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Gedenken an Bundeskanzler a. D. Helmut Kohl

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Gedenken an Bundeskanzler a. D. Helmut Kohl Trauerfeierlichkeiten im Europäischen Parlament in Straßburg und im Dom zu Speyer am 1. Juli 2017
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Gedenken an Bundeskanzler a. D.Helmut KohlTrauerfeierlichkeiten im Europäischen Parlament in Straßburg und im Dom zu Speyer am 1. Juli 2017

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Gedenken an Bundeskanzler a. D.

Helmut Kohl

Am 16. Juni 2017 verstarb Bundeskanzler a. D. Dr. Helmut Kohl.

Der ehemalige deutsche Bundeskanzler und Ehrenbürger Euro

pas wurde am 1. Juli 2017 mit einem Europäischen Trauerakt im

Europäischen Parlament in Straßburg geehrt. Helmut Kohl ist

der erste Staatsmann, dem diese Ehrung zuteilwurde.

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Im Anschluss fand ein staatliches Trauerzeremoniell in Deutsch

land statt. Dem feierlichen Pontifikalrequiem im Dom zu Speyer

schloss sich ein Großes militärisches Ehrengeleit auf dem Dom

platz an. Anschließend wurde Helmut Kohl im Familien­ und

Freundeskreis auf dem Friedhof des Domkapitels im Adenauer

park in Speyer beigesetzt.

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Inhalt

Europäischer Trauerakt im Europäischen Parlament

9 Ansprache von Antonio TajaniPräsident des Europäischen Parlaments

17 Ansprache von Jean-Claude JunckerPräsident der Europäischen Kommission

25 Ansprache von Donald TuskPräsident des Europäischen Rates

29 Ansprache von Felipe GonzálezEhemaliger Ministerpräsident von Spanien

33 Ansprache von Bill ClintonEhemaliger Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika

39 Ansprache von Dmitri Anatoljewitsch MedwedewMinisterpräsident der Russischen Föderation

43 Ansprache von Emmanuel MacronPräsident der Französischen Republik

49 Ansprache von Angela MerkelBundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland

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Pontifikalrequiem im Dom zu Speyer

61 Predigt von Bischof Karl-Heinz Wiesemann

68 Großes militärisches Ehrengeleit auf dem Domplatz

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Helmut Kohl

geboren am 3. April 1930 Ludwigshafen

1959 bis 1976 Landtagsabgeordneter in Rheinland-Pfalz

1969 bis 1976 Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz

1973 bis 1998 Bundesvorsitzender der CDU

1976 bis 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages

1976 bis 1982 Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion

1982 bis 1998 Bundeskanzler

gestorben am 16. Juni 2017 in Oggersheim

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Europäischer Trauerakt im Europäischen

Parlament in Straßburg

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Ansprache von Antonio Tajani

Präsident des

Europäischen Parlaments

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Ansprache von Antonio Tajani

Majestät,

sehr geehrte Präsidenten und Ministerpräsidenten,

sehr geehrte Kollegen aus dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten,

sehr geehrte Frau Kohl-Richter,

Exzellenzen,

sehr geehrte Trauergäste,

heute erweisen wir Helmut Kohl die letzte Ehre, einem großen Europäer und Staatsmann, einem politischen Giganten, der immer ein offenes Ohr für die Bürger hatte und in der Lage war, über den Horizont hinauszublicken.

Helmut Kohl war vor allem ein mutiger Mensch. Er war ein Kämpfer für die Freiheit und die Demokratie und einer der Protagonisten der Wiedervereinigung unseres Kontinents. Stets und überall verteidigte er die Würde des Menschen gegen Mauern, gegen eiserne Vorhänge und gegen totalitäre Regime.

In seinem politischen Wirken ließ er sich immer von den grundlegenden Werten unserer Union leiten. Auf ebendiesen Werten – Frieden, Freiheit, Wohlstand, Sicherheit und grenzenlose Gerechtigkeit – gründet auch der Vertrag über die Europäische Union.

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Ansprache von Antonio Tajani

Sein Glaube an diese Werte und sein Vertrauen in die Menschen sind die Grundlage der innigen Wiederversöhnung zwischen uns Europäern, die auch Erinnerungen an die Vergangenheit in uns geweckt hat.

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Helmut Kohl ist einer der wichtigsten Vertreter einer Generation, die ihr Leben einem Wiederaufblühen Europas gewidmet hat, der letzten Generation, die das Grauen des Krieges am eigenen Leib erfahren hat. Für sie bedeuteten die Einheit Europas und die Überwindung der Nationalismen den Traum von einer friedlichen Zukunft für ihre Nachkommen.

Es war in erster Linie die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die diese Politiker antrieb. Diese Hoffnung bewegte bereits zuvor auch die Gründerväter Schuman, De Gasperi, Adenauer und Spaak dazu, die tiefen Wunden, die der Krieg hinterlassen hatte, zu heilen. Ihnen haben wir es zu verdanken, dass wir die Ruinen – die moralischen Ruinen und die Ruinen im wörtlichen Sinn – beiseite räumen und unseren Kontinent wieder aufbauen und wieder vereinen konnten, mit der Freiheit und der Würde des Menschen im Mittelpunkt.

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Helmut Kohl verdient ohne jeden Zweifel einen Ehrenplatz im europäischen Pantheon.

1983 wandte er sich mit folgenden Worten an die Mitglieder des Europäischen Parlaments: „Wer nach Europa blickt, soll sehen, welcher Segen auf Freundschaft und Zusammenarbeit ruhen kann.“ In diesem Sinne arbeitete er unermüdlich an einer Vertiefung der Union, an ihrer Ausweitung auf alle Demo kratien auf dem Kontinent und an der Stärkung der Atlantischen Allianz.

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Ansprache von Antonio Tajani

In den 16 Jahren seiner Kanzlerschaft beeinflusste er maßgeblich den Lauf der Geschichte. Wir finden kein Kapitel der europäischen Integration, dem er nicht mutig seinen Stempel aufgedrückt hätte. Diesem Mut verdanken wir auch die Stärkung der Rolle des Parlaments, die Schaffung eines großen Raums der bürgerlichen, politischen und wirtschaftlichen Freiheiten, die einheitliche Währung und die Solidarität, die sich in der Kohäsionspolitik manifestiert.

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Ich habe den Bundeskanzler im Jahr 1994 kennengelernt, als ich – ein junger Politiker – den italienischen Ministerpräsidenten bei einem offiziellen Besuch in Bonn begleitet habe. Ich war beeindruckt von seinem Charisma und seinem klaren Weitblick, aber auch von seiner Fähigkeit, dem Gegenüber zuzuhören und dessen Standpunkte zu begreifen. Mir wurde damals völlig klar, dass die Wiedervereinigung für Helmut Kohl nicht ein deutsches Europa, sondern vielmehr ein europäisches Deutschland bedeutete.

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Die Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas waren für ihn – wie auch schon für Konrad Adenauer – zwei Seiten derselben Medaille.

Das Europa Helmut Kohls war stets bereit, den jungen Demokratien im Osten die Hand zu reichen. Für Millionen Europäer, die die Dunkelheit der sowjetischen Besatzung hinter sich gelassen hatten, waren wir ein Leuchtturm der Freiheit. Diese Union hat sich solidarisch gezeigt und ihre Pforten geöffnet, um diese Menschen auf ihrem Weg hin zu Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand zu begleiten.

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Ansprache von Antonio Tajani

Das Europa Helmut Kohls scheute nicht davor zurück, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen.

Dies ist – in wenigen Worten – das unermessliche Erbe, das uns Helmut Kohl hinterlassen hat, sowie die damit einhergehende große Verantwortung. Nun, da er den Stab an uns weitergegeben hat, müssen wir sein Werk weiterführen.

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Im Laufe seines Lebens erhielt Helmut Kohl zahlreiche Auszeichnungen für seinen Beitrag zum Aufbau Europas, darunter den Karlspreis und den Prinzessin-von- Asturien-Preis. Die wichtigste Auszeichnung jedoch wird ihm heute von der Geschichte verliehen.

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Mehr denn je müssen wir uns nun von seinem Beispiel leiten lassen und weiter gemeinsam an unserer Zukunft arbeiten. Wir müssen die europäischen Organe den Völkern Europas wieder näherbringen. Wir müssen konkrete Antworten auf ihre Ängste angesichts von Terrorismus, Einwanderung, Arbeitslosigkeit und Klimawandel bieten.

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Gerade heute müssen wir dem Beispiel Helmut Kohls folgen, unsere Befürchtungen hinter uns lassen und uns für die Hoffnung entscheiden. Das ist es, was unsere Bürger von uns erwarten: den Mut, zusammenzustehen, den Mut zum Wandel. Denn wir Europäer zeichnen uns nicht durch unsere Schwierigkeiten und Probleme aus, sondern vielmehr durch unsere Fähigkeit, diese zu überwinden.

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Wie Helmut Kohl und die anderen Führungspersönlichkeiten seiner Zeit müssen wir zusammenarbeiten und dem europäischen Leitbild

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Ansprache von Antonio Tajani

eine neue Dynamik verleihen. Wir brauchen ein wirkmächtigeres Europa, das in der Lage ist, seine Bürger angesichts der unsicheren Verhältnisse in der Welt zu schützen.

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Wann immer Journalisten inhaftiert, Oppositionelle bedroht, Menschen aufgrund ihrer Überzeugungen diskriminiert werden, blickt die Welt auf der Suche nach H offnung und Unterstützung nach Europa. Dieses Europa – unser Europa – muss erhobenen Hauptes wieder weltweit für seine Werte einstehen, als Leuchtturm der Freiheit und der Wahrung der Rechte, als einziger Kontinent, auf dem die Todesstrafe abgeschafft wurde.

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Dies ist das Europa, nach dem Helmut Kohl strebte: viel mehr als nur ein Binnenmarkt oder eine gemeinsame Währung, sondern eine über die Jahrhunderte gewachsene Identität, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, ein Ideal von Freiheit, Wohlstand und Frieden.

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Am 25. März – 60 Jahre nach der Unterzeichnung der Verträge – haben wir uns in Rom dazu verpflichtet, die Arbeit Helmut Kohls und anderer großer Europäer zu vollenden.

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Wir müssen – so wie er es uns vorgemacht hat – über die kurzfristigen Interessen hinausblicken und uns vom moralischen Wert der europäischen Integration leiten lassen. Die deutsche Wiedervereinigung ist ohne Zweifel das beste Beispiel dafür; ebenso wie die wunderbare Geste der Versöhnung mit François Mitterrand in Verdun, an dem Ort, an dem sich ihre beiden Nationen erbittert gegenüberstanden.

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Ansprache von Antonio Tajani

Das ist weder der kürzeste noch der einfachste Weg. Es ist jedoch die einzige Möglichkeit, wie wir ein Gefühl der Zugehörigkeit zu diesem großartigen Projekt schaffen können, einem Projekt der Hoffnung und der Zuversicht für die künftigen Generationen.

Deshalb wird die Erinnerung an Helmut Kohl in den Herzen all jener weiterleben, die – wie wir – Europa lieben.

Danke, Helmut Kohl, wir werden Ihre Idee Europas mit uns in die Zukunft tragen!

Rede in Italienisch, deutsche Übersetzung

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Ansprache von Jean­Claude Juncker

Präsident der

Europäischen Kommission

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Monsieur le Président du Parlement,

Majestades,

meine Herren und Damen Präsidenten,

meine Herren und Damen Premierminister,

Exzellenzen,

meine Damen und Herren,

und für viele hier im Saal liebe Freunde,

wir nehmen heute Abschied von Helmut Kohl, dem deutschen und dem europäischen Staatsmann. Und ich nehme Abschied von einem treuen Freund, der mich über Jahre, Jahrzehnte liebevoll begleitet hat. Es spricht hier nicht der Kommissionspräsident, sondern ein Freund, der Kommissionspräsident wurde.

Mit Helmut Kohl verlässt uns ein Nachkriegsgigant. Schon zu Lebzeiten hielt er Einzug in die Geschichtsbücher – und in diesen Geschichtsbüchern wird er für immer stehen. Er war jemand, der zum kontinentalen Monument wurde, vor dem deutsche und europäische Kränze niedergelegt werden, ja niedergelegt werden müssen. Es war sein Wunsch, hier in Straßburg Abschied zu nehmen, in dieser deutsch-französischen europäischen Grenzstadt, die ihm ans Herz gewachsen war. Diesem Wunsch musste entsprochen werden. Die

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Ansprache von Jean-Claude Juncker

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Ansprache von Jean-Claude Juncker

heutige Trauerfeier ist nicht nicht-deutsch, sie ist europäisch, also auch deutsch. Wir beginnen diesen Tag in Straßburg und schließen ihn heute Abend in Speyer ab, im Speyerer Dom, dem er ein Leben lang verbunden war.

Helmut Kohl war ein deutscher Patriot – aber auch ein europäischer Patriot. Er war jemand, der Dinge und Menschen zusammenführte und zusammenbrachte. Ein deutscher und europäischer Patriot ja, weil es für ihn keinen Widerspruch gab zwischen dem, was Deutsch ist, und dem Europäischen, das sein muss. Der französische Philosoph Blaise Pascal hat gesagt, dass er die Dinge mag, die zusammengehen: „J’aime les choses qui vont ensemble.“ Für Helmut Kohl gingen deutsche und europäische Einheit zusammen. Zwei Seiten einer Medaille eben, wie Adenauer und er immer wieder betonten.

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Er hat sich diese Maxime von Adenauer zu Eigen gemacht. Und er hat sie durch sein Denken und Tun immer wieder zur praktischen Anwendung gebracht. Dafür gibt es viele Beispiele.

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Der Fall der Berliner Mauer wurde europa- und weltweit freudig begrüßt. Die deutsche Wiedervereinigung – an die er stets ohne Abstriche glaubte – stieß allerdings in Teilen Europas auf Widerstände, ja manchmal auch auf offene Ablehnung.

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Helmut Kohl hat in vielen geduldigen Einzelgesprächen für die deutsche Wiedervereinigung geworben. Er konnte dies erfolgreich tun, weil seine über Jahre gewachsene Reputation es ihm erlaubte, glaubwürdig zu versichern, dass er ein europäisches Deutschland anstrebe

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Ansprache von Jean-Claude Juncker

und nicht ein deutsches Europa. Er hat die deutsche Wiedervereinigung gewollt, ja er hat sie mit ganzer Kraft gewollt, und hat außerhalbDeutschlands andere von dem historisch richtigen Weg zu überzeugen gewusst.

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Er hat den Mantel Gottes, der für einen kurzen Augenblick durch die Geschichte wehte, zu greifen verstanden. Nicht jeder in Deutschland, nicht jeder in Europa hat diese Bewegung des Mantels Gottes sofort gespürt – er schon. Er hat gespürt, dass die Deutsche Einheit greifbar nah war. Er hat die Gunst der Stunde richtig eingeschätzt und genutzt. Andere wären an dieser Epoche gestaltenden Aufgabe gescheitert. Man spürte, dieser Mann verfügt über perspektivische Kraft.

Helmut Kohl, das Deutsche im Blick, das Europäische weiterdenkend, hat seinen Blick immer auch nach Ost- und Mitteleuropa gerichtet. Nicht nur nach Polen, aber in besonderem Maße nach Polen. Er war für die Verbrechen der Nazis in Polen nicht verantwortlich. Aber er war sich der historischen Verantwortung, die auf Deutschland lastete, sehr bewusst. Genauso wie Willy Brandt, dem er an dessen Lebensende sehr nahe kommt. Helmut Kohl und Willy Brandt – zwei große Männer unserer Zeit.

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Die Erweiterung nach Osten und zur Mitte des Kontinentes ohne Polen war für Kohl schlicht unvorstellbar. Es wäre sehr wünschenswert, dass dies nicht vergessen wird.

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Helmut Kohl war nicht nur der Architekt der Deutschen Einheit. Er hat wesentlich, mehr als andere, zur Versöhnung zwischen europäischer Geschichte und europäischer Geografie beigetragen.

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Ansprache von Jean-Claude Juncker

Er gehört zu denjenigen, die dem Jalta-Trennungsdekret zwischen Ost und West ein Ende bereitet haben. Ost- und Mitteleuropa, wie im Übrigen auch Südeuropa, verdanken Helmut Kohl vieles. Daran muss heute erinnert werden.

Hinzu kommt, dass er die Beziehungen zu Israel klug und mit Herzen weiterzuentwickeln wusste. Er war ein großer Freund Israels. Und er hat die Beziehungen zur früheren Sowjetunion und dem heutigen Russland kluge Aufmerksamkeit geschenkt. Der Historiker und der Kanzler wussten um die Weiten und Tiefen Russlands. Und gleichzeitig war er ein überzeugter Transatlantiker, ein überzeugter und aktiver Transatlantiker. Er hat – in der Folge von H elmut Schmidt – den Nato-Doppelbeschluss durchgesetzt, gegen den damaligen Zeitgeist.

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Ich bin wahrscheinlich, Maike, meine Freunde, der Einzige in diesem Saal, der Helmut Kohl während einer Sitzung hat weinen sehen. Das war am 13. Dezember 1997. An dem Tag beschloss der Europäische Rat unter meinem Vorsitz in Luxemburg die Erweiterung der Europäischen Union nach Mittel- und Osteuropa sowie nach Z ypern und Malta.

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Während des Mittagessens bat Helmut Kohl um das Wort – ausnahmsweise bat er um das Wort, weil normalerweise hat er sich das Wort genommen. Er bat um das Wort während des Mittagessens und sagte mit tränenerstickter Stimme, dass dieser Tag des Auftaktes der Beitrittsverhandlungen zu den schönsten Momenten seines Lebens gehöre. Dass er als deutscher Bundeskanzler diesen historischen Augenblick des zusammenwachsenden Europas erleben dürfe, erfülle ihn

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Ansprache von Jean-Claude Juncker

im Innersten mit großer Bewegung – nach all dem, so sagte er, Unheil, das Deutschland über Europa gebracht habe. Und dann wurde er still, in sich ruhend, und hat lange Minuten geweint. Er war nicht der Einzige. Niemand hat sich seiner Tränen geschämt. Europe at its best!

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Auch in Sachen Euro war er – gemeinsam mit meinem Freund Theo Waigel – die treibende und die tragende Kraft. Sicher: Er hat deutsche Interessen knallhart zu vertreten verstanden. Die im Vertrag zu verankernde Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank hat er freundlich und dann immer fordernder gegen alle Widerstände durchgesetzt. Davon hat er seine Zustimmung zum Euro abhängig gemacht. Ohne Helmut Kohl gäbe es den Euro nicht. Die Währungsunion hat in seinen Augen die europäische Einigung irreversibel gemacht. Für ihn war der Euro stets europäische Friedenspolitik mit anderen Mitteln.

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Und noch etwas, wofür Helmut Kohl steht: Er hat alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union gleichermaßen respektiert. Große und vor allem kleinere Mitgliedstaaten fühlten sich von ihm verstanden und wussten ihre Interessen gut bei ihm aufgehoben.

Und ein letztes: Wenn Verhandlungen – und das kommt in Europa öfters vor – kurz vor dem Abbruch standen, dann hat er, indem er vorging, uns in die europäische Hauptstraße eingewiesen, und hat nicht zugelassen, dass wir uns in europäischen nationalen, exklusiv nationalen, Seitengassen verlaufen würden.

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Sehr verehrter Herr Präsident, mit seinem unermüdlichen Einsatz für die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland hat Helmut

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Ansprache von Jean-Claude Juncker

Kohl schließlich auch das Werk de Gaulles und Adenauers fortgeführt. Obwohl er kein Französisch sprach, wusste er alles über Frankreich und seine Geschichte. Er kannte das Land bis in den letzten Winkel, vor allem auch das Elsass, das er oft besuchte und von Herzen liebte und dessen zahlreiche Feinschmeckerlokale ihm übrigens bestens bekannt waren. Für immer unvergessen bleiben wird das Bild, das alles über Helmut Kohl und sein enges Verhältnis zu Frankreich aussagt. Als sich Helmut Kohl und François Mitterrand in Verdun die Hand reichten, haben sie die Brüderlichkeit zwischen Frankreich und Deutschland ein für alle Mal besiegelt.

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Dass wir hier in Straßburg von ihm Abschied nehmen, hier am Sitz des von ihm so geschätzten Europäischen Parlaments, nur wenige hundert Meter vom Rhein, diesem so geschichtsträchtigen Rhein entfernt, ist eine besondere Geste Europas, die gleichzeitig hohe Symbolkraft hat. Diese schöne Stadt Straßburg – für Helmut Kohl DIE Hauptstadt Europas, beherbergt sie doch die europäische Volksvertretung

– gedenkt heute des großen Europäers Helmut Kohl.

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Ja, Helmut war ein deutscher und ein europäischer Patriot. Für ihn war Patriotismus nie ein Patriotismus gegen andere, sondern ein gelebter Patriotismus mit anderen.

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Rheinland-Pfalz, Deutschland und Europa verneigen sich vor dem imposanten Lebenswerk von Helmut Kohl. Wir tun dies in Dankbarkeit, ja in Ehrfurcht. Er hat ein dicht gefülltes Leben gehabt. Einiges, das ihm widerfahren ist, wird er inzwischen vergessen haben. An Vieles wird er sich aber auch jetzt noch gerne erinnern. Er weiß – wir wissen es auch – dass er Europa besser gemacht hat.

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Ansprache von Jean-Claude Juncker

Lieber Helmut, Du bist, so denke ich, jetzt im Himmel. Wir hätten Dich lieber hier. Versprich mir, dass Du im Himmel nicht sofort einen neuen CDU-Ortsverein gründest. Du hast genug getan für Deine Partei, für Dein Land, für unser gemeinsames Europa.

Vielen Dank Helmut. Merci, obrigado, спасибо, dank u wel, dziękuję, mille grazie, muchas gracias, thank you.

Ruhe in Frieden, Herr Bundeskanzler und lieber Freund. Du hast nach einem reich gefüllten Leben Ruhe verdient. Ewige Ruhe.

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Ansprache von Donald Tusk

Präsident des

Europäischen Rates

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Ansprache von Donald Tusk

Als Europäer, Pole und Bürger Danzigs fühle ich mich in besonderer Weise berufen, einige Worte des Abschieds an Helmut Kohl, den Ehrenbürger Europas und Ehrenbürger Danzigs, zu richten. Es ist kein Zufall, dass meine Heimatstadt – die Stadt, in der die Solidarność-Bewegung ihre Wurzeln hat – dem verstorbenen Altbundeskanzler Kohl diesen Titel verlieh.

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Nur wenige in Europa verstanden so gut wie Helmut Kohl, wie wichtig die Erhebungen für die Freiheit in Mittel- und Osteuropa für die Idee eines vereinten Deutschlands und damit für nahezu ganz Europa waren. Er hat oft gesagt, dass die Danziger Werftarbeiter 1980 die ersten waren, die ein Stück aus der Berliner Mauer brachen. Und das ist einer der Gründe, warum er genauso hart für den Beitritt der ehemaligen Ostblockländer zur Europäischen Union kämpfte wie für die deutsche Vereinigung.

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Es ist von historischer Symbolik, dass die Nachricht vom Fall der Berliner Mauer Helmut Kohl erreichte, als er sich zu einem offiziellen Besuch beim ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten in Warschau befand. Und aus Warschau kam die erste Ermutigung und Unterstützung für die Idee der deutschen Vereinigung. Warschau – die Stadt, die während des Krieges am stärksten unter den Deutschen gelitten hatte.

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Helmut Kohls Beitrag zur Förderung des gegenseitigen Verständnisses war enorm. Ihm und einigen anderen ist es zu verdanken, dass Worte wie „Vertrauen“ und „Versöhnung“ in den französischdeutschen und den deutsch-polnischen Beziehungen wieder

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Ansprache von Donald Tusk

etwas bedeuteten. Ich erinnere mich gut an zwei außerordentlich ausdrucksvolle Bilder: Präsident Mitterrand und Bundeskanzler Kohl Hand in Hand in Verdun und die Umarmung von Minister-präsident Mazowiecki und Bundeskanzler Kohl in Krzyżowa zwei Tage nach dem Fall der Mauer. Diese Gesten und die dahinter stehenden Entscheidungen legten die Ecksteine für das moderne Europa.

Helmut Kohl setzte Thomas Manns Worte in die politische Praxis um: „Ich will ein europäisches Deutschland, kein deutsches Europa.“ Aber seine Vision ging weit über die deutschen Grenzen und die deutschen Interessen hinaus. Mit außerordentlicher Beharrlichkeit strebte er eine Definition eines gemeinsamen Europas an; er suchte nach dem, was Europa verbindet, ohne sich der Illusion hinzugeben, dass es einfach sein würde, das Trennende zu überwinden. Ein vereintes Europa ist Realität geworden, weil es glücklicherweise Menschen mit großen Visionen gab – die Großen der europäischen P olitik: Lech Wałęsa, François Mitterrand, Tadeusz Mazo wiecki, Vaclav Havel und, auf einer etwas anderen Ebene, Papst Johannes Paul II.

Die Nachfolger dieser großen Helden der positiven europäischen Geschichte, die hier um diesen Sarg versammelt sind, müssen heute ihr Gewissen prüfen. In Berlin und Warschau, Paris und Budapest muss die Antwort auf die Frage nach der Zukunft eines vereinten Europas laut und deutlich „Ja“ lauten. „Ja“ zur Union, „Ja“ zur Freiheit, „Ja“ zu Menschenrechten.

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Ansprache von Donald Tusk

Am Ende der Versöhnungsmesse in Krzyżowa sagte Bundeskanzler Kohl: „Lasst uns vom Altar in Richtung einer guten, friedlichen, von Gott gesegneten Zukunft gehen: für unsere Völker, für das polnische und das deutsche Volk, für uns alle in Europa.“ Mögen uns diese Worte in Erinnerung bleiben.

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Rede in Polnisch, deutsche Übersetzung

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Ansprache von Felipe GonzálezEhemaliger Ministerpräsident

von Spanien

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Ansprache von Felipe González

Ich danke den Präsidenten des Parlaments, der Kommission und des Rates für die Ehre, von Helmut Kohl im Beisein seiner Witwe Abschied zu nehmen. Abschied von meinem Freund.

Es fällt mir schwer, und ich bin Ihnen dankbar, dass ich dafür nur fünf Minuten habe. Ich nehme Abschied von Helmut Kohl aus dem Blickwinkel der Freundschaft, für die er einen großen Sinn hatte. Er verband Vertrauen mit Freundschaft, was in politischen Beziehungen Seltenheitswert hat. Und er verband Vertrauen und Freundschaft mit Loyalität. Sobald es an Loyalität fehlte, war er außerordentlich empfindlich.

Er hatte Sinn für die Geschichte und sprach daher von einem europäischen Deutschland. Ein deutsches Europa sollte es nicht noch einmal geben. Er verfügte auch über einen Sinn für das Soziale, etwas, das von anderen oft vergessen wird. Er war überzeugt von der Sozialen Marktwirtschaft. Beim Bau des Hauses Europa betrachtete er die soziale Dimension nicht als einen Störfaktor, der Europa daran hindern könnte, sich in die Weltwirtschaft einzufügen.

Wir haben einen großen Europäer verloren. Ich persönlich habe das Gefühl, einen Freund verloren zu haben, mit dem ich historische Augenblicke geteilt habe, die entscheidend waren für Deutschland, für Spanien, für Europa und für die gesamte Welt. Seit jenem Beschluss, auf den bereits Präsident Juncker Bezug genommen hat – jenem über die Mittelstreckenraketen – , wo er einen großen Kampf ausfocht – und ich an seiner Seite stand – bis

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Ansprache von Felipe González

zu dem Moment, wo er die Stationierung und Modernisierung von Kurzstreckenraketen, die nur Deutsche getroffen hätten, ablehnte.

Und natürlich sprach er auch Französisch. Einen einzigen Satz. Wenn François Mitterrand das Wort ergriff, sagte er: „Jetzt spricht François I. der Große.“ Das war sein Ausdruck von Zuneigung im Europäischen Rat.

Nachdem diese Beschlüsse gefasst waren, war er unser Wegbegleiter und hat uns solidarisch geholfen auf unserem Weg in die Europäische Gemeinschaft. Gemeinsam haben wir beide mit Mitterrand, mit Delors und anderen Freunden die Unterzeichnung der Einheitlichen Europäischen Akte gefeiert. Sie war der unmittelbar e Vorläufer des späteren großen Schrittes zum Bau des europäischen Hauses, dem Vertrag über die Europäische Union.

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Und inmitten dieses Abenteuers, dieser großen historischen Herausforderungen, der Fall der Mauer. Er wusste die Zügel des Pferdes zu führen, das die Mauer niederriss, um die Deutsche Einheit, eingebettet in die europäische Einheit, Wirklichkeit werden zu lassen. Er hat stets betont: „Ich möchte ein europäisches Deutschland, nie wieder ein deutsches Europa.“

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Das zeichnet ihn aus. Es versinnbildlicht seinen Willen. Genauso wie es ihn auszeichnet, dass er darüber hinaus bereit war, für den Euro seine Kanzlerschaft aufs Spiel zu setzen. Er betrachtete den Euro nicht als währungspolitisches Manöver. Wir hatten schon einen Vertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion unter -

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Ansprache von Felipe González

zeichnet, und er wusste, dass der Verzicht auf die Deutsche Mark ihn das Kanzleramt kosten könnte. Und er hat dennoch zugestimmt.

In jenem Moment, als er schließlich die Wahlen verlor – wir alle werden sie eines Tages verlieren – in jenem Moment sagte ich zu ihm: „Helmut, zum Regieren braucht man Millionen von Stimmen, zum Leben braucht man die Anerkennung, die Zuneigung und die Loyalität einiger weniger Freunde. So wichtig es sein mag zu regieren, ist es doch allemal wichtiger zu leben. Und Du hast gute, treue Freunde, die Dich auf Deinem Lebensweg weiter begleiten werden.“

Heute möchte einer dieser treuen Freunde Abschied nehmen. Und im Abschied möchte er sagen: Du lässt eine politische Lücke zurück. Eine große politische Lücke, die gefüllt werden wird durch die Erinnerung an Dich, Deine Entschlossenheit und die wahre historische Geschichte, die auf Deinen Anstrengungen und Deinem Leben beruht. Doch vor allem werden Menschen wie ich den Verlust einer großen Freundschaft spüren, die in bedeutenden historischen Momenten geknüpft worden war. Und diese Lücke lässt Du zurück zu einem Zeitpunkt, wo wir Dich brauchen würden. Aber wir werden Dich niemals vergessen.

Helmut, zähle auf unsere Freundschaft.

Rede in Spanisch, deutsche Übersetzung

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Ansprache von Bill Clinton

Ehemaliger Präsident der

Vereinigten Staaten von Amerika

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Ansprache von Bill Clinton

Vielen Dank, dass Sie mir die Gelegenheit geben, hier einige Worte zu sprechen. Ich möchte Peter, Walter, Helmuts Familie danken, ich möchte den europäischen Staats- und Regierungschefs, den Vertretern der Europäischen Union, Kanzlerin Merkel, Präsident Macron, den Ministerpräsidenten und allen offiziellen Vertretern danken, die heute hier sind.

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Ich möchte Sie bitten, über etwas nachzudenken, was ich nicht aufgeschrieben habe. Ich sah mich heute in dieser Menge um, sah uns alle hier, die einmal ein Amt ausübten, uns alle, die wir hier versammelt sind. Warum? Weil uns Helmut Kohl die Chance geboten hat, an etwas mitzuwirken, das größer war als wir selbst, größer als unsere Amtszeit, größer als unsere flüchtige Karriere, denn früher oder später werden wir alle in einem Sarg wie diesem liegen. Das einzige Geschenk, das wir hinterlassen können, ist eine bessere Zukunft für unsere Kinder und die Freiheit, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, auch eigene Fehler zu machen.

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Ich habe ihn geliebt. Hillary meinte, ich hätte ihn geliebt, weil er der einzige Mensch mit einem noch größeren Appetit wäre als ich. Er kam sehr oft nach Washington; einmal hat er mich in sein Lieblingsrestaurant mitgenommen, in der Hauptstadt meines Landes – Fil omena, das Restaurant gibt es immer noch – ich kann es Ihnen nur empfehlen.

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Warum sage ich das? Weil das 21. Jahrhundert in Europa, wie Sie sehen, wirklich während seiner Amtszeit begonnen hat. Weil er eine Antwort auf fünf wichtige Fragen geben musste, die heute noch Auswirkungen haben, und aufgrund der Antworten, die er gab, sind wir heute überhaupt hier.

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Ansprache von Bill Clinton

Sollte es nach dem Fall der Berliner Mauer ein wirklich vereinigtes Deutschland geben? Was würde das bedeuten? Wieviel würde das kosten? Es würde sehr schwierig werden, aber wir sind ein Volk und ein Land, und wir sollten diese Mühen und Schwierigkeiten auf uns nehmen. Selbst wenn es ihn in seinem Fall sogar die Wahl gekostet hat, weil es länger als ursprünglich gedacht dauerte, das Niveau im Osten anzuheben. Sollte es eine echte Europäische Union geben und sollte sie erweitert werden, damit Deutschland nie mehr am Rande Europas liegen würde, einem Grund für Umwälzungen und Krieg? Die Polen, die Ungarn, die Tschechen und alle anderen, können wir das gemeinsam schaffen? Sollte Deutschland, dem seine Nachbarn so lange misstrauten, eine aktive Haltung einnehmen und das Morden in Bosnien beenden und den ersten Einsatz der Nato außerhalb der Mitgliedsländer sowie den ersten Einsatz deutscher Truppen außerhalb des eigenen Landes seit Ende des Zweiten Weltkriegs unterstützen?

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Nach all dem Blutvergießen des Zweiten Weltkriegs ist endlich die Berliner Mauer gefallen. Sollte man einfach nur erleichtert aufatmen oder erkennen, dass das eine schreckliche Erfahrung für Russland war? Sollte man Russland die Hand der Freundschaft reichen zusammen mit einem Scheck und anderen die Chance geben, dasselbe zu tun? Sollte die Nato fortgeführt oder abgeschafft werden? Viele sagten, die Nato solle abgeschafft werden. Sie wurde jedoch erweitert, nicht als eine Bedrohung, sondern vielmehr als ein Versprechen mit einer besonderen Partnerschaft, an der Russland und die Ukraine beteiligt wurden, um die territoriale Unversehrtheit aller Länder und die Zusammenarbeit aller Völker in Zukunft sicherzustellen.

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Ansprache von Bill Clinton

Das waren wirklich große Fragen. Heute klingt das alles so einfach, und man könnte meinen, es war nicht nur einfach, sondern die Realität hat auch eingegriffen und heute ist alles anders. Sie könnten jetzt denken, alle, die wir graue Haare haben, wirken angesichts der derzeitigen Gegebenheiten alt und tatterig, aber es gibt keine ewigen Siege oder Niederlagen in der Politik. Was am wichtigsten ist, ist das, was uns antreibt.

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Ich habe diesen Mann geliebt, denn sein Appetit ging deutlich über das Essen hinaus. Er wollte eine Welt schaffen, in der niemand dominieren würde; eine Welt, in der Kooperation besser wäre als Konflikte, in der unterschiedliche Gruppen bessere Entscheidungen treffen würden als einzelne Diktatoren; eine Welt, in der junge Menschen die Freiheit hätten zu sagen, dass wir in unserer Zeit falsch lagen, oder zumindest dass das, was wir getan haben, für heute nicht ausreicht.

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Nichts hat dies besser beschrieben als sein Wille – trotz des enormen Gewichts der deutschen Kultur und Geschichte und seines Beitrags zur Europäischen Union – den ersten Führungsposten bei der Zentralbank aufzugeben. Das war selbstverständlich. Wir müssen lernen zu teilen.

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In der ganzen Welt wird derzeit die Frage der Identität immer wichtiger. Wer sind wir? Sollen wir uns größtenteils durch unsere Unterschiede oder durch unsere Gemeinsamkeiten definieren? Helmut Kohl liebte es, Deutscher zu sein, da darf man sich nichts vormachen. Ich habe ihm einmal bei einem Besuch in den USA ermöglicht, noch deutscher zu sein, denn wir fuhren nach Milwaukee, der deutschesten

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Ansprache von Bill Clinton

Stadt in den USA. Wir haben dort eine deutsche Schule besucht, in der er mit afro-amerikanischen Sch ülern Deutsch sprach, die jeden Tag ständig Deutsch in der Schule sprechen.

Er war der Ansicht, dass in einer Welt, die miteinander verflochten ist, in der die Grenzen eher Netzen als Mauern ähneln, in der Technologien allein viele tolle Dinge ermöglichten, aber uns auch gegenüber anderem anfälliger machten, wie beispielsweise Terror oder Cyberterrorismus, dass wir in dieser Welt nach Gemeinsamkeiten suchen müssten.

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Er liebte es, Deutscher zu sein. Er versuchte, mich dazu zu bringen, Sachen zu essen, die ich wirklich nicht essen wollte, weil er es liebte, Deutscher zu sein. Er liebte es auch, Europäer zu sein, aber in seiner enormen, hochpolitischen und häufig übertriebenen Führungsrolle keimte das Verständnis, dass die Krebsgeschwüre des 20. Jahrhunderts von Menschen herrührten, die dachten, dass Dominanz besser sei als Zusammenarbeit.

Und deswegen sind wir heute alle hier. Die alte Generation, die einmal im Amt war, wollte zurückkommen und Dir dafür danken, dass Du uns die Chance gegeben hast, an etwas teilzunehmen, das größer war als wir selbst. Vielen Dank, dass wir die Chance hatten, ein bisschen besser zu sein, daran zu denken, dass das Leben der polnischen Arbeiter in Gdańsk in den Augen Gottes genauso wichtig war wie unser eigenes. In der Politik geht es letztendlich nicht um Dominanz, sondern um die Möglichkeit, einer größtmöglichen Zahl von Menschen ein normales Leben zu bieten.

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Ansprache von Bill Clinton

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Der reichste Mensch der Welt wird eines Tages in einem Sarg liegen. Der mächtigste Mensch, ob man Leben tötet oder bewahrt, wir alle werden irgendwann heimkehren, wie man in den afro-amerikanischen Kirchen in den USA sagt. Dort nennt man Gedenkveranstaltungen wie unsere „Heimkehr“ (auf Deutsch) Heimat. Niemand liebte das mehr als Helmut Kohl. So schlafe denn gut, mein Freund. Das größte Geschenk, das Du uns gemacht hast, ist die Einsicht, dass das wichtigste im Leben das ist, was wir unseren Kindern hinterlassen: Frieden, Freiheit, Sicherheit, um unseren eigenen Wohlstand aufzubauen und unsere eigenen Träume zu verfolgen in dem Wissen, dass diese sehr groß sein können, wenn wir etwas aufbauen, anstatt zu zerstören. In Deinem Leben hast Du gute Arbeit geleistet. Diejenigen, die Dich kannten, haben Dich dafür geliebt. Vielen Dank!

Rede in Englisch, deutsche Übersetzung

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Ansprache von Dmitri Medwedew

Ministerpräsident der

Russischen Föderation

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Ansprache von Dmitri Medwedew

Sehr geehrte Frau Kohl-Richter,

sehr geehrte Familienangehörige,

meine Damen und Herren,

heute erweisen wir Helmut Kohl die letzte Ehre, dem Mann, der zu Recht nicht nur als Architekt der deutschen Wiedervereinigung, sondern auch als Architekt des vereinten Europas und genaugenommen auch als Architekt der heutigen Weltordnung bezeichnet wird.

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Helmut Kohl war in jedem Sinne des Wortes ein großer Mann. Er war ein Mann mit großen Ideen und großen Plänen. Er war eine jener Führungspersönlichkeiten, dank derer sich der Lauf der Geschichte verändert. Vieles von dem, was er in den sechzehn Jahren seiner Kanzlerschaft erreichte, hatte unter seinen Zeitgenossen als unerr eichbar gegolten. Heute sprechen wir anders darüber: „Man hätte es gar nicht anders machen können.“ Das heißt, er war in der Lage, den einzig richtigen Weg auszuwählen, auf dem die Geschichte dann auch voranschritt. Und auch in diesem Sinne war Helmut Kohl tatsächli ch ein Mann der Zukunft. Für das deutsche Volk öffnete er die Tür zur Einheit und in diesem neuen Deutschland ist bereits eine neue Generation herangewachsen.

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Seinerzeit waren – wie meine Kollegen von diesem Podium aus ja bereits erwähnt haben – nicht alle bereit, dies zu akzeptieren. Aber Helmut Kohl wusste nur allzu gut, was Krieg bedeutet. Er hat ihn noch als Teenager miterlebt und dann folgte er viele Jahre lang dem Ziel,

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Ansprache von Dmitri Medwedew

dass Europa niemals mehr geteilt werden dürfe – weder durch Schützengräben, Grenzen noch durch einander feindlich gegenüberstehende Ideologien. Der große Politiker Helmut Kohl hat nur zu gut verstanden, dass er nur auf diesem Wege, durch die Überwindung der Teilung Gesamteuropas, die Wiedervereinigung seines Heimatlandes würde herbeiführen können.

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Auf diesem Weg war mein eigenes Land, Russland, ihm immer ein zu-verlässiger Partner. Unsere Völker verstanden und verstehen nur zu gut, welche Gefahren die Konfrontation birgt und welchen Wert der Frieden hat. Dies machte es den Feinden von gestern möglich, gemeinsame Beziehungen aufzubauen, und zwar auf der Grundlage des gegenseitigen Respekts, der Gleichberechtigung und des Vertrauens. Helmut Kohl persönlich hat viel getan, um sicherzustellen, dass unsere Beziehungen so gut wie nie zuvor in der Geschichte werden sollten. Dies wird in Russland überaus geschätzt.

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Helmut Kohl hat sein wichtigstes Lebensziel erreicht. Er blieb stets ein wahrhaft nationaler Politiker, aber er dachte und handelte in einem gesamteuropäischen und weltweiten Kontext. Er träumte nicht nur von einem vereinigten Deutschland, sondern auch von einem vereinten Europa, und er sah Russland als integralen Bestandteil dieses geeinten Europas an. Er träumte von einem gemeinsamen Haus ohne Stacheldraht, ohne die Ängste, Feindseligkeiten oder Kriege, die diesen Kontinent teilten.

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Es war der Traum von Frieden und Sicherheit für alle: wenn der Mensch mit seinen Ideen und gemeinsamen Werten der Zusammen-

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Ansprache von Dmitri Medwedew

arbeit und des Vertrauens höher als die Nationen, Grenzen und Staaten gestellt wird. Unter die Errichtung dieses gemeinsamen Hauses kann man nicht einfach einen Strich ziehen und sagen, dass alles schließlich perfekt gelaufen wäre. Wir müssen jeden Tag weiter daran arbeiten, gemeinsam arbeiten.

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Die Berliner Mauer ist gefallen und, in Bruchstücke zerteilt, schon längst als Souvenir verkauft worden, aber Teile der dieser Mauer zugrunde liegenden Ideologie bestehen überall in der Welt fort, und wir sollten zugeben, dass wir aufgrund unserer Gegensätze heute weit davon entfernt sind, den Traum eines gemeinsamen Hauses zu verwirklichen. Unser gemeinsames Ziel ist ein vereintes, sicheres und prosperierendes Europa. Und Helmut Kohl hat in sehr schwierigen Zeiten – schwierigeren als heute – bewiesen, dass dieses Ziel erreichbar ist. Sein Erbe anzutreten ist die Verantwortung, die auf den Schultern aller führenden Politiker der Welt ruht.

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Das Lebenswerk des „Kanzlers der Deutschen Einheit“ wird auch künftig in der gesamten Welt geehrt werden. In Russland wird man an ihn als unseren Freund, als einen weisen und weitsichtigen Politiker, einen sehr offenen und aufrechten Menschen denken. Im Namen der Russischen Föderation möchte ich noch einmal unser aufrichtiges Beileid anlässlich des Todes von Helmut Kohl, der ein großer Sohn Deutschlands war, zum Ausdruck bringen.

Rede in Russisch, deutsche Übersetzung

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Ansprache von Emmanuel Macron

Präsident der

Französischen Republik

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Ansprache von Emmanuel Macron

Liebe Frau Kohl-Richter,

liebe Angehörige,

meine Damen und Herren Staats- und Regierungschefs,

meine Damen und Herren Vertreter der europäischen Institutionen,

meine Damen und Herren Minister,

meine Damen und Herren Botschafter,

meine Damen und Herren Abgeordnete,

sehr geehrte Damen und Herren,

ich danke Ihnen dafür, dass Sie für unser Zusammenkommen heute hier Straßburg ausgewählt haben – einen der herausragenden Orte unseres Europas, das Helmut Kohl so sehr am Herzen lag und für das er so viel getan hat. Gestatten Sie mir zunächst noch, Simone Veils zu gedenken, die gestern verstorben ist. Sie war die erste weibliche Abgeordnete und anschließend Präsidentin des Europaparlamentes. Sie wusste um den Wert unseres Europas, das aus der unauslöschlichen Erfahrung des Todes hervorgegangen ist.

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Doch wir haben uns heute hier versammelt, um Helmut Kohl zu würdigen. Wir möchten dabei nicht nur seiner selbst, sondern auch seiner Spur in der Geschichte gedenken. Viele von Ihnen haben sehr bewegt an die Momente erinnert, die Sie mit ihm erlebt haben. Für meine Generation aber ist Helmut Kohl bereits Teil der europäischen Geschichte: Da ist diese Lebenserfahrung, ohne die wir nicht hier wären und auch nicht handeln könnten. Da sind historische Ent

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Ansprache von Emmanuel Macron

scheidungen, mutige Entscheidungen, ohne die unsere Generation heute nicht einmal mehr die Wahl hätte. Tausende Seiten sind bereits geschrieben worden, um sein Wirken zu würdigen: die deutsche Wiedervereinigung, das europäische Aufbauwerk – Sie haben eingehend davon gesprochen. Da ist auch der Mann, der es mehrfach wagte, sehr mutige Entscheidungen zu fällen, die zuweilen gegen die allgemeine Meinung standen, zuweilen zu einem unerwarteten oder unerwünschten Zeitpunkt kamen.

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Als Präsident der Französischen Republik möchte ich, dass sein Erbe nicht nur als politisches Erbe gewürdigt wird, so bemerkenswert es auch ist. Schließlich hat er uns sehr viel mehr hinterlassen. Helmut Kohl war für Frankreich ein besonderer Gesprächspartner, ein grundlegender Verbündeter, ein unermüdlicher Baumeister. Doch er war noch weit mehr: Er war ein Freund. Seine Beziehung zu Frankreich speiste sich aus seiner persönlichen, seiner Familiengeschichte, aus seinem historischen Verständnis, war von der Neugier geprägt, die er als Rheinländer für seine Nachbarn empfand, wodurch er seinen Blick immer wieder auch auf die andere Seite des Rheins richtete, der uns heute hier nahe ist, und Brücken den Vorzug gab gegenüber Grenzen oder zuweilen Mauern. Diese Beziehung war geprägt von uneingeschränktem Respekt, einem Respekt, wie man ihn Fanatismus und Rohheit entgegensetzt.

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Als Anfang der 80er-Jahre Frankreich Politiker wählte, deren wirtschaftliche Ausrichtung einige unserer Partner verstörte, hat uns Helmut Kohl die Hand gereicht und auch die Widerstände einiger seiner politischen Freunde beiseitegeschoben. Als danach nationale

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Ansprache von Emmanuel Macron

Zwistigkeiten uns trennten, insbesondere zum Thema Europa, schenkte er uns weiter sein unverbrüchliches Vertrauen. Und als die deutsche Wiedervereinigung anstand, setzte er all seine Energie daran, dass Europa dadurch nicht geschwächt, sondern im Gegenteil gestärkt wird.

Frankreich wusste sich dieser beständigen Freundschaft würdig zu erweisen. Nach Charles de Gaulle und Konrad Adenauer, nach Valéry Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt, die eine starke Grundlage für Europa gelegt hatten, übernahm François Mitterrand mit Helmut Kohl den Staffelstab. Der eine wie auch der andere schaffte es, die tragischen Erfahrungen ihrer eigenen Generation zu überwinden. Der eine wie auch der andere schaffte es, dass Völker, die sich einst bekämpft hatten, Völker wurden, die einander in echter Freundschaft verbunden sind. So haben Helmut Kohl und François Mitterrand, später Jacques Chirac, glanzvoll gezeigt, dass Europa nur dann groß ist, wenn auch der gute Wille, der es beflügelt, groß ist, wenn auch die Freundschaft, auf die es gründet, groß ist.

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Erinnern wir uns an diesen 4. Januar 1990, als Helmut Kohl François Mitterrand in seinem Haus in Latche besuchte. Nach mehreren Wochen der Unsicherheit mit Blick auf die deutsche Wiedervereinigung ermöglichte dieser Besuch es den beiden Männern, während ihrer Spaziergänge auf dem sandigen Boden der Kiefernwälder der Landes de Gascogne über alles zu sprechen. Durch dieses Band zwischen den Spaziergängern konnte schließlich eine Einigung besiegelt werden. Manchmal entscheidet sich der Welten Lauf in solchen Augenblicken eben auf der menschlichen Ebene.

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Ansprache von Emmanuel Macron

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Und denjenigen, die heute behaupten, die europäischen Institutionen und Verträge seien eitle technokratische Konstrukte, möchte ich hier, vor Helmut Kohl, sagen: Sie waren es doch, die ihnen die Freundschaft entzogen haben, Sie haben doch das Feuer erlöschen lassen, in dem sie geschmiedet wurden, Sie haben doch die Schicksale vergessen, auf denen sie erbaut wurden, Sie sind es doch, die heute beschließen, dass dieses Europa technokratisch werden soll.

Was aber ist nun die Botschaft seines Lebens, welche Spur hat sein Wirken hinterlassen? Er hat uns gezeigt, dass unser Europa, dass das, was uns heute vereint, das Ergebnis der Geschichte mehrerer Generationen ist, das Ergebnis der Schicksale von Menschen, die beschlossen haben, sich über den vorgegebenen Horizont hinaus zu erheben, die den Mut bewiesen haben, gegen Hass, manchmal auch Ängste aufzustehen. Welchem Gebäude geht nicht sein Sinn oder gar seine Schönheit verloren, wenn es nicht mehr bewohnt ist?

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Das ist die Botschaft, die Helmut Kohl Frankreich und allen Europäern hinterlässt: Pragmatismus, Realitätssinn, politisches Geschick

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Helmut Kohl und François Mitterrand haben auch gezeigt, dass Brüderlichkeit ihre Wirkung verliert wie ein Salz, das fad wird, wenn die Menschen sich nicht mehr wirklich verbunden fühlen. Sie muss immer wieder gestärkt werden, und manchmal muss man das Risiko wagen, sie auch über Institutionen und Übereinkünfte zu stärken. In Jacques Delors fanden sie die verlässlichste Stütze für dieses Ziel. So bauten sie gemeinsam etwas noch nie Dagewesenes. Das ist das, was uns heute eint.

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Ansprache von Emmanuel Macron

sind ungemein nützlich, doch bauen sie noch nichts auf. Es sind Ideale, gefestigt von Freundschaft und dem Erfahrungsreichtum eines Lebens, die unserem Aufbauwerk Gestalt und Beständigkeit verleihen. Dies möchte ich, zusammen mit Angela Merkel, wieder mit Sinn, Realität, Inhalt ausfüllen.

Eines Tages wird die Geschichte auch über uns richten. Sie wird streng in die eine Waagschale die Zugeständnisse werfen, die wir zugunsten von kurzfristigem Kalkül, nationalen Egoismen, der einfachsten Lösung des Moments gemacht haben. In der anderen Waagschale wird sie zu unseren Gunsten die Aufrichtigkeit unseres Strebens nach Frieden und Völkerverständigung berücksichtigen, unseren Einsatz für das europäische Projekt, der hierfür die Voraussetzung ist, die aus unserer gemeinsamen Geschichte, aus den so eng miteinander verknüpften Kulturen, aus den gemeinsam durchgestandenen Herausforderungen entstandene tiefe Freundschaft.

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Und wenn wir manchmal angesichts dieser unglaublich großen Aufgabe von Zweifeln heimgesucht werden, möge es uns reichen, an diese große Persönlichkeit Helmut Kohl zu denken, mit all der Dankbarkeit, die wir ihm schulden. Erinnern wir uns an den Satz, der alles zusammenfasst: (auf Deutsch) „Wir haben überhaupt keinen Anlass zur Resig nation. Wir haben vielmehr Grund zu realistischem Optimismus.“

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Noch lange werden wir aus seinem Beispiel das schöpfen können, was wir brauchen, um gemeinsam voranzukommen: Mut und Hoffnung. Vielen Dank.

Rede in Französisch, deutsche Übersetzung

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Ansprache von Angela Merkel

Bundeskanzlerin der

Bundesrepublik Deutschland

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Ansprache von Angela Merkel

Sehr geehrte Präsidenten und Ministerpräsidenten,

Exzellenzen,

sehr geehrte Abgeordnete,

sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Frau Kohl-Richter,

liebe Familie Kohl,

wir nehmen heute Abschied von Helmut Kohl, dem Kanzler der Deutschen Einheit, Karlspreisträger und Ehrenbürger Europas. Er, der einst als junger Mann Geschichte studierte, hat jetzt selbst einen Platz in den Geschichtsbüchern eingenommen. Helmut Kohl verkörpert eine Epoche. Er hat mit seiner Innen- und Außenpolitik Pflöcke eingeschlagen, die bis heute Halt bieten. Seine Bundeskanzlerschaft ist verbunden mit vielen Jahren wirtschaftlicher Prosperität.

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Doch bei all dem verlor er nie den Blick für das große Ganze über Deutschland hinaus. Er dachte über den Tag hinaus. So hat Helmut Kohl Umbrüche mitgestaltet und entscheidend das Deutschland und das Europa mitgeschaffen, in dem wir alle heute leben. Vieles, was für uns selbstverständlich ist, geht auf ihn zurück. Dass Ost- und Westeuropa vereint sind, dass wir einen gemeinsamen Markt haben, dass es keine Grenzkontrollen zwischen EU-Staaten gibt, dass die meisten dieser Staaten über eine gemeinsame Währung verfügen, dass es die

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Ansprache von Angela Merkel

Europäische Union in ihrer heutigen Form überhaupt gibt, all das ist und bleibt ganz wesentlich mit dem Namen Helmut Kohl verbunden.

Er hat eine ganze Generation geprägt. So manche Geister schieden sich an ihm. Nicht wenige haben sich an ihm abgearbeitet und gerieben. Viele von uns, auch ich, können davon erzählen. Doch das tritt zurück hinter dem überragenden Lebenswerk. Genau deshalb zollen ihm auch politische Kontrahenten Respekt.

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Wie lässt sich das erklären? Was mir persönlich an Helmut Kohl besonders imponierte, das waren sein ausgeprägtes und feines Gespür für das politisch Machbare wie auch, und das ist eben kein Widerspruch, seine unerschütterlichen Überzeugungen, die ihn in seinen Entscheidungen leiteten. Auf Helmut Kohl war Verlass.

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Von Anfang an holte er auch Menschen in seine Mannschaft, mit denen er manche in seiner Partei überraschte. Seinen Kabinettsmitgliedern ließ er durchaus weitgehend freie Hand, jedenfalls erheblich mehr, als Außenstehende denken mochten. Dies konnte ich auch erfahren.

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Natürlich war es nicht immer leicht, mit eigenen Argumenten durchzudringen. Manchmal schien es sogar schier unmöglich. Aber er ließ es sich nie nehmen, seinen Kabinettsmitgliedern mit Rat und manchmal auch mit Tat beiseite zu stehen, und zwar in ganz konkreten Lebenssituationen. Mir zum Beispiel half er 1992 nach einem schweren Beinbruch monatelang, ärztliche Behandlung mit meinem Ministeramt noch vereinbaren zu können. Ja, Helmut Kohl ging auf Menschen zu. Er interessierte sich für sie. Er suchte und pflegte enge Kontakte. So

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Ansprache von Angela Merkel

Als Helmut Kohl 1982 Bundeskanzler wurde, fuhr er als Erstes nach Paris. Ein Berater von Präsident François Mitterrand berichtete später, dass sich die französische Seite zunächst in großer Zurückhaltung geübt habe, aber dann – ich zitiere – „waren wir sofort Feuer und Flamme“. Das persönliche, herzliche Verhältnis prägte und spiegelte zugleich das freundschaftliche deutsch-französische Verhältnis wider.

gelang es ihm, in Deutschland, in Europa und in der Welt verlässliche Beziehungen zu knüpfen, Vertrauen aufzubauen und Freundschaften zu schließen. Er war ein den Menschen zugewandter Weltpolitiker.

Tief in das Gedächtnis unserer Nationen eingeschrieben ist das Bild beider Staatsmänner, die Hand in Hand vor den Gräbern von Verdun standen. Diese Geste der Versöhnung und Verbundenheit markierte ein neues Kapitel gemeinsamer Geschichte. Helmut Kohl verstand es, Brücken zu bauen. Sie reichten nach Paris und Warschau, nach Washington und Moskau. Unermüdlich arbeitete er an einem guten Miteinander Deutschlands mit seinen Nachbarn und Partnern in der Welt.

Er hatte als Kind und Jugendlicher noch selbst den Zweiten Weltkrieg erlebt, das unermesslich große Leid, das Deutschland im Nationalsozialismus über Europa und die Welt gebracht hatte, und auch die Ängste in Bombennächten. Es waren gerade diese Erfahrungen, die ihn antrieben, sich schon in jungen Jahren in der neu gegründeten Christlich Demokratischen Union zu engagieren. Es waren diese Erfahrungen, in denen schließlich auch seine außenpolitische Maxime gründete, die unmissverständlich lautete: Wir müssen uns für ein Europa starkmachen, in dem es nie wieder Krieg gibt.

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Ansprache von Angela Merkel

Dieses Denken in geschichtlichen Zusammenhängen prägte sein politisches Wirken. Zugleich bewahrte sich Helmut Kohl seine Bodenhaftung. Er blieb seiner Heimat, der Pfalz, ein Leben lang aufs Engste verbunden. Fest verwurzelt, wie er in dieser Region inmitten Europas war, hatte er auch einen besonderen Sinn für die Sicht und die Gefühle in unserer Nachbarschaft, und das kam immer von H erzen. Das spürten seine Gesprächspartner. Sie wussten, dass sie sich auf ihn verlassen konnten. Was er sagte oder zusagte, dazu stand er ohne Wenn und Aber.

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Als Helmut Kohl Bundeskanzler wurde, waren Deutschland und Europa geteilt. Eine bewaffnete Konfrontation auf europäischem Boden war stets ein präsentes Schreckensszenario. Am Ende seiner Amtszeit war Deutschland vereint und zum ersten Mal in seiner Geschichte mit allen seinen Nachbarstaaten in Frieden, Freiheit und Freundschaft verbunden. Der Weg zur Erweiterung der Europäischen Union und der Nato nach Mittel- und Osteuropa war bereits weitgehend geebnet. Die Einführung des Euros als gemeinsamer Währung war beschlossen.

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Als Helmut Kohl 1982 Bundeskanzler wurde, habe ich in der DDR gelebt. Ich habe seine Tischrede beim Besuch Erich Honeckers 1987 in Bonn im Fernsehen gehört und gesehen, als er Honecker vor laufenden Kameras sagte – ich zitiere: „Die Menschen in Deutschland leiden unter der Trennung. Sie leiden an einer Mauer, die ihnen buchstäblich im Wege steht und die sie abstößt. Wenn wir abbauen, was Menschen trennt, tragen wir dem unüberhörbaren Verlangen der Deutschen Rechnung. Sie wollen zueinander kommen können, weil sie zueinander gehören.“

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Ansprache von Angela Merkel

Diese Worte des Bundeskanzlers Helmut Kohl gaben uns in der DDR Kraft. Die Bürgerrechtsbewegung in Polen und anderen Staaten des einstigen Ostblocks sowie der neue Wind, der damals aus Moskau wehte, machten uns in der DDR Mut. Hunderttausende wagten sich auf die Straße, demonstrierten für Freiheit und brachten die Mauer zu Fall.

Helmut Kohl war es, der die Einheit wollte, als andere noch zögerten oder gar abwinkten. Er machte sich daran, den Weg zur Einheit zu ebnen und hatte dabei stets die Interessen unserer Nachbarn und Partner im Blick. Seine tiefe europäische Überzeugung und das Vertrauen, das er weltweit genoss, halfen ihm, Sorgen und Bedenken gegenüber einem vereinten Deutschland zu zerstreuen. Das wird für immer die alles überragende einmalige historische Leistung Helmut Kohls bleiben. Gemeinsam mit seinen Partnern bettete er die Deutsche Einheit in die europäische Einigung ein. Ein Werk des Friedens, ein Werk der Freiheit und ein Werk der Einheit.

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Damit knüpfte er an Konrad Adenauer, Jean Monnet, Robert Schuman und andere große Europäer an. Europa ist das Werk von Generationen. Jede davon steht vor neuen Herausforderungen. Jede muss ihre eigenen Antworten finden, wie sie Europa zukunftsfest macht. Immer wieder kommt es dabei auf das an, was Helmut Kohl in besonderer Weise auszeichnete: auf das Wissen um die Geschichte, auf die Weitsicht, in langen Zeitlinien zu denken, auf die Nähe zu den Menschen, auf den Blick für das Machbare und das Zumutbare.

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Heute gibt es eine Todesanzeige des Förderkreises „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ für Helmut Kohl. Darin wird daran erin-

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Ansprache von Angela Merkel

nert, was Helmut Kohl für dieses Denkmal in der Mitte Berlins geleistet hat. Es steht stellvertretend für sein Handeln. Er wird darin mit folgenden Worten zitiert, die er fand, als das Denkmal gegen heftigen Widerstand durchgesetzt werden musste: „Nicht die nächste Generation, sondern unsere muss es bauen. Wir, jetzt, heute, hier und nicht irgendwann.“ Und so wurde es dann beschlossen im Deutschen Bundestag mit Zwei drittelmehrheit.

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Wir werden Helmut Kohl nachher nach Deutschland zurückbegleiten. Sein Weg wird noch einmal durch seine Heimatstadt Ludwigshafen führen. Hier war er zu Hause, lange Jahre zusammen mit seiner ersten Frau Hannelore, die ihm in guten wie in schlechten Zeiten stets zur Seite stand. Wir gedenken auch ihrer in Dankbarkeit.

Liebe Frau Kohl-Richter, Sie haben Ihren Ehemann Helmut Kohl in all den letzten Jahren voller Hingebung und Liebe begleitet, bis zuletzt. Ihnen gehört mein Mitgefühl. Mein Mitgefühl gehört allen, die in Helmut Kohls Familie um ihn trauern.

Den Schlusspunkt finden die Trauerfeierlichkeiten heute in Speyer. Damit schlagen wir noch einmal den Bogen von Frankreich nach Deutschland, in die Heimat, in die Pfalz, vom Ehrenbürger Europas zum Kanzler der Einheit, als den wir Deutsche und viele andere ihn auf immer im Gedächtnis behalten werden. Ohne Helmut Kohl wäre das Leben von Millionen Menschen, die bis 1990 hinter der Mauer lebten, völlig anders verlaufen, natürlich auch meines.

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Ansprache von Angela Merkel

Lieber Bundeskanzler Helmut Kohl, dass ich hier stehe, daran haben Sie entscheidenden Anteil. Danke für die Chancen, die Sie mir gegeben haben. Danke für die Chancen, die Sie vielen anderen eröffnet haben. Danke für die Chancen, die wir als Deutsche und Europäer durch Sie erhalten haben. Sie haben unendlich viel erreicht. Mögen Sie in Frieden ruhen. Jetzt ist es an uns, Ihr Vermächtnis zu bewahren.

Ich verneige mich vor Ihnen und Ihrem Angedenken in Dankbarkeit und Demut.

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Trauerkondukt auf der MS Mainz rheinaufwärts von Ludwigshafen bis Speyer

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Pontifikalrequiem im Dom zu Speyer

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Predigt von Bischof Karl­Heinz Wiesemann

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Liebe Trauergemeinde!

„Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit.“ (Koh 3,1)

Heute ist die Stunde des Abschiednehmens von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl. Die große Zahl hochrangiger Gäste aus aller Welt, die zum europäischen Trauerakt nach Straßburg und nun zum Requiem gekommen sind, zeigt die herausragende Bedeutung seiner Verdienste um Deutschland und Europa, ja um Versöhnung und Frieden in der Welt an. Wir nehmen Abschied von einem wahrhaft großen Staatsmann, der seine pfälzische Heimat und sein deutsches Vaterland liebte und aus einem weiten, universalen Horizont heraus lebte und handelte. Wir nehmen Abschied von einem Ehemann und Familienvater – und unser Mitempfinden gilt Ihnen, liebe Frau Dr. KohlRichter, die Sie Ihrem Mann beigestanden haben „in guten wie in bösen Tagen, in Gesundheit wie in Krankheit“, vor allem in den letzten schweren Zeiten geduldig ertragenen Leidens. So, wie Sie es bei der Eheschließung einander versprochen haben: bis der Tod Sie scheidet. Unser Mitempfinden gilt den Söhnen und Enkelkindern, die ihren Vater und Großvater verloren haben, sowie allen Angehörigen unseres Verstorbenen. Wir nehmen Abschied von einem Menschen mit allem, was Menschsein in Kraft und in Schwäche bedeutet. Uns berührt und erschüttert das Große wie auch das nach Erlösung Rufende, das diesen Tod umgibt. Wir legen es in Gottes Hände.

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Heute ist die Stunde des Abschiednehmens hier im Dom zu Speyer. Schon als Kind hat Helmut Kohl mit seiner tiefgläubigen Mutter hier am Gottesdienst teilgenommen. Seitdem ist er mit diesem Dom eng

Predigt von Bischof Karl-Heinz Wiesemann

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Predigt von Bischof Karl-Heinz Wiesemann

verbunden. In seinem Tagebuch vermerkte er: „Seit meiner Kindheit ist für mich der Speyrer Dom die Hauskirche. Meine Eltern sind mit uns oft dorthin gewandert. Als Jugendlicher fuhr ich die Strecke von 20 Kilometern häufig mit dem Fahrrad… In seiner architektonischen Schlichtheit ist der Dom zu Speyer für mich ein einmaliges Kunstwerk.“

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Beim Festakt zwanzig Jahre nach der Aufnahme des Domes in die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes begann er seine Ansprache mit den Worten: „Ich bin gekommen, um eine Liebeserklärung an den Dom abzugeben.“ Er war ein großer Förderer des Domes. Ihm verdanken wir maßgeblich die Gründung der Europäischen Stiftung Kaiserdom zu Speyer, dessen Kuratoriums-Vorsitzender er bis zuletzt war.

Hier im Dom fand nach seinem Willen der Trauergottesdienst für seine verstorbene Ehefrau Hannelore Kohl statt, dem sein lebenslanger Freund und geistlicher Begleiter Monsignore Erich Ramstetter unter Beisein meines Vorgängers Bischof Anton Schlembach vorstand. Bischof Schlembach begleitete Helmut Kohl auch zusammen mit den Speyrer Oberbürgermeistern Dr. Christian Roßkopf und Werner Schineller bei seinen zahlreichen Besuchen mit hochrangigen Gästen hier im Dom, die Speyer zur „Weltbühne“ machten.

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Der Dom zu Speyer war für Helmut Kohl ein Symbol und real erfahrbarer Ort für das, was ihm im Leben wichtig war: die Verschmelzung tiefer Heimatverwurzelung mit dem großen Atem der Geschichte, mit den weiten Bögen geistiger, kultureller und religiöser Zusammengehörigkeit Europas. Dazu gehört etw as entscheidend Europäisches:

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die Offenheit des Geistes, die sich nicht in kleinen, abgesteckten Identitäten verliert, sondern den universalen und den transzendenten Bezug wahrt.

Wie der Dom mit seiner langen Geschichte und seinen Gräbern nicht nur der salischen Kaiser, sondern auch eines Rudolf von Habsburg jedem Versuch rein nationaler Vereinnahmung aus sich heraus widersteht, so waren für den Menschen und Politiker Helmut Kohl, Patriot und Europäer zu sein, zwei Seiten ein und derselben Medaille. Das war seine innerste Überzeugung – und die lebte Helmut Kohl. Daher führte er seine Staatsgäste aus aller Welt in seine pfälzische Heimat zum berühmten Saumagen-Essen und hier in seinen heimatlichen und gleichzeitig alle enggeführten Geisteshaltungen überschreitenden Dom. So gewann er das so wichtige Vertrauen bei seinen politischen Partnern für die entscheidende Stunde seines politischen Lebens und der europäischen Nachkriegsgeschichte: für die Einheit Deutschlands mitten in einem von Nord nach Süd und West nach Ost geeinten Europa.

„Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit.“ Helmut Kohl hat im entscheidenden Moment das Zeitfenster, das sich auftat, erkannt. Die Deutsche Einheit war sicherlich nicht sein Werk allein – schon die Ostpolitik unter Bundeskanzler Willy Brandt hat Wege geöffnet. Der Heilige Papst Johannes Paul II. und die Solidarność-Bewegung in unserem Nach barland Polen waren mutige Wegbereiter. Der Fall der Mauer und die Einheit selbst waren ein Werk vieler, vor allem der mutigen Menschen im Osten Deutschlands. Dennoch: Die Deutsche Einheit, fest eingebun den in die

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Predigt von Bischof Karl-Heinz Wiesemann

Europäische Gemeinschaft, wird zu Recht immer mit Helmut Kohls Namen verbunden bleiben. Das Zusammentreffen der Gunst der Stunde mit dem Menschen, der sie ergreift, bildet das Geheimnis der Geschichte. Aber weder der Augenblick noch die Person kommen aus dem Nichts. Sie sind vorgeprägt.

Die grundlegende Prägung erhielt Helmut Kohl in seinem gläubigen, katholischen Elternhaus – und in den Begegnungen im ungemein aufgeschlossenen Pfarrhaus des politisch engagierten Dekans Johannes Fink in Limburgerhof. Hier wurde er als junger Mann in die katholische Soziallehre und die Grundlagen freiheitlicher Demokratie eingeführt. Hier gewann er auch schon den ökumenischen Blick, der konstitutiv für die Gründung der CDU war. Als Kind der Arbeiterstadt Ludwigshafen, seiner Heimatstadt, ist Helmut Kohl mit den Nöten der kleinen Leute aufgewachsen.

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In den Bombennächten des Krieges holte er mit anderen Jugendlichen unter Einsatz des Lebens Verschüttete aus den Kellern. Während des Krieges musste er den schmerzhaften Verlust seines Bruders Walter, der gefallen war, durchleiden. Durch diese Erfahrungen reiften seine Grundüberzeugungen: Nie wieder Krieg! Alle Kraft für Versöhnung und Frieden unter den Menschen!

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Deutschland nach der Dämonie des Nationalsozialismus und Europa können die dunklen Schatten der Geschichte nur überwinden aus der Kraft einer Versöhnung heraus, die in der Lage ist, jahrhundertelange Feindschaften, bitterste Verwundungen, tiefsitzendes Misstrauen, Hass und unvorstellbares Leid mit Wahrhaftigkeit und ohne Verdrän-

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Predigt von Bischof Karl-Heinz Wiesemann

gung zu durchdringen und zu überwinden. Das war die Stunde derer, die die Vision der Versöhnung aus ihrem Glauben an Jesus Christus in ihren Herzen trugen, der, wie der Epheserbrief sagt, „in seiner Person die Feindschaft getötet hat“, der Frieden gestiftet hat am Kreuz und uns den Dienst der Versöhnung aufgetragen hat (vgl. Eph 2,14ff; 2 Kor 5,18). Robert Schuman, Alcide de Gasperi und Konrad Adenauer waren mit vielen anderen, die den Grundstein für das neue, geeinte Europa nach dem Krieg gelegt haben, durch und durch christlich geprägte Staatsmänner. Ihr Vermächtnis war für Helmut Kohl lebenslange Verpflichtung.

Seinem geistlichen Freund Erich Ramstetter sagte er einmal: „Der Friede wächst nicht zuerst in Konferenzen, sondern in den Herzen der Menschen.“ Er wächst in mutigen Persönlichkeiten durch innere Überzeugung, Leidenschaft und Tatkraft. Dazu aber braucht es etwas, das man nicht einfach machen kann: die Gunst des Augenblicks. Oder gläubig ausgedrückt: die Stunde der Gnade.

Als solche hat er den entscheidenden Augenblick seines politischen Lebens durchaus selbst verstanden. Als er gefragt wurde, worauf er die Wiedervereinigung Deutschlands zurückführe, antwortete er: „Auf Leistung, auf Fortune, auf Gnade.“ Später schrieb er in seinen Erinnerungen: „Wenn ich heute manchmal die Jahre von 1989 und danach überdenke, kann ich nur mit einem alten deutschen Spruch sagen: Mit Gottes Hilfe sind wir am anderen Ufer angelangt.“ Das war kein Pathos, das war Überzeugung.

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Predigt von Bischof Karl-Heinz Wiesemann

„Alles hat seine Stunde.“ Liebe Trauergemeinde, der Prediger Kohelet, aus dessen Buch wir die Lesung heute gehört haben, moralisiert nicht, verklärt nicht. Er lässt alles vor Gott stehen im Wissen darum, dass Gott „in alles seine Ewigkeit gelegt hat“ (Koh 3, 11): das, worin wir die Spuren Gottes, den Hauch seiner Gnade, erkennen können – und das, wovor wir fragend, zweifelnd, ratlos oder ohnmächtig bleiben. Vielleicht ist Helmut Kohl auch deswegen immer wieder in diesen Dom gekommen, weil ihm durch seinen Glauben bewusst war, dass der Mensch allein sein Werk nicht vollenden kann. Ja, noch mehr, dass nicht nur das Unvollendete, sondern auch das Unversöhnte und das Schuldhafte im Leben nur in Gott Erlösung finden kann. Es war nicht nur der große Atem menschlicher Geschichte, sondern auch der große Atem des Gebetes unzähliger Menschen und Generationen, der für ihn in diesem Haus existenziell spürbar war. Er kam in das Haus Gottes immer auch als Beter.

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Unvergesslich bleiben für mich die letzten beiden Besuche zusammen mit seiner Ehefrau jeweils kurz vor Weihnachten hier im Dom, in denen wir eine Kerze bei der Mutter Gottes angezündet und das Vaterunser und das Ave Maria gebetet haben. Ich denke, er wusste auch um seine Ecken und Kanten, darum dass er vieles erreicht hatte, aber manches auch zu kurz gekommen war. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die nur Gott lösen, erlösen kann.

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Deshalb schauen wir in dieser Stunde des Abschieds auf Christus, der unsere Versöhnung ist und Frieden gestiftet hat am Kreuz. Er hat das Tor des Todes geöffnet. Er ist die Auferstehung und das Leben (vgl. Joh 17, 25). Daran hat Helmut Kohl geglaubt. Darum sei ihm Gott nun auch

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Predigt von Bischof Karl-Heinz Wiesemann

ein gnädiger Richter. Sein Grab findet er im Schatten der Friedenskirche St. Bernhard als unmittelbar nach dem Krieg gesetztes Zeichen der Versöhnung zwischen Franzosen und Deutschen im Herzen Europas. Diese Versöhnung war ein Herzensanliegen von Helmut Kohl.

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Liebe Schwestern und Brüder, wenn sich am Ende des Gottesdienstes die beiden großen Portalflügel des Domes öffnen und der Leichnam unseres verstorbenen Bundeskanzlers hinausgetragen wird und ihm vor dem Dom das Große militärische Ehrengeleit gegeben wird, dann dürfen wir uns daran erinnern, dass dieses Portal ein Geschenk der Landesregierung Rheinland-Pfalz anlässlich des 900-jährigen Domweihjubiläums war. Es wurde vom damaligen Ministerpräsidenten Helmut Kohl meinem Vorvorgänger, Friedrich Kardinal Wetter, feierlich übergeben.

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Kardinal Wetter hat dieses Geschenk einmal als besonders sinnfällig im Hinblick auf das Verhältnis von Kirche und Staat und das Selbstverständnis des christlichen Politikers Helmut Kohl charakterisiert. Ein Portal trenne nicht nur die unterschiedlichen Bereiche klar voneinander, sondern es verbinde sie auch miteinander. Es war „dieses befruchtende Zueinander des Politikers und des gläubigen Christen“, das Helmut Kohl zu einem herausragenden Staatsmann und zu einer weltweit geachteten Persönlichkeit hat werden lassen.

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Wir schauen mit Dank und Hochachtung auf seine Lebensleistung und beten um den Frieden Gottes für ihn und seine Familie. Herr, gib ihm die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihm. Herr, lass ihn ruhen in Frieden. Amen.

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Großes militärisches Ehrengeleit auf dem Domplatz

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Impressum

HerausgeberPresse- und Informationsamt der Bundesregierung, 11044 Berlin

StandAugust 2017

DruckMKL Druck GmbH & Co. KG, 48346 Ostbevern

GestaltungMediaCompany – Agentur für Kommunikation GmbH, 10179 Berlin

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