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Genetisches Modell der autosomal-rezessiv erblichen proximalen spinalen Muskelatrophie; Genetic...

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medgen 2013 · 25:337–346 DOI 10.1007/s11825-013-0402-z Online publiziert: 5. November 2013 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013 S. Langer 1  · S. Rudnik-Schöneborn 2  · K. Zerres 2  · T. Grimm 1 1    Abteilung für Medizinische Genetik im Institut für Humangenetik,  Universität Würzburg, Biozentrum, Am Hubland, Würzburg 2  Institut für Humangenetik, RWTH, Aachen Genetisches Modell der  autosomal-rezessiv erblichen  proximalen spinalen Muskelatrophie Hintergrund Grundlage der familiären Risikoberech- nung ist ein genetisches Modell für die betreffende Krankheit. Die Basis des ge- netischen Modells sind u. a. die Mendel- Regeln, das Hardy-Weinberg-Gleichge- wicht, Genfrequenz, Selektion und Muta- tion sowie die Penetranz. Wichtig ist, dass alle Parameter des genetischen Modells sich gegenseitig beeinflussen. Daher kann ein genetisches Modell auch als mathema- tische Gleichung erstellt werden und die Schätzung von unbekannten Parametern ist möglich. Spinale Muskelatrophie Bei der spinalen Muskelatrophie (SMA) handelt es sich um eine klinisch und ge- netisch heterogene Gruppe von Erkran- kungen, die durch einen progredienten Untergang der motorischen Vorderhorn- zellen und teilweise auch der motorischen Hirnnervenkerne des Hirnstamms ge- kennzeichnet ist. Diese Arbeit befasst sich ausschließlich mit der häufigsten Form, der proximalen infantilen und juvenilen SMA, die eine der häufigsten autosomal- rezessiv erblichen Erkrankungen darstellt. Man teilt die proximalen spinalen Mus- kelatrophien in 3 Formen ein, die sich v. a. nach den erreichten Meilensteinen und damit dem Krankheitsbeginn und Todesalter unterscheiden. Bei der häufigs- ten der 3 Formen, der akuten infantilen Form Werdnig-Hoffmann (SMA Typ I), wird Sitzen nicht erlernt. Patienten mit der chronischen infantilen intermediären Form (SMA Typ II), können sitzen, aber nicht gehen, während Erkrankte der chro- nischen juvenilen Form vom Typ Kugel- berg-Welander (SMA Typ III) auch Ge- hen erlernen. Für das Krankheitsbild ist primär das Survival-motor-neuron(SMN)-Gen ver- antwortlich. Die Region um das SMN- Gen hat sich im Laufe der Evolution beim Menschen dupliziert und liegt spiegelbild- lich vor, sodass mehrere Gene als Pseudo- gene vorliegen. Das SMN-Gen kommt da- her in 2 Kopien vor: telSMN (entspricht SMN1) und cenSMN (entspricht SMN2, . Abb. 1). Beide sind zwar von der DNA- Sequenz annähernd identisch, jedoch ist das SMN1-Gen das für die Krankheitsent- stehung bestimmende Gen, da das SMN2- Gen im Vergleich zum SMN1-Gen nur einen sehr kleinen Anteil an vollständi- gem SMN-Protein kodiert. In der Normalbevölkerung findet man häufig pro Allel jeweils eine SMN1-Kopie, in einigen Fällen kann das Normalallel auch als Duplikation (meist 2 SMN1-Ko- pien) vorliegen. Bei den Erkrankten ist die häufigste Mutation ein Verlust der Exons 7 und 8 im SMN1-Gen. Selten liegen auch Punktmutationen im SMN1-Gen vor, oder große Deletionen, die über das SMN1- Gen hinausgehen. Die Anzahl der SMN2-Kopien kann den Krankheitsverlauf der SMA beein- flussen [23, 45]. Darüber hinaus sind we- nige SMA-Familien beobachtet worden, bei denen eine homozygote SMN1-De- letion nicht zu einem kranken Phänotyp führte [12, 27]. Literaturdaten – Normalallele In Anlehnung an vorhandene Litera- tur wurden für die Allelfrequenzen a, b, c und d die Bezeichnungen beibehalten und weitere Parameter neu benannt bzw. hinzugefügt (. Tab. 1), wie im Folgenden aufgeführt. Die beiden Normalallele sind a (1 SMN1-Kopie) und b (2 SMN1-Kopien; . Abb. 2). Verschiedene Studien, in denen die Gesamtkopienzahl in der Normalbevölke- rung untersucht wurde, sind in . Tab. 2  aufgelistet. Es wurde darauf geachtet, dass hier nur Arbeiten angeführt werden, die von echten Kontrollpersonen ohne Fami- liengeschichte mit SMA berichten. Bei al- len untersuchten Personen lag mindestens eine SMN1-Kopie vor. Da signifikante Unterschiede zwischen verschiedenen ethnischen Zugehörigkei- ten in der Heterozygotenfrequenz erkannt wurden, werden nur Daten der europäi- schen bzw. kaukasischen Bevölkerung be- rücksichtigt. Bei der amerikanischen Stu- die von Sugarman et al. [36] wird nur der Anteil der Kaukasier und bei der südafri- kanischen Studie von Labrum et al. [19] nur der Anteil der weißen Bevölkerung verwendet. Da es sich bei den Arbeiten der Autoren Hendrickson et al. [15] so- wie Sugarman et al. [36] mit hoher Wahr- scheinlichkeit um ähnliches bzw. gleiches Probandengut handelt, wird nur die zu- letzt genannte größere Studie dargestellt. Bei fast 98% der Normalbevölkerung (25.496 von 26.040) liegen 2 oder mehr SMN1-Kopien vor, während bei den übri- gen etwa 2% (544 von 26.040) der Kont- 337 Medizinische Genetik 3 · 2013| Schwerpunktthema: Ausgewählte Aspekte von Motoneuronerkrankungen
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medgen 2013 · 25:337–346DOI 10.1007/s11825-013-0402-zOnline publiziert: 5. November 2013© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

S. Langer1 · S. Rudnik-Schöneborn2 · K. Zerres2 · T. Grimm1

1  Abteilung für Medizinische Genetik im Institut für Humangenetik, Universität Würzburg, Biozentrum, Am Hubland, Würzburg

2 Institut für Humangenetik, RWTH, Aachen

Genetisches Modell der autosomal-rezessiv erblichen proximalen spinalen Muskelatrophie

Hintergrund

Grundlage der familiären Risikoberech-nung ist ein genetisches Modell für die betreffende Krankheit. Die Basis des ge-netischen Modells sind u. a. die Mendel-Regeln, das Hardy-Weinberg-Gleichge-wicht, Genfrequenz, Selektion und Muta-tion sowie die Penetranz. Wichtig ist, dass alle Parameter des genetischen Modells sich gegenseitig beeinflussen. Daher kann ein genetisches Modell auch als mathema-tische Gleichung erstellt werden und die Schätzung von unbekannten Parametern ist möglich.

Spinale Muskelatrophie

Bei der spinalen Muskelatrophie (SMA) handelt es sich um eine klinisch und ge-netisch heterogene Gruppe von Erkran-kungen, die durch einen progredienten Untergang der motorischen Vorderhorn-zellen und teilweise auch der motorischen Hirnnervenkerne des Hirnstamms ge-kennzeichnet ist. Diese Arbeit befasst sich ausschließlich mit der häufigsten Form, der proximalen infantilen und juvenilen SMA, die eine der häufigsten autosomal-rezessiv erblichen Erkrankungen darstellt. Man teilt die proximalen spinalen Mus-kelatrophien in 3 Formen ein, die sich v. a. nach den erreichten Meilensteinen und damit dem Krankheitsbeginn und Todesalter unterscheiden. Bei der häufigs-ten der 3 Formen, der akuten infantilen Form Werdnig-Hoffmann (SMA Typ I), wird Sitzen nicht erlernt. Patienten mit der chronischen infantilen intermediären

Form (SMA Typ II), können sitzen, aber nicht gehen, während Erkrankte der chro-nischen juvenilen Form vom Typ Kugel-berg-Welander (SMA Typ III) auch Ge-hen erlernen.

Für das Krankheitsbild ist primär das Survival-motor-neuron(SMN)-Gen ver-antwortlich. Die Region um das SMN-Gen hat sich im Laufe der Evolution beim Menschen dupliziert und liegt spiegelbild-lich vor, sodass mehrere Gene als Pseudo-gene vorliegen. Das SMN-Gen kommt da-her in 2 Kopien vor: telSMN (entspricht SMN1) und cenSMN (entspricht SMN2, . Abb. 1). Beide sind zwar von der DNA-Sequenz annähernd identisch, jedoch ist das SMN1-Gen das für die Krankheitsent-stehung bestimmende Gen, da das SMN2-Gen im Vergleich zum SMN1-Gen nur einen sehr kleinen Anteil an vollständi-gem SMN-Protein kodiert.

In der Normalbevölkerung findet man häufig pro Allel jeweils eine SMN1-Kopie, in einigen Fällen kann das Normalallel auch als Duplikation (meist 2 SMN1-Ko-pien) vorliegen. Bei den Erkrankten ist die häufigste Mutation ein Verlust der Exons 7 und 8 im SMN1-Gen. Selten liegen auch Punktmutationen im SMN1-Gen vor, oder große Deletionen, die über das SMN1-Gen hinausgehen.

Die Anzahl der SMN2-Kopien kann den Krankheitsverlauf der SMA beein-flussen [23, 45]. Darüber hinaus sind we-nige SMA-Familien beobachtet worden, bei denen eine homozygote SMN1-De-letion nicht zu einem kranken Phänotyp führte [12, 27].

Literaturdaten – Normalallele

In Anlehnung an vorhandene Litera-tur wurden für die Allelfrequenzen a, b, c und d die Bezeichnungen beibehalten und weitere Parameter neu benannt bzw. hinzugefügt (. Tab. 1), wie im Folgenden aufgeführt. Die beiden Normalallele sind a (1 SMN1-Kopie) und b (2 SMN1-Kopien; . Abb. 2).

Verschiedene Studien, in denen die Gesamtkopienzahl in der Normalbevölke-rung untersucht wurde, sind in . Tab. 2 aufgelistet. Es wurde darauf geachtet, dass hier nur Arbeiten angeführt werden, die von echten Kontrollpersonen ohne Fami-liengeschichte mit SMA berichten. Bei al-len untersuchten Personen lag mindestens eine SMN1-Kopie vor.

Da signifikante Unterschiede zwischen verschiedenen ethnischen Zugehörigkei-ten in der Heterozygotenfrequenz erkannt wurden, werden nur Daten der europäi-schen bzw. kaukasischen Bevölkerung be-rücksichtigt. Bei der amerikanischen Stu-die von Sugarman et al. [36] wird nur der Anteil der Kaukasier und bei der südafri-kanischen Studie von Labrum et al. [19] nur der Anteil der weißen Bevölkerung verwendet. Da es sich bei den Arbeiten der Autoren Hendrickson et al. [15] so-wie Sugarman et al. [36] mit hoher Wahr-scheinlichkeit um ähnliches bzw. gleiches Probandengut handelt, wird nur die zu-letzt genannte größere Studie dargestellt.

Bei fast 98% der Normalbevölkerung (25.496 von 26.040) liegen 2 oder mehr SMN1-Kopien vor, während bei den übri-gen etwa 2% (544 von 26.040) der Kont-

337Medizinische Genetik 3 · 2013  | 

Schwerpunktthema: Ausgewählte Aspekte von Motoneuronerkrankungen

rollpersonen nur eine SMN1-Kopie gefun-den werden konnte. Letzteres entspricht einer Rate von etwa 1:48. Bei einem Kon-fidenzniveau von 95% bedeutet das für die Grenzen des Vertrauensbereichs 1:52–1:44. Dieser Prozentsatz wird häufig als Heterozygotenfrequenz der SMA bezeich-net. Die Berechnung ist so jedoch nicht ganz korrekt, da es auch möglich ist, dass Personen mit einer SMN1-Kopienzahl von 2 oder gar 3 heterozygot sein können (. Tab. 7).

Literaturdaten – Defektalallele

Bei den mutierten Allelen wird zwischen den Anteilen der einfachen Deletion A und der großen Deletion G sowie der Punktmutation D unterschieden. Die ent-sprechenden Allelfrequenzen werden im Folgenden a, g und d genannt (. Abb. 3).

SMA-Patienten mit einer homozygo-ten Deletion (aa) haben 0 SMN1-Kopien. Dagegen haben Patienten mit einer De-letion und einer Punktmutation (com-pound Heterozygote, z. B. ad) eine SMN1-Kopie und lassen sich daher mithilfe von MLPA („multiplex ligation-dependent probe amplification“) nicht von Heterozy-goten (ab) unterscheiden. . Tab. 3 zeigt verschiedene Studien, die Patienten hin-sichtlich ihrer SMN1-Kopienzahl unter-sucht haben.

Bei der Arbeit von Jedrzejowska et al. [18] wurden bei weiteren 4 von insgesamt 269 Patienten je 2 SMN1-Kopien gefun-den. Da diese jedoch nicht näher unter-

sucht wurden und somit eine SMN-un-abhängige Erkrankung nicht auszuschlie-ßen ist, werden sie hier in der Gesamtzahl nicht berücksichtigt. Ebenso wurden wei-tere 23 der insgesamt 525 Patienten mit mindestens 2 SMN1-Kopien von Wirth et al. [43] nicht mit angeführt, bei denen auch nach genauerer Untersuchung keine Mutationen im SMN-Gen gefunden wer-den konnten. Aus der Studie von Labrum et al. [19] werden hier aus oben genannten Gründen nur Patienten der weißen Bevöl-kerung berücksichtigt.

Es erwiesen sich 1780 von insgesamt 1864 Patienten als homozygot deletiert oder compound heterozygot für die klas-sische Deletion und eine große Deletion, was etwa 95,5% (94,5–96,4%) der Patien-ten entspricht.

Bei der Überprüfung der Gesamtko-pienzahl kann allein noch nicht zwischen einfacher und großer Deletion unter-schieden werden. Ein homozygotes Auf-treten einer solchen „large scale“ Deletion (gg) wird in der Literatur nicht beschrie-ben und ist sehr wahrscheinlich nicht mit dem Leben vereinbar. Auch über hetero-zygote große Deletionen bei SMA-Patien-ten gibt es nur sehr wenige Arbeiten, die in . Tab. 4 zusammengefasst sind. Von den 355 Patienten sind demnach 25 com-pound heterozygot für eine große Dele-tion. Dies entspricht einer Rate von etwa 7,0% (4,6–10,2%).

Genotypen

Unter der Annahme von 2 Normalallelen (b und c; . Abb. 2) und 3 Defektallelen (a, d und g; . Abb. 3) können 15 verschie-dene Genotypen vorliegen (. Tab. 5). Pa-tienten ohne SMN1-Kopie können als Ge-notypen sowohl aa als auch ag haben. Bei einer Person aus der Normalbevöl-kerung mit einer SMN1-Kopienzahl von 2 handelt es sich am häufigsten um den Genotyp bb. Es könnte sich jedoch auch um einen Überträger mit dem Genotyp ac, bd oder cg handeln. Aufgrund der un-vollständigen Penetranz ist darüber hin-aus, wenn auch äußerst selten, dd trotz ge-sunden Phänotyps denkbar. SMA-Patien-ten können neben der häufigsten Form mit 0 SMN1-Kopien (aa und ag) auch eine SMN1-Kopie (ad oder gd) oder sogar 2 SMN1-Kopien (dd) haben.

. Tab. 6 soll einen Überblick über die verschiedenen Genotypen und ihrer mög-lichen Phänotypen verschaffen, unter der Voraussetzung, dass eine unvollständi-ge Penetranz vorliegt, die für alle in Frage kommenden Genotypen gleichermaßen ausgeprägt ist.

Bestimmung der Parameter im genetischen Modell

Schätzung der AllelfequenzenDie homozygot und compound hete-

rozygot Gesunden (p2)sind:

(1)

Die heterozygoten Personen (2pq) setzen sich zusammen aus:

(2)Die homozygoten und compound hetero-zygoten SMA-Patienten (q2) sind:

(3)

sowie

(4)

(5)

(6)

5q cen 5q terSMN1SMN2

HRAD17 ψNAIP NAIPH4F5c H4F5tp44c p44tAbb. 1 9 Survival-mo-tor-neuron(SMN)-Regi-on (Chromosom 5q13)

Normalallele SMN1-Kopien

b SMN1 1

c SMN1 SMN1 2

p = b + c

Abb. 2 8 Normalallele im Survival-motor-neuron-1(SMN1)-Gen

338 |  Medizinische Genetik 3 · 2013

Schwerpunktthema: Ausgewählte Aspekte von Motoneuronerkrankungen

(21)

Der Anteil der SMA-Patienten mit 0 SMN1-Kopien unter allen Erkrankten (k0) beträgt:

(22)

Durch Einsetzen der Gleichungen (9) und (11) in Gleichung (22) sowie durch Um-wandlung erhält man:

Die relativen Allelfrequenzen bei den Normal- und Defektallelen sind:

(7)

(8)

(9)

(10)

(11)

Demnach sind alle lebendgeborenen Pa-tienten (qL

2; . Tab. 6):

(12)

(13)

(14)

(15)

Der Anteil der Patienten mit heterozygo-ter großer Deletion unter allen Erkrank-ten beträgt (kg):

(16)

Der Anteil der SMA-Patienten mit einer großen Deletion (kg) kann mithilfe von Literaturdaten (. Tab. 6) bestimmt wer-den:

(17)

Diese Gleichung kann umgewandelt wer-den in:

(18)

Gleichung (15) und Gleichung (18) gleich-gesetzt ergeben:

(19)

und nach G aufgelöst ergibt:

(20)

Zusammenfassung · Abstract

medgen 2013 · 25:337–346   DOI 10.1007/s11825-013-0402-z© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

S. Langer · S. Rudnik-Schöneborn · K. Zerres · T. GrimmGenetisches Modell der autosomal-rezessiv erblichen proximalen spinalen Muskelatrophie

ZusammenfassungDie proximale infantile und juvenile spina-le Muskelatrophie (SMA) ist eine der häu-figsten autosomal-rezessive Erbkrankheiten. Man unterteilt die Patienten in 3 Gruppen, SMA Typ I-III, abhängig von der Schwere der Erkrankung (den erreichten Meilensteinen). Das hauptsächlich verantwortliche Gen, das Survival-motor-neuron(SMN1)-Gen, ist auf Chromosom 5 lokalisiert. Während das Nor-malallel meist mit einer oder 2 SMN1-Kopien vorliegt, sind die Defektallele bei den meisten Patienten von einer Deletion betroffen; bei einigen liegen Punktmutationen vor. Bei den Deletionen wiederum unterscheidet man zwischen einfacher und großer Deletion, die über das SMN1-Gen hinausgeht. Ein homo-zygotes Auftreten letzterer führt zu pränata-ler Letalität.

Für die vorliegende Arbeit wurden zahl-reiche in der Literatur verfügbare Daten zur 

SMA Typ I-III zusammengetragen und in ihrer Abhängigkeit in einem genetischen Modell zusammengefasst. So war es möglich, fehlen-de Parameter zu schätzen, um genauere Aus-sagen über Genotypen machen zu können. Die einzelnen Allelfrequenzen konnten wie folgt geschätzt werden: 

Normalallel b (1 SMN1-Kopie): ≈0,9527; Normalallel c (2 SMN1-Kopien): ≈0,0362; ein-fache Deletion a (0 SMN1-Kopien): ≈0,0104; Punktmutation d (1 SMN1-Kopie): ≈0,0003; große Deletion g (0 SMN1-Kopien): ≈0,0004. Die Genhäufigkeit beträgt etwa 1:90 mit einer Heterozygtenfrequenz von 1:46.

SchlüsselwörterAngeborene genetische Erkrankung · SMN1-Gen · Genetische Modelle · Autosomal-rezessiver Erbgang · Allelfrequenz

Genetic model of autosomal recessive proximal spinal muscular atrophy

AbstractProximal spinal muscular atrophy (SMA) is one of the most common autosomal reces-sive diseases. According to the achieved milestones, SMA is divided into 3 groups: SMA types I–III. SMA is caused by mutations in the survival motor neuron 1 (SMN1) gene, which is located on chromosome 5. Wild type alleles usually have one or two SMN1 gene copies, disease alleles may show deletions, large scale deletions, or point mutations.

The proposed genetic model is based on published data on SMA types I–III. The com-plex genetic model of SMA allows all param-eters—even those which have not been as-sessed so far—to be calculated. The SMN1 al-

lele frequencies included the following: nor-mal allele b (1 copy of SMN1): ≈0.9527; nor-mal allele c (2 copies of SMN1): ≈0.0362; de-letion a (0 copies of SMN1): ≈0.0104; point mutation d (1 copy of SMN1): ≈0.0003; large scale deletion g (0 copies of SMN1): ≈0.0004. The result is a gene frequency of approxi-mately 1:90 and a carrier frequency of about 1:46.

KeywordsGenetic diseases, inborn · SMN1 gene · Models, genetic · Autosomal recessive inheritance · Allel frequency

(23)

Gleichung (23) mit Gleichung (15) gleich-gesetzt ergibt:

(24)

Die Gleichung (24) nach A aufgelöst er-gibt folgende quadratische Gleichung:

339Medizinische Genetik 3 · 2013  | 

(25)

(26)

(27)

(28)

Der Anteil der gesunden Personen mit einer SMN1-Kopie in der Normalbevöl-kerung (g1) kann mithilfe von Literatur-daten (. Tab. 2) bestimmt werden:

(29)

Tab. 2  Anzahl der SMN1-Kopienzahl bei gesunden kaukasischen Kontrollpersonen ohne SMA-Familiengeschichte (Autoren unterscheiden nach dem Vorliegen von 1, 2, 3 oder 4 SMN1-Kopien bzw. nach dem Vorliegen von 1, 2 oder >2 SMN1-Kopien oder nach dem Vorliegen von 1 oder >1 SMN1-Kopien)

Autoren 1 SMN1-Kopie

2 SMN1-Kopien

3 SMN1-Kopien

4 SMN1-Kopien

Personengesamt

McAndrew et al. [23]  1 50 3 0 54

Anhuf et al. [2]  4 95 1 0 100

Cusin et al. [7]  11 313 48 3 375

Feldkötter et al. [10]  4 132 3 1 140

Jedrzejowska et al. [17]  17 555 28 0 600

Zwischensumme 37 1145 83 4 1269

Autoren 1 SMN1-Kopie 2 SMN1-Kopien >2 SMN1-Kopien Personengesamt

Sugarman et al. 2011 494 22252 1725 24471

Zwischensumme 531 23.397 1812 25.740

Autoren 1 SMN1-Kopie >1 SMN1-Kopie Personengesamt

Labrum et al. [19]  13 287 300

Alle Studien 544 25.496 26.040SMN „survival motor neuron“.

Tab. 1  Übersicht über die verwendete Nomenklatur

p Wahrscheinlichkeit für ein Normalallel

q Wahrscheinlichkeit für ein Defektallel

qL2 Lebend geborene Patienten

qG2 Embryonale Letalität aufgrund von homozygoter großer Deletion

qH2 Gesunde Personen unter allen homozygot Deletierten und allen compound Hete-

rozygoten für verschiedene Defektallele

Pen Penetranz

Normalallele

b Normalallel (1 SMN1-Kopie)

c Normalallel (2 SMN1-Kopien)

Defektallele

a Einfache Deletion (Exon7/8; 0 SMN1-Kopien)

d Punktmutation (1 SMN1-Kopie)

g Große Deletion (0 SMN1-Kopien)

(30)

(31)

Gleichung (31) nach q ausgedrückt ergibt:

(32)

Der Anteil der gesunden Personen mit 2 SMN1-Kopien in der Normalbevölke-rung (g2) kann mithilfe von Literatur-daten (. Tab. 2) bestimmt werden:

(33)

(34)

(35)

Gleichung (35) nach q ausgedrückt ergibt:

(36)

Gleichung (32) mit Gleichung (36) gleich-gesetzt ergibt:

(37)

Gleichung (37) nach B ausgedrückt ergibt:

(38)

Da D, g1 und g2 bekannt sind (Gleichung 28, Gleichung 29 und Gleichung 33), kann diese kubische Gleichung gelöst werden:

(39)

(40)

Mit der Schätzung von p und q kann die Allelfrequenzen nach den Gleichungen (7) bis (11) bestimmt werden. Die Frequenz q kann über die Gleichung (32) bestimmt werden:

(41)

(42)

(43)

(44)

Die Allelfrequenzen sind in . Tab. 7 auf-geführt und wurden mit Literaturdaten verglichen.

340 |  Medizinische Genetik 3 · 2013

Schwerpunktthema: Ausgewählte Aspekte von Motoneuronerkrankungen

Inzidenz

In der Literatur findet man Werte für die Inzidenz der SMA Typ I von 1:400 in Is-rael [11] und 1:1263 auf Reunion [29] bis hin zu 1:25.708 in Nordengland [30]. Die sehr hohe Anzahl an SMA-Patienten in den ersten beiden Studien erklärt sich durch ethnische Isolate mit hoher Bluts-verwandtschaft in Israel sowie dem Grün-dereffekt auf Reunion und ist nicht reprä-sentativ. Auch für SMA Typ II und III va-riiert die Anzahl der Neuerkrankungen sehr. Bei der SMA Typ III muss bei der Auswertung der Studien v. a. darauf ge-achtet werden, ob alle Altersklassen be-rücksichtigt wurden, da die Erkrankung unter Umständen erst spät diagnostiziert wird. Da darüber hinaus auch große re-gionale Unterschiede bei den Inzidenzra-ten bestehen, werden hier ausschließlich

europäische Daten verwendet. Geeigne-te Studien, die die Anzahl der SMA-Pati-enten unter allen Neugeborenen in einem bestimmten Zeitraum beobachtet haben, zeigt . Tab. 8.

Es ergeben sich hieraus für die SMA Typ I insgesamt 413 Patienten auf 6.520.316 Lebendgeborene und damit eine Inzidenz von etwa 1:15.788 (1:17428–1:14336). Für die SMA Typ II/III findet man 197 Patienten auf 4.946.700 Lebend-geborene, was einer Inzidenz von etwa 1:25.110 (1:29.021–1:21.838) entspricht. Das bedeutet eine Gesamthäufigkeit für alle 3 Typen (qL

2) von etwa:

(45)

(46)

Embryonale Letalität

Um von der anhand von Patienten be-rechneten Inzidenz qL

2 auf die theoreti-sche Inzidenz q2 zu schließen, muss be-achtet werden, dass in der Literatur nur von Personen berichtet wird, die auch le-bend geboren wurden. Hierbei wird die embryonale Letalität aufgrund von homo-zygoten großen Deletionen nicht berück-sichtigt. Da zur embryonalen Letalität (qG

2) keine direkten Literaturdaten vor-liegen, wird diese für das genetische Mo-

Tab. 3  Anzahl der SMN1-Kopien bei SMA-Patienten

Autoren Patienten Patien-ten ge-samt

Mit 0 SMN1-Ko-pien

Mit 1 SMN1-Kopie

  Davon gesicherte Punktmutationen

Bussaglia et al. [4] 50 4 4 54

Chang et al. [5]  48 0 0 48

Cobben et al. [6]  96 7 0 103

Hasanzad et al. [14]  91 5 0 96

Jedrzejowska et al. [18] 

260 5 5 265

Labrum et al. [19]  23 1 0 24

Lefebvre et al. [20]  226 3 3 229

Liang et al. [21]  62 0 0 62

Parsons et al. [28]  206 23 11 229

Rodrigues et al. [32]  175 12 0 187

Velasco et al. [39]  60 5 0 65

Wirth et al. [43]  483 19 18 502

Alle Studien 1780 84 41 1864SMN „survival motor neuron“, SMA spinale Muskelatrophie.

Tab. 4  Anteil von Patienten mit hetero-zygoter großer Deletion

Autoren Patienten mit heterozygoter großer Deletion

Patienten gesamt

Lefebvre et al. [20] 

9 201

Wirth et al. [42] 

16 154

Gesamt 25 355

Tab. 5  Übersicht der verschiedenen Genotypen bei unterschiedlicher SMN1-Kopienzahl

SMN1-Kopien-zahl

Mögliche Genotypen

Homozygot oder bzw.(Normalallele, p2)

Heterozy-got (Über-träger, pq)

Homozygot oder compound heterozygot(Defektallele, q2)

0     aa, ag,gg (nicht lebensfähig)

1   ab, bg ad, gd

2 bb ac, bd, cg dd

3 bc cd  

4 cc    SMN „survival motor neuron“.

Tab. 6  Genotyp-Phänotyp-Beziehung

Geno-typ

SMN1-Kopien

Möglicher Phänotyp

bb 2 Gesund

2 bc 3 Gesund

cc 4 Gesund

p2 Alle Homozygoten (Normalalle)

2 ba 1 Gesund

2 ca 2 Gesund

2 bd 2 Gesund

2 cd 3 Gesund

2 bg 1 Gesund

2 cg 2 Gesund

2pq Alle Heterozygoten

aa 0 Er-krankt*

  Ge-sund

2ad 1 Er-krankt*

  Ge-sund

2ag 0 Er-krankt*

  Ge-sund

dd 2 Er-krankt*

  Ge-sund

2dg 1 Er-krankt*

  Ge-sund

gg 0   Letal  

q2   qL2* qG

2 qH2

Alle Homozygoten und compound Heterozygoten (Defektallele)

*entsprechen in der Literatur den SMA-Patienten, SMN „survival motor neuron“.

341Medizinische Genetik 3 · 2013  | 

dell über die Allelfrequenz g der großen Deletionen berechnet (qG

2 = g2).

(47)

(48)

Unvollständige Penetranz

Im Rahmen von SMA-Studien wurden auch Angehörige der Patienten hinsicht-lich ihres Heterozygotenstatus untersucht. Dabei konnten einige vermeintliche An-lageträger entdeckt werden, die trotz ge-sunden Phänotyps keine SMN1-Kopien aufwiesen. . Tab. 9 zeigt eine Zusam-menstellung der besagten Personen, wo-bei nur Elternteile von SMA-Patienten be-rücksichtigt wurden, da bei Geschwistern je nach Alter weiterhin noch ein Erkran-kungsrisiko vorliegen kann und es sich bei ihnen nicht sicher um Überträger handelt. Eine Ausnahme hierbei stellt die Arbeit von Prior et al. [31] dar, in der sowohl von einem Vater als auch von einem Bruder eines SMA-Patienten berichtet wird, wo-bei letzterer schon 40 Jahre alt und ge-sund ist.

Von den 2326 (vermeintlichen) Über-trägern erwiesen sich 8 als homozygot de-letiert für das SMN1-Gen bzw. compound heterozygot für eine einfache und eine große Deletion, obgleich sie nicht an SMA erkrankt sind.

Es muss jedoch beachtet werden, dass bisher vergleichsweise wenige Eltern und Verwandte genauer hinsichtlich ihrer

SMN1-Kopienzahl untersucht wurden. Darüber hinaus bekommt ein gesundes Paar, bestehend aus einem heterozygo-ten Partner und einem Partner mit 2 De-fektallelen, mit einer annähernd doppelt so hohen Wahrscheinlichkeit ein kran-kes Kind wie 2 heterozygote Partner. Des-halb werden diese Paare als Eltern häufi-ger erfasst.

Bisher ist ungeklärt, welche Faktoren zusammenspielen müssen, dass eine Per-son trotz homozygoter oder compound heterozygoter Mutationen nicht erkrankt. Um diese Faktoren in den Berechnun-gen mit erfassen zu können, werden sie in einem Parameter zusammengefasst: der (unvollständigen) Penetranz. Diese scheint jedoch nicht alle Personen glei-chermaßen zu betreffen, sondern in ein-zelnen Familien bevorzugt vorzuliegen. Das bedeutet, dass es wahrscheinlich Fa-milien mit SMA gibt, die eine vollständi-ge Penetranz zeigen und Familien mit un-vollständiger Penetranz. Um den Parame-ter berechnen und in das genetische Mo-dell einfügen zu können, wird er aller-dings im Folgenden für die Gesamtbevöl-kerung gleichermaßen angenommen. Der Anteil der aufgrund einer unvollständigen Penetranz gesunden SMA-Patienten wird als qH

2 bezeichnet.

(49)

(50)

(51)

(52)

(53)

(54)

Segregation

In dem Modell der SMA muss, wie bereits erwähnt, beachtet werden, dass in einigen Familien aufgrund der unvollständigen Penetranz ein Teil der Personen mit 2 De-fektallelen nicht erkrankt und ein weite-rer kleiner Teil aufgrund einer homozy-goten großen Deletion pränatal verstirbt. Die Segregationsziffer für kranke Nach-kommen muss daher unter den erwarte-ten 25% liegen, wie es bereits Zerres [44] zeigte.

In 2 Studien wurden die Ergebnisse von Pränataldiagnostik in SMA-Famili-en erfasst und es wurde ebenfalls festge-stellt, dass die Segregation zu Ungunsten

Defektallele

a Del.Ex.7/8

d

g große Deletion

q = a + d + g

SMN1-Kopien

1

0

0

Punktmutation

Abb. 3 8 Defektallele im Survival-motor-neuron-1(SMN1)-Gen

SMA Ratsuchender

Abb. 4 8 Stammbaum der Beispielfamilie mit spinaler Muskelatrophie

Tab. 7  Geschätzte Allelfrequenzen im Vergleich mit den Daten von Ogino et al. [26]

Allele Frequenzen

  Vorliegende Arbeit

Ogino et al. [26] 

Normalallele

b 0,952679 0,946976

c 0,036243 0,037745

p 0,988922 0,984721

Defektallele

a 0,010421 0,013167

d 0,000252 0,000241

g 0,000404 –

q 0,011078 0,013408

342 |  Medizinische Genetik 3 · 2013

Schwerpunktthema: Ausgewählte Aspekte von Motoneuronerkrankungen

der Defektallele verschoben ist [1, 3]. Eine vollständige Erklärung kann bisher nicht gegeben werden.

Beispiel für eine Risikoberechnung

Bei der molekulargenetischen Diagnostik von SMA wird i. d. R. „multiplex ligation dependent probe amplification“ (MLPA) eingesetzt. Mithilfe von MLPA kann je-doch nur die Anzahl der SMN1-Kopien gemessen werden. Daher muss berück-sichtigt werden, dass in einigen Fällen der Befund zweideutig sein kann (. Tab. 10).

Beispielbefunde

Der Bruder einer SMA-Patientin fragt nach seinem Heterozygotenrisiko. Es lie-gen die nachfolgenden Befunde vor.F  Stammbaum (. Abb. 4)F  Molekulargenetik:1 Indexpatientin hat SMA und ist

verstorben, es liegen keine moleku-largenetischen Untersuchungen vor, Ratsuchender hat 2 SMN1-Kopien

Tab. 10  Mögliche Genotypen bei bestimmten SMN1-Kopien

Phänotyp und Genotyp Prozentualer Anteil

0 SMN1-Kopien

Homozygot Defektallel (Deletion:aa) 100

1 SMN1-Kopie

Heterozygot, gesund (2 ba) 96,1

Heterozygot, gesund (2 bg) 3,8

Compound heterozygot, krank (2 ad) 0,03

Compound heterozygot, krank (2 gd) 0,001

2 SMN1-Kopien

Homozygot normal, gesund (bb) 99,7

Heterozygot, gesund (2 ca) 0,14

Heterozygot, gesund (2 bd) 0,12

Heterozygot, gesund (2 cg) 0,01

3 SMN1-Kopien

Compound heterozygot normal, gesund (2 bc) 0,999

Heterozygot, gesund (2 cd) 0,001

4 SMN1-Kopien

Homozygot normal, gesund (cc) 100SMN „survival motor neuron“.

Tab. 8  Inzidenz der spinalen Muskelatrophie (SMA) Typ I-III

Autoren Land SMA Typ I SMA Typ II/III

Anzahl der Patienten

Anzahl der Lebendge-burten

Anzahl der Patienten

Anzahl der Lebendge-burten

Czeizel und Ha-mula [8] 

Ungarn 91 1.376.928 – –

Darin und Tulinius [9] 

Schweden 13 320.902 3 296.601

Jedrzejowska et al. [17] 

Polen 209 2.963.783 95 2.963.783

Ludvigsson et al. [22] 

Island 4 65.584 5 65.584

Merlini et al. [24]  Italien 8 150.978 9 150.978

Mostacciuolo et al. [25] 

Italien 35 859.891 32 859.891

Pearn [30]  Großbritan-nien

9 231.370 – –

Spiegler et al. [35]  Polen 11 214.217 11 214.217

Thieme et al. [37] Deutschland 33 336.663 – –

Thieme et al. [38] Deutschland – – 42 395.646

Alle Studien 413 6.520.316 197 4.946.700

Tab. 9  Anzahl der gesunden Personen mit 0 SMN1-Kopien unter allen Übertägern

Autoren Anzahl (n) der gesunden Personen mit 0 SMN1-Kopien

Anzahl (n) der unter-suchten Eltern/Überträger insgesamt

Bussaglia et al. [4] 

0 111

Hahnen et al. [12] 

1 348

Harada et al. [13] 

0 24

Jedrzejow-ska et al. [16] 

2 386

Lefebvre et al. [20] 

0 127

Prior et al. [31] 

2 409

Rodrigues et al. [31] 

0 373

Simard et al. [33] 

0 109

Somerville et al. [34] 

1 225

Wang et al. [41] 

2 214

Alle Studien 8 2326

343Medizinische Genetik 3 · 2013  | 

Tab. 11  Risikoberechnung anhand des Beispiels mithilfe eines Bayes-Tableaus

Vater ba

0,019856

Mutter ba ca bd cd bg cg

0,019856 0,000755 0,000480 0,000018 0,000770 0,000029

Tochter krank 0,25 0,25 0,25 0,25 0,25 0,25

Ratsuchender 2 SMN1-Kopien

bb ca bb bd bd ca bb ca

0,25 0,25 0,25 0,25 0,25 0,25 0,25 0,25

Verb. Wahrs. 2,4610−05

9,3710−07

5,9610−07

5,9610−07

2,2710−08

2,2710−08

9,5510−07

3,6310−08

Vater ca

0,000755

Mutter ba ca cd bg cg

0,019856 0,000755 0,000018 0,000770 0,000029

Tochter krank 0,25 0,25 0,25 0,25 0,25

Ratsuchender2 SMN1-Kopien

ca ca ca cg ca cg

0,25 0,5 0,25 0,25 0,25 0,25

Verb. Wahrs. 9,3710−07

7,1310−08

8,6210−10

3,6310−08

1,3810−09

1,3810−09

Vater bd

0,000480

Mutter ba bd cd bg

0,019856 0,000480 0,000018 0,000770

Tochter krank 0,25 0,25 0,25 0,25

Ratsuchender2 SMN1-Kopien

bb bd bb bd bd bb bd

0,25 0,25 0,5 0,5 0,25 0,25 0,25

Verb. Wahrs. 5,9610−07

5,9610−07

2,8810−08

2,8810−08

5,4810−10

2,3110−08

2,3110−08

Vater cd

0,000018

Mutter ba ca bd bg cg

0,019856 0,000755 0,000480 0,000770 0,000029

Tochter krank 0,25 0,25 0,25 0,25 0,25

Ratsuchender2 SMN1-Kopien

ca bd ca bd cg bd cg

0,25 0,25 0,25 0,25 0,25 0,25 0,25

Verb. Wahrs. 2,2710−08

2,2710−08

8,6210−10

5,4810−10

8,7910−10

8,7910−10

3,3410−11

Vater bg

0,000770

Mutter ba ca bd cd

0,019856 0,000755 0,000480 0,000018

Tochter krank 0,25 0,25 0,25 0,25

Ratsuchender 2 SMN1-Kopien

bb cg bb bd bd gc

0,25 0,25 0,25 0,25 0,25 0,25

Verb. Wahrs. 9,5510−07

3,6310−08

2,3110−08

2,3110−08

8,7910−10

8,7910−10

Vater cg

0,000029

Mutter ba ca cd

0,019856 0,000755 0,000018

Tochter krank 0,25 0,25 0,25

Ratsuchender2 SMN1-Kopien

ca cg ca cg

0,25 0,25 0,25 0,25 Summe

Verb. Wahrs. 3,6310−08

1,3810−09

1,3810−09

3,3410−11

3,1210−05

Verb. Wahrs. verbundene Wahrscheinlichkeiten.

344 |  Medizinische Genetik 3 · 2013

Schwerpunktthema: Ausgewählte Aspekte von Motoneuronerkrankungen

(MLPA), Eltern sind nicht unter-sucht

F  Vereinfachtes genetisches Model:1 autosomal-rezessiver Erbgang im

Hardy-Weinberg-Gleichgewicht: keine Neumutation, keine Phäno-kopie.

Risikoberechnung

Im Bayes-Tableau (. Tab. 11) wird be-rücksichtigt, dass bei der verstorbenen Indexpatientin unterschiedliche moleku-largenetische Befunde vorliegen könnten (Deletion, Punktmutation oder große De-letion im homozygoten oder compound heterozygoten Zustand), sodass der Rat-suchende auch mit 2 SMN1-Kopien hete-rozygot für SMA sein kann. Sein Hetero-zygotenrisiko (Het) beträgt in dieser Situ-ation etwa 11% (NHet =0,89). Bei dieser Berechnung wurde nicht berücksichtigt, dass der Ratsuchende auch gesund ist, obwohl er 2 Defektallele besitzen könnte (unvollständige Penetranz).

Dieses Beispiel zeigt, dass zur Hete-rozygotendiagnostik bei der SMA oft die molekulargenetische Diagnostik alleine nicht ausreicht, sondern zusätzlich Risi-koabschätzungen erforderlich sind.

Diskussion

In der vorliegenden Arbeit sind die wich-tigsten für die SMA bedeutenden Parame-ter anhand von Literaturdaten geschätzt worden, indem ein genetisches SMA-Mo-dell erstellt wurde. Darüber hinaus war es mithilfe dieses Modells möglich, weitere Parameter zu bestimmen, über die bislang noch keine ausreichenden Literaturdaten vorliegen. So konnte z. B. die Wahrschein-lichkeit für embryonale Letalität aufgrund einer homozygoten großen Deletion so-wie für das Vorliegen einer homozygo-ten Punktmutation berechnet werden. Es wird in der Literatur bisher über keinen Fall mit homozygoter Punktmutation be-richtet, was nicht nur an deren Seltenheit (0,05% aller Patienten) liegen mag, son-dern auch daran, dass in der Diagnostik beim Vorliegen von 2 SMN1-Kopien eine Erkrankung an SMA i. d. R. ausgeschlos-sen wird [40]. Ebenfalls nicht ausreichend untersucht wurde bisher die Penetranz, auch wenn in vielen Studien von gesun-

den Personen mit homozygoter Deletion berichtet wird.

Mithilfe des hier angeführten geneti-schen Modells und dem Bayes-Rechen-tableau können molekulare Befunde be-rücksichtigt werden, um in der geneti-schen Beratung gerade im Hinblick auf die Familienplanung ein möglichst ge-naues und individuelles Risiko berechnen zu können.

Fazit für die Praxis

F  Die molekulargenetische Diagnostik von Erbkrankheiten erfordert neben dem molekulargenetischen Laborwis-sen auch grundlegende Kenntnisse in der formalen Humangenetik.

F  Die Heterozygotendiagnostik bei SMA bedarf häufig neben der Mole-kulargenetik auch des Einsatzes von Risikoberechnungen.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. T. GrimmAbteilung für Medizinische Genetik im Institut für Humangenetik, Universität Würzburg, Biozentrum, Am Hubland97074 Wü[email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt.  S. Langer, S. Rudnik-Schöneborn, K. Zerres und T. Grimm geben an, dass kein Interessen-konflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine Stu-dien an Menschen oder Tieren.

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34.  Somerville MJ, Hunter AGW, Aubry HL et al (1997) Clinical application of the molecular diagnosis of spinal muscular atrophy: deletions of neuro-nal apoptosis inhibitor protein and survival motor neuron genes. Am J Med Genet 69:159–165

35.  Spiegler AW, Hausmanowa-Pertrusewicz I, Bor-kowska J, Klopocka A (1990) Population data on acute infantile and chronic childhood spinal mu-scular atrophy in Warsaw. Hum Genet 85:211–214

36.  Sugarman EA, Nagan N, Zhu H et al (2012) Pan-et-hic carrier screening and prenatal diagnosis for spinal muscular atrophy: clinical laboratory analy-sis of >72400 specimens. Eur J Hum Genet 20:27–32

37.  Thieme A, Mitulla B, Schulze F, Spiegler AW (1993) Epidemiological data on Werdnig-Hoffmann di-sease in Germany (West-Thüringen). Hum Genet 91:295–297

38.  Thieme A, Mitulla B, Schulze F, Spiegler AW (1994) Chronic childhood spinal muscular atrophy in Ger-many (West-Thüringen)- an epidemiological study. Hum Genet 93:344–346

39.  Velasco E, Valero C, Valero A et al (1996) Molecu-lar analysis of the SMN and NAIP genes in Spanish spinal muscular atrophy (SMA) families and corre-lation between number of copies of cBCD541 and SMA phenotype. Hum Mol Genet 5:257–263

40.  Wang CH, Finkel RS, Bertini ES et al (2007) Consen-sus statement for standard of care in spinal muscu-lar atrophy. J Child Neurol 22:1027–1049

41.  Wang CH, Xu J, Carter TA et al (1996) Characteriza-tion of survival motor neuron (SMNT) gene dele-tions in asymptomatic carriers of spinal muscular atrophy. Hum Mol Genet 5:359–365

42.  Wirth B, Hahnen E, Morgan K et al (1995) Allelic association and deletions in autosomal recessive proximal spinal muscular atrophy: association of marker genotype with disease severity and candi-date cDNAs. Hum Mol Genet 4:1273–1284

43.  Wirth B, Herz M, Wetter A et al (1999) Quantitati-ve analysis of survival motor neuron copies: identi-fication of subtle SMN1 mutations in patients with spinal muscular atrophy, genotype-phenotype correlation, and implications for genetic counse-ling. Am J Hum Genet 64:1340–1356

44.  Zerres K (1989) Klassifikation und Genetik spinaler Muskelatrophien. Thieme-Copythek, Stuttgart

45.  Zerres K, Grimm T, Rudnik-Schöneborn S (2005) Modifikation des Phänotyps der proximalen spina-len Muskelatrophie (SMA) durch die SMN2-Genko-pie. Medgen 17:161–165

Bisher unbekannter B-Lymphozyten-Defekt entschlüsselt

Forscher entdeckten einen bisher unbe-

kannten B-Lymphozyten-Defekt, der durch 

eine Mutation im PRKCD-Gen zu einer 

schweren Autoimmunität führt.

Mit Hilfe von „Next Generation Sequencing“ 

konnte der Defekt molekular identifiziert 

werden. Daraus können diagnostische und 

therapeutische Konsequenzen abgeleitet 

werden.

Die Krankheit äußert sich durch zeitweise 

schwere Autoimmunität der Nieren, der 

Lymphknoten und des Bindegewebes. Der 

Patient wurde langfristig mit Cortison im-

munsupprimiert.

Daten aus dem anglo-amerikanischen 

Raum gehen davon aus, dass die Prävalenz 

eines klinisch relevanten Immundefektes, 

der manchmal lebensbedrohliche Folgen 

für die Betroffenen mit sich bringen kann, 

zwischen 1:1200 und 1:2000 liegt. Rund 

30 bis 40 Prozent dieser Defekte bleiben 

bisher ohne genaue Diagnose. Die meisten 

der Immundefekte gehören zu den „rare 

diseases“ (seltenen Erkrankungen). Mittels 

modernster Diagnoseverfahren wie „Next 

Generation Sequencing“ können jetzt mehr 

seltene Defekte aufgeklärt werden.

Literatur: 

Salzer E, Santos-Valente E, Klaver S et al 

(2013) B-cell deficiency and severe auto-

immunity caused by deficiency of protein 

kinase C δ. Blood 121(16):3112-3116

Quelle: Forschungszentrum

für molekulare Medizin Wien,

www.cemm.oeaw.ac.at

Fachnachrichten

346 |  Medizinische Genetik 3 · 2013


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