bpb »Lioba Weingärtner/Claudia Trentmann – Handbuch Welternährung« · 140 x 215 mm Rücken 12,5 mm · Stand 11.07.2011
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Handbuch Welternährung
Der Begriff Welternährung berührt ganz unterschiedliche Problemlagen:
Mehr als eine Milliarde Menschen hungern. Andere haben zwar etwas
zu essen, leiden aber dennoch unter dem Mangel an Vitaminen und
Nährstoffen. Ein wachsender Teil der Menschheit lebt dagegen in krank-
machender Fülle – zu viel, zu fett, zu süß. Das Buch skizziert zunächst die
weltweite Ernährungssituation, stellt dann die politischen Maßnahmen
gegen Hunger und Unterernährung vor und zeigt, was getan werden
kann und muss, um die dramatische Lage vieler Millionen Unter- oder
Fehlernährter zu verbessern. Die politischen und gesellschaftlichen
Anstrengungen zur Verbesserung der Situation gleichen einem Kampf
gegen Windmühlenflügel – der dennoch im gemeinsamen Interesse der
Reichen und der Armen nicht aufgegeben werden darf.
Lioba Weingärtner / Claudia Trentmann
Deutsche Welthungerhilfe e.V. (Hrsg.)
HandbuchWelternährung
5Inhalt
Inhalt
Vorwort von Prof. Dr. Klaus Töpfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
I. Zur Lage der Welternährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
1. Die vielen Gesichter der Fehlernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
Rekord des Hungers: Jeder sechste Mensch in Entwicklungsländern
hat nicht genug zu essen 15 · Die Verteilung des Mangels: Asien
und Afrika im Zentrum 16 · Besonders betroffen: Länder in ver-
längerten Krisen 18 · Zu wenig oder zu viel: Maßstäbe des Mangels
19 · Was oft nicht sichtbar ist: versteckter Hunger 22 · Unter-
ernährung: akut oder chronisch? 24 · Von Generation zu Genera-
tion: vererbtes Defi zit 24 · Ein zu ehrgeiziges Ziel: Halbierung von
Untergewicht 26 · Fragile Risikogruppe: akute und chronische Un-
terernährung bei Kleinkindern 27 · Mangel im Überfl uss: Adipo-
sitas 30 · Die doppelte Last: Hunger und Fettsucht 31 · Nahrung
allein ist noch keine angemessene Ernährung 34 · Selbstverant-
wortete Politikgestaltung: Ernährungssouveränität 36 · Ziele und
Prognosen 38
2. Auswirkungen von Nahrungskrisen und Fehlernährung . . . . . . 40
Risiken addieren sich 40 · Die Folgen von Fehlernährung: Körper
und Geist leiden 42 · Ökonomische Kosten, soziale Folgen 43 ·
Weitere Millenniumsentwicklungsziele gefährdet 46 · Bedrohung
von Frieden und Sicherheit 46
3. Die Ursachen von Hunger und Unterernährung . . . . . . . . . . . . . 48
Die Rolle der Nahrungsmittelproduktion 50 · Kleinbauern auf
dem globalen Markt 53 · Nachernteverluste durch unsachgemä-
ßen Umgang 55 · Preisdumping durch Handelspolitik und fehlge-
leitete Nahrungsmittelhilfe 56 · Zugang zu Nahrungsmitteln und
6 Handbuch Welternährung
Preisspiralen 58 · Verwendung und Verwertung von Nahrungsmit-
teln 60 · HIV und AIDS 62 · Globale Vernetzungen 63 · Bevöl-
kerungswachstum 63 · Weltweiter Klimawandel 67 · Kriege und
Konfl ikte 69 · Aggressive Agrarpolitik der Europäischen Union 71
· Handelshemmnisse verzerren den Wettbewerb 73 · Agrartreib-
stoffe konkurrieren um Anbaufl ächen 76 · Landnahmen – land-
grabbing 78 · Spekula tionen mit Nahrung 80 · Nahrungssiche-
rung als Stiefkind kurzsichtiger Politik 82
II. Politische Maßnahmengegen Hunger und Unterernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
4. Hungerbekämpfung: eine Verpfl ichtung für alle . . . . . . . . . . . . . 87
Im Fokus: soziale Gerechtigkeit 87 · Völkerrecht und Menschen-
recht auf Nahrung 88 · Ökonomische Argumente als Anreiz für
die Politik 92 · Millenniumsentwicklungsziele als Bekenntnis der
internationalen Staatengemeinschaft 94
5. Das Potenzial der kleinbäuerlichen Landwirtschaft . . . . . . . . . . 98
Nachhaltigkeit infolge kleinbäuerlicher Landwirtschaft 101 · Bio-
diversität statt Gentechnik 103 · Urbane Landwirtschaft 106 ·
Einkommensstärkung für ländliche Haushalte 108
6. Strukturpolitik als Motor des Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
Ausbau von Straßen und Transportnetzen 113 · Soziale Sicherung
als Krisenpuffer 114 · Gesundheit: Behandlung, Vorsorge, Bera-
tung 121 Krisenintervention durch Nahrungsprogramme 125 ·
Ausbau der Trinkwasserversorgung und der Sanitäreinrichtungen
128 · Empowerment der Frauen 129
7. Paradigmenwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
Global denken – lokal handeln 134 · Nachhaltigkeit statt Wachs-
tum wie bisher 135
III. Was ist zu tun? Die Agenda für Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
8. Die Agenda für nationale Regierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
Das Recht auf Nahrung in der Verfassung verankern 140 · Ge-
meinsame Ziele verfolgen: Beispiel Panafrika 142 · Umsetzungs-
7Inhalt
strategien koordinieren 146 · Kurz- und Langfristperspektiven
vereinen 146 · Alle relevanten Gruppen beteiligen 150 · Aus Feh-
lern und Erfolgen lernen 151 · Lokale und regionale Ansätze ent-
wickeln 153 · An internationalen Politikprozessen teilnehmen 155
9. Die Agenda für die internationale Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . 156
Globale Herausforderungen aufgreifen 156 · Neue grenzübergrei-
fende Instrumente schaffen: High Level Task Force on the Global
Food Crisis 156 · Politikinitiative für Ernährung: Scaling up Nutri-
tion 158 · Reform der Institutionen: Committee on World Food Se-
curity (CFS) 160 · Mehr fi nanzielle Ressourcen: EU und G8 162 ·
Förderung der Wertschöpfung durch Kleinbauern 163 · Neue
»Grüne Revolution für Afrika«: AGRA 167 · Förderung der Agrar-
forschung 168
10. Aufgaben der Zivilgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
Um wen geht es? 173 · Anwalt, Lobby, Sprachrohr für die Unter-
drückten 175 · Kritische Begleiter und Partner der Regierungen
175 · Ersatz staatlicher Funktionen in der Krise 177 · Lokale Be-
züge herstellen 178
11. Beispiele neuer Partnerschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
Baumwolle: Cotton made in Africa 180 · Wasser: Viva con Agua
184
12. Das kann jeder Einzelne tun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
Nachhaltige Produkte kaufen 185 · Gesund und ausgewogen es-
sen – Verschwendung vermeiden 187 · Recycling bevorzugen:
Mehrwegfl aschen 188 · Saisonal und regional kaufen: Obst und
Gemüse 189 · Artenschutz und Treibhausgase beachten: weniger
Fleisch und Fisch 190 · Auf Fairen Handel Wert legen 195 · Sich
politisch engagieren 195 · Mitmenschen motivieren 199 · Mit-
glied werden 199 · Spenden und Spenden sammeln 203
13. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
Glossar und Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
Verzeichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
Zur Lage der Welternährung48
Kapitel 3
Die Ursachen von Hunger und Unterernährung
Unterernährung hat meistens nicht eine einzige Ursache – sie ist die
Folge vieler Einfl ussfaktoren. In den neunziger Jahren fanden diese
als Kausalmodell der Unterernährung Eingang in die Literatur (siehe
Abbildung 16). Dieses Modell ist bis heute Grundlage für die Kon-
zeption zahlreicher Ernährungs- und Gesundheitsprogramme in
Entwicklungsländern.1
Unmittelbarer Auslöser für Unterernährung sind die unzurei-
chende Aufnahme von Nahrungsmitteln oder schlechte Gesundheit
oder beide Faktoren zusammen. Diesen zugrunde liegen aber Struk-
turprobleme wie Nahrungsunsicherheit in den Familien, unzurei-
Die Säulen der Nahrungs- und Ernährungssicherheit2
Ernährungs-
sicherheit
Nahrungs-
verfügbarkeit
Zugang zu
Nahrung
Verwendung und
Verwertung
• Eigenproduktion
• Vorratshaltung
• Handel
• Transfer
• Einkommen
• Preise
• Märkte
• Wissen, Normen
• Infrastruktur
• Ernährungswissen
• Ernährungsverhalten
• Gesundheitszustand
• Hygiene
• Fürsorgemöglich-
keiten
Box 7
49Die Ursachen von Hunger und Unterernährung
Ursachen der Fehlernährung
Erscheinungs-form
UnmittelbareUrsachen
ZugrundeliegendeUrsachen
AllgemeineUrsachen
Fehlernährung
Unzureichende Nahrungsaufnahme
Ressourcen und ihre Kontrolle darüberHumane, wirtschaftliche und Organisationsressourcen
Krankheiten
Nahrungs-unsicherheit
auf Haus-haltsebene
UnzureichendeGesundheitsversorgungund gesundheitsschäd-
liches Umfeld
Unangemes-sene Fürsorgevon Kindernund Müttern
Politische und ideologische Faktoren
Unangemessene Ausbildung
Wirtschafltiches System
PotenzielleRessourcen
Abbildung 16 Ursachenzusammenhänge der Fehlernährung3
chende Fürsorge für Kinder und Mütter sowie mangelnder Zugang
zu sauberem Wasser, mangelnde Hygiene, fehlende Gesundheits-
dienste und allgemeine Einkommensarmut. Darauf haben politi-
sche, wirtschaftliche und kulturelle Rahmenbedingungen einer Ge-
sellschaft Einfl uss, die sich in den vergangenen Jahren durch den
fortschreitendem Klimawandel, die anhaltende wirtschaftliche Re-
zession und hohe Agrarpreise stark verändert haben. Der Gleichbe-
rechtigung von Frauen als Schlüsselpersonen in der Ernährungssi-
cherung auf Haushaltsebene kommt dabei eine zentrale Bedeutung
zu.
Zur Lage der Welternährung50
Ernährungssicherheit beruht also auf mehreren Säulen (siehe Box
7): der ausreichenden Nahrungsverfügbarkeit innerhalb eines Lan-
des oder einer Region durch eigene Produktion, Handel oder Trans-
ferleistungen wie Nahrungsmittelhilfen, dem Zugang aller Familien
und aller Familienmitglieder zu angemessener Nahrung über Eigen-
produktion oder Einkommen, das für den Kauf von Nahrung ver-
wendet wird, sowie der richtigen Verwendung von Nahrungsmitteln
im Haushalt und der Möglichkeit ihrer körperlichen Verwertung.
Alle diese Faktoren müssen dauerhaft zusammenspielen, um von
einer stabilen Ernährungssicherung sprechen zu können.
Die Rolle der Nahrungsmittelproduktion
Die Nahrungsmittelverfügbarkeit eines Haushaltes, einer Gemeinde
oder eines Landes wird aus verschiedenen Quellen gesichert: aus der
Produktion in kleinbäuerlicher Subsistenzwirtschaft oder in intensi-
ver Landwirtschaft für den Markt, aus Vorrats- und Lagerhaltung,
sei es in häuslichen Speichern oder nationalen Getreidebanken, aus
kommerziellen Importen oder auch aus Transferleistungen wie aus-
ländischer Nahrungsmittelhilfe, vor allem bei Ländern mit niedri-
gen Einkommen und Nahrungsmitteldefi zit.
Zwar hat die Weltbevölkerung statistisch gesehen mehr als genug
Nahrung pro Kopf zur Verfügung.4 Das sagt aber noch nichts über
die Qualität der Ernährung aus und ist auch nur eine Momentauf-
nahme, da die natürlichen Ressourcen knapper werden und der Kli-
mawandel neue Rahmenbedingungen für die Nahrungsproduktion
schafft. Global gesehen ist jedoch gegenwärtig Nahrungssicherheit
erreicht.
Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (OECD) und der Ernährungs- und Landwirtschaftsor-
ganisation der Vereinten Nationen (FAO) belegen die weltweit stei-
gende Nahrungsproduktion und verdeutlichen, wie stark einzelne
Regionen zur Nahrungsproduktion beitragen (siehe Abbildung 17).
51Die Ursachen von Hunger und Unterernährung
Immer noch wächst die Produktion von Nahrungsmitteln schneller
als die Weltbevölkerung, dies belegt auch der international aner-
kannte Weltagrarbericht: Die globale Ernte erbringt etwa ein Drittel
mehr, als für die kalorische Versorgung aller Menschen notwendig
wäre.6
Soweit die Statistik. In der Praxis kommen jedoch die Nah-
rungsmittel bei vielen, die sie benötigen, nicht an. Stattdessen
wandern immer mehr Agrarprodukte in die Erzeugung von
Biotreibstoffen, Faser- oder anderen Industrieprodukten oder wer-
den als Futtermittel verwendet. Nur noch 47 Prozent der Weltge-
treideproduktion (Weizen, Reis, Mais) dienen der unmittelbaren
Ernährung. Bei Ölsaaten (Soja, Raps, Palmöl, Sonnenblumen) ist
der Anteil noch geringer. Die Umwandlung von Getreide in Fleisch7
führt außerdem zu großen Verlusten in der Nahrungsenergiebi-
lanz. Neue Herausforderungen für die internationale Gemein-
schaft entstehen auch durch den Anbau von Energiepfl anzen auf
Flächen, die dann nicht mehr für den Anbau von Nahrungspfl an-
zen verwendet werden können. Es entsteht Nutzungskonkurrenz
(siehe Abbildung 18).
Abbildung 17 Produktion ausgewählter Feldfrüchte (in Weizenäquivalenten)5
3000
2500
2000
1500
1000
500
0
Produktion ausgewählter Anbaufrüchte
2003-05 2007 2010
Millionen Tonnen, Weizenäquivalent
Andere entwickelte Länder
Andere Entwicklungsländer
Am wenigsten entwickelte Länder
Europäische Union und USA
China und Indien
Argentinien und Brasilien
Australien und Kanada
Zur Lage der Welternährung52
Es gibt also weltweit genügend Nahrungsmittel, aber längst nicht
alle stehen für die Bekämpfung von Hunger und Armut zur Verfü-
gung. Auch sind regionale Unterschiede zu berücksichtigen:
• Nordamerika und Europa beherrschen noch immer den Welt-
handel mit ihren Agrarprodukten und bestimmen weitgehend
die ökonomische, wissenschaftliche und politische Debatte in der
Agrarwirtschaft.
Lateinamerika und die Karibik haben ihre Anbaufl ächen, teils zulas-
ten des Regenwalds, ausgeweitet und produzieren in industriellem
Maßstab wesentlich mehr Agrarprodukte als sie benötigen.
• Dagegen haben die Länder Afrikas südlich der Sahara ihre Land-
wirtschaft kaum verbessern können. In diesem Teil der Welt wer-
den riesige Flächen immer noch wenig effi zient genutzt. Während
Kaffee, Tee und Baumwolle häufi g in Großbetrieben produziert
und dann exportiert werden, kämpfen Millionen von Klein- und
Kleinstbetrieben auf dem Niveau der Subsistenzlandwirtschaft
um ihr Überleben – meist unter schlechtesten klimatischen Be-
dingungen und mit einer völlig unzureichenden Infrastruktur.
Viele von ihnen haben unter Kriegen und Katastrophen sowie
unter schlechter Regierungsführung zu leiden.
2500
2000
1500
1000
500
01998 Verbrauch jeweils in Prozent 2009
Gesamtproduktionin Mio. TonnenIndustrie, Sprit, Energie, VerlusteFuttermittelLebensmittel
14,2
18,4
35,8
50,0
34,8
48,7
Abbildung 18 Weltgetreideproduktion und ihre Verwendung8
53Die Ursachen von Hunger und Unterernährung
• In Zentral- und Vorderasien sowie Nordafrika stellt sich die Lage
wiederum anders dar: Hier dominiert der Mangel an Wasser und
fruchtbaren Böden. Die Wüste dehnt sich aus. Viele Länder sind
deshalb von Nahrungsimporten abhängig, auch wenn einige Län-
der über Ressourcen wie Erdöl und andere Bodenschätze verfügen.
• Die Region Ost- und Südasien mit Pazifi k zeichnet sich durch ei-
nen hohen Bevölkerungsreichtum aus und hat ihre Nahrungs-
produktivität durch die Intensivierung der Landwirtschaft enorm
gesteigert. Mehr als 80 Prozent der Bäuerinnen und Bauern dieser
Welt sind hier beheimatet. Hier ist die Armut am weitesten zu-
rückgegangen, doch das Wachstum trägt auch zu einer extremen
Nachfrage nach Rohstoffen bei, um die immer schneller wach-
sende Stadtbevölkerung zu versorgen.9
Kleinbauern auf dem globalen Markt
»Der Hunger muss vor Ort überwunden werden«, resümiert der
Weltagrarbericht und betont, dass 70 Prozent der Hungernden auf
dem Land leben – als Klein- und Subsistenzbauern, Hirten, Fischer,
Landarbeiter und Landlose. Sie hängen unmittelbar von der lokalen
Bodennutzung ab, können sich aber oft nicht nachhaltig ernähren.
Wer ernährt die Welt? Sind es nun die vielen Millionen kleiner Ag-
rarbetriebe in den Ländern des Südens oder das Agrobusiness im
Norden mit seinen Hochertragssorten?
Die Erfahrungen in der Förderung kleinbäuerlicher Landwirt-
schaft haben in den letzten Jahren gezeigt, dass deren Kapazitäten
längst nicht erschöpft sind. Es gibt ein erhebliches Potenzial zur Er-
höhung der Nahrungsproduktion in Entwicklungsländern. Diese
Chance war über Jahrzehnte vernachlässigt worden, weil man davon
ausging, die globalen, deregulierten Märkte würden einen ausrei-
chenden Anreiz für die heimische Agrarproduktion darstellen. Es
wurde auf makroökonomische Entwicklung gesetzt und nicht in
kleinbäuerliche Produktionsbetriebe investiert. Das Versäumnis
Zur Lage der Welternährung54
liegt nicht nur bei den nationalen Regierungen. Auch die internatio-
nale Gemeinschaft hat jahrzehntelang die Landwirtschaft und länd-
liche Entwicklung vernachlässigt und Investitionen in diesen Sektor
in den letzten zwanzig Jahren verringert (siehe Abbildung 19).
Durch Agrarsubventionen der Industrieländer waren die Welt-
märkte mit wettbewerbsfähigen Billigprodukten gut versorgt, sodass
die nationale und lokale Produktion von Nahrungsmitteln immer
unattraktiver wurde. Stattdessen wurde importiert. Dieses Überan-
gebot führte nicht nur dazu, dass sich die Ernährungsgewohnheiten
in den Entwicklungsländern durch neue, oft wenig nährstoffhaltige
Einfuhrprodukte veränderten und westliche Konsummuster immer
stärker die traditionelle Ernährungsweise verdrängten. Die Verede-
lung von Nahrungsmitteln für den Export verschlingt auch ein Viel-
faches an nicht erneuerbaren Energien, um diese Produkte herzu-
stellen, zu verpacken und zu transportieren.
Erst jetzt, wo die Preise für Nahrungsmittel in ungeahnte Höhen
gestiegen sind und Nahrungsmittel auf den Weltmärkten knapp
wurden, wird diese Politik infrage gestellt.11 Mehr denn je gilt es, die
Produzenten von Nahrungsmitteln in die schwankenden, von globa-
20%
15%
10%
5%
0%
Beitrag von ODA-Mitteln zum Agrarsektor
Unterstützung des Agrarsektors ist verringert
ODA = Öffentliche Entwicklungshilfe
1979 81 83 85 87 89 91 93 95 97 99 2001 03 05 07
Abbildung 19 Rückgang der öff entlichen Entwicklungszusammenarbeit (ODA) für die Landwirtschaft10
55Die Ursachen von Hunger und Unterernährung
len Interessen gelenkten Märkte einzubinden. In den vergangenen
Jahrzehnten hat dies nicht stattgefunden und wird auch von den
Landwirten nicht notwendigerweise angestrebt. Kleinbauern produ-
zieren vorwiegend für den Eigenbedarf und gehen ungern Risiken
ein, um für den Markt zu produzieren – erst recht, wenn Kommuni-
kations- und Transportstrukturen fehlen und mögliche Absatz-
märkte nicht ausreichend bekannt sind. Kleinbäuerliche Haushalte
setzen lieber auf Sicherheit und erschließen sich eher zusätzliche
Einkommensquellen (zum Beispiel durch Lohnarbeit). Deshalb hat
auch die Förderung der Kleinbauernproduktion durch entwick-
lungspolitische Programme und Investitionen in den achtziger und
neunziger Jahren keine nennenswerte Breitenwirkung gehabt. Neu
eingeführte innovative Produkte mögen kurzfristig Erfolge erzielt
haben, konnten aber oft nicht auf eine entsprechende Nachfrage
und Absatzmöglichkeiten zählen. Sie waren nicht nachhaltig.
Einzelstrategien allein haben keinen Erfolg. Notwendig ist eine
globale Strategie, die sowohl auf der lokalen Ebene ansetzt und dort
die Potenziale kleinbäuerlicher und nachhaltiger Landwirtschaft
ausschöpft als auch die notwendigen handels- und makroökonomi-
schen Rahmenbedingungen schafft, um vorhandene Ressourcen für
eine ausreichende Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln zu nutzen.12
Nachernteverluste durch unsachgemäßen Umgang
Große Teile der Nahrungsproduktion gehen in Entwicklungslän-
dern nach jeder Ernte verloren und verstärken die ohnehin hohe
Unterversorgung mit Grundnahrungsmitteln in vielen Gebieten.
Das gilt vor allem für die kleinbäuerlichen Betriebe in Afrika. Die
Verluste liegen je nach Nahrungskultur zwischen 15 und 50 Prozent.
Zum Beispiel verderben jedes Jahr 12,5 Prozent an Sorghum und
Hirse sowie 22,5 Prozent der Maisernte.13
Verantwortlich dafür sind häufi g verfrühte Ernten unreifer Pro-
dukte, die dann verderben oder weggeworfen werden. Getreide
Zur Lage der Welternährung56
oder Feldfrüchte können auch unter starkem Regen leiden oder bei
Ernte, Verladung oder Transport beschädigt oder (zum Beispiel
mit Schimmel) kontaminiert werden. Solche Verluste führen zu
steigenden Produktionskosten der Erzeuger, die diese als Preisstei-
gerungen auf den lokalen Märkten an die Konsumenten weiterge-
ben.
Einfache Technologien wie stabile Haushaltssilos zur Lagerung
könnten hier bereits zu einer enormen Effi zienzsteigerung der Pro-
duktion und Vermarktung führen.14 Grundsätzlich ist der Schutz
von Nahrungsmitteln vor dem Verderb oder der falschen Nachbear-
beitung und Lagerung sinnvoller als der Versuch, Verluste durch eine
weitere Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion zu kompen-
sieren. Vorsorge in dieser Richtung spart unnötige Kosten für Ar-
beitskräfte, Energieverbrauch und Nahrungsproduktion. Auch die
Entsorgung von Nahrungsmitteln auf dem Weg von der Produktion
über die Vermarktung und Verarbeitung sowie die Verschwendung
von Nahrungsmitteln in Haushalten tragen dazu bei, dass nur ein
Teil der angebauten Nahrung auch tatsächlich für eine gute Ernäh-
rung genutzt werden kann.
Preisdumping durch Handelspolitik und fehlgeleitete Nahrungsmittelhilfe
Eine große Rolle für die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln spielt
auch der Handel. Der Import billiger Grundnahrungsmittel ist in
den vergangenen Jahren drastisch gestiegen. In vielen Ländern schä-
digte er die einheimische Produktion, weil die Preise ausländischer
Produkte – sei es durch Subventionierung oder aufgrund einer effi -
zienteren Massenproduktion – meist wesentlich geringer sind. Dann
lohnt sich für die einheimischen Bauern die Produktion höchstens
noch für den Eigenbedarf. Ein Indiz dafür sind die immer weiter
steigenden Importe (siehe Abbildung 20), die verdeutlichen, wie ab-
hängig ein Land von ausländischen Produkten ist.
57Die Ursachen von Hunger und Unterernährung
Importiert werden aber nicht nur kommerzielle Produkte, son-
dern auch Nahrungsmittelhilfe – aufgrund multi- oder bilateraler
Kooperationen und als Teil von Ernährungs- oder Gesundheits-
programmen. Sie kann einen wichtigen Beitrag zur Versorgung ei-
nes Landes oder einer Region leisten. Sie kann extreme Nahrungs-
engpässe ausgleichen – zum Beispiel nach einer verlorenen Ernte,
in Dürreperioden oder in anderen Katastrophensituationen – und
so das Überleben von Menschen sichern. Nach Katastrophen kann
sie in Beschäftigungsprogrammen über den Verteilungsansatz
Nahrung gegen Arbeit (food for work) beim Wiederaufbau wichtige
Funktionen erfüllen und dabei helfen, Menschen vor unfreiwilli-
ger Migration oder dem Verkauf ihrer Vermögenswerte zu bewah-
ren.
Dennoch hat Nahrungsmittelhilfe auch Nachteile. Wird die Nah-
rungsmittelhilfe falsch eingesetzt (zum Beispiel zu Erntezeiten,
wenn sie mit lokal produzierten Nahrungsmitteln konkurriert),
120
100
80
60
40
20
0
Millionen Tonnen
Entwicklungsländer sind immer mehr von Nahrungsimporten abhängigGetreideimporte von 70 Ländern
1990 91 92 93 94 95 96 97 98 99 2000 01 02 03 04 05 06 07
Nahrungsmittelhilfe
Kommerzielle Nahrungsimporte
Abbildung 20 Abhängigkeit der Entwicklungsländer von Nahrungsmittel-importen15
Zur Lage der Welternährung58
kommt es zu einem Preisdumping. Dann wird die einheimische
Produktion eingestellt, weil sie sich nicht mehr lohnt.
Die betroffenen Regierungen müssen also abwägen, ob eine Poli-
tik, die Importe von Grundnahrungsmitteln fördert, eher schadet
oder eher nützt. So kann die Einfuhr billiger Produkte kurzfristig
zwar auch Vorteile für die Konsumenten haben, die auf den Zukauf
von günstigen Nahrungsmitteln angewiesen sind. Dieser Wettbe-
werbsvorteil gegenüber der lokalen Produktion wird jedoch kontra-
produktiv, wenn die Nahrungsmittelpreise wieder steigen und die
Agrarwirtschaft nicht sofort auf Eigenproduktion umschalten kann,
um wettbewerbsfähige Produkte zu erzeugen. Eine Investition in
den nationalen Agrarsektor ist langfristig die bessere Lösung für die
Volkswirtschaft.
Zugang zu Nahrungsmitteln und Preisspiralen
Für die Bevölkerung, die kein Land besitzt, ist der Zugang zu Nah-
rungsmitteln auf den lokalen Märkten besonders wichtig. Dafür
müssen genügend Einkommen beziehungsweise Erwerbsmöglich-
keiten zur Verfügung stehen. Die Nahrungsmittelpreiskrise im Jahr
2008 führte zu einer extremen Verschärfung der ökonomischen
Lage in mehr als 30 Ländern. Wenn Grundnahrungsmittel teurer
werden, sind schnell diejenigen Volkswirtschaften und Regionen
betroffen, in denen sich die Menschen keine Lebensmittel mehr
leisten können, weil sie bereits am unteren Ende der Einkommens-
skala angekommen sind. Dann führen schon geringe Preissteige-
rungen bei Ernährung, Energie oder Transport zu gravierenden
Engpässen. Das zieht Proteste, vor allem der urbanen Unter- und
Mittelklassen, nach sich.16
Obwohl sich die Nahrungsmittelpreiskrise inzwischen entspannt
hat und die Bilder über Hungerrevolten aus den Medien ver-
schwunden sind, hält der Trend der Verteuerung an. Die Preise für
wichtige Grundnahrungsmittel lagen 2009/2010 deutlich über dem
59Die Ursachen von Hunger und Unterernährung
Durchschnittsniveau der Jahre 2002 bis 2004. Mitte des Jahres 2010
stiegen die Preise für Zucker, Getreide sowie Öle und Fette in kür-
zester Zeit wieder stark an (siehe Abbildung 21). Das belastet vor
allem die armen Haushalte, da die steigenden Kosten nicht etwa
durch Einkommenssteigerungen kompensiert werden. Die sto-
ckende Nachfrage nach Nahrung in den einkommensschwachen
Regionen bremst den Anreiz zur Nahrungsmittelproduktion – eine
weitere Negativspirale.
500
400
300
200
100
0
100
80
60
40
20
0
Die neue Situation: Preisanstieg
Neuer Trend?Preise für Güter (USD/t)
Jan 00
Jan 01
Jan 02
Jan 03
Jan 04
Jan 05
Jan 06
Jan 07
Jan 08
MaisWeizenReisÖl (rechte Skala)
Abbildung 21 Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel17
380
310
240
170
100
2002-2004 = 100
2009 2010A S O N D J F M A M J J A
Preisindizes für Nahrungsmittel
GetreideMilchprodukteZuckerÖle und FetteFleisch
Zur Lage der Welternährung60
Zusammengefasst lässt sich also sagen, dass steigende Preise für
Grundnahrungsmittel selbst bei wachsenden Einkommen zu welt-
weiter Nahrungsunsicherheit führen. Die sinkenden Getreidevor-
räte und Produktionsverluste durch Klimawandel, die Produktion
von Agrartreibstoffen sowie die hohen Kosten für Energie, landwirt-
schaftliche Betriebsmittel und Transport verschärfen die Situation.
Verwendung und Verwertung von Nahrungsmitteln
Wenn Menschen trotz ausreichender Nahrung unterernährt sind, ist
dafür häufi g ein Mangel an Gesundheit, Hygiene und Fürsorge ver-
antwortlich (siehe Box 8). Solche Missstände entstehen vor allem
aus Unwissenheit und der fehlenden Ermächtigung (empowerment)
der Frauen. Das beeinfl usst das Ernährungsverhalten und die Er-
nährungssituation in den Familien insgesamt. Studien belegen, dass
mangelnde Bildung der Mütter und Unterernährung von Kleinkin-
dern einen deutlichen Zusammenhang aufweisen.18
Krankheit führt zu Unterernährung und umgekehrt (siehe Abbil-
dung 22). Schlechte Ernährung bahnt den Weg für Infektionen, die
schlechtere Verwertung von Nährstoffen (zum Beispiel bei Durch-
fall) führt wiederum zu Unterernährung – ein Teufelskreis.
Schlechte Umweltbedingungen, etwa mangelhafte Trinkwasser-
qualität, tragen zu mindestens 50 Prozent der Folgen von Unterer-
Infektion
Fehlernährung
Verminderte Nahrungsaufnahme
Schlechte Nähr-stoffaufnahmeim Körper
Katabolismus, Freisetzung von Nährstoffen
Nährstoffabsonderung
EingeschränkteImmunfunktion
EingeschränkteSchutzwandfunktion
Abbildung 22 Wechselwirkungen zwischen Infektionen und Ernährung19
61Die Ursachen von Hunger und Unterernährung
nährung bei. In Kombination mit Unkenntnis über die korrekte Zu-
bereitung von Nahrungsmitteln führt das zu Krankheiten. Parasiten
und andere Erreger im Wasser sind für Säuglinge und Kinder die
größte Gefahr, an schwerer Unterernährung zu erkranken und durch
chronische Infektionen irreversible Wachstumsschäden zu erleiden,
weil die aufgenommene Nahrung nicht ausreichend verwertet wer-
Unterernährung trotz Nahrungsangebot20
• Schwangere und stillende Mütter decken oft nicht den erhöhten Bedarf
an Nahrungskalorien und nehmen zu wenig Proteine für das Wachstum
ihres Kindes auf. Sie leiden nicht nur unter Stress, sondern oft auch un-
ter unbehandelten Infektionen (auch sexuell übertragenen Krankhei-
ten). All dies führt in der Summe zu einem geringen Geburtsgewicht.
• Viele Mütter haben zu wenig Zeit, sich angemessen um ihre Kinder zu
kümmern, wenn sie erneut schwanger sind. Sie sorgen nicht ausrei-
chend für sich und ihre eigene Gesundheit.
• Mütter nutzen häufi g aus Unkenntnis die erste Muttermilch (Kolos-
trum) nicht, obwohl sie sich besonders positiv auf das Immunsystem
des Neugeborenen auswirkt.
• Stillende Mütter geben ihrem Säugling zu früh Beikost, obwohl die
Muttermilch mindestens bis zum sechsten Lebensmonat ausreicht und
Stillen nicht nur der beste Schutz vor Infektionen ist, sondern positive
gesundheitliche Weichenstellungen für das gesamte Leben bewirkt
(zum Beispiel Schutz vor Übergewicht und Diabetes).
• Ingesamt wird in den ersten 24 Monaten dem Kleinkind zu wenig ange-
messene Nahrung verabreicht: Entweder ist die Nährstoff dichte zu ge-
ring oder der Energiewert oder die Zusatznahrung wird zu spät einge-
führt.
• Frauen und Kinder haben einen speziellen Bedarf an Mikronährstoff en
oder Protein, dem häufi g nicht entsprochen wird.
• Eltern wissen oft nicht, wie Kinder bei Krankheiten (zum Beispiel Durch-
fall) zu ernähren sind.
• Aufgrund unzureichender hygienischer Verhältnisse werden leicht Bak-
terien und Parasiten von Erwachsenen auf die Kinder übertragen.
Box 8
Zur Lage der Welternährung62
den kann. Fehlen gleichzeitig die Gesundheitsdienste und entspre-
chende Versorgungseinrichtungen zur schnellen Bekämpfung von
Infektionen, stellen sich frühzeitig Entwicklungsschäden ein.
Durchfallerkrankungen (Diarrhoe) sind die meistverbreitete In-
fektionskrankheit und weltweit ein zentraler Faktor für Unterernäh-
rung und Tod von Kindern. Jedes Jahr sterben daran 1,5 Millionen
Kinder.
HIV und AIDS
Auch HIV und AIDS stehen mit der Ernährung in enger Wechsel-
wirkung. Vor allem in Afrika steigt die Zahl der Menschen, die mit
dem Virus leben müssen, stetig an, insbesondere südlich der Sahara
(siehe Abbildung 23).
Unter den HIV-Infi zierten und AIDS-Erkrankten ist ein Großteil
bereits arm und unterernährt, was den Zustand ihres angegriffenen
Immunsystems noch weiter verschlechtert. Die HIV-Positiven sind
oft appetitlos, nehmen deshalb weniger Nahrung auf und ihr Körper
25
20
15
10
5
0
Anzahl der mit dem HIV-Virus lebenden Menschen (Millionen)
1990 91 92 93 94 95 96 97 98 99 2000 01 02 03 04 05 06 07
Zeigt die Spanne anJahr
Abbildung 23 Geschätzte Zahl der Personen mit HIV in Subsahara-Afrika,1990-200721
63Die Ursachen von Hunger und Unterernährung
absorbiert die Nährstoffe nicht ausreichend. Gleichzeitig haben
HIV-/AIDS-Kranke aber einen höheren Energiebedarf, um ihren ge-
schwächten Immunstatus zu kompensieren und die Wirksamkeit
ihrer Medikamente zu erhöhen. HIV-/AIDS-Erkrankte fallen außer-
dem im Arbeitsprozess häufi ger aus und benötigen dann Unterstüt-
zung ihrer Familien – diese Ressourcen gehen der Ernährungssiche-
rung verloren.22
Ob das Nahrungsangebot auch angemessen verwertet wird, hängt
also vor allem von der richtigen Verwendung im Haushalt und dem
Gesundheitszustand des Menschen ab und steht mit dem Ernäh-
rungsstatus in enger Wechselbeziehung.
Globale Vernetzungen
Hunger und Unterernährung sind nur dann in den Griff zu bekom-
men, wenn die Dynamik weltweiter Vernetzungen berücksichtigt
wird. Dazu zählen langfristig wirkende Faktoren wie das Bevölke-
rungswachstum oder der Klimawandel, aber auch konjunkturelle
Einfl üsse: Naturkatastrophen, Energie- und Finanzkrisen oder
Kriege. Zahlreiche Staaten haben keine kompetente und verlässliche
politische Führung. In der Folge wurden Landwirtschaft und Ernäh-
rungssicherung jahre- oder jahrzehntelang vernachlässigt. Wenn
hier keine substanziellen Veränderungen erzielt werden, treffen neue
Krisen die Armen, die Hungernden und andere anfällige Bevölke-
rungsgruppen in Zukunft noch stärker.
Bevölkerungswachstum
Zentral für eine steigende Nachfrage nach Nahrungsmitteln ist na-
türlich das weltweite Bevölkerungswachstum. Lange Zeit verlief es
nur langsam: Es dauerte mehrere tausend Jahre, bis um das Jahr
1800 herum eine Milliarde Menschen die Erde bevölkerten. Doch
Zur Lage der Welternährung64
dann explodierten die Zahlen: Lebten im Jahr 1900 1,6 Milliarden
Menschen auf der Welt, waren es 1987 bereits 5 Milliarden. Nur
zwölf Jahre später – 1999 – wurden es 6 Milliarden. Ende 2011 wer-
den es voraussichtlich 7 Milliarden sein. Die achte Milliarde ist ver-
mutlich im Jahr 2024 erreicht (DSW 2010). Die Zunahme der Welt-
bevölkerung bleibt also rasant, auch wenn die Wachstumsraten der
Bevölkerung in allen Weltregionen sinken (siehe Abbildung 24).
Die meisten Menschen leben in Asien (60 Prozent der Weltbevölke-
rung), gefolgt von Afrika (15 Prozent), Europa (11 Prozent), Latein-
amerika (9 Prozent) und Nordamerika (5 Prozent) (siehe Abbildung
25 und Tabelle 1).
Wohin führt der Weg? Die jüngsten Prognosen gehen davon aus,
dass im Jahr 2050 knapp 9,5 Milliarden Menschen auf der Welt le-
ben werden. Nahezu der gesamte Zuwachs wird in Entwicklungslän-
dern und hier insbesondere in den am wenigsten entwickelten Län-
dern stattfi nden. Während sich also in Afrika die Bevölkerung bis
zur Mitte des Jahrtausends verdoppeln wird, nimmt die Zahl der
AfrikaOzeanienNordamerikaAsienEuropa
3,0
2,5
2,0
1,5
1,0
0,5
0
-0,5
Lateinamerika u. Karibik
1955 60 65 70 75 80 85 90 95 2000 05 10 15 20 25 30 35 40 45 50
Prozent
Abbildung 24 Sinkende Wachstumsraten der Bevölkerung23
65Die Ursachen von Hunger und Unterernährung
Europäer bis zu diesem Zeitpunkt um etwa 20 Millionen ab. Unge-
fähr 70 Prozent der Weltbevölkerung werden in städtischen Gebie-
ten leben (heute sind es knapp 50 Prozent).25
Bisher haben – weltweit gesehen – die Zuwächse der Nahrungsmit-
telproduktion mit dem Bevölkerungswachstum Schritt gehalten.
Obwohl bis zum Jahr 2050 ein Drittel Menschen mehr zu ernähren
sein wird, ist die FAO vorsichtig optimistisch, dass dies auch so
bleibt. Eine erhöhte Nachfrage durch steigende Einkommen und
sich wandelnde Ernährungsmuster werden dabei einen Produkti-
onszuwachs von Nahrungs- und Futtermitteln um 70 Prozent ge-
genüber heute erforderlich machen. Das zumindest sind die auf
Hochrechnung basierenden Prognosen.
Treffen sie zu, dann wird die jährliche Getreideproduktion von
heute 2,1 Milliarden auf 3 Milliarden Tonnen anwachsen müssen,
die Produktion von Fleisch von 270 auf dann 470 Millionen Tonnen.
Um diese Zuwächse erreichen zu können, sind positive Rahmenbe-
dingungen und hohe Investitionen in die landwirtschaftliche Pro-
duktion – geschätzte 83 Milliarden US-Dollar jährlich – notwendig.
Doch die landwirtschaftlichen Flächen können nicht beliebig ausge-
FamilienplanungIm Durchschnitt bekämen die Frauen 2,5 Kinder.
Bevölkerung 2010... wären davon: 15 Afrikaner 5 Nordamerikaner 11 Europäer 9 Lateinamerikaner und 60 Asiaten.
Zukunft 2010Die Zahl der Dorfbewohner würdejährlich um eine Person steigen. ImJahre 2050 würden bereits 138 Menschenim Dorf leben: 30 Afrikaner 7 Nordamerikaner 11 Europäer 11 Lateinamerikaner und 79 Asiaten.
27 wären Kinder unter 15 Jahren.8 Menschen wären älter als 65.50 Menschen im Dorf sind Frauen. 50 sind Männer.
Die Welt – ein Dorf
Wenn die Welt ein Dorf ...mit nur 100 Einwohnern wäre ...
Abbildung 25 Fakten und Zahlen zur Weltbevölkerung24
Zur Lage der Welternährung66
weitet werden. Die Zuwächse müssen also vor allem in Entwick-
lungsländern und über Produktivitätssteigerung erfolgen.27
Es gibt eine Reihe ernst zu nehmender Stimmen,28 die eine zu-
künftige Nahrungskrise durchaus für möglich halten und – entge-
gen positiver Prognosen – auf sinkende Produktivitätszuwächse,
Einfl üsse des Klimawandels und Nutzungskonkurrenz auf landwirt-
schaftlichen Flächen verweisen. Eine solche Krise würde besonders
die importabhängigen Länder und die Armen treffen. Nicht nur
quantitative Produktionssteigerungen, sondern auch ein qualitativer
Wandel und eine effi zientere Nutzung vorhandener Nahrungsmittel
sind nötig: Die Produktion und Verteilung von Nahrungsmitteln
Region Bevölke-rung Mitte
2010
Natürliche Wachs-
tumsrate
Projektion 2025
Projektion 2050
Welt 6,892 1,2 8,108 9,485
Industrie-länder
1,237 0,2 1,290 1,346
Entwick-lungsländer
5,656 1,4 6,819 8,159
Entwick-lungsländer ohne China
4,318 1,7 5,343 6,722
Afrika 1,030 2,4 1,412 2,084
Latein-amerika
und Karibik
585 1,3 668 729
Nord-amerika
344 0,6 391 471
Europa 739 0,0 747 720
Asien 4,157 1,2 4,845 5,424
Tabelle 1 Bevölkerungsprojektionen (in Milliarden)26
67Die Ursachen von Hunger und Unterernährung
muss unempfi ndlicher gegenüber natürlichen und menschenge-
machten Krisen und nachhaltiger werden sowie bestehende Un-
gleichgewichte in der Verteilung besser ausgleichen.
Produktion und optimale Nutzung ausreichender Nahrungsre-
serven für alle Menschen werden also durchaus zu einer neuen Her-
ausforderung. Über Jahrzehnte galt das Welternährungsproblem vor
allem als eine Frage des gerechten Zugangs aller Menschen zu einem
insgesamt ausreichenden Nahrungsangebot. Es könnte jedoch zu-
künftig zu einem Problem ausreichender Verfügbarkeit von Nah-
rungsmitteln werden. Diese Gefahr wird die nationalen und inter-
nationalen Akteure der Landwirtschaftsentwicklung zunehmend
beschäftigen.
Weltweiter Klimawandel
Der Klimawandel (siehe Defi nition in Box 9) hat weltweit enorme
Auswirkungen auf Ressourcen und Lebensbedingungen – und da-
mit auch auf Nahrungs- und Ernährungssicherheit.29
Direkt wirkt der Klimawandel auf Erträge, Pfl anzenkrankheiten
und Bodenfruchtbarkeit, indirekt auf wirtschaftliches Wachstum,
Einkommensverteilung und die Nachfrage nach landwirtschaftli-
chen Produkten. Da Temperatur und Niederschläge die Produk-
tionsfaktoren Boden und Wasser beeinfl ussen, außerdem steigende
Meeresspiegel und extreme Wetterlagen hinzukommen, werden
massive Veränderungen in der Nahrungsmittelproduktion erwartet.
Klimawandel – Defi nition des IPCC30
Laut Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) bezeichnet der Be-
griff eine Veränderung des Klimas, die – sei es durch natürliche Variabilität
oder als Ergebnis menschlicher Aktivität – für Dekaden oder länger beste-
hen bleibt. Identifi ziert wird er durch eine Veränderung des Mittelwerts
oder bestimmter Variablen.
Box 9
Zur Lage der Welternährung68
Auch wenn sich das landwirtschaftliche Ertragspotenzial global
gesehen durch den Klimawandel kaum verändern soll,31 sieht die
Situation regional anders aus. Afrika, einer Region, die schon heute
mit schwierigen klimatischen Anbaubedingungen zu kämpfen hat,
drohen durch Trockenheit Ernteeinbußen bis zu 50 Prozent bereits
innerhalb der nächsten zehn Jahre. Auch für Zentral- und Südasien
sowie für Lateinamerika werden in diesem Zeitraum regional Ern-
terückgänge von rund 30 Prozent erwartet. Je nach Temperaturan-
stieg, Art der Feldfrucht und Breitengrad kann es punktuell auch zu
Produktionssteigerungen kommen: In mittleren und hohen Brei-
tengraden sollen die Getreideerträge (bei mittlerer Erwärmung um
ein bis drei Grad Celsius) leicht ansteigen – jenseits davon aber sin-
ken.
Regional bedroht der Klimawandel die Existenz von Milliarden
von Menschen, denn er erschwert den Zugang zu Nahrungsmitteln:
Durch die geringere landwirtschaftliche Produktivität wird das An-
gebot sinken und die Nahrungsmittelpreise werden ansteigen. Au-
ßerdem wird die Verwertung der Nahrung durch Krankheiten (zum
Beispiel Verbreitung von Erregern) beeinträchtigt werden.
Nach Schätzungen steigt die Zahl der von Hunger bedrohten
Personen durch den Klimawandel bis zum Jahr 2050 um 10 bis 20
Prozent. Es werden 21 Prozent (24 Millionen) mehr unterernährte
Kinder erwartet. Arme Menschen werden besonders betroffen sein,
weil für die Mehrheit von ihnen Land- und Viehwirtschaft sowie
Fischerei die wichtigsten Einkommens- und Nahrungsmittelquel-
len sind.
Der Anstieg des Hungers könnte um mindestens 5, vielleicht so-
gar bis zu 50 Prozent verringert werden, wenn die Landwirtschaft
den veränderten Bedingungen angepasst würde, zum Beispiel die
Anbauzeiten sich veränderten oder optimale Bewässerungssysteme
errichtet würden. Generell aber gilt auch hier, dass die Ursache di-
rekt bekämpft werden sollte: Maßnahmen gegen den Klimawandel
sind eine Investition in die Zukunft zur Sicherung der Welternäh-
rung.
69Die Ursachen von Hunger und Unterernährung
Kriege und Konfl ikte
Hunger führt zu Konfl ikten (siehe Kapitel 2), und Konfl ikte ver-
stärken den Hunger. Märkte in Kriegsgebieten funktionieren häu-
fi g nicht mehr oder sind unsicher. Felder, Ernten und Transport-
wege werden zerstört, Vieh getötet. Dünger und Maschinen werden
knapp, wirtschaftliche Produktionsanreize fehlen. Arbeitskräfte
werden knapp, wenn Mord, Vertreibung und Truppenrekrutierung
den Alltag bestimmen. Krisenländer oder auch solche, die gerade
einen bewaffneten Konfl ikt überstanden haben, weisen im Verhält-
nis zu ihrem Bruttoinlandsprodukt oft einen schlechteren Welt-
Kambodscha
Indien
Bangladesch
Philippinen
Thailand
Malaysia
Sri Lanka
Laos
Pakistan
Nepal
Vietnam
Unterschied zwischen tatsächlichen und vorhergesagten WHI-Wertenin Süd- und Südostasien
11,0
9,6
7,9
6,7
6,1
3,5
3,4
2,7
2,4
1,6
0,7
-2,2
-2,5
-4,9
-5,9
Indonesien
China
Mongolei
Fidschi
1-3 Kriegsjahreim Zeitraum zwischen1989 und 2003
4-6 Kriegsjahreim Zeitraum zwischen1989 und 2003
7 und mehr Kriegsjahreim Zeitraum zwischen1989 und 2003
Abbildung 26 Kriege und Auswirkungen auf Nahrungs- und Ernährungs-unsicherheit in Süd- und Südostasien32
Zur Lage der Welternährung70
hunger-Index auf (siehe Abbildung 26) als Länder ohne solche
Konfl ikte.
Zugang zu Land war zum Beispiel eine wichtige Forderung der
Rebellen in den Bürgerkriegen Mittelamerikas – als Folge lang an-
dauernder Nahrungsmittelkrisen. Die Kontrolle über Land und
Wasser steht im Zentrum der kriegerischen Auseinandersetzungen
im Sudan.34 Flüchtlinge und Vertriebene verstärken das Konfl iktpo-
tenzial. Jährlich sind rund 42 Millionen Menschen innerhalb ihres
eigenen Landes (27 Millionen Binnenvertriebene) oder über die
Grenzen hinweg (15 Millionen Flüchtlinge) auf der Flucht.35 Ein
Beispiel aus Sierra Leone (siehe Box 10) verdeutlicht, was eine solche
Situation für die Nahrungs- und Ernährungssicherheit der Betroffe-
nen bedeutet.
Nahrungs- und Ernährungssicherheit von Flüchtlingen und
Binnenvertriebenen – ein Beispiel aus Sierra Leone33
Die 55-jährige Fatmata Gojo aus Simbaru-Tawahun im Kenema Distrikt erin-
nert sich mit Schrecken an den Krieg 1991 bis 2002 und den schwierigen
Neuanfang danach:
»Als der Krieg in die Nähe unseres Dorfs kam, versteckte sich unsere Fa-
milie nachts im Wald in der Nähe des Dorfs. Wenn die Schüsse nicht aufhör-
ten, blieben wir im Wald, manchmal eine ganze Woche lang, ohne Nahrung
und ohne Schutz vor Regen. Einige Dorfbewohner sind so im Wald verhun-
gert. Als die Schüsse aufhörten, glaubten viele Dorfbewohner, dass sie nun
sicher ins Dorf zurückzukehren können, um Essen zu holen. Allerdings wa-
ren die Rebellen noch in der Nähe und überfi elen die Rückkehrer. Viele ha-
ben sie getötet, andere entführt. Auch mein Mann wurde umgebracht. Da-
raufhin fl üchtete ich mit meinen sechs Kindern zu meiner Mutter im
benachbarten Chiefdom. Vor zehn Jahren bin ich in mein Dorf zurückge-
kehrt. Damals brachte ich ein paar Nahrungsmittel mit für den Anfang. Au-
ßerdem haben wir eine kleine Kakaoplantage, die uns etwas Geld einbringt.
Doch es fällt mir schwer, die Plantage in Schuss zu halten, weil wir nicht
genügend Arbeitskräfte haben. Die Ernte ist mager, der Verdienst von etwa
27 US-Dollar im Jahr auch.«
Box 10
71Die Ursachen von Hunger und Unterernährung
In den von Krisen und Konfl ikten betroffenen Bevölkerungs-
gruppen ist Unterernährung vor allem in den akuten Phasen kriege-
rischer Auseinandersetzungen besonders häufi g, zeigen Daten des
Ernährungskomitees der Vereinten Nationen (UN SCN). Landmi-
nen als Erbe von Kriegen und Konfl ikten bleiben auch im Wieder-
aufbau ein massives Hindernis für die Nahrungs- und Ernährungs-
sicherung. Die verminten Flächen sind für landwirtschaftliche und
andere produktive Nutzung zunächst unbrauchbar.
Hilfeleistungen für Betroffene müssen so geplant und umgesetzt
werden, dass sie bestehende Konfl ikte nicht weiter anheizen oder gar
neue auslösen. Der unter dem Schlagwort do no harm bekannt ge-
wordene Ansatz trägt diesen Überlegungen Rechnung: So handeln
zum Beispiel Organisationen in ihrem Bemühen um eine neutrale
Haltung mit sämtlichen, vor Ort ansässigen oder tätigen, aufständi-
schen, staatlichen oder sonstigen Akteuren Nahrungsmittellieferun-
gen aus. Dabei müssen sie sich oft auf Zusagen zu freiem Geleit ver-
lassen und dafür auch Zugeständnisse machen.36
Aggressive Agrarpolitik der Europäischen Union
Die landwirtschaftliche Produktion in den Ländern der Europäi-
schen Union (EU) ist seit mehr als fünf Jahrzehnten in der Gemein-
samen Agrarpolitik (GAP) geregelt. Die Ziele dieser Politik wurden
mit dem Vertrag der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)
von 1957 festgelegt und sind auch mit dem Reformvertrag von Lis-
sabon seit 2009 unverändert geblieben. Nach wie vor geht es um die
Steigerung der Produktivität der Landwirtschaft, eine angemessene
Lebenshaltung für die landwirtschaftliche Bevölkerung, die Stabili-
sierung der Märkte sowie die Sicherstellung der Versorgung und an-
gemessener Verbraucherpreise.
Die GAP wurde über die Jahrzehnte vielfältigen Anpassungen
und Reformen unterzogen. Die Einführung von Marktordnungen
mit Preis- und Absatzgarantien (Subventionen) für nahezu alle
Zur Lage der Welternährung72
landwirtschaftlichen Produkte führte – zusammen mit dem techni-
schen und biologischen Fortschritt – zu exzessiven Überschüssen.
Die damit verbundenen Kosten für Aufkauf, Lagerung, Exportstüt-
zung, Nahrungsmittelhilfe und -vernichtung trieb Mitte der achtzi-
ger Jahre die Agrarausgaben der EU so in die Höhe, dass der Finanz-
rahmen gesprengt wurde. Mit der Einführung von Direktzahlungen
an landwirtschaftliche Betriebe seit 1992 sollten die Einkommens-
wirkungen der Subventionen verbessert werden. Erst mit der Re-
form von 2003 wurden die Direktzahlungen von der Produktion
entkoppelt und an die Einhaltung von Umwelt-, Tierschutz- und Le-
bensmittelsicherheitsstandards gebunden. Insgesamt werden heute
Aspekte der Umwelt-, Entwicklungs-, Struktur- und Außenwirt-
schaftpolitik stärker berücksichtigt als früher.
41 Prozent des EU-Haushaltes, der 2010 rund 58 Milliarden Euro
betrug, entfallen auf die GAP. Deutschland ist Nettozahler und leis-
tet mit einem jährlichen Agrar-Nettosaldo zwischen 29 und 37 Mil-
liarden Euro einen beachtlichen Beitrag.37 2013 soll die GAP im
Kontext des mehrjährigen Finanzrahmens der EU für die Jahre 2014
bis 2020 neu ausgerichtet werden. Die Bundesregierung setzt sich
für eine Weiterentwicklung des europäischen Landwirtschaftsmo-
dells ein, das sich aus ihrer Sicht bewährt hat. Dieses Modell verbin-
det die wettbewerbsfähige Erzeugung von Lebensmitteln und nach-
wachsenden Rohstoffen mit Leistungen für das Gemeinwohl (zum
Beispiel Aufrechterhaltung des Schutzes und der Erholungsfunktion
der Landschaft und Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen).
Die Marktorientierung soll gestärkt, die Wettbewerbsfähigkeit ge-
steigert, die ressourcenschonende, nachhaltige Produktion unter-
stützt werden. Dem Wunsch der deutschen Regierung entsprechend
soll die GAP einer Konsistenz- und Kohärenzprüfung unterzogen
werden, um ihre Rolle bei der Bewältigung neuer Herausforderun-
gen, zum Beispiel im Kontext von Welternährung und den Millenni-
umsentwicklungszielen, bewerten zu können.38
Diese Verhandlungsposition wird massiv kritisiert.39 Ein Aktions-
bündnis aus 14 national und international tätigen Organisationen
73Die Ursachen von Hunger und Unterernährung
unter dem Dach des Forum Umwelt und Entwicklung hält sie aus
bäuerlicher, Umwelt- und Entwicklungsperspektive für ungeeignet,
um der globalen Verantwortung der EU als größtem Akteur auf dem
Weltagrarmarkt gerecht zu werden. Exportsubventionen und Pro-
duktdifferenzierungen auf Teilmärkten, so die Argumentation, führ-
ten zu einem erheblichen Druck auf die Weltagrarmärkte, der – im
Zusammenwirken mit den derzeit geltenden handelspolitischen Re-
gelungen (siehe nachfolgender Abschnitt) – arme Kleinbauern um
ihre Existenz bringe und damit Hunger und Armut in vielen Ent-
wicklungsländern verschärfe.
Handelshemmnisse verzerren den Wettbewerb
Die Kontroverse um Nutzen und Schaden von Freihandel oder Pro-
tektionismus begleitet die Weltgemeinschaft seit Jahrzehnten. Sie
war Streitthema in diversen internationalen Handelsrunden – etwa
bereits im Rahmen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens
von 1947 (GATT) und seit 1995 im Rahmen der Welthandelsorgani-
sation (WTO). Diese globalen handelspolitischen Regelungen be-
günstigen immer noch die Landwirtschaft im industrialisierten
Norden. Mit der Doha-Entwicklungsrunde vom November 2001
rückten erstmals die Bedürfnisse und Interessen der Entwicklungs-
länder stärker ins Zentrum der Diskussionen (siehe Box 11). Aller-
dings führten jahrelange Verhandlungen noch immer nicht zu ei-
nem entsprechenden Abkommen.
Multilaterale Handelsabkommen können die Ernährungssiche-
rung gefährden. Weil die bisherigen Regelungen Subventionen für
die Landwirtschaft sowie Exportkredite, Staatshandelsunternehmen
und Nahrungsmittelhilfe zulassen, die landwirtschaftlichen Zölle
überdies niedrig sind, hindern sie Entwicklungsländer daran, ihre
eigene Produktion zu schützen und zu erhöhen. Die Produzenten
dieser Länder haben keine Möglichkeit, sich dagegen zur Wehr zu
setzen.40
Zur Lage der Welternährung74
Als Reaktion auf die Nahrungsmittelpreiskrise haben eine Reihe von
Ländern Exportbeschränkungen für ihre eigene Produktion ver-
hängt und die Preise reglementiert. Andere Länder bauten Import-
schranken ab. Kurzfristig helfen solche Eingriffe den Verbrauchern,
mittel- und langfristig jedoch können sie sich negativ auswirken: Sie
verringern die internationalen Handelsmengen, machen die Preise
anfälliger für Schwankungen und bremsen die lokale Produktion.
Sie untergraben – ähnlich wie die Handelsverzerrungen reicher
Staaten gegenüber den Entwicklungsländern – einen möglichen
Nutzen von Freihandel.42
Subventionierte Exporte aus der EU und den USA überschwem-
men heimische Märkte in Afrika, Asien oder Lateinamerika. Zum
Beispiel ist in Haiti oder in Westafrika importierter Reis billiger als
Agrarverhandlungen im Rahmen der WTO – Interessen
der Entwicklungsländer41
Die zentralen Verhandlungsthemen sind:
• weiterer Abbau der internen Marktstützung,
• vollständige Abschaff ung aller Exportsubventionen und
• weitere Marktöff nung durch Zollabbau.
Grundsätzlich besteht Einigkeit darüber, dass Entwicklungsländern gerin-
gere Abbauverpfl ichtungen auferlegt und längere Übergangsfristen in der
Neuregelung ihrer Handelspolitik eingeräumt werden. Die am wenigsten
entwickelten Länder sollen von allen Verpfl ichtungen ausgenommen blei-
ben. Sie erhalten freien Zugang zu den Märkten in allen Industrie- und Ent-
wicklungsländern, die dazu bereit sind. Die EU tritt dafür ein, auch nicht
handelsbezogene Aspekte (wie Verbraucher-, Umwelt- und Tierschutz) in
einer neuen Vereinbarung zu berücksichtigen. Außerdem hat sie sich be-
reits Ende 2005 bereit erklärt, ihre Exporterstattungen vollständig abzu-
bauen, wenn andere Verhandlungspartner Vergleichbares tun.
Ein Abschluss der WTO-Verhandlungen ist allerdings wegen vieler un-
terschiedlicher Auff assungen der Verhandlungspartner – unter anderem im
Agrarbereich – nicht abzusehen.
Box 11
75Die Ursachen von Hunger und Unterernährung
lokal produzierter. Kritik lösten auch in den neunziger Jahren
Rindfl eischexporte zunächst nach Westafrika und einige Zeit spä-
ter ins südliche Afrika aus. Ausländisches Milchpulver in Bangla-
desch, Burkina Faso und Kamerun (siehe Box 12), importierte To-
matenpaste in Ghana und Billig-Gefl ügelteile in Ghana, Benin,
Togo und Kamerun störten die dortigen Märkte massiv. Das beein-
trächtigt den Zugang zu angemessener Ernährung für die lokale
Bevölkerung und verstärkt die Abhängigkeit der Importländer
vom Weltmarkt.
Subventionierte Milchexporte nach Burkina Faso und Kamerun43
Der Verbrauch von Milchprodukten steigt weltweit, auch in denjenigen Ent-
wicklungsländern, die bisher wenig Milch konsumiert haben. Der Bedarf
wird teilweise durch den lokalen Markt, teilweise durch Importe gedeckt.
Dabei bedroht Milchpulver aus Europa und den USA den Aufbau einer loka-
len Milchwirtschaft und lokaler Märkte, zum Beispiel in Burkina Faso und in
Kamerun.
Neben Milchpulver werden in Burkina Faso auch gesüßte und unge-
süßte Kondensmilch, Joghurt sowie Käse und Butter aus der EU importiert.
Die erheblichen Preisunterschiede zwischen den günstigeren importierten
und den teureren lokal hergestellten Produkten schwächen langfristig den
Aufbau einer lokalen Milchindustrie: Das unzureichende Einkommen loka-
ler Produzenten verhindert Investitionen in eine für die ganzjährige Milch-
produktion notwendige Fütterung sowie in Molkereien, Lagerung, Kühlung
und Transport. Frischmilch ist so zu einem Luxusprodukt geworden. Bur-
kina Faso muss hohe Ausgaben für Milchimporte tätigen.
In Kamerun haben sich Kleinbauern – teilweise mit Unterstützung aus
der Entwicklungszusammenarbeit – eine Existenz in der Milchproduktion
aufgebaut. Milchpulverimporte gefährden sie. Zwar decken die Produzen-
ten ihren Eigenbedarf und können ihre Produkte sowie Rinder und Dung
direkt vermarkten. Doch weil zwischen Januar 2008 und April 2009 der Im-
portpreis für Milchpulver stark sank, musste die lokale Molkerei schließen.
Der Konkurs des einzigen größeren kommerziellen Abnehmers für Milch
nahm den Kleinbauern den lokalen Markt.
Box 12
Zur Lage der Welternährung76
Die Agrar- und Handelspolitik der EU misst mit zweierlei Maß:
Sie schützt die eigene Landwirtschaft und Ernährungsindustrie,
drängt aber mit Hilfe bi- und multilateraler Handelsabkommen die
Entwicklungsländer zu einer weit reichenden Marktöffnung für eu-
ropäische Agrarprodukte.44
Notwendig wäre deshalb, in Handelsverträge Instrumente zum
Schutz gegen Massenimporte einzubauen. Solche Schutzklauseln
sollten dem Gemeinwohl dienen und Aspekte wie Umweltschutz
und soziale Gerechtigkeit in den Vordergrund stellen. In der
Summe geht es weniger um die häufi g thematisierte Debatte Frei-
handel versus Protektionismus, sondern um Schutz- und Steue-
rungsmechanismen, die eine nachhaltige Entwicklung weltweit
ermöglichen.45
Neben diesen globalen Handelsbeschränkungen sind aber auch
regionale und nachbarstaatliche Strukturen und Regelungen – zum
Beispiel komplizierte und langwierige Zollabfertigungen – hinder-
lich für einen freieren Warenverkehr zum Nutzen möglichst vieler
Produzenten und Händler. Afrika ist der zweitgrößte Kontinent der
Welt, die Märkte sind jedoch klein und ein Großteil des Handels er-
folgt immer noch mit nicht-afrikanischen Ländern. Lediglich 10
Prozent des Handels fi nden zwischen afrikanischen Staaten statt. In
Südostasien macht dieser intraregionale Handel schon 50 Prozent
aus, in der EU sogar 74 Prozent.46
Agrartreibstoff e konkurrieren um Anbaufl ächen
Ausgelöst durch die Energiepolitik zahlreicher Industrienationen
wie auch fortgeschrittener Entwicklungsländer, die auf die Ölpreis-
krise wie auf die Notwendigkeit des Klimaschutzes reagiert, haben
Agrartreibstoffe, auch Biotreibstoffe genannt, in den vergangenen
Jahren einen enormen Aufschwung erlebt. Ihre wirtschaftliche För-
derung soll den Ersatz fossiler Brennstoffe durch nachwachsende
Energieträger vorantreiben. Zu solchen landwirtschaftlichen Roh-
77Die Ursachen von Hunger und Unterernährung
stoffen und Nutzpfl anzen gehören zum Beispiel Mais, Zuckerrohr,
Ölpalmen und Sojabohnen oder auch Jatropha (Brechnuss).
Agrartreibstoffe zehren nicht nur an den begrenzten Ressourcen
der Landwirtschaft, etwa Boden und Wasser. Sie führen auch zu einer
Nutzungskonkurrenz: Produkte, die der Ernährung dienen, werden
nun »verheizt«. Daneben stehen die Agrartreibstoffe auch deshalb
zunehmend im Fokus der Kritik, weil ihre Bilanz an Treibhausgasen
je nach Feldfrucht sehr unterschiedlich ausfällt. Vor allem, wenn man
den gesamten Lebenszyklus von der Produktion bis zur Verarbei-
tung, einschließlich veränderter Landnutzung, berücksichtigt, beför-
dern Agrartreibstoffe großfl ächige und industrialisierte Landwirt-
schaft in Monokulturen und die Abholzung von Regenwäldern. Sie
verdrängen (Klein-)Bäuerinnen und Bauern von ihren Feldern.
Deutschland setzte im Jahr 2009 eine Nachhaltigkeitsverordnung
in Kraft, die für den Biomassestrom- und Biokraftstoffbereich die
Agrartreibstoff e der ersten und der zweiten Generation47
Treibstoff e aus Soja, Mais, Palmöl und Zuckerrohr werden als Agrartreib-
stoff e der »ersten Generation« bezeichnet.
Zur sogenannten »zweiten Generation« zählen pfl anzliche Energieträ-
ger, die bisher eher auf dem Abfall landeten oder auf marginalen Flächen,
aber auch in Holzplantagen angebaut wurden. Dazu gehören Zellulose, Li-
gnin und andere Kohlenstoff verbindungen, die beispielsweise aus Bäu-
men, Gräsern und Maisstängeln gewonnen werden. Technologische Ver-
besserungen ermöglichen ihre intensivere Nutzung als Treibstoff . Diese
Produkte stehen seltener in Konkurrenz zu Flächen für den Nahrungsmit-
telanbau oder zu den Nahrungsmitteln selbst. Allerdings ist bisher nicht
gesichert, dass das durchaus vorhandene Potenzial auch tatsächlich erfolg-
reich genutzt und Schaden für die Nahrungs- und Ernährungssicherheit
vermieden werden kann. Ob und wann die Agrartreibstoff e dieser zweiten
Generation großfl ächig zum Einsatz kommen, ist genauso ungewiss wie die
Antwort auf die Frage, ob sie jene der ersten Generation tatsächlich erset-
zen werden. Off en ist auch, welche Konsequenzen eine solch breite Nut-
zung von Biomasse aller Art für Umwelt und Landwirtschaft haben wird.
Box 13
Zur Lage der Welternährung78
Berücksichtigung von Umwelt- und Naturschutzaspekten verlangt.
Soziale Fragen und Aspekte der Ernährung werden jedoch kaum be-
rücksichtigt. Wie sich der stark von politischen Anreizen geprägte
Markt für Agrartreibstoffe entwickeln wird, ist im Moment kaum
vorhersehbar. Wichtige Einfl ussfaktoren sind neben politischen
Rahmensetzungen zukünftige Trends bei den Ölpreisen und Agrar-
treibstoffen der zweiten Generation (siehe Box 13).48
Landnahmen – landgrabbing
Die wachsende Nachfrage nach Agarprodukten aller Art hat in In-
dustrie- und Schwellenländern zu einem steigenden Interesse an
Landbesitz und fi nanziellen Beteiligungen an der Landwirtschaft in
Drittländern (oft Entwicklungsländern) geführt. Neu daran ist nicht
nur das Ausmaß, in dem solche Investitionen passieren, sondern
auch, dass auch Regierungen als Investoren auftreten und weniger
Hochpreisprodukte für den Weltmarkt (zum Beispiel Blumen und
Gemüse) angebaut werden, sondern zunehmend Grundnahrungs-
mittel oder Energiepfl anzen für die Nahrungs- oder Energiesiche-
rung der investierenden Länder.
Trotz der unsicheren Datenbasis zu dieser Entwicklung wird deut-
lich, dass bereits eine Vielzahl von Investoren aus Industrie- und
Entwicklungsländern nahezu überall auf der Welt an Landgeschäf-
ten beteiligt ist. Eine Studie registrierte 141 Verträge über Flächen
von jeweils mindestens 5 000 Hektar in 33 Ländern, insbesondere in
Afrika (95 Verträge) und Asien (30 Verträge), aber auch in Europa
und Zentralasien (jeweils zehn Verträge) und Lateinamerika (sechs
Verträge).49 Viele der Verträge betreffen Flächen von mehr als
100 000 Hektar, einzelne sogar mehr als eine Million Hektar. Beson-
ders lukrativ für Investoren scheinen Madagaskar (23 Verträge),
Äthiopien (16 Verträge), Sudan (neun Verträge), Kambodscha
(zwölf Verträge) sowie mit jeweils fünf Verträgen Laos und die Phi-
lippinen zu sein.
79Die Ursachen von Hunger und Unterernährung
Investitionen in die ländliche Entwicklung, darüber herrscht Ei-
nigkeit, sind notwendig. Ihr Fehlen hat besonders in Afrika zu Hun-
ger und Unterernährung beigetragen.50 Pro und Contra solcher In-
vestitionen, die Auswirkungen auf die wirtschaftliche, soziokulturelle
und ökologische Entwicklung in den Ländern haben, werden jedoch
kontrovers diskutiert.51 Positiv wirkt es sich aus, wenn die Investitio-
nen die Produktivität des Bodens steigern, den Zugang zu Land und
Märkten verbessern, zusätzliche Arbeitsplätze in vor- und nachgela-
gerten Bereichen schaffen und weitere sekundäre Entwicklungsim-
pulse im regionalen Kleingewerbe und Dienstleistungsbereich ge-
ben. Dem gegenüber steht eine Vielzahl negativer Auswirkungen,
zum Beispiel Verletzungen bestehender Landrechte. Man nennt das
landgrabbing.
»Es gibt kein (so genanntes) ungenutztes Land – das ist ein großer My-thos. Es gibt kein Land ohne irgendeine Form von Nutzungsrechten.«
Michael Taylor, Programm-Manager für Landpolitik in Afrika, Sekretariat der Internationalen Land Koalition52
Vertragsverhandlungen sind oft intransparent und orientieren sich
stark an den Interessen der Investoren. Die direkt betroffenen Nut-
zer des Landes, in das investiert werden soll, oft Kleinbauern und
Viehzüchter ohne Lobby, sind meistens nicht an den Verhandlungen
beteiligt. Sie werden ihrer formalen oder traditionellen Nutzungs-
rechte beraubt. Ihre Ernährungssicherung wird gefährdet. Box 14
verdeutlicht das am Beispiel Kambodscha.
Diese Kontroverse macht deutlich, dass Investitionen in Landbe-
sitz oder -nutzung durch entsprechende politische und gesetzliche
Rahmenbedingungen reguliert werden müssen sowie durch eine
konsequente Kontrolle ihrer Umsetzung. Nur dann sind wichtige Vo-
raussetzungen geschaffen, um die Potenziale solcher Investitionen
auszuschöpfen und Risiken im Rahmen zu halten. Vorschläge für
Prinzipien für verantwortliche Investitionen in die Landwirtschaft
liegen vor.53 Die Skepsis bleibt, ob diese tatsächlich im Sinne der Nah-
rungs- und Ernährungssicherung in der Welt wirken werden.
Zur Lage der Welternährung80
Spekulationen mit Nahrung
Nicht nur das Land, auch die landwirtschaftlichen Produkte sind zu
attraktiven Spekulationsobjekten geworden. Zwar ist es nicht mög-
lich, die Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Nahrungsmittel-
preiskrise und Ernährungssituation präzise zu beziffern. Doch trotz
unterschiedlicher Einschätzung besteht weitgehend Einigkeit darü-
ber, dass die Folgen beträchtlich sind.55 Die Preise von Nahrungs-
Landgrabbing – das Beispiel Kambodscha54
Land, das »nicht genutzt« wird, gibt es in Kambodscha nur an Extremstand-
orten, beispielsweise im Hochgebirge. Wenn an ausländische Investoren
vermeintlich freies Land verpachtet oder verkauft wird, so bedeutet das
meist nur, dass die Landrechte nicht festgestellt oder festgeschrieben wur-
den. So wurden während der Zeit der Roten Khmer (1975-1979) sämtliche
Kataster-Unterlagen vernichtet. Seit Anfang der neunziger Jahre ist es wie-
der möglich, Landtitel registrieren zu lassen. Doch nur etwa 14 Prozent der
geschätzten 4,5 Millionen Anträge sind bisher bearbeitet worden. Gleich-
zeitig kann die Regierung nun wieder wirtschaftliche Landkonzessionen an
private Investoren vergeben, um die öff entlichen Einnahmen zu erhöhen
und die Entwicklung in armen ländlichen Regionen zu fördern. Die Land-
vergabe verlief in den meisten Fällen jedoch nicht im gesetzlichen Rahmen
und mit den genannten Zielsetzungen, sondern ermöglichte einer korrup-
ten Elite, sich privat zu bereichern. So wird geschätzt, dass bis Ende der
neunziger Jahre mehr als ein Drittel der ländlichen Bevölkerung von ihrem
Land vertrieben wurde, um dieses über Konzessionen neu zu vergeben.
Mindestens 42 Prozent davon werden inzwischen von ausländischen Inves-
toren gehalten.
Das führte zu Verarmung und Hunger. Besonders betroff en sind indi-
gene Bevölkerungsgruppen: Zwar ist ihr Recht auf kollektiven Landbesitz
und traditionelle Nutzung der natürlichen Ressourcen anerkannt. In der
Praxis aber wird es durch die Vergabe von Forstkonzessionen und späterer
Umwandlung von Waldgebieten in Plantagen immer wieder verletzt.
Box 14
81Die Ursachen von Hunger und Unterernährung
mitteln sind das Ergebnis von tatsächlichem Angebot und realer
Nachfrage auf den Märkten – den sogenannten fundamentals. Ent-
scheidend sind aber auch fi ktive Erwartungen zur Preisentwicklung
und Spekulationen.
Als Spekulanten treten verschiedenste Akteure auf. Dazu gehören
zum einen Akteure, deren Handeln unter normalen Bedingungen
keine wesentliche Rolle spielt: Regierungen, Bauern, Haushalte,
kleine Händler und andere. In der Krise können sie allerdings durch-
aus von Bedeutung sein. Hinzu kommen kommerzielle Händler, die
sich lediglich gegen Preisrisiken absichern wollen sowie eine dritte
Gruppe nicht-kommerzieller Händler, die auf kurzfristige Profi te
setzen: die Spekulanten.
Spekulation mit Nahrungsmitteln und Agrarrohstoffen ist kein
neues Phänomen. In Form von futures – das sind Verträge, die erst in
der Zukunft wirksam werden – sind sie als eine Art Risikoversiche-
rung gegenüber Preisschwankungen durchaus sinnvoll und nütz-
lich. Landwirte, kommerzielle Händler und Verarbeiter sichern reale
Warentransaktionen gegen Preisänderungen in der Zukunft ab. Da-
durch werden Preisrisiken tendenziell eher abgefedert als verursacht.
Ein Hebel der Nahrungsmittelpreiskrise von 2007/2008 könnte
jedoch gewesen sein, dass Banken und Fondsgesellschaften aufgrund
zusammenbrechender Immobilien- und Kreditmärkte nach neuen
Anlageformen suchten und in den Handel mit Agrarrohstoffen ein-
gestiegen sind. Dabei ging es vor allem um eine Diversifi zierung ih-
rer Anlagen und kurzfristige Gewinne. Es ging nicht um tatsächliche
Warentransaktionen.
Bereits Ende 2007 war der Anteil der Kaufobligationen nicht-
kommerzieller Händler bei Getreide und Sojabohnen signifi kant
angestiegen. Im ersten Quartal 2008 war zudem das Volumen der
global gehandelten futures und Optionen für Getreide um 32 Pro-
zent gegenüber dem Vergleichszeitraum im Vorjahr gestiegen.56 All
das kann als Hinweis für eine »Preisblase« angesehen werden, die
sich nicht durch die fundamentalen Marktgegebenheiten allein er-
klären lässt.57
Zur Lage der Welternährung82
Solche globalen Geldströme in die Märkte für Agrarrohstoffe,
einschließlich Nahrungsmittel, sind bisher nicht reguliert und des-
halb unkontrolliert. Sie erhöhen die Anfälligkeit für Preisschwan-
kungen sowie das Risiko für Nahrungsmittelimporteure und -kon-
sumenten mit Auswirkungen auf Millionen von Menschen.
Welche Bedrohung Spekulation für die Weltagrarmärkte weiter-
hin darstellt, machte der massive Anstieg der Weizenpreise Mitte des
Jahres 2010 deutlich. Sie schossen auf den höchsten Stand seit 2008.
Zwar wurden als Ursachen Ernteausfälle wegen Trockenheit in Russ-
land, der Ukraine, Kasachstan und Westaustralien geltend gemacht,
außerdem Überschwemmungen in Pakistan, Indien und China so-
wie hohe Niederschlägen in Kanada. Doch die FAO betonte, dass die
Getreidereserven ausreichten, um diese Ausfälle zu kompensieren.
Ursachen der Preissteigerungen auf dem Lebensmittelmarkt waren
vielmehr fehlende Regulierungen, die der Spekulation den Weg be-
reiten.58
Nahrungssicherung als Stiefkind kurzsichtiger Politik
Entscheidungsträger auf globaler, nationaler und regionaler Ebene
haben zwar immer wieder politische Selbstverpfl ichtungen und In-
vestitionszusagen zur Stärkung der Nahrungssicherung abgegeben.
Aber es ist ihnen oft nicht gelungen, diese auch einzuhalten. Die
Förderung der Landwirtschaft und ländlichen Entwicklung wurde
sowohl in Entwicklungsländern als auch in der staatlichen Entwick-
lungszusammenarbeit über viele Jahre hinweg vernachlässigt (siehe
Kapitel 3).
Zum Beispiel versprachen afrikanische Staatsführer im Jahr 2003
in der Maputo-Erklärung, dass ihre Regierungen bis zum Jahr 2008
10 Prozent ihrer nationalen Staatsbudgets in die Landwirtschaft in-
vestieren würden. Nur eine Hand voll Länder (Guinea, Senegal, Bur-
kina Faso, Malawi, Mali, Niger, Äthiopien und Ghana) hatte 2007
dieses Ziel erreicht. Solche fi nanziellen Zusagen scheitern, wenn sie
83Die Ursachen von Hunger und Unterernährung
nicht durch starke Institutionen und gute Regierungsführung unter-
stützt sowie zeitnah und transparent überwacht werden.59
Auch Förderprogramme zur Ernährungssicherung hatten natio-
nal wie international eine geringe Priorität und wurden nicht aus-
reichend fi nanziert, obwohl es klare Anhaltspunkte für kurz- und
langfristige Konsequenzen von Ernährungsproblemen gab. So blei-
ben Ernährungsfragen im Konzert vielfältiger Entwicklungsanfor-
derungen häufi g so lange unbeachtet, bis sie wirklich gravierende
Formen annehmen. In vielen Ländern gibt es zudem keine Institu-
tion, die für Ernährung zuständig ist. Als multisektorale Aufgabe
fällt sie oft in den Verantwortungsbereich von Landwirtschafts- und
Gesundheitsministerien sowie einer Reihe anderer Organisationen.
Das erschwert Planung und Koordination. Die Prioritäten von Poli-
tikern und Geberorganisationen liegen auch deshalb häufi g in ande-
ren Sektoren, weil bei der Ernährungssicherung in vielen Fällen
keine schnellen Erfolge zu erwarten sind.60
Spätestens mit der Nahrungsmittelpreiskrise hat sich diese Situa-
tion entscheidend verändert: Viele Organisationen – nationale und
internationale, staatliche und nicht-staatliche, bi- und multilate-
rale – haben neue Initiativen zur Nahrungs- und Ernährungssiche-
rung gestartet. Die Notwendigkeit konzertierter Aktionen wurde
erkannt. Zudem wächst der Konsens darüber, wie Programme ge-
staltet werden müssen, damit sie effi zient sind.61 Einige Kontrover-
sen bleiben weiter bestehen, zum Beispiel die Frage, ob Düngemittel
subventioniert werden sollten oder ob nur Kleinbauern und -bäue-
rinnen in den Genuss von Unterstützungen kommen sollen.62 Eine
der wichtigsten Erkenntnisse ist außerdem, dass Landwirtschaft, Er-
nährung, Gesundheit und Bildung in wechselseitiger Abhängigkeit
stehen und in diesen Sektoren besser kooperiert werden muss, um
globale Entwicklungsziele zu erreichen.63
Die Liste der Analysen im Kontext der Hungerkrise ist lang. Die
Situation der Welternährung ist genauso bekannt wie die unbefrie-
digende Zwischenbilanz auf dem Weg zu den Millenniumsentwick-
lungszielen. Viele nationale und internationale Gremien und Ak-
Zur Lage der Welternährung84
teure – traditionelle wie mit der Hungerkrise neu entstandene – haben
Nahrungs- und Ernährungssicherung zu einer Priorität gemacht.
Politikempfehlungen und Aktionspläne sind formuliert. Es formiert
sich eine neue, globale Governance-Architektur (siehe Kapitel 9) zur
Steuerung und Koordinierung der Welternährung. Ein reformiertes
Komitee für Welternährungssicherheit (CFS) unter dem Dach der
FAO soll sich in Zukunft – mit breiterer und besserer Beteiligung als
bisher – dieser Aufgabe widmen. Diese Entwicklungen lassen hoffen,
auch wenn sie noch lange keine Garantie für substanzielle Erfolge in
der Hungerbekämpfung sind.
Fazit: Trotz vereinzelter Lichtblicke ist die Welternährungslage erns-
ter denn je. Wenn die ausreichende Ernährung einer rasch wachsen-
den Bevölkerung gesichert werden soll, muss schnell gehandelt wer-
den. Chancen und Risiken sind formuliert. Eng verzahnte Strategien
auf nationaler und globaler Ebene sind notwendig, um die Heraus-
forderungen zu meistern. Statt business as usual ist business as un-
usual nötig. Wie das aussieht und aussehen muss, wird in den nach-
folgenden Kapiteln deutlich.