchjustiz Die Todesstrafe ist in Madagaskar in Kraft, wird aber seit 1958 nicht mehr angewen-det und ist seither durch die lebenslange Zuchthausstrafe ersetzt worden. Erst im September 2012 hat die Republik Mada-gaskar jedoch das zweite Fakultativproto-koll zum Internationalen Pakt über bürgerli-che und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe unterzeichnet. Am 10. De-zember 2014 hat das madagassische Par-lament dann einen Gesetzesentwurf zur Todesstrafe angenommen. Das Ausfüh-rungsgesetz zur Abschaffung der Todes-strafe wurde am 9. Januar 2015 erlassen. Es sieht vor, in allen Gesetzestexten die

Todesstrafe durch lebenslange Zwangsar-beit zu ersetzen. Diese Gesetzesänderung ist ein begrüssenswerter Fortschritt. Die Präsidentin von ACAT-Madagaskar betont aber die Bemühungen, die künftig bezüglich der Volksjustiz und der Tendenz zur gewalt-samen Radikalisierung in der Gesellschaft unternommen werden müssen.

Lobbying, Sensibilisierungsarbeit und KorruptionsbekämpfungSicher braucht es in Madagaskar Refor-men, um die Justiz und die Sicherheitskräf-te wirksamer, professioneller und unpar-teiischer zu machen. Auch müssen ihnen mehr materielle und finanzielle Mittel ge-währt werden, damit sie das Phänomen der Lynchjustiz verhindern und ihm begegnen können. Ein erster Schritt dazu wäre die präzise Verankerung des Tatbestands der Lynchjustiz im Strafgesetzbuch, denn der Staat hat die Pflicht, das Recht auf Leben seiner Bürger zu schützen und ihm Ach-tung zu verschaffen. Jene, die es verletzen, muss er verfolgen und vor Gericht bringen. Dafür ist eine langfristige Lobbyarbeit bei den madagassischen Behörden nötig und entscheidend. Zudem kann die Zivilgesell-schaft die von der UNO vorgesehenen Men-schenrechtsmechanismen (UPR-Verfahren, Lobbying bei Menschenrechtsausschuss, Ausschuss gegen Folter und Ausschuss gegen Verschwindenlassen) nutzen und so Druck auf den Staat ausüben, damit er aktiv wird und die Volksjustiz ausmerzt. Parallel dazu sieht Maria Raharinarivonirina die Rol-le von ACAT-Madagaskar (und der anderen Organisationen der Zivilgesellschaft, . Anm. d. Red.) darin, sich «auf eine bedeutende Sensibilisierungstätigkeit zu konzentrieren, um den Stellenwert des Lebens sowie des Rechts auf Leben durch Gebräuche, Sitten und vor allem durch universell gültige Re-geln in Erinnerung zu rufen und zur Korrup-tionsbekämpfung beizutragen. All dies er-fordert eine sehr starke Mobilisierung». DJ

Quellen:• Verschiedene Online-Medien, www.rfi.fr/ www.

lexpressmada.com / www.newsmada.com / www.lemonde.fr / www.lagazette-dgi.com / ob-servers.france24.com / agenceanta.com

• Offizielle Website der Nationalversammlung von Madagaskar, www.assemblee-nationale.mg)

• Transparency International, www.transparency.org

• E-Mail vom 05.03.2017 von Maria Raharinarivo-nirina, Präsidentin von ACAT-Madagaskar

Detaillierte Quellenangaben finden Sie auf www.acat.ch

Treffen der FIACAT mit ACAT-Madagaskar © FIACAT 2017

6Nr. 12 | März 2017

Lynchjustiz

«Aufgeheizte Bevölkerung lyncht drei mut-massliche Diebe in Chiapilla, Chiapas» titelt die mexikanische Wochenzeitung proceso vom 24. Februar 2017. In diesem aktuells-ten Fall von Lynchjustiz in Mexiko werden drei junge Autodiebe auf frischer Tat er-tappt; die Gemeindepolizei nimmt sie fest und überstellt sie der Polizei des Bundes-staates, welche sie der Staatsanwaltschaft vorführen will. Doch eine aufgebrachte Menge von rund 400 Menschen verhindert dies, entreisst die Angeschuldigten der Polizei und übt selber grausame Rache an ihnen. Der Staatsanwalt gab zu Protokoll, es werde wegen Mordes an den drei Männern ermit-telt. 17 Personen, darunter 13 Polizisten, sind inzwischen festgenommen worden, letzteren wird Mord durch Unterlassung zur Last gelegt.

Diese Meldung ist leider keine Ausnahme in dem zentralamerikanischen Land. Offizielle Statistiken zur Lynchjustiz in Mexiko gibt es nicht, in verschiedenen Studien wurde das Phänomen jedoch eingehend unter-sucht. So hat der Soziologe Leandro Anibal Gamallo für seine Masterarbeit «Verbre-chen, Strafe und kollektive Gewalt: Lynch-justiz in Mexiko im 21. Jahnhundert» die na-tional verbreitete Tageszeitung El Universal sowie eine Reihe lokaler Zeitungen nach Meldungen über Lynchfälle untersucht. Aus über 15‘000 Artikeln der Jahre 2000 bis 2011 wurden 403 Fälle von Lynchjustiz im ganzen Land herausgefiltert, was einem jährlichen Durchschnitt von 33.5 Fällen pro Jahr entspricht. Die deutliche Zunahme in den letzten zwei Jahren der Untersuchung (2010 – 2011) bestätigt die Tendenz aus früheren Langzeitstudien. Die Fälle sind sehr unterschiedlich auf das Land verteilt mit einer Konzentration auf die Grossregion der Hauptstadt: Fast 50 Prozent der Fälle entfallen allein auf den Bundesstaat Mexi-ko sowie Mexiko-Stadt.

Soziologische Betrachtungen Gamallo analysiert die Lynchjustiz nach dem Konzept des Beziehungsaspekts in der kollektiven Gewalt des amerikanischen Soziologen Charles Tilly (1929 – 2008). Dieses misst der Dynamik der Interaktion zwischen den Beteiligten eine zentrale Be-deutung bei, um Gewalterscheinungen zu erklären. Weiter untersucht und kommentiert Gamal-lo die verschiedenen Erklärungsansätze dafür, dass mutmassliche Delinquenten gelyncht werden: Ist Lynchjustiz in der indi-genen Tradition verankert? Ist sie auf feh-lendes Wissen über Strafjustiz und gericht-liche Verfahren zurückzuführen? Stellt sie ein Ventil für angestaute Frustrationen in der Bevölkerung dar? Alle drei Hypothesen verwirft Gamallo als isolierte Auslöser für Lynchmorde. Er kommt vielmehr, gestützt auf die Theorie von Tilly, zum Schluss, dass die Beziehungsdynamik der Beteiligten zur Eskalation führt und dass es einen zwin-genden Zusammenhang zwischen kollekti-ver Gewalt und institutioneller Politik gibt.

Muster einer fatalen DynamikLynchmord beginnt in den meisten Fällen mit einem auslösenden Ereignis, einem Angriff auf eine Gemeinschaft. Dies provo-ziert eine gewaltsame defensive Reaktion derselben. Dadurch entsteht eine Trenn-linie zwischen dem WIR (den Lynchenden) und IHNEN, den Gelynchten. Nur in zehn Prozent der Fälle besteht das WIR aus In-dividuen, die vorher nichts miteinander zu tun hatten. Meistens gibt es unter der Tä-terschaft jedoch vorbestehende Beziehun-gen und eine gemeinsame Identität, womit sie nicht den gängigen Vorstellungen eines zufälligen Mobs entspricht.

Gamallo hat sich auch für die Frage inter-essiert, welchen Koordinationsgrad die Fälle von Lynchjustiz aufweisen. Solche mit einem hohen Koordinationsgrad nennt

er ritualisierte Lynchmorde. Dabei wird die breite Bevölkerung in einem drehbucharti-gen Ablauf mit Glockengeläute zusammen-getrommelt und fügt dem Angeschuldigten eine exemplarische Strafe zu, die gleichzei-tig eine Warnung an alle vor künftigen Über-griffen darstellt. Die grausame Tat gipfelt in der Zurschaustellung des Leichnams. Von den untersuchten Fällen gehört rund ein Fünftel in diese Kategorie.

Im Gegensatz dazu machen über die Zeit-spanne von 2000 bis 2011 die Fälle mit ge-ringem Koordinationsgrad rund 44 Prozent aus. Dabei wird kein spezieller Ort für die Tat ausgewählt, es gibt weder Verhandlun-gen mit Sicherheitskräften noch ausdrück-liche Forderungen. Ein typisches Beispiel sind Verkehrsunfälle: Zeugen fallen über den Verursacher her, um Rache zu üben. Tendenziell gibt es hierbei seltener vorbe-stehende Beziehungen zwischen den Betei-ligten.

Lynchjustiz in Mexiko

Fokus

Verbreitete Unsicherheit, ein schwacher Staat, mangelndes Vertrauen in die Justiz sowie Straflosigkeit: damit erklärt sich das weit verbreitete Phänomen der Lynchjustiz in Mexiko. Während Soziologen sich schon lange mit der Problematik auseinandersetzen und sie in verschiedenen Studien untersucht haben, beginnt der Staat sich erst seit kurzem, angesichts des zunehmenden Ausmasses, dafür zu interessieren, welches die Ursachen dafür sind.

Lynchdrohung in Mexiko. Text des Plakats: «Organisierte Nachbarschaft. Dieb, wenn wir dich erwischen, landest du nicht auf der Polizeiwache. Wir werden dich lynchen!!» © Taringa

7Nr. 12 | März 2017

Lynchjustiz Fokus

In den letzten zwei Jahren der Untersu-chung haben sich die Tendenzen verscho-ben: die dritte Kategorie, jene mit mittlerem Koordinationsgrad, wurde die häufigste, und die Lynchmorde mit hohem Koordina-tionsgrad verdoppelten sich. Die Zunahme ritualisierter Fälle von Lynchjustiz sei Aus-druck dafür, dass die Gemeinschaften im-mer stärker auf kollektive Gewalt setzen, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Die Auswertung der auslösenden Ereignis-se für Lynchmorde in der Studie von Gamal-lo zeigt an erster Stelle, mit fast 44 Prozent, Eigentumsdelikte; erst an zweiter Stelle fol-gen mit rund 18 Prozent Übergriffe auf die körperliche Integrität, an dritter Stelle sexu-elle Übergriffe.

Die politische Dimension«Niemand darf sich selber zu Gerechtigkeit verhelfen oder Gewalt ausüben, um sei-ne Rechte geltend zu machen» - so lautet Artikel 17 der mexikanischen Verfassung.

Doch der mexikanische Staat sieht sich mit grundlegenden strukturellen Problemen konfrontiert und zieht sich immer stärker aus der Verantwortung zurück. Seit den 1990er Jahren hat das Land eine grosse neoliberale Reform durchlaufen. Das Va-kuum, das durch den teilweisen Rückzug des Staates aus der öffentlichen Sicher-heit entstand, wurde mancherorts durch Sicherheitsfirmen gefüllt, welche die stark gesicherten Quartiere der Wohlhabende-ren bewachen. In anderen Gemeinden und Quartieren bildeten sich angesichts der subjektiven Unsicherheit und des Miss-trauens in die staatlichen Organisationen bürgerwehrähnliche Einheiten zur Gewähr-leistung der Sicherheit. Der zunehmende Organisationsgrad der Lynchjustiz sowie das relativ neue Phänomen der öffentlichen Drohungen mit Lynchjustiz (s. Foto) sind klar in diesem Zusammenhang zu sehen. Hinzu kommt das Problem der Straflosig-keit. Mexiko steht im «Globalen Straflosig-keitsindex» der mexikanischen Universität Puebla von 2016 an zweitoberster Stelle von 59 untersuchten Staaten. Das Muster, dass viele Straftaten entweder gar nicht untersucht oder leichtfertig abgeschrieben werden, gilt auch für Lynchmorde.

Gamallo bezeichnet die Lynchjustiz als eine «Sicherheitsstrategie der Bevölkerung an-gesichts der staatlichen Krise bei der Ge-währleistung der öffentlichen Sicherheit» in Mexiko und kommt zum Schluss, dass Lynchjustiz in vielen Gemeinden zu einer «natürlichen» kollektiven Antwort ange-sichts des fehlenden Schutzes durch den Staat wurde. BR

Quellen: • Gamallo, Leandro Anibal: Los linchamientos en

México en el siglo XXI (Masterarbeit 2013); Re-vista Mexicana de Sociologia 77, núm. 2 (abril-junio, 2015): 183-213

• Wochenzeitung proceso vom 24.02.2017, www.proceso.com.mx/475674/pueblo-enardecido-lincha-a-tres-presuntos-ladrones-en-chiapilla-chiapas

• El Cotidiano, sept.-oct. 2014, pp. 51-58, www.elcotidianoenlinea.com.mx/numeros.asp?edi=187

• El Cotidiano, marzo-abril 2007, pp. 118-119, www.elcotidianoenlinea.com.mx/numeros.asp?edi=142

Detaillierte Quellenangaben finden Sie auf www.acat.ch

Definition Lynchjustiz ist jede gemeinschaftli-che zivile (nicht staatliche), spontane oder organisierte Handlung mit öffent-lichem Charakter, die für sich selber Legitimität in Anspruch nimmt und die auf das Opfer Gewalt ausübt als Ant-wort auf eine Handlung oder ein Ver-halten desselben, wenn sich das Opfer in krasser Unterzahl gegenüber den Lynchenden befindet.(Leandro Anibal Gamallo)

8Nr. 12 | März 2017

LynchjustizFokus

Die Volksjustiz ist ein Phänomen, das zu einem «Naturzustand» gehört, wo die Men-schen Selbstjustiz üben, im Gegensatz zu einem «Gesellschaftszustand», in welchem alle den gesellschaftlichen und gesetzli-chen Regeln unterworfen sind.

Lynchjustiz oder Privatjustiz sind andere Begriffe für die Praktik der Volksjustiz. Man spricht von Volksjustiz, wenn eine Gruppe von Individuen einer Person bewusst nach dem Leben trachtet, sei es durch Lynchen oder durch den Feuertod, weil diese angeb-lich schuldig oder schlicht verdächtigt ist, gegen das Gesetz verstossen zu haben.

Die freie Enzyklopädie Wikipedia erinnert uns daran, dass Lynchjustiz auf die Zeit der Proteste gegen die Herrschaft der bri-tischen Siedler in den Vereinigten Staaten zurückgeht – die Zeitspanne, welche dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1775-1783) vorausging. Ein gewisser Charles Lynch, Patriot aus dem Bundes-staat Virginia und Friedensrichter, errichte-te aus dem Wunsch heraus, die Anwendung der Justiz zu reformieren, Schnellverfahren, welche manchmal zur aussergerichtlichen Hinrichtung von Verteidigern der britischen Krone in den Vereinigten Staaten führten. Das Gesetz von Lynch verbreitete sich in den amerikanischen Weststaaten rasend schnell und führte 1837 zur Entstehung des Wortes Lynchjustiz.

Lynchen ist definiert als eine summarische Hinrichtung ohne Gerichtsurteil. Es stellt einen massiven Verstoss gegen das Recht auf Leben dar. Artikel 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verkündet: «Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.» Arti-kel 4 der Afrikanischen Charta der Men-schenrechte und der Rechte der Völker besagt: «Jeder Mensch ist unverletzlich. Jedermann hat Anspruch darauf, dass sein Leben und seine körperliche Unversehrt-heit geachtet wird. Niemand darf willkürlich dieses Rechts beraubt werden.»

Das Christentum, der Islam sowie die tradi-tionellen afrikanischen Religionen betonen den sakrosankten Charakter des Lebens. Angesichts des Phänomens der Lynchjus-tiz kann man nur feststellen, dass wir ohn-mächtig einer regelmässigen Verletzung des Rechts auf Leben auf dem afrikani-schen Kontinent zusehen.

Lynchmorde wegen Diebstahls sind in Afrika häufig. In Westafrika wird die von den Lyn-chenden angewandte Methode «Gerichts-schwert 125» genannt: 100 Francs für das Benzin plus eine Schachtel Streichhölzer für 25 Francs reichen aus, um mutmassli-che Diebe bei lebendigem Leib zu verbren-nen. Im zentralen Afrika wird Lynchjustiz mehr gegen Personen angewandt, die der Scharlatanerie oder der Hexerei angeschul-digt sind. Nordafrika seinerseits verzeich-net in den letzten Jahren eine Lynchserie gegen Homosexuelle. In Ostafrika ist Lynch-justiz bekannt unter dem Begriff «the mob justice», womit ausgesagt wird, dass es neben der offiziellen Justiz eine Volksjustiz gibt, welche die «Todesjagd auf Verdächti-ge und Kriminelle» praktiziert. Im südlichen

Afrika tötet die Menge Menschen, denen Straftaten vorgeworfen werden, verprügelt oder verbrennt sie oder fügt ihnen andere Verletzungen zu.

Um dieses Phänomen auszumerzen ist es parallel zu gesetzgebenden und gericht-lichen Interventionen auf nationaler und internationaler Ebene erst einmal nötig, zu informieren, zu sensibilisieren und diese Praxis in den betroffenen Ländern wie auch international bekannt zu machen. So sind wir aufgerufen, Botschafter des Lebens zu werden für ein Afrika frei von Lynchjustiz.

Bruno Haden Generalsekretär von ACAT-Togo

Die Problematik der Volksjustiz in Afrika

Die Volksjustiz ist für Afrika wie für die ganze Welt eine menschenrechtliche Herausforderung. Eine menschenrechtliche Herausfor-derung, weil wir erst mal diesbezügliche Missstände im Strafrecht, aber auch in der Menschenrechtsbildung auf dem afrikanischen Kontinent feststellen. Ist die Volksjustiz unfehlbar? Wäre sie nicht eine Alternative zur Todesstrafe? Ist es problematisch, sie in der Gesetzgebung zu verankern? Gibt es eine Gerechtigkeit ohne Recht auf Leben? Solche Fragen treiben Afrika oder die ganze Welt heute um. Ausserdem stellen wir eine Zunahme der Vorfälle in den verschiedenen Regionen Afrikas fest, wo die Volksjustiz zahlrei-che Leben zerstört.

Togolesische Schülerinnen in der Socialmedia Kampagne gegen Lynchjustiz von ACAT-Togo © ACAT-Togo 2017

9Nr. 12 | März 2017

FOKUS MENSCHENRECHTE SCHWEIZ

Fokus Menschenrechte Schweiz Lynchjustiz

Nach einer internen Reflexion der Mitglieder von Vorstand und Sekretariat hat ACAT-Schweiz beschlossen, den Aktivitäten bezüglich der Menschenrechte in der Schweiz mehr Bedeutung zu geben. Die Beschäftigung mit dieser Frage geht weiter, um die Details dieser Neu-positionierung festzulegen. So wurde bereits ein Jurist angestellt, der seine Arbeit auf die verschiedenen Bereiche konzentrieren wird, in denen in der Schweiz in einem engeren oder weiteren Bezug zum Mandat von ACAT-Schweiz Verbesserungen nötig sind. An Themen und an Arbeit fehlt es nicht, weder bezüglich der Gesetzgebung auf Bundes- und Kantonsebene, noch bezüglich der Anwendung der Gesetze oder der Verwaltungspraxis.

Bei diesen sechs Themen können in der Schweiz Fortschritte erzielt werden:

1. Institutioneller und rechtlicher Rahmen: Volksinitiativen, die mit den Menschenrechten unvereinbar sind und im Widerspruch zu internationalen Verpflichtungen der Schweiz stehen.

2. Asyl- und Migrationsbereich: Recht auf automatische Rechtshilfe für Asylsuchende in allen Stadien, Non-Refoulement-Prinzip (in Risikoländer), Administrativhaft auch für Minderjährige, Betreuung unbegleiteter Minderjähriger.

3. Folter und Misshandlung: Die Verankerung des Foltertatbestands im Schweizerischen Strafgesetzbuch bleibt eine Priorität für ACAT-Schweiz und die übrigen Akteure der Zivilgesellschaft. Zahlreiche Appelle und Empfehlungen an die Adresse der Schweiz von Seiten verschiedener nationaler und internationaler Organe sind toter Buchstabe geblieben und es ist höchste Zeit, dass die Schweiz diesen Folge leistet. Das Problem ist nicht so sehr die Anwendung von Folter in der Schweiz selber als vielmehr die Erleich-terungen, die ein einheitlicher Strafartikel der Justiz gäbe, um ausländische Folterer zu verfolgen, die sich auf Schweizer Boden aufhalten und hier gefasst werden. Andere Themen sind der Zugang zu einem Anwalt bei vorläufigen Festnahmen, die juristischen und administrativen Auswirkungen von häuslicher und sexistischer Gewalt auf den Status ausländischer Oper, Polizeigewalt und deren Ahndung sowie die Ausbildung von Polizisten.

4. Haftbedingungen: Problem der Überbelegung der Gefängnisse, der Frauen und Minderjährigen in Haft sowie des Zugangs zu me-dizinischer Versorgung in Haft.

5. Schaffung einer Nationalen Menschenrechtsinstitution: Nachverfolgung des Bundesratsbeschlusses (Juni 2016) nach verschie-denen Empfehlungen durch UNO-Mechanismen, eine solche Institution zu schaffen. Laut Bundesrat sollte bis Juni 2017 eine ge-setzliche Grundlage vorliegen. Das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) ist immer noch in Betrieb (seit seiner Gründung im Jahr 2011), aber erfüllt nicht alle Anforderungen der internationalen Vorgaben.

6. Ratifikation internationaler Instrumente und noch engere Zusammenarbeit mit den Mechanismen, Organen und Sonderverfahren der UNO in Sachen Menschenrechte: ACAT-Schweiz muss ihr Plädoyer zur Ratifikation des ersten Fakultativprotokolls von 1966 zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Pakt II) durch die Schweiz verstärken. Weiter gilt es, den Follow-up zur kürzlichen Ratifikation der UNO-Konvention gegen das Verschwindenlassen sicherzustellen. Auch die Empfehlungen an die Schweiz und deren eingegangene Verpflichtungen bei den früheren Überprüfungen durch die UNO-Instanzen (UNO-Ausschuss ge-gen Folter, CAT; UNO-Menschenrechtsausschuss, CCPR; Universelle periodische Überprüfung, UPR) müssen nachverfolgt werden. DJ

Neue Prioritäten von ACAT-Schweiz

Die Schweiz vor dem UNO-Menschenrechtsausschuss (CCPR) und der Universellen periodischen Überprüfung (UPR)

Im Juli 2017 wird die Schweiz zum vierten Mal vom UNO-Menschenrechtsausschuss (CCPR) überprüft, und im November durch-läuft sie ihre dritte Universelle periodische Überprüfung (UPR).

Für die Zivilgesellschaft geht es darum, ge-stützt auf die Staatenberichte der Schweiz und die jüngsten Empfehlungen der UNO-Organe (CAT, CCPR, UPR) und des Europa-

rats (Komitee zur Verhütung der Folter, CPT) Schattenberichte zu erarbeiten. Darin wird analysiert, ob das Land in Sachen Men-schenrechte Fortschritte gemacht hat oder nicht und es werden Lösungen oder Ände-rungen vorgeschlagen.

ACAT-Schweiz wird diese Berichte zum ersten Mal unabhängig (in Absprache mit der internationalen Dachorganisation

FIACAT) erstellen, bleibt aber weiterhin in Koordination mit den zahlreichen NGOs in der Schweiz, welche in diesen Prozess in-volviert sind. In den Berichten werden die oben aufgeführten Themen behandelt. ACAT-Schweiz wird anschliessend ihre Emp-fehlungen mündlich vertreten – im Juli vor dem CCPR und bei der UPR-Session im November. DJ

10Nr. 12 | März 2017

Gesucht: FreiwilligeHelferinnen und HelferBriefe für Spendenverdankungen einpa-cken, Einlageblätter in Prospekte legen, Unterschriften von Petitionen zählen … für diese und weitere punktuelle oder wiederkehrende Aufgaben im Sekre-tariat suchen wir neue Freiwillige. Wenn Sie uns etwas von Ihrer Freizeit spenden wollen, freut sich Frau Yvette Spicher sehr über Ihre Mitteilung per E-Mail an [email protected] oder per Telefon (031 312 20 44). Vielen Dank!

Kampagnen | Sekretariat

Personelles Das Sekretariatsteam ist wieder kom-plett. Seit dem 1. Februar ist der Jurist Dominique Joris zu 70 Prozent als Verant-wortlicher für Interventionen und Kommu-nikation bei ACAT-Schweiz angestellt. Er bringt mit dem Mastertitel in Rechtswis-senschaften, einer Weiterbildung in Men-schenrechten und Völkerrecht sowie seinen beruflichen Erfahrungen als IKRK-Delegier-ter, als Jurist in verschiedenen Funktionen im Asylbereich und als Mitarbeiter bei TRIAL International das nötige Rüstzeug mit, um eine der neuen Prioritäten von ACAT-Schweiz umzusetzen, nämlich die stärkere Fokus-sierung auf Menschenrechtsfragen in der Schweiz. Im Bericht auf Seite 9 stellt Domi-nique Joris seine aktuelle Arbeit an den Schattenberichten für zwei UNO-Organe vor, welche die Schweiz im Lauf des Jahres 2017 überprüfen. Überdies ist er auch zu-ständig für die Dringlichen Appelle. Herzlich willkommen im Team, Dominique! Wir freu-en uns auf die Zusammenarbeit mit dir!

Das Problem der Lynchjustiz ist tief in der togolesischen Gesellschaft verhaftet. Die Karfreitagskampagne von ACAT-Schweiz beschäftigte sich deshalb auf Anregung der Schwesterorganisation ACAT-Togo mit der Problematik. In einer an den togolesischen Präsidenten gerichteten Petition rufen wir die Behörden auf, Schritte zu unternehmen, um diesem Trend Einhalt zu gebieten. ACAT-Togo lanciert eine Sensibilisierungskampag-ne in Togo selbst, welche über die sozialen Netzwerke verbreitet wird, ausserdem sind

öffentliche Veranstaltungen sowie Radio-sendungen zum Thema Lynchjustiz geplant. Togo ist nicht das einzige westafrikanische Land, das mit Lynchjustiz zu kämpfen hat. Deshalb ist ein steter Austausch von ACAT-Togo mit anderen westafrikanischen Län-dern geplant, um das Phänomen nachhaltig zu bekämpfen.

Bis zum 24. April kann unsere Petition an die togolesischen Behörden unterschrieben werden. SK

Zum Menschenrechtstag lag der Fokus von ACAT-Schweiz auf der Situation nicht kran-kenversicherter Gefängnisinsassen in der Schweiz. Die Petition an den Bundes-rat zugunsten dieser Menschen wurde am

15. März 2017 bei der Bundeskanzlei ein-gereicht. Insgesamt haben 3132 Personen die Petition unterschrieben. Wir werden über die weiteren Entwicklungen informie-ren. SK

Laufende Kampagne

Karfreitag 2017

Kampagnenrückblick

Menschenrechtstag 2016

«Hoffnung … trotz allem», unter diesem Thema findet die diesjährige Nächtliche Gebetswache zum Internationalen Tag der Folteropfer am 26. Juni 2017 statt. In der Nacht vom 25. auf den 26. Juni sind alle ACAT-Mitglieder und weitere engagier-te Menschen weltweit dazu aufgerufen, solidarisch der Opfer von Folter zu geden-ken. Ob allein im stillen Gebet, zusammen als Kirchgemeinde oder mit einer anderen symbolischen Aktion, ist Ihnen überlassen.

Schreiben Sie Ihre Aktion auf www.naechtlichegebetswache.com ein, damit andere Menschen in Ihrer Nähe sich anschliessen können, Inspiration für eigene Ausdrucksformen finden oder aber als Opfer die weltweite solidarische Unter-stützung ersehen können. Die Kampagnen-unterlagen erhalten Sie am 5. Mai (E-Mail) bzw. mit dem Postversand vom 12. Mai. SK

Nächste Kampagne

Nächtliche Gebetswache 2017

KAMPAGNEN SEKRETARIAT

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Ich möchte ACAT-Schweiz unterstützen

� Als Aktivmitglied � Einzelperson: Jahresbeitrag mindestens CHF 70.– (reduziert für Personen mit niedrigem Einkommen: mindestend CHF 35.–) � Paar: Jahresbeitrag mindestens CHF 90.– (CHF 45.– reduziert) � Kollektiv (Kirchgemende, Vereinigung, Unternehmen etc.): Jahresbeitrag mindestens CHF 140.–

� Als Passiv- oder Unterstützungsmitglied Die Höhe meines Monats- oder Jahresbeitrages lege ich selber fest

� Mit einer Spende. � Bitte schicken Sie mir ...................... Einzahlungsschein(e) � Ich überweise eine Spende: Postkonto 12-39693-7, ACAT-Schweiz

Vereinsleben

Strategieentwicklung

Generalversammlung 2017

Die diesjährige GV findet am Samstag, 10. Juni, von 10.00 bis 17.00 Uhr in der Friedenskirche in Bern statt. Am Vormittag steht der statutarische Teil mit einer Information von socialdesign über die neue Strategie von ACAT-Schweiz auf dem Programm, gefolgt von einem gemein-samen Mittagessen. Am Nachmittag kön-nen die Mitglieder sich in nach Sprachen unterteilten Gruppen in moderierten Work-shops austauschen zu Fragen rund um un-ser heutiges ACAT-Engagement in einer sich im Wandel befindlichen Welt.

Die folgenden Themen schlagen wir vor: Wie lebe ich mein Engagement als ACAT-Mitglied (und allenfalls Mitglied einer ACAT-

Gruppe) und inwiefern ist die christliche Identität von ACAT für mich von Bedeu-tung? Welche Zukunftsvision habe ich für ACAT-Schweiz? Wie können wir junge Leute für unsere Sache gewinnen? Und schliess-lich: was bin ich bereit, dazu beizutragen?

Wir wollen den Mitgliedern mit diesen Dis-kussionsrunden eine Gelegenheit bieten, um sich gegenseitig zu stärken und zu mo-tivieren. Die Ergebnisse des Austauschs sollen auch einfliessen in die konkrete Aus-gestaltung der neuen Strategie von ACAT-Schweiz (s. oben). Wir freuen uns deshalb, wenn jede ACAT-Gruppe mit mindestens einer Person an der Generalversammlung vertreten ist.

Es wird auch ein Raum für Meditation und Gebet zur Verfügung stehen, um sich in der Stille oder mit symbolischen Gesten mit den Menschen zu verbinden, für die wir uns einsetzen – für die Opfer von Folter und Ge-walt.

Ihre Vorschläge für den thematischen Nachmittag der GV nimmt der Vorstand ger-ne bis am 6. April entgegen. Die Einladung zur Generalversammlung wird am 21. April 2017 an die Mitglieder verschickt. Bitte reservieren Sie sich den Termin vom 10. Juni bereits jetzt. Wir freuen uns auf Ihre Teilnahme.

Auf Anregung der FIACAT haben sich Vor-stand und Sekretariat im letzten Jahr da-mit befasst, wie die Neuausrichtung von ACAT-Schweiz konkretisiert werden kann. Ein Aspekt der neuen Strategie ist die stärkere Ausrichtung auf die Schweiz, zum

Beispiel in Form von Schattenberichten an UNO-Instanzen. Um die neue strategische Ausrichtung gesamthaft, kohärent und praxistauglich ausarbeiten zu können, hat der Vorstand beschlossen, die Hilfe einer Organisationsberatung in Anspruch zu neh-

men. Seit Februar 2017 arbeiten wir mit der Firma socialdesign in Bern an diesem Prozess, dessen Ergebnisse an der Gene-ralversammlung 2017 vorgestellt werden sollen.

bitte frankieren

ACAT-SchweizSpeichergasse 29Postfach 5011CH-3001 Bern

März bis Mai 2017

Veranstaltungen

BielFilmpodium

OltenLichtspiele

MeiringenKino

So. 2. April

Mo. 3. April (in Anwesenheit von Reto Rufer, Amnesty International)

Mi. 5.April Do. 13.April

Do. 27.AprilSo. 30. April Mo. 1. Mai

18:00 und 20:30

18:00

TADMOR Ein Film von Monika Borgmann und Lokman Slim, Originalsprache arabisch, mit Untertiteln (de/en, de/fr)

Tadmor gibt einer Gruppe ehemaliger libanesischer Gefangener in dem gleichnamigen Gefängnis der Wüstenstadt Palmyra das Wort. Ein Tribut an den Überlebenswillen der Gefangenen

BernHotel Kreuz, Zeughausg. 41

Do. 6. April 18:00 Roma in der Schweiz - Geschichte, Gegenwart, Zukunft

Seit 600 Jahren gehören die Roma zur Schweizer Gesellschaft. Im-mer noch bestehen Vorurteile und Klischees, welche unhinterfragt weitergegeben werden. Anlässlich des Internationalen Tages der Roma (8. April 2017) bringen sich die Roma-Organisationen in eine Podiumsdiskussion ein – für Respekt und Anerkennung. Moderiert wird die Diskussion von Angela Mattli, GfbV Schweiz.

BernEichholz

Mo. 17. April 13:00 Ostermarsch

Mein Geld führt Krieg - Waffengeschäfte von Pensionskassen und Banken stoppen.


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