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G R E E N M A M B A€¦ · Dienstag, 12. Februar 1974 07:37 uhr "Nun mach schon, mir wird kalt!"...

Date post: 19-Oct-2020
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  • GREENMAMBA

    SCHATTENDESTODES

    S T I L L E R& S T I L L E R

  • DanawidmetdiesesBuchPapa,LoloundChilla.

    BarrywidmetdiesesBuchseinenEltern.

  • GREEN M AMBA

  • Dienstag,12.Februar1974

    07:37uhr"Nunmachschon,mirwirdkalt!"Der Junge,etwazwölf Jahrealt, tratvon

    einemFußaufdenanderenundriebdieFingergegeneinander,waskaumhalf.AlexejsschlaksigerSchattentauchtehinterdemBaumstammauf."Jetztstell

    dichnichtsoan",gaberzurück,währenderseinenHosenstallschloss.ObwohldieJungenfastgleichaltwaren,wirkteAlexejwiedergroßeBruder.

    "Weitergeht's.StelldieTrägerenger,sonsttundirnachherdieSchulternweh",wieserSaschamitfachmännischemBlickaufseinenRucksackan.AlexejsVaterverstandkeinenSpaßbeifehlerhafterodernachlässigerAusrüstung.ErwareinfanatischerNaturfreund, dermit seinen Söhnenmanchmalwochenlang in denWäldern verschwand. Während Alexejs Schulfreunde Urlaub an der SeemachtenoderinderLaubenkoloniemitFreundenTischtennisspielten,lerntenerundseinezweiBrüder,wiemanauchunterschwierigenBedingungenüberlebenkonnte.Sascha hingegen fuhrmit seinenEltern immer zurGroßmutter in dieStadt.

    AmliebstenaßerdannEiscremeimFreibad.AlexejsLebenschienihmandersundinteressant.ErmachteausseinergrenzenlosenBewunderungfürdenneuenFreundkeinenHehl,undsowardemletztlichnichtsanderesübriggeblieben,als

  • für ein echtes Abenteuer zu sorgen. Ein Abenteuer, das für Sascha zu einemgroßen Teil aus Frieren zu bestehen schien. Alexejs Jacke mochte derHerausforderung eines frostigen Februarmorgens gewachsen sein, SaschasKaufhaus-Parka war es nicht. Bei den Vorbereitungen für ihre geheimeExkursion hatte Alexej kurz überlegt, die daunengestopfte Jacke von seinemjüngerenBruderJuramitzunehmen,aberdaswärezuHausegleichaufgefallenundhätteihmunglaublichenÄrgermitseinenElterneingebracht."Gut,wirhabennochungefährzweiStunden",sagteAlexejimTonfalleines

    Kommandanten,derseinenGenerälendieStrategieerklärt."ZweiStunden?""Bevorwirumkehrenmüssen."Sascha hielt sich im Windschatten des Freundes, während sie eine kleine

    Steigungerklommen."Wogehenwirgenauhin?Duwarstdochschonmalhier,oder?"AlexejgrinstekurzundbliebaufdemhöchstenPunktdesHügelsstehen.Der

    Blicküberdievor ihnen liegendeEbenewarweitundwurdenurdurchkleineGruppen von dürren Bäumen unterbrochen. "Niemand geht hier hin, Sascha",murmelteermitbösartigverstellterStimme.EinenMomentstarrtendieJungeneinanderan,dannfingAlexejanzulachen

    undSaschaboxteihnindieRippen."Jetztkommschon,wirsindamerstenZaun",riefAlexejundlieflos.

    AmFuß desHanges hing einMaschendrahtzaun schlapp zwischen eisernenPfosten. Gefrorenes Laub klebte an den Maschen und türmte sich an denbetonierten Fundamentklötzen. Ein verrostetes Schild mit kaum lesbarerBeschriftung ließ noch erahnen, dass es sich einmal um eine militärischeAbsperrunggehandelthatte–odernochhandelte?SaschasHerzschlagberuhigtesich,alsihmklarwurde,dassdas,wassietaten,seineMutterzwarsicherlichinAufregung versetzen würde, aber nichts so richtig Verbotenes war. Jedenfallsredeteersichdasein.Eswarnichtso,alswürdeerAlexejnichtsandereszutrauen.DerhatSchneid.

    Das hat der von seinemVater, hatte SaschasMutter gesagt, und sie hatte dasnichtfreundlichgemeint,schienesSascha.SeineMuttermochtekeineSoldatenundschongarkeinewieAlexejsVater.

  • "Hier, nimm." Sascha nahm ein Päckchen entgegen, das er nach einemAugenblickalseininPapiergewickeltesButterbroterkannte."Duhastbestimmtnichtgefrühstückt.""DubistjaschlimmeralsmeineMutter.""Klar,diewill jaauch,dassdunochgroßundstarkwirst", stichelteAlexej,

    derselbstständigmitEssenvollgestopftwurde, inderHoffnung,dassernichtwieeineBohnenstangeimmerweiternurindieHöheschießenwürde.SaschaschnaubteundbissindiebuttrigeStulle.DiemussteAlexejselbstfür

    ihn geschmiert haben. Er grinste bei der Vorstellung. In seinem eigenenRucksack waren nur eine Tüte harte Zuckerbonbons und Kekse, in einemunbeobachtetenMoment aus demKüchenkabuff entwendet.Und natürlich dieTrinkflasche. Siewar ausAluminium und sah aus, als hätte sie schon einigesmitgemacht.WasserdabeizuhabenwardasAllerwichtigste,hatteseinFreundihm erklärt. Und weil Sascha überhaupt nichts besaß, was für ein solchesAbenteuernützlichwar,hatteerihmseinealteTrinkflaschegeschenkt.Ein Stück hinter dem alten Zaun trafen die beiden Jungen auf einen

    überwachsenen Weg aus Betonplatten. Selbst Sascha erkannte die typischmilitärischeBauweise gleich.DasKribbeln in seinemMagennahmwieder zuunder fragtesich,obdashiereinegute Ideewar,egalwiezerfallenderZaunausgesehenhatte.HundertMeterhinterderaltenPanzerstraßemusstensieeinenzweiten, in einem breiten Streifen aus Nadelgehölz verborgenenMaschendrahtzaunüberwinden–derwesentlichbesserinSchusswar.Sie gingen immerweiter durchdie kalteLandschaft, in der es nicht viel zu

    sehengab.ZumindestnichtfürSascha,weilfürihnalleBäumegleichaussahenund er auch noch nie irgendetwas gejagt oder sich je dafür interessiert hatte.NachdemerdaszweiteMalausglittundbeinahelanghinschlug,hielterseinenBlick die meiste Zeit auf den Boden unmittelbar vor seinen Füßen gerichtet.WäreernichtmitAlexejunterwegsgewesen,Saschawärelängstumgekehrt.Nach einer gefühlten Ewigkeit zeigte Alexej ihm Abdrücke im Boden und

    behauptete,dassdievoneinemWolfstammten.SiefolgtenderSpureinStückweit. Sein Freund zeigte stolz das Jagdmesser vor, das sein Vater ihm zumletzten Geburtstag geschenkt hatte, als wolle er sie damit gegen wilde Tiereverteidigen.Doch Sascha vermisste das erhoffte Abenteuer. Leise Enttäuschung breitete

  • sichinihmaus,undinsgeheimsehnteersichnachseinerwarmenBettdecke.

    "Wie krass! Guck dir das an." Alexej hielt einen Stock in der Hand undstocherteaufdemBodenvorsichherum.Zunächstwarnichtzuerkennen,waserdatat.SaschatratnebendenFreund–undmachteeinenSatzzurück."Igitt,dasist

    eklig!""DasistnureintoterBiber."AlexejfasstenachdemMesserinderseitlichen

    TascheseinerHose."Eigentlichsiehternochfrischaus.WennichmeinemVaternichterklärenmüsste,wieichandenPelzgekommenbin..."Sascha wurde kreidebleich und wagte nicht, sich zu rühren. Er sagte auch

    nichts.Imwurdeübel.AlexejgingnebendemverendetenTierindieHockeundmustertedenfeucht

    glänzendenPelz.AlserdenmassigenKadaverunterbeträchtlichemKrafteinsatzmit dem Stock umgedreht hatte, verzog er enttäuscht das Gesicht. "Sowiesonichtzugebrauchen.DerPelzisthiervölligkaputt.""Hm-hm."SaschakämpftemitdemBrechreiz."Na hier! Da, siehst du das?" Er wies auf eine Stelle, an der sich etwas

    Unebenes,Dunkles von derweißlichenHaut abhob; dasHaarkleid fehlte hierfastvöllig."Jadoch."Alexejbemerkteerstjetzt,dassseinFreundsichunwohlfühlte."Mankönnte

    immernochtolleHandschuhedarausmachen.OdereinenPelzkragen."EsklangwieeineVerteidigung."WardasderWolf?"AlexejbetrachtetedaszerstörteGewebenäher."SoeineVerletzunghabeich

    nochnichtgesehen.VoneinemWolfistdiesichernicht."ErschütteltedenKopf."Siehteheraus,alswärederBiberkrankgewesen.""Lassunseinfachweitergehen,ja?"Nach dem Fund des Bibers war Alexej schweigsamer und bewegte sich

    rascherdurchdiebuckeligeLandschaftalszuvor.SaschahattedasGefühl,denFreundverärgertzuhaben.Unglücklichversuchteer,weiterSchrittzuhalten.DieSonnelösteendlichdenHochnebelüberihnenaufundspiegeltesichhell

    in den vereisten Senken überall um sie herum. Überhaupt war das Gelände

  • irgendwie anders geworden, bemerkte Sascha, als er den Blick für einigeMomentevomErdbodenvor seinenFüßen löste.Alshätte jemandeineDeckenur nachlässig über ein Bett gebreitet, hob und senkte sich die Erdoberflächehier auf engem Raum. Überall lagen kleine Tümpel verstreut, aus denengefrorenesGrasstak."Ich hab's doch gewusst", riefAlexej plötzlich und blieb stehen. "Siehst du

    das?",fragteermitausgestrecktemArm.SaschakniffdieAugenzusammen."Wasistdasdenn?""Lassunsnachgucken."Mit neuer Energie marschierten sie los in Richtung des dunklen, schroffen

    Schattens, der sich in gut hundert Metern Entfernung mannshoch über denBodenerhob.NachwenigenSchrittentrafensieerneutaufeinenMilitärwegausstandardisiertenBetonelementen.Keinem der Jungen fiel auf, dass dieser hierwenigerverfallenwaralsderinderNähedesSperrzauns.DerPlattenwegführtegenauindieRichtungdesBauwerks,dasimmermehr

    Ähnlichkeitmit einemBunker aufwies, je näher sie kamen.Endlichwurde esspannend,dachteSascha.ErhatteeigentlichkeineAhnung,wasmandortfindenkonnte. Trotzdem besaß die Vorstellung, einen verlassenen Bunker zuerforschen, einen unerwartet hohen Reiz, der ihm die Handflächen schwitzigwerdenließ.Währenderwartete,schlichAlexejsichaufwendigandasominöseGebäudean,wasSaschamiteinerMischungausBelustigungundBewunderungbeobachtete. Er hatte den Auftrag bekommen, aus der Deckung eines kahlenHolunderstrauchsherausWachezuhalten.AlexejducktesichallepaarSchrittetief in das Gras und umrundete den Bau zweimal in einer enger werdendenSpirale.Ersahnichtsoaus,alsmacheerdaszumerstenMal.Erneutwundertesich Sascha über seinen Freund. Er dachte an die Gerüchte, die über AlexejsVaterkursierten.Amliebstenhätteerihneinfachgefragt,aberjedesMal,wennderZeitpunktgeeigneterschien,brachteeresnichtübersich.Vielleichtwürdeersichheuteendlichüberwinden,wennsiesichaufdenlangenWegzurücknachHausemachten.EswarenvielleichtfünfMinutenvergangen,eheSaschaeinenseltsamenPfiff

    hörte. So klang dann wohl ein Wiesenpieper, dachte er, denn das war dasvereinbarte Signal für ihn nachzukommen. Er schlang sich den einen Riemenseiner Tasche über die Schulter und stakste durch den zunehmendmatschigen

  • Boden.Minuten später war die Enttäuschung der beiden Abenteurer grenzenlos.

    "Verdammtnochmal, so eineKacke."Alexej tratgegendieStahltür, die ihnendenZugangverwehrte.Ersahrichtigwütendaus,fandSascha.Jetzt,wosiebloßherumstandenund

    aufdenversiegeltenEingang starrten,wurde ihmwiederkalt und seineZähneklappertenhinterdenzusammengepresstenLippen."Ich sehe nach, ob es noch andereWege da rein gibt", erklärteAlexej und

    erklomm behände das kleine Bauwerk. Vielleicht verbarg sich daruntertatsächlicheinunterirdischerBau–unddieswarnureinoberirdischerZugangzu einem viel größerenBauwerk. Somitten imNirgendwo schien das Saschaunwahrscheinlich,aberwaswussteerschonvonBunkern?AlexejverschwandausseinemBlickfeld,undSaschagingaufdemfreienund

    relativebenenPlatzvordemkleinenGebäudeeinigeSchritteumher.EigentlichkönntemanhierguteinFeuerchenmachen.ErundAlexejsollten imSommernocheinmalherkommen,dannwäreeshierbestimmtprima,überlegteer,undtrat auf den flachen kleinen Moorsee zu, dessen schilfbestandenes Ufer sicheinenSteinwurfvomBunkerentferntbefand.VorErstaunenbliebderJungewieangewurzeltstehen."Alexej!"DerFreund

    hatte ihn scheinbar nicht gehört, und zu sehen war er auch nicht. Ein kurzesSchauderndurchliefihn."Alexej!Ichhabeetwasgefunden!"EsdauertenochmalzwanzigSekunden,bisSaschaRaschelnunddieSchritte

    seinesFreundesimhohenGrashintersichhörte."Was schreist du denn hier so–" Alexejs Mahnung blieb unvollendet. Er

    blicktevollerErstaunenaufdas,wasSaschaentdeckthatte,unddanngrinsteerdenFreundbreitan."Dasistverrückt!Sowashabeichjanochniegesehen."Sie hockten sich vor die stabileKonstruktion ausMetallrohren, an der eine

    Reihe eckiger, verschiedenfarbiger Kästen befestigt war. Die kleineneingeprägtenBuchstabenundZiffernwarenimGegenlichtnichtlesbar.AlexejsFinger fuhren prüfend an ihnen entlang, und dann schnappte an demdunkelbraunenGerätdieAbdeckungempor."Sieh dir das an", murmelte Alexej, nachdem er einem leisen Pfiff

    ausgestoßen hatte. Sascha kam näher und betrachtete die nun sichtbaren

  • BedienelementeundAnzeigen,dengroßenDrehknopfaufderrechtenSeite.DieBeschriftungenwarendeutlicherkennbar,fürihnabervölligunverständlich.AlexejschlossdieKlappewiederundwandtesichdemnächstenKastenzu,

    ausdemstabileKunststoffschläuchezukleineren,länglichenApparatenführten."Wasmachstdudennda?""Wonach sieht es denn aus, Sascha?" Alexej hatte seine grünen

    WollhandschuheausgezogenundzwischendieknochigenKniegeklemmt.Nunschob er seine Finger unter die Halterung und löste die etwa handlangen,röhrenförmigen Endstücke heraus, dann drehte er sie, bis sich dieAnschlüsselockerten."WirnehmenunseinpaarAndenkenmit."SaschanahmdiekleineTrophäeentgegen.EsrumorteinseinemMagen,denn

    daswar jetztgarantiertverboten.Erhattenochnieetwasgenommen,was ihmnichtgehörte.Erhattenochniegestohlen.DasGeräuscheinesMotorswarplötzlichda.SeinHerzbliebfüreinenMomentstehen,allesBlutwichihmausdemKopf.

    Er und sein Freund starrten einander an und konnten sich nicht rühren. DanntauchteeindunkelgrünerWagenausdemNichtszwischenden fernenBuckelnderLandschaft aufund rattertewie einSchnellzugdenPlattenwegentlang.ErwarvielleichtfünfhundertMeterentfernt,dannvierhundert.Dreihundert.Alssieendlich aufsprangen, um zu ihrenRucksäcken zu rennen,wurden sie von denMännern im Geländewagen entdeckt. Das Auto wurde einen Augenblicklangsamer–danntratderFahreraufsGas."Scheiße,siehabenunsgesehen."DieStimmeseinesFreundeszitterte.Erwar

    schon bei ihremGepäck angekommen undwarf Sascha seinen Rucksack hartentgegen."Renn.""Aberwohindenn?""Zurück. Ab hier kommt der Sumpf", schrie er ihn an. "Jetzt renn endlich

    los!"Sie überquerten den betonierten Panzerweg so knapp vor dem

    heranpreschenden Militärfahrzeug, dass sie die Gesichter der zwei Insassenerkennen konnten. Wie die Hasen wetzten die Jungen im Zickzack überGrasbuckelundmatschigeSenken;einfachnurweg.DerlosesitzendeRucksackschlug ihmbei jedemSchritthartaufsRückgrat,abererbemerktees in seinerPanikkaum.

  • Der Wagen war mit Knirschen und grellem Quietschen zum Stehengekommen.JetztwarFluchenzuhören.Dannhallteein lauterKnalldurchdieLuft.Ererstarrteunddrehtesichum.Wiederwarerunfähig,sichvonderStellerühren, obwohlAlexej sich immerweiter entfernte.Die zwei Soldaten setztenihnennach,unddereinehoberneutseinGewehrandieSchulter.Ruhiglegteeran.Abernichtaufihn.SaschawollteschreienundöffnetedenMund,dochdienotwendigeLuftblieb

    irgendwo in seinem Hals stecken. Zum Glück, denn hätte sein Freund sichumgedreht, hätte die nächste Kugel nicht den Rucksack getroffen, sondernseinenBrustkorb.DieProjektilezerfetztendengrobenStoffderTascheanderSeite. Als klar wurde, dassAlexej offenbar unverletzt weiterrannte, konnte ersich aus seinerStarre lösen.Sascha rannte los.DieRichtungwargleichgültig,dieLandschaftbotinkeinerRichtungeneineerkennbareDeckung.DemFreundweiter zu folgen, kam ihm nicht in den Sinn – er wäre unweigerlich in dieSchussbahngeraten.ErbahntesicheinenWegzwischenBirkenundniedrigenBuchen.Diekahlen

    Bäumewarfen feineSchattenmuster auf denBoden,weil dieSonne fahl, aberkräftigdurchdenmorgendlichenDunstschien.ÜberallschillertenflachePfützenundkleineTümpelwiepoliertesSilber.Panischrealisierteer,dassesnirgendwoVersteckegab.DasGebietwarnichtvollkommenflach,dochdiedünnenBäumestandenseltendichtgenug,umSichtschutzzubieten.WennersichineinederSenkenduckte,dannmussteseinVerfolgernuretwasGeduldhabenundwarten,bis er Spannung oder Kälte nicht länger ertrug und sich erhob. PlötzlicheBewegungen waren leicht zu entdecken, gerade in der eisigen Starre diesesverlassenenWäldchens.Also lief er einfach weiter. Er war kein guter Sportler, aber ein wenig

    Ausdauerhatteerschon–undeinesolcheAngst,dasserdieAnstrengunglangeZeitnichtwahrnahm.DerMann,dersichihmandieFersengeheftethatte,warnoch immer da, kam jedoch schon seit einer ganzen Weile nicht näher. Wassolltedas?OffenbarwussteseinVerfolgerganzgenau,woersichbefand,undmitsoeinemGewehrkonntemanihnsichernochauseinigerEntfernungtreffen,schätzte er. Das konnte natürlich heißen, dass der Mann ihn vielleicht nichterschießenwollte.Nachdem,wasvorhinpassiertwar,schiendasjedochwenigwahrscheinlich.

  • Nein,derMannbrauchtenichtzuschießen,weilersichganzsicherwar,seineBeutespätereinfacherzuerwischen.DashierwareineTreibjagd.Was,wenndiebeiden Jäger sich absprachen und ihn in die Enge trieben, wo er dann vonweiterenHäschernerwartetwurde?Erwarbisherdavonausgegangen,dassdiebeiden Soldaten auf Patrouillenfahrt und keine anderen Trupps in der Nähewaren,dochvermutlich stimmtedasnicht.Es reichte ja,wennsichdiebeidenMänneraufeineHimmelsrichtunggeeinigthatten,dann liefensiedenanderenJägernautomatischvordieFlinten.Mankonnteesdrehen,wiemanwollte.ErhattekeineAhnung,woersichbefand,undermusstedamitrechnen,dassschonhinter der nächsten kleinen Anhöhe die perfekte Falle auf ihn wartete. Erversuchte,diePanikherunterzuschlucken,undlauschte.Der Mann, der ihm, zumeist außer Sicht, folgte, hatte noch keine Schüsse

    abgegeben,ihmaberimmerwiederzugerufenstehenzubleiben.Daswürdeeraufkeinen Fall tun, obwohl er wusste, dass er nicht unbegrenzt lange vor demErwachsenen davonrennen konnte. Er spürte bereits, dass er allmählichlangsamerwurde;undwennderMannwirklicheinSoldatwar,dannkonnteereine solche Verfolgung wahrscheinlich mehrere Stunden lang fortsetzen.Verzweifeltwünschte er sichdenFreundan seineSeite.Derhätteganz sichergewusst,wiemansichinsoeinerSituationschlauverhieltundüberlebte.AlexejhatteihnaberaucherstindieseSituationgebracht.UnwirschschoberdenGedankenbeiseite.Ersolltesichdaraufkonzentrieren,

    hierherauszukommen.Wennerversuchte,dieRichtungzuändern,riskierteer,denVerfolgernäherherankommenzulassen.ErkonntenureinenganzleichtenBogenschlagen,wennerihmnichtvordieWaffelaufenwollte.SeinFußstießaufeinHindernisunterdemtiefenLaub.Erwarzuerschöpft,

    um das Gleichgewicht zu halten, und fiel in einen Zaun. Es dauerte einenAugenblick,biserbegriff,dassertatsächlichzuderselbenStellezurückgekehrtwar,dieseinFreundundervoreinpaarStundenschoneinmalpassierthatten.NocheinweitererMomentverging,biserbemerkte,dasserfastzurGänzeimaufgehäuften Laub auf der hangwärtigen Seite des Maschendrahts versunkenwar.HektischstreifteSaschadenRucksackabundschlüpftetieferindaseisige,lose Blattgewühl. Schließlich lag er längs des Zauns und sah sich um. KeinVerfolger.KeineBewegung.KeineTiere.NichteinmalderWindwarzuhören,sein Herzschlag schien das lauteste Geräusch. Endlose Minuten passierte gar

  • nichts.Dann ein rhythmisches Rauschen von Blättern. Es kündigte den

    heranwatenden Verfolger an, lange bevor er in sein Blickfeld trat und sichsuchendumsah.MitangehaltenemAtembeobachteteerdenJäger.DasmussteirgendeineArtvonSoldatsein,auchwenndieUniformnichtsowarwiedie,dieerkannte.DochdieHaltungunddiebeiläufigeSelbstverständlichkeit,mitdererdieWaffehielt,räumtenalleZweifelaus.MithellenAugenmustertederMannaufmerksamdieUmgebung,schienabernichtsonderlichalarmiert,dasserseineBeutenichtsofortentdeckenkonnte.SchweißrannSaschadenRückenhinunter.EinRufgelltezwischendenBäumen,undderSoldatwandtedenKopfindie

    RichtungdesKameraden,derhinterAlexejherwar.Erwagtenicht,denKopfzudrehen. Ein Schuss fiel. Sascha versuchte zu atmen, aber es ging nicht. EinweitererSchusskrachte.Eindritter.DerMann,derihnverfolgthatte,verharrtereglos und hielt dieAugen geschlossen, als zähle er die Schüssemit.Als derletzteverhalltwar,rieferdemanderenSoldatenetwaszu–ineinerSprache,dieSaschanichtverstand.NacheinigenSekundenerhieltseinVerfolgereinekurzeAntwort,diebeunruhigend routiniertklang.Nicht so,wieer sichdieMeldungeinesSoldatenvorstellte,dergeradeaufeinKindgeschossenhatte.Dann drehte der Jäger sich zielsicher in Richtung des Laubverstecks und

    erwiderteSaschasBlick.

  • Mittwoch,13.Februar1974

    00:39uhrSeit er hier war, zuckte der Blick des Mannes umher wie der eines

    Chamäleons.DerPolizistwartetegeduldig,bisbeideAugen in seineRichtungstarrten."DoktorKaltenbrunn,hörenSiemich?IchbinOberleutnantKellervonderMordkommission.WissenSie,warumichhier–""Erwollteesnicht!""Siewolltenesnicht.Ja, ichverstehe,das istklar...Was istpassiert,Doktor

    Kaltenbrunn?" Keller verstand überhaupt nichts, aber er war froh, dassKaltenbrunnendlichredete."Erwollteesnicht.Ichmussteihntöten."ErneutbegannderleereBlickdes

    Patienten,diestockfleckigeDeckenacheinerimaginärenBeuteabzusuchen."DoktorKaltenbrunn."Verdammt,erwarkeinPsychiater."Worumginges...

    WaswollteProfessorHeisenicht?"Der Alte in der Zwangsjacke reagierte nicht. Nur die Muskeln, die seine

    Augäpfel in ständiger Bewegung hielten, beschleunigten ihre Arbeit nocheinmal. Keller dachte an die Ermahnungen seiner Mutter. Wenn man esprovozierte,würdendieAugen irgendwann in schielenderStellungeinrasten–fürimmer.Daswusstejeder.Dannkonntemannichtsmehrerkennen,sahblöde

  • aus und wurde schließlich auch blöde. Doch das hier war weit gruseliger.Kaltenbrunns Augen waren nicht stehengeblieben. Sie hatten die VerbindungzueinanderverlorenundrasteninirrwitzigemTempodurchdieWelt.Wasnahmmanwahr,wennmangleichzeitiginzweiverschiedeneRichtungenblickte?Sahman überhaupt etwas – und was machte das Gehirn daraus? Kellers Händewurden feucht, und ein kurzes Schaudern durchlief ihn. Er nahm seineunmoderneSchiebermützeabundknetetesie."WaswolltederProfessornicht,DoktorKaltenbrunn?RedenSiemitmir!"Diesmal passierte die Frage des Ermittlers in wenigen Sekunden alle

    vorgeschaltetenInstanzen."Ichmussteihntöten...Erwolltenicht,dassichmitjemandemspreche."FüreinenMomentschienderPatientbeiklaremVerstandundfixierteKeller."...einemvondraußen."WiedergingendiegeweitetenPupillenaufdiezielloseReise,undderMann,

    dervorguteinerStundeseinenArzterstochenhatte,zogsichtiefinsUniversumseinerWahnvorstellungenzurück.

    Das Sprechzimmer von Professor Doktor Wolfgang Heise lag amentgegengesetzten Ende des blassgrün gestrichenen Flures im ersten Stock.Stumpfer Linoleumboden, abblätternder Heizkörperlack und die dunklenSchatten, die der vergebliche Kampf mit Essigwasser gegen den winterlichenSchimmel hinterließ, machten es kaum einladender als den Besucherraum, indemmanKaltenbrunnfestgesetzthatte.Die berühmte Therapie-Couch eines Psychologen gab es in Heises

    Behandlungsraumnicht,nureineunbequemaussehendeLiegeaufRollen.AberHeise war ja auch Psychiater. Die arbeiten wahrscheinlich eher mitZwangsjacken, ging esKeller durch denKopf. Beherrschtwurde das Zimmervon zwei großen Arbeitstischen mit grünlicher Linoleumoberfläche, dievielleichtdeshalbzusammengeschobenwordenwaren,umAufzeichnungenvonÄrzten auszulegen oder Konferenzen abzuhalten – oder um mehr Abstandzwischen Personal und Insassen zu bringen, wie Keller vermutete. ZumindestLetztereshatteheuteNachtnichtfunktioniert.AufdergegenüberliegendenSeitedergroßenTischflächesaßeinkorpulenterMannumdiesiebzigmitNickelbrilleundweißemArztkittel.HemdkragenundlinkerÄrmelwarenmitBlutgetränkt.InseinemkahlenKopfsteckteeindunklerStift.

  • "GutenTag,Genossin...",begrüßteKellerdiedunkelhaarigeFrau,diehinterdemTotenstandunddessenKopfbetastete."Moreaux, Karla Moreaux. Ich bin von der Inneren der Poliklinik Döbeln.

    UndderLeichenbeschauerdesBezirks."Die schlankeMittfünfzigerinzogdenSezierhandschuhvonihrerRechtenundstrecktesieKellerentgegen."GutenTag,odervielmehrgutenMorgen,FrauDoktor.IchbinOberleutnant

    Keller von der K in Leipzig. Ich habe mich gerade gewundert, dass dieTatortarbeit schon so weit fortgeschritten ist. Leichenbeschau undSpurensicherung fast fertig, das ist–" Keller zögerte einen Augenblicknachdenklich."Nunja,wurscht,wennSieausderGegendsind."Moreauxwirkte ebenfalls überrascht. Jedenfalls vergingen einige Sekunden,

    bevor sie antwortete. "Da haben Sie ja einen ganz schönenWeg hinter sich.Wusstegarnicht,dassesimKreisamtinDöbelnkeineKriminalpolizeigibt.""Haben die schon, aber bei Mord wird den Kollegen vom VPKA schnell

    mulmig.Ichnehmean,dieSpurensicherungistschondurch?""Sowas,gleichLeipzig...",murmelteMoreauxundnickteungläubig."Entschuldigung,DoktorMoreaux?""Äh, ja natürlich, die Spurensicherung ist fertig. Und der örtliche

    Tatortfotograf war auch schon da. Die hätten mich sonst gar nicht hierreingelassen.""Naja,Tatortfotograf,immerhin.NureinenhauptberuflichenRechtsmediziner

    haben die hier augenscheinlich nicht. Seltsame Wege geht die Bürokratiemanchmal.DannlassenSiemalhören,Doktor."KellerrangsicheinLächelnabundhoffte,dassdieÄrztinnunkonzentrierterantwortete."Der Tote ist Professor Heise. Ich kannte den Kollegen persönlich, guter

    Mann. Hatte einen Lehrstuhl für Neurologie und Psychologie an der Uni inLeipzig. Galt als echte Koryphäe am Universitätsklinikum. Seit seinerEmeritierungwarernurnoch leitenderArzthier inWaldheim.Aberdas ist jaanstrengendgenug,denkeich.""Über die Todesursache besteht wohl keine Unklarheit?" Der Polizist

    umrundetedenTisch."Nein, Genosse Oberleutnant. Er wurde erstochen. Mit dem Stift, der in

    seinemlinkenOhrsteckt.DürftezirkafünfodersechsZentimeterinseinGehirneingedrungen sein. Ist zu einem beträchtlichen Teil im Gehörgang

  • verschwunden. Professor Heise war sofort tot, soweit ich das ohne weitereUntersuchung vermuten kann. So ähnlichwie bei einemKopfschuss, bei demdas Projektil nicht austritt, nur nicht ganz so blutig." Moreaux verzog dasGesicht, alshabe sieSodbrennen. "Mann, icharbeite liebermitLebenden,daskönnen Siemir glauben, GenosseKeller. Auch nach beinahe fünfzehn JahrengehtmirdasimmernochganzschönandieNerven.""Schongut,Doktor.IchhabemichmittlerweilefastandenAnblickgewöhnt–

    leider."DieÄrztinräuspertesich."Ähem,ja.ImLaufedesTagesbekommenSievon

    mir einen vorläufigen Bericht. Am Todeszeitpunkt besteht für mich keinZweifel. Laut Zeugenaussagen gesternAbend, ziemlich genau drei viertel elf.AlsovorzweiStunden,wasmitdemZustandderLeichezusammenpasst."Siezog einen neuen Handschuh über. "Rigor mortis am Kiefer setzt gerade ein.TemperaturstimmtebenfallsmitdemvermutetenZeitpunktüberein.""DashieristderTatort?""Das hier ist mit Sicherheit der Tatort. Meines Erachtens passen die

    BlutspurenaufHautundKleidungdesToten,sowiedieaufderTischplatte.UndAnzeichendafür, dassderProfessorpostmortembewegtwurde, sindnicht zuentdecken.""Gut,gut,Doktor.Ichdenke,daswäreesfürsErste.AllesWeiterewirdjader

    endgültigeBerichtderKTUergeben."KellerbesahsichdieMordwaffeausderNähe, während Moreaux ihre lederne Tasche packte. "Ein ganz normalerKugelschreiber,keinAufdruckoderÄhnliches,soweitichdasbishiererkennenkann. Sieht nach heimischer Produktion aus. Ichwürde sagen,wir verwendendiegleichenimPräsidium.Daswirdunskaumweiterhelfen.Tja,jedenfallssiehtdasehernichtnachvorsätzlichemMordaus.""IstderTäterLinkshänder?""WasmeinenSie,Doktor?"Moreaux stand auf und schob ihre dickrandige Hornbrille mit dem

    Handrückenhoch."Ach,nichtsweiter,Oberleutnant.""Doch, doch. Raus damit, Frau Doktor. Wie kommen Sie darauf, dass

    KaltenbrunnLinkshänderist?"DieÄrztinwirkteeinweniggenervt."Ichmeinenur,dassderTäter jawohl

    Linkshänder sein muss, denn er kann den Professor nur von hinten attackiert

  • haben–vorihmaufdemTischwirderjawohlnichtgestandenhaben.""Verzeihen Sie, Doktor. Sie haben natürlich recht." Keller gähnte. "Eine

    Stunde imAutoreichtanscheinendnicht,umwachzuwerden. Ichnotieremirdas besser." Er betrachtete seinen Füllfederhalter. "Hmm...Vielleicht trotzdemeineTatmitVorsatz.SchließlichwerdendiePatientenindiesemIrrenhauskaumMesseroderandereDingeindieFingerkriegen,diealsWaffetaugenkönnten.Damussman nehmen,was einemgerade so zurVerfügung steht." FürKellerpasste trotzdem nicht alles zusammen. "Sagen Sie mal, Doktor, dieSpurensicherunghatkeineKappezudiesemStiftgefundenodereinenClipodersoetwas?"Moreaux blickte Keller entgeistert an. "Was? Nein, nicht dass ich wüsste.

    Jedenfallshatdasmirgegenüberkeinererwähnt.Wieso?SpieltdaseineRolle?""Nun ja.Wenn ich davon ausgehe, dass derKugelschreiberProfessorHeise

    gehörte,dannfrageichmich,woerihnaufbewahrthat.DerTischistkomplettleer, kein Stiftbecher, keine Schublade und auch sonst nichts, wo manSchreibutensilienaufbewahrenwürde.""Aha",entgegneteMoreauxabwesend."GlaubenSie,ProfessorHeisewürdeeinenoffenenKugelschreibereinfachso

    in die Kitteltasche stecken? Kugelschreibertinte macht kaum entfernbareFlecken.Nein, ichglaube,erhätte ihngenausoindieBrusttaschegestecktwieden,derdanochist–ordentlichmitKappe.""Dasstimmtwohl.""EsgibtaberkeineKappe,Doktor.UndeinenGrund,denKugelschreiberzu

    zücken,hatteer scheinbarauchnicht,odersehenSiehieretwas,aufdemmanschreibenwürde?DokumentehatdieSpurensicherunghier imZimmermeinesWissensnichtgefunden.DerTatortistjasicherlichsoweitdokumentiert,wieichhoffe."Moreauxwirktegespannt,erwidertejedochnichts.KellermachteeineausholendeGeste."WissenSiewas?Ichwürdesagen,wir

    haben esmit vorsätzlicherTötung zu tun.Das ist nichtProfessorHeisesStift,völligunwahrscheinlich.DasEinzige,waseinenwirklichenSinnergibtist,dassderMörderdieTatwaffemitgebrachthat.AuchwennmirdieserKaltenbrunnimderzeitigen Zustand kaum zu geplantem Vorgehen fähig erscheint." DerVolkspoliziststutztekurz."Aberwerweiß,vielleichtistdieKappenochaufdem

  • Kugelschreiberdrauf.""Jaja, man weiß nie, was in solchen Köpfen vorgeht...", sagte Moreaux,

    währendsieinihrerTascheherumkramte.

    Keller konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er den Namen derNachtschwesterinseinabgegriffenesNotizbuchschrieb.DieFrau,diekurzvordreiundzwanzig Uhr auf dem örtlichen Revier angerufen hatte, hieß AlicePatriziaSpringfeld,was insofernunpassendwirkte,als sie sicherlichweder imWunderland noch sonstwo herumhüpfen würde. Sie brachte trotz geringerKörpergrößegutzweiZentneraufdieWaageundschnauftenachjedemSatzwieein abgekämpfter Ackergaul. Von ihr erfuhr er, dass Professor Heise denPatientenKaltenbrunngegenzweiundzwanzigUhrdreißigaufdessenintensivesDrängenhininseinemSprechzimmerempfangenhatte.AufKellersNachfrage,ob dies nicht äußerst ungewöhnlich sei, erklärte die Schwester, dass ProfessorHeise ein ausgezeichneterArzt und inwirklich dringendenFällen auch nachtsfür seine Patienten zu sprechen gewesen sei. Außerdem habe er auf demKlinikgelände gewohnt, wie die meisten Mitarbeiter des psychiatrischenKrankenhauses.EineViertelstundespäter seidannein immer lauterwerdenderStreit aus dem Sprechzimmer zu hören gewesen, woraufhin sie diediensthabendenAufseherherbeigerufenhabe.AlsdiebeidenMännerdanndieTür zu Heises Behandlungszimmer öffneten, sei es bereits wieder ruhiggewesen.SiefandendenProfessorermordetaufseinemStuhlundKaltenbrunnleisejammerndzwischenAktenschrankundKrankenliegekauernd.DiePflegerHuber und Willendorf hatten den Patienten in einer Zwangsjacke fixiert,währendSpringfelddiePolizeirief.Die Befragung der beiden Männer hatte Keller nicht weitergebracht. Sie

    hatten kaum Kontakt zu Kaltenbrunn, der sowieso mit niemandem außer mitProfessor Heise und manchmal mit seinem Betreuer, einem gewissen JörgTassel,sprach.Dieser junge Krankenpfleger stand nun völlig schlaftrunken hinter der

    SchwesterundumklammerteeinenemailliertenMetallbechermitdampfendemKaffee."Entschuldigung,FrauSpringfeld,hättenSiefürmichvielleichtauch...""Oh,ja.Naklar."

  • Nachdem Keller hastig einen großen Schluck genommen und sich derdrückende Schmerz in der Speiseröhre etwas gelegt hatte, wandte er sichmitleidender Miene an Tassel. "Was können Sie mir über Doktor Kaltenbrunnsagen?WasisterfüreinMensch?Womithatersichbeschäftigt?WasmachterdenganzenTag?ErzählenSiedochmal."Tasselzögerte,alswisseernichtrecht,woeranfangensollte."Sogenauweiß

    ich das gar nicht,HerrKommissar. Ich kann Ihnen tatsächlich nicht viel überDoktorKaltenbrunnsagen."KellersHoffnung,beiderVernehmungzunächtlicherStundenichtvielsagen

    zu müssen, zerschlug sich. Wie bei den meisten Befragungen würde er auchdiesmalmehrredenalsderZeuge.EinenVorwurfmachteerdenBefragtennie,eswar schließlich nicht so einfach, aus demStegreif einenVortrag zu halten.Würdemanihnfragen,wasfüreinMenschseinVorgesetzterist..."Nun gut. Erinnern Sie sich, wie er war, als er eingeliefert wurde?War er

    aggressiv oder ruhig?Hat er etwas Spezielles gesagt oder getan?War er klaroder so abwesend, wie ich ihn vorhin erlebt habe? Vielleicht hatte erGegenstände bei sich, die uns helfen könnten, die Umstände seiner Tat zuerklären?""Ich war nicht dabei, als er aufgenommen wurde, und habe ihn erst am

    nächstenTaggesehen,alsichihmzugeteiltwurde.Dawirkteerehereinwenigverängstigt, nicht gewalttätig.War er eigentlich später auch nicht.Nein, nichtsoweitichmicherinnere.""Wanngenauwardas?Ichmeine,wannwurdeereingeliefert?""DaswarimOktoberdreiundsiebzig,kurznachdemTagderRepublik,glaube

    ich.""Aha.SagenSie,HerrTassel,wenneinMenschhiereingeliefertwird,wirder

    danngleichbehandelt?Ichmeine,bekommtersofortMedikamente?""Ja, nachdem alleAufnahmeformalitäten erledigt sind,wird der Patient von

    einemArzt untersucht, undmeistens wird dann auch gleichmit der Therapiebegonnen.AlsoauchmitderMedikamentierung.""VonProfessorHeise,nehmeichan."Der junge Pfleger wirkte abwesend. "Wie? Ach ja, bei Kaltenbrunn ist der

    behandelndeArztProfessorHeise.""Gut", meinte Keller gedehnt. "Herr Tassel, was sind denn das für

  • Medikamente?WashatDoktorKaltenbrunnverordnetbekommen?""DoktorKaltenbrunnhatParamnesie."Keller zog die Augenbrauen hoch und schraubte die Kappe seines

    Füllfederhaltersab."Das ist eine Gedächtnisstörung. Der Patient erfindet dann Ereignisse und

    erinnert sich anSachen, die es gar nicht gegeben hat."Tasselwartete, bis derPolizistseineErklärungnotierthatteunddenBlickhob."GegendieUnruheundSchlafstörungenhatKaltenbrunnMeprobarmatundRadedormbekommen."Keller unterstrich die Namen der Präparate. "Aha, gut. So eine Art

    Münchhausen stelle ich mir da vor. Und das ist alles? Keine weiterenMedikamente? Nur gegen Unruhe und Schlafstörungen? Nichts gegen dieseParamnesie."NocheheTasselantwortete,meldetesichdieSpringfeldzuWort."Außerdem

    natürlichnochtäglicheineVitaminspritze.AberfragenSiemichjetztnichtnachder genauenZusammensetzung.Die habe ich immer beimProfessor abgeholt,odererhatsiepersönlichverabreicht.""Ist es nicht ungewöhnlich, dass der Chefarzt selbst die Medikamente

    austeilt?"Tassel blickte zurDecke, als stünde dort dieAntwort. "Nun ja.Das kommt

    nicht häufig vor. Es gibt aber schon Patienten, bei denen das so gehandhabtwird.""Außerdem mag... mochte der Professor den Kaltenbrunn irgendwie. Den

    Eindruckhatteich",ergänztedieSpringfeld."Ermochteihn?""Ja, ich glaube schon. Kaltenbrunn hat wohl viel gezeichnet. Das hat dem

    Professor auf eine Weise imponiert. Schließlich war Kaltenbrunn ja auchWissenschaftler.""Wissenschaftler?""Ja,weißichauchnichtsogenau...HatProfessorHeisemalerwähnt,glaube

    ich...",druckstedieSchwester.Kellerwandte sichwieder an Tassel. "Was hatten Sie für einenKontakt zu

    Kaltenbrunn?HaterIhnenetwasüberseinLebenerzählt,waservorhergemachthatundwarumerkrankgewordenist?"Kellerspürtedeutlich,dassseineFragenineineRichtungschwenkten,diedemPflegerüberhauptnichtbehagte.

  • "Nein.Nein,haternicht.Ichweißnur,dassderProfessorsagte,Kaltenbrunnkönne nicht mehr zwischen Realität und Fantasie unterscheiden. Er hat eineParamnesie, das habe ich Ihnen ja schon gesagt. Das hat mit Münchhausenübrigensüberhauptnichts zu tun.Esgehtdameistens eherumTraumataoderWahnvorstellungen,unterdenenderPatientsehrleidet."KellerzogdieAugenbrauenzusammen,sagteabernichts.Esreichte,umden

    PflegerweiterunterDruckzusetzen."HörenSie,HerrKommissar,ichweißwirklichnichtsweiter.DasmüssenSie

    mirglauben."Erholte tiefLuft. "DerKaltenbrunn,er...er fühltesichverfolgt.DieganzeZeit.Erhatkaumetwasandereserwähnt,wennersprach–unddaswarsowiesoäußerstselten.IchkannIhnennichtmehrsagen,ehrlich.Außerdemwollte der Professor nicht, dass wir darüber sprechen. Er meinte, das würdeKaltenbrunnnurschaden.Unddaswollteichjaauchnicht.""Verfolgt?Vonwem?",hakteKellernach.Tassel zuckte mit den Schultern. "Aber ich weiß es doch nicht, Herr

    Kommissar. Er hat immer nur unverständliche Andeutungen gemacht,zusammenhangloses Zeug.Da konnteman nicht draus schlauwerden.Das istüberhauptnichtwichtig."WiederschaltetesichdieSchwesterein."Nureinmalhatersowasgesagt,dass

    eine grüneMamba uns alle umbringen und dass derTag näher rückenwürde.KeineAhnung,wasdasheißensoll."

  • 07:59uhrRolandGärtnersAusgeglichenheithinginnichtunwesentlichemAusmaßvon

    einem durchstrukturierten Tagesablauf ab.Wennman ihn für den ganzen Tagverärgernwollte,musstemaneinerSache,dieinseinemVerantwortungsbereichlag,nureinwenigzuvielDringlichkeitzuordnen.Waserammeistenhasste,wares,gehetztzuwerden.HeuteMorgenwar einer von diesenTagen.Nicht nur, dass er beinahe eine

    StundevorderZeitausdemBettgeholtwordenwar,nein,manhatteihmauchnicht zugestanden, die beiden obligatorischen Tassen Kaffee zu trinken – mitSahneundjeweilszweiStückenZucker.NichteinmalzueinerZigaretteanderfrischenLuftgabmanihmGelegenheit.SeinFahrerhattekeinenZweifeldarangelassen,mitwelcherPriorität seinebaldigstmöglicheAnwesenheit imkleinenKonferenzraumrealisiertwerdensollte.Gärtnervermiedes,KelkowitznachdengenauenWortendesChefszufragen.ErkonntesichdieAuftragsvergabelebhaftvorstellen.Außerdemwürde es sowiesonichts nützen.SeinTagwar gelaufen,daranließsichnichtsmehrändern.Undsokames,dassderdunklePeugeotumgenausiebenUhrneunundfünfzig

    aufdenInnenhofvorHaussiebenrollte.MitUnbehagenbemerkteGärtner,wienachlässig die schwarze Riesenlimousine des Chefs neben dem Eingang vonHaus eins geparktwar.Das verhieß nichtsGutes.Es kamziemlich selten vor,dassderChef so früh imMinisteriumauftauchte.GärtnerbekameinenkurzenSchweißausbruch,alsihmindenSinnkam,dassderChefwomöglichinseinenDiensträumenübernachtethatte;dannmussteesganzübelstehen.SoetwaswarbishernureineinzigesMalvorgekommen,soweitersicherinnernkonnte.SobaldKelkowitzdenWagenzumStillstandgebrachthatte, rissGärtnerdie

    Türauf,griff seineAktentascheunddenschwerenWollmantelundhastete insGebäude.WährenderdenPförtnergrüßte,bemerkteerausdenAugenwinkeln,dassderPaterNosternochnichtwiederinBetriebgenommenwordenwar,undnahm die Treppe in den ersten Stock. Er rannte den Flur fast bis zum Endehinunter, blieb vor der Tür zumKonferenzzimmer stehen, atmete einigeMaletiefdurch,klopfteundbetratdenRaum,ohneeineAufforderungabzuwarten.

  • DasWichtigsteregistrierteersofort:DerChefwarnochnichtda.DafürvieranderePersonen,dieervonderpersönlichenAssistentindesChefs,FrauJessikaBlume, abgesehen nur vom Sehen kannte. Alle waren sie aus den operativenAbteilungen des Ministeriums. Anscheinend war er der einzigeVerwaltungsmenschhier,wasseinemWohlbefindennichtgeradezuträglichwar.WortlosbegabersichandiegegenüberliegendeSeitedesKonferenztischesundwählte einen Stuhl, der möglichst viel Abstand zum Platz des Ministersversprach. Ein Blick auf seine französische Automatikuhr zeigte eineMinutenachacht.EsherrschteeinebedrückendeStille.Niemandsagteetwas,undjedergab vor, mit seinen Unterlagen beschäftigt zu sein. Gärtner verwunderte das,denn er wusste noch nicht einmal, warum man ihn so eilig in dieNormannenstraße gerufen hatte. Was sollte er da für Papiere überfliegen? Sokramte er aus Verlegenheit in seiner schweinsledernen Aktentasche und holteseinegroßformatigeNotizkladde (Gärtnerhasste loseBlattsammlungen), einensorgfältiggespitzten,weichenBleistiftundeinenRadiergummi(manwusstenie,wannmanetwasändernmusste)hervor.Noch immer kein Chef und noch immer kein Gespräch. Er ließ den Blick

    durch den Konferenzraum schweifen. Nicht ganz sein Geschmack, dieseallgegenwärtigenHolzverkleidungen;nochwenigerderhauptsächlichinBeige,CrèmeundganzwenigBlaugehalteneOrientteppich,aufdemdergroßeTisch–aus dunklem Holz – und die halbwegs modernen Stühle aus verchromtemStahlrohrstanden.Vielmehrgabesnichtzusehen.ErstarrteeineWeilevorsichhin,alsihmzumerstenMalklarwurde,inwasfüreinemschlechtenZustandderRaumeigentlichwar.KaumeineMöbelkantenichtabgestoßen,dieTapetenaufdenwenigenholzfreienWandflächenfastvergilbtundderTeppichschonleichtabgenutzt. Sogar der hellbraune Boden, und der war kein billiges PVC ausheimischerHerstellung,sondernechtesLinoleum,wirktemitgenommen.Der Chef war ein Paranoiker, das wusste man. Und das hier waren die

    sichtbaren Folgen. Jede Renovierung, neue Möbel, Reparaturen an denelektrischen Leitungen oder sonstige Veränderung bargen die Gefahr derInstallation von Abhörgerätschaften. Diese Teile waren wirklich winziggeworden. Ohne Probleme konnte man heute ein ordentlichesMikrofon samtSenderineinemTelefonhörerunterbringen.DamusstennochnichteinmalmehrdieKupferleitungen direkt angezapftwerden. Für all dieVorsichtsmaßnahmen

  • hatteGärtneringewisserWeiseVerständnis,aberselbstAufzügeunrepariertzulassen, das war doch ein bisschen viel des Guten.Wer tauschte schon strenggeheime Informationen in einem offenen Fahrstuhl aus? Jedenfalls glaubte er,dassdiesderGrundfürdenseiteinigerZeitnichtbetriebsbereitenPaterNosterseinmusste.Noch ein Blick auf die Uhr, sieben Minuten nach acht. Er beschloss,

    irgendetwas zu tun, um wach zu bleiben. Er schrieb Datum, Uhrzeit und dieNamenderAnwesendeninseinNotizbuch.AlsNächstesmachteersich–völligüberflüssigerweise–einenArbeitsplanfürdiekommendeWoche.DannklappteerdenDeckelwiederzuundwartete.MitjederMinutezeigtederKoffeinmangelgrößereWirkung,underhatteMühe,dieAugenoffenzuhalten.Plötzlichhörteer laute Stimmen jenseits der Konferenzraumtür. Das Organ des Chefs,unverkennbar. Gärtner war wieder hellwach, der zuvor abgefallene Blutdrucksogarleichterhöht.

    DieschwereTürwurdesoheftigaufgestoßen,dasssieungebremstgegendasdunkle Sideboard knallte und eine beeindruckende Kerbe erhielt, die niemalsausgebessertwerdenwürde.Einauffallendkleiner,dafürkompakterMannohneHalsundmiteinemrundlichenGesicht,dasindiesemMomententferntaneineBulldoge erinnerte, machte einen Schritt in das Konferenzzimmer und brülltelos, ohne jemandenanzusehen: "Was ist das für eineverdammteSchweinerei?Eine Sauerei! Wenn ich den erwische... der... die werden mich alle nochkennenlernen.Demschlag'ichdenKopprunter!"KeinerimRaumwagtezufragen,worumesgingundwerworanschuldwar.

    GärtnervermiedjedenBlickkontaktundbegann,dieNamenderAnwesendenzuunterstreichen. Als er wieder aufsah, war der Minister verschwunden.OffensichtlichgingdievorherigeKonversationaufdemFlurweiter.ErkonntenichtsZusammenhängendesverstehen,schnappteaber"...machenSiemirsoforteine Verbindung...", "... interessiert mich einen verdammten Dreck..." und"...wie, nicht auffindbar?... Schaffen Sie diesen verdammten Stümper soforther..."auf.Ganzschlecht.DerMinisterhatteoffensichtlichebenfallsnichtgefrühstückt.

    Odernochschlimmer:IrgendeinweltfremderIgnoranthattedasFrühstückseidesChefslängeralsviereinhalbMinutenimkochendenWassergelassen.Vielleicht

  • hattederEierlöffelauchaufderPapierserviettegelegen,stattdaneben.OderdieServiettefehlte.Äußerstschlecht.SchwereSchritte,einTürknallenundderMinisterstandanderStirnseitedes

    Konferenztisches. Bevor er sich auf das schwarze Leder des sehr westlichaussehendenDrehstuhlsniederließ,richteteerdasWortandieRunde."So eine verdammte Schweinerei! An uns darf nichts vorbeigehen. Wir

    müssen jederzeit alles wissen. So ein verfluchter Käse darf einfach nichtpassieren.Ichkönntemichmaßlosaufregenübersowas!"KeinerderSitzendensagte ein Wort und jeder mied weiterhin den Blickkontakt. "Wenn das hiervorbei ist, dannwirdes für einigeGenossenernsthafteKonsequenzengeben...FrüherhabenwirdakurzenProzessgemacht,dagabesnichts.JetztistdieLageanders,aberwennesnachmirginge..."Erbrachabundsetztesich.Nachdemerseine untereGesichtshälftemit derLinken einigeSekunden durchgewalkt unddie Finger der rechtenHand das unregelmäßigeTrommeln auf derTischplattebeendethatten,spracherinungewöhnlichruhigemTonweiter."Ich denke, es hat jedermitbekommen, dasswir uns letzteWoche, genauer

    gesagt am siebten Februar, mit der BRD auf die Einrichtung gegenseitigerVertretungen geeinigt haben. Genosse Nier sei Dank. Außerdem hat sich dieDeutscheDemokratischeRepubliknachlangenVerhandlungenentschlossen,mitdem NSA Verhandlungen über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zuführen.SogardasMutterlanddesImperialismusdarfwahrscheinlichinwenigenMonatenseinedreckigenHufeganzoffiziellinunsereRepubliksetzen."Gärtner konnte sich nicht vorstellen, dass die Etablierung einer ständigen

    Niederlassung der BRD in Ost-Berlin und die Anbahnung diplomatischerBeziehungen zum sonstigen nichtsozialistischen Ausland, speziell zu denAmerikanern,dieGründefüreinesohektischeinberufeneSitzungseinkonnten,zumaldasalleskeineechtenNeuigkeitenmehrwaren–undendgültigeFaktenwaren auch noch keine geschaffen worden, auch wenn im Falle derVereinbarungen über Ständige Vertretungen die Gespräche bereits weitfortgeschrittenwaren.Der Minister für Staatssicherheit fuhr fort: "Wie dem auch sei. Meine

    persönlicheMeinung interessiert nicht. Ihr und ich, darumgeht es.Wir habenuns der Sache, der großen Sache des Sozialismus auf deutschem Boden zufügen.UndwennderGenosseHoneckerunddieMitgliederdesZKderMeinung

  • sind,dassesderSachedient,dassdieImperialistenbeiunsBotschaftenbauendürfen,dannistesebenso.AußerdemhabenderGenosseGeneralsekretärunddasPolitbüro schonüberallverkündet,dasseseinengroßenFortschritt fürdieDeutsche Demokratische Republik und den Frieden zwischen den Völkernbedeutet. Wir können jetzt keinen Ärger, kein Gerede und keine neugierigenSchreiberlinge aus demWesten gebrauchen. Seit letztem Jahr haben die es janoch einfacher, in derDDR zu spionieren,weilwir sie offiziell akkreditieren.Mensch."WährendderletztenSätzewarderruhigeTonvonoffenerEmpörungverdrängtworden.BevorMielkeinRagegeriet,legteererneuteineRedepauseein."EsgibtnachmeinerMeinungschongenugSpioneundVerräterinunseremeigenenHaus.Wirmüssenaufräumen.WirsindmehralsSchildundSchwertderPartei. Es geht um dasWohl unserer sozialistischen Gesellschaft. AlsomachtgefälligsteureArbeitfürunsereRepublik.IchwillhierjetztkeinenlangenKäsemehr!"NochimmerfragendeGesichterbeidenAnwesenden.NurderMann,derGärtneralsGeneralmajorRehmersbekanntwar,verzogkeineMiene.Offenbarwussteer,wasihnerwartete."GenosseRehmers,ichwillgenauwissen,wasdalos ist. Das ist dein Operationsgebiet und deine Verantwortung. An uns darfnichts vorbeigehen.Wirmüssen alleswissen, das kann nicht sein, dass sowasvorkommt.HabenwirdasvollkommenunterKontrolle?""IchhabeschonlängereineQuellevorOrt,GenosseMinister,zurSicherheit,

    aber diese Vorkommnisse waren für meine Leute nicht vorhersehbar. Es warruhigundliefnachPlan.Wirsinddavonausgegangen,dassdasnichtpassierenkann.Ganz sicherwird der gesamte Sachverhalt inwenigen Tagen aufgeklärtsein. Ich habe deshalb alleAktivitäten undVorkommnisse imZusammenhangmit dem OV Sonne umgehend in meinem Ressort gebündelt, in denentsprechenden Akten finden Sie alle relevanten Informationen. Ich habeaußerdemsofort eineweitereQuelle installiert, dieganznahdran ist.Ab jetzthabenwirallesunterKontrolle,GenosseMinister.UndwennSIRAdemnächstläuft,wirdsowiesoallesübersichtlicher.""NochnütztunsSIRAnichts.Außerdemverspreche ichmirdagarnicht so

    viel von wie die HV-A." Der Minister für Staatssicherheit musterte RehmerseinigeSekunden."Ichverlassemichdaganzaufdich,Genosse.DuwarstimmereinzuverlässigerKamerad.Nur,wenndashierschiefgeht,dannistesendgültigvorbei,dasversichereichdir.Dannbinselbstichmachtlos.Ichwillalleswissen,

  • was da vorgeht. Jede Stunde Bericht, bis diese Schweinerei aus der Weltgeschafft ist und wir die Lage beruhigt haben." Ohne eine weitere ÄußerungverließerdenRaum.DieverbliebenenMfS-Mitarbeitersaheneinanderratlosan,aberkeinervonihnenwagtees,dasKonferenzzimmerzuverlassen.

    GelegentlichwardieStimmedesMinistersüberdenFlurzuhören,verstehenkonnteGärtner nichts.Offensichtlich telefonierte er von seinemDienstzimmeraus.Nach über einer halbenStunde kehrte er in dasKonferenzzimmer zurückundwandte sich anRehmers: "DeineAufgabe ist klar.Enttäuschemichnicht.Ichwill stündlichBericht. Jetztgeht esumdiedurchzuführendenMaßnahmenimAusland."Ohne eine Reaktion des Generalmajors zu erwarten, wechselte Mielke das

    Thema. "WirhabenesmiteinemVorgangzu tun,der sichnichtnuraufunserStaatsgebietbeschränkt, sondernauchAuswirkungenaufunserVerhältniszumnichtsozialistischen Ausland haben könnte. Ich habe mich deswegen derUnterstützung der Hauptverwaltung Aufklärung in allen Belangen und inunbegrenztemUmfangversichert.IndiesemZusammenhangisteserforderlich,dassichMitarbeiterderHV-AunmittelbarmitAufgabenbetraue."Er wandte sich an den kleineren der beidenMänner, derenNamenGärtner

    nicht einfielen. "Genosse Kretschmann, du hörst mit deinen Leuten auf jedesNiesen und Hüsteln aus dem Westen. Sammelt Stimmungsberichte, schautWestfernsehenundkauftZeitungen.EsmüssenalleKontakteaktiviertwerden,dadarfunsnichtsentgehen.Wirmüssengenaudarüberinformiertsein,wasdiebeschäftigt,wiederenKenntnisstandistundwiesiereagierenwerden.Ihrstelltjeden Tag einen ausführlichen Pressespiegel zusammen und dokumentiert diesonstigenEreignisse.JedenMorgenliegtdasGanzevorachtbeiFrauBlumeaufdemSchreibtisch.EsgibtOperationenundQuellen,dieunterkeinenUmständengefährdetwerdendürfen.Mehrmüsstihrnichtwissen,undmehrwerdetihrauchnichterfahren.Tuteinfachdas,wasverlangtwird."Er ließseinenBlickdurchdie kleine Runde wandern und sprach dann wieder Kretschmann an: "DergroßspurigeHansen kann sowichtigwerden,wie er immer seinmöchte.LassdeinenFriedenskundschafterrotieren."Kretschmann hob dieHandwie ein Schüler,was beinahe lächerlichwirkte,

    bei der aktuellen Stimmung des Ministers aber die probate Methode für

  • Wortmeldungen war. "Genosse Minister, ich möchte nur kurz zu bedenkengeben, dass wir den Kundschafter Hansen als Vorsorgemaßnahme schon voreinigerZeitabgeschaltethaben.Esscheintmirnichtklug,einenMitarbeiter instrategischsoexzellenterStellung jetztwiederzu reaktivierenunddamit seineEnttarnungzuriskieren."Mielkes Gesichtsfarbe verwandelte sich in wenigen Augenblicken von

    rosigem Grau in ein beinahe violettes Rot. "Was bilden Sie sich ein,Kretschmann? Ich kann mich weder erinnern, dass ich um Ihren Rat gefragthabe,nochdassuntereChargenderHV-AhierirgendeinMitspracherechthaben.Espassierthier,wasichfürrichtighalte!Undwernichtspurt,denschickeicheigenhändignachBautzen.Undichversichereeuch,dassvondakeinerzurückkommt,dafür sorge ich.Verdammtnochmal. Ist dasverstanden,Genosse?"Eratmeteschwer."Jawohl,GenosseMinister."DierestlichenAnwesendenschlossensichdieser

    Versicherungmurmelndan."IchhabenichtumsonstmitderAbwehrtelefoniert–undwirwarenschnell

    einerMeinung.DerHansen soll endlich einmal etwasNützliches bringen.Ander richtigen Stelle sitzt der Kerl ja, oder nicht? Und was heißt hierAbschaltung…InNorwegenhatersichauchnichtanseineWeisunggehalten.GanzimGegenteil,einriskantesHusarenstückzurBefriedigungseinerEitelkeithat er sichgeleistet–unwichtigesZeughat er angegucktundanschließend istalles auch noch im Rhein versenkt worden." Mielke schüttelte den Kopf."Kretschmann,dubist seinFührungsoffizier,mach ihmDampf.Derkann frohsein, dass er so viele Freunde bei der HV-A hat undMischaWolf persönlichseine Hand über ihn hält. Bisher konnte man ja von den West-TouristenErhellendereserfahrenalsvondiesemdrittklassigenABV,verfluchtnochmal."Er schnaufte, immer noch aufgebracht. "Mensch, wenn ich in dieser Positionsäße..."Nach einigen Sekunden der Beruhigung wandte sich der Minister für

    Staatssicherheit dem anderen Unbekannten zu. "Und du, Genosse Delwo,kümmerstdichumunserengroßenBruder.MitFingerspitzengefühl.Bei jedemVorkommnis Meldung an mich persönlich. Auch da will ich wissen, wasvorgeht. Ansonsten haltet ihr denMund. Gegenüber jedem – egal ob FreundoderFeind.Istdasallesverstanden?"

  • Die beiden Angesprochenen erhoben sich und deuteten ein Salutieren an."Jawohl, Genosse Minister", gelobte Kretschmann erneut, während Delwoschwieg."So. Raus, Leute. An die Arbeit. Tut, wofür ihr da seid, sammelt

    Informationen. JedeUnterlassung, jeder Fehler hat Konsequenzen."Ob er diebesondere Wichtigkeit der Aufgabe meinte oder schlicht drohte, war für dieAngesprochenennichterkennbar,unddaswarsicherlichauchgewollt."UndSie,Gärtner,bleibennochhier."

    Nachdem die drei Männer den Raum verlassen hatten, wirkte Mielkeschlagartig ruhiger, so alshätte seinbeinahe cholerischerVortrag zumgrößtenTeilausSchauspielkunstbestanden."Also,GenosseGärtner,jetztzuIhrerAufgabe..."DerMinistererhobsichund

    tatzweiSchrittezudergroßenSchrankwandinseinemRücken.Eröffnetediebeiden Flügel auf der linken Seite, was einen mannshohen Aktenschrank ausMetallmitgrauemHammerschlaglackzumVorscheinbrachte.Eigentlich siehtdasDing auswie ein riesiger Tresor, dachteGärtner.Als derChefmit einemlangen,kompliziertaussehendenSchlüsselhantierte,deraneinerKettebefestigtwar, diewiederummit seinemGürtel verbundenwar,warGärtner sich sicher.Damit nicht genug; der Chef löste seinen Binder, öffnete den oberstenHemdknopf und zog eineHalskette über denKopf, an der ein kleinerer, nichtminderaufwendigaussehenderSchlüsselhing.MitdiesemschlosserdiekleineStahltür auf, die sich ganz oben rechts im Inneren desTresors befand. SoweitGärtner es von seinem Platz aus erkennen konnte, wurden darin nur zweiSchnellhefter aufbewahrt.DerMinister nahmdendickerenheraus und schlosssorgfältig alle Türen. Nachdem er die Halskette umständlich wieder über denKopf gezogen, Hemd und Krawatte gerichtet und die Schlüsselkette in derHosentasche verstaut hatte, ließ er die grüne Akte vor Gärtner auf den Tischfallen."Sie, Genosse Gärtner, Sie lernen das ganze Dossier hier auswendig und

    fassen das so zusammen, dass Sie es mir in wenigen Sätzen wiedergebenkönnen. Ich habe dasGanze bisher nicht für sowichtig gehalten. Ich binmirnichteinmalsicher,dassesinallenTeilenderWahrheitentspricht.Aberdasistjetztegal.SieschreibeneineleichtverständlicheZusammenfassung,dieichan

  • verschiedeneStellenverteilenmuss.FangenSiesofortanundkonzentrierenSiesichaufdasWesentliche.""Jawohl,GenosseMinister."AlsGärtneraufstehenwollte,drücktederMinisterihnzurückaufdenStuhl.

    "Sofort. Hier. Diese Akte darf den Raum nicht verlassen. Reden Sie mitniemanden,außermeinerSekretärin–undauchmitihrniemalsüberdenInhaltderAkte.Ichhoffe,ichhabemichklargenugausgedrückt.Siebekommenalles,was Sie brauchen, von FrauBlume. Siewerden hier essen und schlafen, fallsnötig.EsgibtnebenmeinemDienstzimmereinigeprivateRäume,dieIhnenzurVerfügungstehen.""VielenDank,GenosseMinister."Mielke winkte unwirsch ab. "Das ist keine Gratifikation, Gärtner, es dient

    lediglich dazu, Sie nicht von Ihrer Aufgabe abzuhalten. Beeilen Sie sich. Jeschneller Sie fertig werden, umso besser."Mit einer weiteren Handbewegungscheuchte er die hinzugekommene Sekretärin aus dem Raum. Bevor er dasKonferenzzimmerverließ,sprachernocheinmalzuGärtner:"DenkenSiedaran,IhreAufgabeistdiegeheimste.Ichweißnichteinmal,werüberdieVorgängeindieserAkte tatsächlich imBilde ist.Es istnichtunmöglich,dassdiesePapieresogardemGenossenHoneckernichtgänzlichbekannt sind."Dann stecktederMinisterdenSchlüsselvonaußenaufdieKonferenztür. "Ichmuss Ihnennichterklären,wasdasfürSiebedeutet",mahnteerGärtner,bevorerihneinschloss.

  • 11:16uhr"Mann,Keller.Ichhabeschongedacht,SiehättensichIhrenrestlichenUrlaub

    genommen", grüßte ein grauhaariger, nicht gerade schlanker EndfünfzigermitIronieinderStimme."IchbinerstumvierausWaldheimzurückgewesen,Chef."Kellerhattekeine

    Lust, sich schon am frühenMorgenmit seinemVorgesetzten in die Haare zubekommen."UnddeswegenkreuzenSiehierkommentarlosumelfauf,Oberleutnant?So

    gehtdasnicht.EineguteErfolgsquote rechtfertigtkeineDisziplinlosigkeit,daswissenSiedoch.Also,washabenwirdaindieserKlinikinWaldheim?"KellerrolltemitdenAugen,währenderseinenMantelandenHakenhängte.

    ErkanntedenLeiterderKzugut,umetwaszuerwidern.NacheinerhalbherziggemurmeltenEntschuldigungpräsentierteerseinenknappenBericht."EinIrrerhatseinenArztumgebracht,kurzgesagt."Major Schüttau wartete auf mehr und seufzte lautstark, als Keller keine

    Anstalten machte, ausführlicher zu werden. "Das war nicht irgendein Arzt,Keller. Ichdachteeigentlich,dassSiemitmehr Informationenzurückkommen.SonstkönnenSienächstesMaljagleichperFernsprecherermittelnundimBürobleiben." Nach einer kurzen Pause ergänzte Schüttau versöhnlicher: "Mensch,Keller, dieser Professor Heise hatte gute Beziehungen in die Partei und vieleFreunde in einflussreichen Positionen. Ich möchte nicht, dass uns die ganzeSacheaufdieFüßefällt.WirdürfenindiesemFallkeineFehlermachen.AberdasmussichIhnendochnichterzählen."MüdeließsichKelleraufdenunbequemenBesucherstuhlsinkenundzogsein

    Notizbuch umständlich aus der Innentasche seines Jacketts. Ohne das Dingwürde er die Details niemals zusammenbekommen. Schüttau schürzte dieLippen und wartete auf eine ausführlichere Schilderung. Keller fasste dieInformationenzuTatablaufundTodeszeit zusammenundbeschriebdenTatortmit einerGenauigkeit, die verriet, dass er seineNotizen vor allem fürDaten,Zahlen und sperriges Fachvokabular benötigte, weniger für die visuellenEindrücke.DasGesprächmit demdringend tatverdächtigenKaltenbrunn hatte

  • kaum hilfreiche Informationen geliefert, zu tief war der Mann in seinepsychotischen Wahnvorstellungen verstrickt. Aber einen echten Zweifel anseiner Schuld konnte es kaum geben. Sofern ein derartig Verrückter wirklichschuldigseinkonnte.ErstalsKellerzu seinerUnterhaltungmitKaltenbrunnsPflegerTasselkam,

    zeigteSchüttauInteresse."Wassolldasheißen?DerMannistWissenschaftler?Das soll wohl einWitz sein. Doktor Kaltenbrunn? Ist Doktor nicht eher seinSpitzname?""Ichweißesnicht,GenosseMajor",erklärteKellerkorrekt."Pah.DannsolltenSieIhreHausaufgabenmachen,Oberleutnant.ErstattenSie

    umdreiviertelvierBericht.UndjetztgehenSie."Keller war eben dabei, seinen Mantel vom Haken zu klauben, als sein

    Vorgesetzterihnnocheinmalansprach."Entschuldigungen Sie, Genosse Oberleutnant, ich verstehe ja, dass Sie

    glauben,dassdieserFallnichtwirklichinunserDezernatgehört.NormalerweisehättendieKollegenvomVPKAvorOrtdasaucherledigenkönnen.Zuermittelngibt es da im Grunde nicht viel, nehme ich an. Sie verstehen sicher, dassProfessor Heises Tod nicht wie eine Lappalie, wie ein beliebiger Unfall,abgehandeltwerdensoll.AlsobringenSiedassauberüberdieBühne.Habeichmichdeutlichausgedrückt?"DerOberleutnantnickteundtrataufdenFlurhinaus.Irgendetwas in SchüttausTonfallwar seltsam gewesen.Und dass seinChef

    eineMordsachesoschnellalsRoutinefallabzutunversuchteundaufderanderenSeitenachdrücklichbetonte,wiewichtigessei,keineFehlerzumachen,passtenichtrechtzuihm.In Kellers Kopf schellten Alarmglocken, die in der Vergangenheit stets

    Komplikationenangekündigthatten,docherwar festentschlossen,siediesmalzuignorieren.

    "Ja, genau. Doktor Heinrich Kaltenbrunn", knurrte Keller in denFernsprechapparat."Nein,ichweißnicht,anwelcherFakultätderMannseinenTitel erworbenhat.Nein, auchnicht,woerdavor studierthat.HörenSie–"Erverschwendete seine Zeit, aber was sollte er machen? Irgendwo musste eranfangen, und die Zahl der Universitäten, an denen Kaltenbrunn promoviert

  • habenkonnte,warbegrenzt.Wennerdenn tatsächlicheinenDoktortitel inderDDRerworbenhatte.KellerbedanktesichtonlosbeiderVerwaltungssekretärinundknalltedenHöreraufdieGabel.DiePatientenakteKaltenbrunnslagvorihmaufdemSchreibtisch,wobeidie

    Anstaltsleitung darauf bestanden hatte, dass alle auch nur entferntbehandlungsbezogenenUnterlagenentferntwurden.SobliebennurzweigraueBlätter mit den Einlieferungsdaten des Patienten, die ihm praktisch nichtsverrieten. Der Titel eines Dr. rer. nat. war in das dafür vorgesehene Feldfeinsäuberlich eingetragen worden, konnte aber alles Mögliche bedeuten. DerGeburtsortwarmitBerlinangegeben,undKellerhattebereitseinenAnrufzurdortigenKabgesetzt,allerdingsohnegroßeHoffnungaufbaldigenRückruf.InderHauptstadthattedieKriminalpolizeiselbstgenugzutun.Sowarfürihndernächste logische Schritt, dieHochschule zu identifizieren, an derKaltenbrunnvielleichtstudierthatte.ZuersthatteerseinGlückinBerlinversucht,aberdortwaren keineDokumente über einenHeinrichKaltenbrunn zu finden gewesen.EingroßesProblemwar,dassernichteinmalKaltenbrunnsGeburtsjahrkannte.Ob derMannwährend oder erst nach demKrieg promoviert hatte,war damitvöllig unklar.Nachdem auch Leipzig sich als Reinfall erwiesen hatte, bliebennoch fünfUniversitäten und eine ganzeReihe vonHochschulen.Keller nahmsein Büchlein, strich Leipzig durch und wählte dann die Nummer der TUDresden. Dieses Ferngespräch blieb wie alle, die noch folgten, ohne jedesErgebnis.Wenn man davon ausging, dass die Akten seit Kriegsende unangetastet

    geblieben und mit typisch deutscher Gründlichkeit geführt worden waren,musstemanzudemSchlusskommen,dasseinHeinrichKaltenbrunnankeinerUniversität oder Hochschule der DeutschenDemokratischen Republik studiertoderpromovierthatte.VielleichtwarenseineUnterlagenaucheinfachdurchdenKrieg verloren gegangen…Und was, wenn derMann aus demWesten kam?OderwennerbeidenrussischenGenossenstudiertundpromovierthatte?KellerwischtesichüberdieStirnundsanktiefinseinenSesselzurück.Was, wenn dieser Kaltenbrunn einfach nur ein Hochstapler war? Falscher

    Name, falscher Lebenslauf, kein Studium, keinDoktortitel. Vielleichtwar derMördervonProfessorHeiseaucheinLandstreicher,dermiteinerhanebüchenenGeschichteaufsichaufmerksammachenwollteundeinwarmesZuhausefürden

  • Wintergesuchthatte.Keller seufzte, als ihm mit einem Mal bewusst wurde, dass er genau

    genommen nichts über diesenKaltenbrunnwusste. Restlos alle Informationenüber ihnstammtenvomKlinikpersonal,unddasgabsichoffensichtlichMühe,möglichstwenigpreiszugeben.DochvorausgesetztdasWenige,waservonJörgTassel und der Springfeld erfahren hatte, stimmte, dannwar die Theorie vomobdachlosen Landstreicher unwahrscheinlich. Insbesondere Professor HeisesauffälligesInteresseandemPatientenwäresokaumzuerklären.Nein, alles sprach dagegen, dass dieser vermeintliche Wissenschaftler aus

    einer verwirrten Laune heraus beschlossen hatte, seinenArzt und damit seinewichtigsteKontaktperson zu töten.UndwashatteKaltenbrunndamit gemeint,alsersagte,erhabeHeisetötenmüssen,weilderihndaranhabehindernwollen,mitjemanden'vondraußen'zureden?

    "Genosse Oberleutnant, Major Schüttau schickt mich." Ein jüngerer Mannstand in der halboffenen Tür zu Kellers kleinem Dienstzimmer. ObermeisterKohn blickte neugierig über den aktenbedeckten Schreibtisch und dievollgestopften Regale, ließ jedoch keine Absicht erkennen, den Grund seinesKommenszunennen.Nach einer knappen Minute verlor Keller die Geduld. "Ja, Genosse

    Obermeister?""Achso,MajorSchüttauerwartetIhrenBerichtinzwanzigMinuten.Ichsollte

    Sienurdaranerinnern."KellerverzogdasGesicht.FüreinenMomenthatteerschongehofft,dassder

    Leiter der Kriminalpolizei ihm einen Mann zur Verstärkung geschickt hatte,auch wenn Genosse Kohn nicht gerade seine erste Wahl gewesen wäre.Stattdessen blieb die 'Soko Heise' offensichtlich ein Ein-Mann-Unternehmen."Was machen eigentlich Möllen und Schnetz?", fragte er, bevor Kohnverschwindenkonnte."UntersucheneinenRaubimStellwerk.Dahatjemand–"Kellerwinkteab."Schongut,Kohn.EinenschönenFeierabendwünscheich

    noch."NachdenklichlauschteerdensichentfernendenSchritten.Schließlichgriffer

    einletztesMalamheutigenTagezumbakelitenenHörerseinesDienstapparates.

  • WenigstenswarineinerIrrenanstaltimmerjemandzuerreichen."Sonne", meldete sich eine Frauenstimme, die er schon kannte. Es war die

    Sekretärin des Anstaltsleiters. Kurz und knapp stellte er seine Fragen. KurzangebundenwarendieEntgegnungendesFräuleinMargareteSonne. "GenosseOberleutnant,ichkannIhnenwirklichkeineweiterenAuskünftegeben.WasesfürSiezuwissengibt,findenSieindenAktenvonDoktorKaltenbrunn.""SienennenihnauchDoktor.""SostehtesindenAkten",erwidertesieprompt.Diese hochnäsigeVorzimmerdame schaffte es, ihn zurWeißglut zu treiben.

    Bemüht, nichts Unüberlegtes zu sagen, atmete er tief durch, um dann inmöglichst freundlichemTon fortzufahren: "IndenAktenstehtnur leideraußerseinem Titel überhaupt nichts. Ich habe bislang nicht einmal seinen letztenWohnortinErfahrungbringenkönnen.""Es kannwohl nicht meine Aufgabe sein, Ihre Arbeit zumachen, Genosse

    Keller.""Ihre Aufgabe wäre es aber, Ihre Patientenakten wahrheitsgetreu und

    umfassendzuführen.""Möchten Sie hier etwas unterstellen,GenosseOberleutnant?Wenn dem so

    seinsollte,verbindeichSiebessergleichmitProfessorDoktor–"Keller lachte kurz auf. "Fräulein Sonne.Können Siemirwenigstens sagen,

    wer Heinrich Kaltenbrunn in Ihre Klinik eingewiesen hat? Nicht einmal daskonnteichnämlichdiesenAktenentnehmen."Einige Augenblicke herrschte Stille in der Leitung. Dann vernahm er das

    Geräusch von Schubladen und Papier. "Tut mir leid, Genosse Keller. DieseInformationistnichtverfügbar."DamitlegteFräuleinSonneauf.

    "Nichtgeradeviel,Keller.JetztsetzenSiesichendlich.VielleichtnocheinenKaffee?"SchüttausLaunehatte sich seit demMittagnichtmerklichgebessert.KellerbliebstehenundunterdrückteeinGähnen."Das sind doch keine Ermittlungsergebnisse. Sie wissen nicht, wo dieser

    Kaltenbrunn herkommt, was er beruflich gemacht hat, nicht einmal, ob dastatsächlichseinrichtigerNameist.Geschweigedenn,dassSieeinMotivnennenkönnen.Ach,undwerweißschon,obdasallesüberhaupteineRollespielt.DerSchlamasselistda,unddieserProfessorHeisewirdauchnichtwiederlebendig."

  • KellerverkniffsichjeglicheÄußerungundwartetedarauf,dassseinChefsicheinenAuswegkonstruierte,mit dem sie beide schnell undohneBlessuren ausdieserMordermittlungherauskämen."Der Fall an sich ist ja klar. Es kann doch nicht so schwer sein, ihn

    abzuschließen",machtesichderMajorLuft."SchließlichistdieserKaltenbrunnverrückt,wiesollmandaeinschlüssigesTatmotiverwarten?VielleichtsollteesanschließendnocheineDiskussionüberdieSicherheitsvorschrifteninderartigenAnstaltengeben...AberdasistschließlichnichtunsereAngelegenheit.""Sie haben es ja selbst gesagt, in diesem Fall wird nicht viel zu ermitteln

    sein",gabKellerbeipflichtendzurück,obwohlihndieDoppelzüngigkeithinterSchüttausVorwürfenerheblichärgerte.DerMajorwarmit seiner eigenenZurechtlegungdesFallesnicht zufrieden.

    "So ein Mist! Aber wenn Sie schon anfangen zu ermitteln und solcheUngereimtheiten auftauchen, dann steckt da am Ende tatsächlich noch etwasdahinter,verdammt."DerMajormusterteKeller."SiegehenamBestenzurücknach Waldheim und versuchen, ein Geständnis von diesem Kaltenbrunn zubekommen. Es ist doch alles klar,was die Tat angeht.Gerede über die Sachekannniemandgebrauchen.Siekriegendasschonhin.""Wenkannichmitnehmen?"KellersVorgesetzter schiendas für einengelungenenScherz zuhalten. "Ich

    binmirsicher,dassSieesauchweiterhinalleineschaffen,Oberleutnant.SehenSielieberzu,dassSieeinenDeckeldraufmachen.IchwilldieseAngelegenheitausderWelthaben–undausmeinemKommissariat!"

    Zurück in seinenDienstzimmermachteKeller seinemÄrgerLuft und fegtedasBakelittelefon,dasbishernurseineZeitverschwendethatte,vomTisch.AnsoeinemVorgesetztenkonntemanzumMörderwerden;fastkonnteerdenirrenKaltenbrunnverstehen.ErmusstezurückindiesesIrrenhausinWaldheim.DiesepampigeSekretärinSonne, die fetteNachtschwesterSpringfeld, allewaren sienicht koscher. Und dieser junge Pfleger, Jörg Tassel, der war richtig insSchwimmengekommen,alsdieSpracheaufKaltenbrunnkam.Undwerwussteesschon?EventuellhattederverrückteDoktoreinenhellenMoment.Ambestenwares,erfuhrjetztgleich.Unter Fluchen hob er den Fernsprecher auf und stellte fest, dass derHörer

  • einenlangenRissaufwies.Mist,fürdieseAktionwürdedaskostbareTesa-Banddraufgehen,dasseineSchwesterimletztenFresspaketversteckthatte.Er konnte sich den gewünschten Inhalt der Ermittlungsakte Heise genau

    vorstellen: Ein amoklaufender Verrückter tötet in sinnloser Raserei denverdienstvollen, ehrenwerten Professor Heise. Ein tragischer Unglücksfall.Keiner kann etwas dafür, keiner konnte sowas voraussehen, keiner kann sicherklären,wieesdazukommenkonnte.DieSicherheitsvorschriftenwürdennocheinmalüberdachtundeinbischenmodifiziert.StaatsbegräbnisfürdenWohltäter,salbungsvolle Reden und eine Ladung Kränze von den richtigen Stellen. Derarme Irre verschwindet unauffällig von der Bildfläche, und das Leben gehtweiter...AbernichtmitOberleutnantJosefKeller.Oh,erwürdeeinenDeckelaufdiese

    ganzeChosemachen,nurnichtso,wiederGenosseSchüttausichdasvorstellte.WenndabeiDreckaufgewirbeltundeinige saubereWestenschmutzigwürden,sollteesihmrechtsein.GrimmigrückteerseineKappezurecht,legteSchalundTrenchcoatüberden

    ArmundnahmdieWagenschlüsselausdemWandkasten.AufAbmeldungundeinenEintraginsFahrtenbuchverzichteteer.EinwenighoffteKeller,derChefvomDienstwürdeihngleichmorgenfrüh

    daraufansprechen;erwargenauinderrichtigenStimmungfürdiesebesonderswichtigenFormalitäten.

  • 11:22uhrOberstSokolowriebsichmitzweiFingerndieNasenwurzel.Ihnplagtenseit

    dem frühen Morgen Kopfschmerzen, und er wusste, dass der Tag noch zähwerden würde. Die stundenlange Fahrt von Schwerin hatte die Situation nurverschlimmert, auchwenn er denWagen nicht selbst gesteuert hatte.Wenn eswenigstens eine moderne Autobahnverbindung bis Berlin gäbe. StattdessenwarensiediemeisteZeitüberdieFernstraßegegondelt.DieTürzumBesprechungszimmeröffnete sich,undSokolow ließdieHand

    sinken."EntschuldigenSie,GenosseOberst.DerGenosseGeneralleutnant ist sofort

    beiIhnen."Sokolow erwiderte nichts und richtete sich auf weiteres Warten ein. Das

    Treffenhätte schonvor einerViertelstundebeginnen sollen, aber erkannte es,wartengelassen zu werden; schließlichmachten alle Zweigstellen der GRU inder Deutschen Demokratischen Republik regelmäßig Meldung hier in derWünsdorferZentrale.Die Unternehmungen seiner Abteilung im Schweriner Raum hatten in der

    letztenZeitwenigHandfesteszuTagegebracht.AktivitätenderGegenseitehatteesauchnichtgegebenundsowürdeernurwenigzuberichtenhaben.ErdachteandierelativeRuhe,dieindenvergangenenWochengeherrschthatte,undfandsiefasteinwenigbeunruhigend.Sokolow wunderte sich, dass noch immer keiner seiner Amtskollegen

    eingetroffen war. Er selbst war um einiges zu früh angekommen, weil erUnpünktlichkeit verabscheute. Ihmwar klar, dass die anderen Teilnehmer desKoordinierungstreffensvonwenigerweitanreistenunddaherbesserkalkulierenkonnten, doch jetzt wären sie alle viel zu spät. Um sich die Wartezeit zuverkürzen,überlegteer,nacheinemKaffeezufragen,verbotsichdenGedankenabersogleich.SeinBlutdruckwarsowiesozuhoch,undseinemKopfwürdeerdamit ebenfalls keinen Gefallen tun. Sokolow blickte auf seine Armbanduhr.Beinahehalbzwölfjetzt,einehalbeStundeüberdieZeit.ErschlucktedenFluchherunter,derihmaufderZungelag.

  • "OberstSokolow,gutenMorgen."SokolowerhobsichundnahmkurzHaltungan, während er GeneralleutnantMorosow grüßte. DerMannwar klein, sichereinen Kopf kleiner als er, drahtig und durchaus respekteinflößend. "Bitte,nehmenSiewiederPlatz."Sokolow verharrte einen Augenblick verwirrt. Es war ein Treffen mit

    wenigstens zwei weiteren leitenden Offizieren anderer Standorte angesetzt.DieseAbweichungvomPlanmussteeinenGrundhaben.Routinewardas,wasdie Arbeit gerade hier in der Zentrale bestimmte. Wo so viele Fädenzusammenliefen, gab es wenig Raum für Abweichung und spontaneÄnderungen, da sonst rasch das Ganze in Mitleidenschaft gezogen wurde.Sokolow sank wortlos zurück in seinen Sessel, der ihmmit einemMal nichtmehrbequemvorkam,sondernalswürdeerdarinversinken."UnshatvorhineineMeldungausIhremBezirkerreicht,GenosseOberst."Sokolow zwang sich zu äußerer Ruhe. Dieser Satz konnte alles Mögliche

    bedeuten. Er faltete die Hände und sah zu Morosow auf. "Worum geht es,GenosseMorosow?""Nun.VielleichtwartenwirgeradenochaufdenGenossenGussew,derdas

    Gesprächentgegengenommenhat.Ah,daisterschon."Sokolowwunderte sich nichtweiter darüber, dass derGeneralleutnant seine

    UntergebenenimHauseoffenbaranihrenGehgewohnheitenerkannte,denndieTüröffnetesicherstgutdreiSekundennachdieserBemerkung.EinrechtjungerMann trat ein und grüßte die beiden ranghöheren Geheimdienstoffiziereförmlich,eheersichaufeinZeichenMorosowshinseitlichdesSchreibtischesniederließundeinkleinesNotizbuchhervorzog.Ob er es sich eingestand oder nicht, Sokolows Nerven waren angespannt.

    Ganzgleich,worumesbeidiesermysteriösenMeldungausseinerZuständigkeitging, er war nicht im Bilde. Er saß in der Zentrale, ohne eigene operativeErgebnisse,undalsseidasnichtunangenehmgenug,gingoffenbargenauindenwenigenStunden,indenenernichtaufseinemPostenwar,eineInformationein,die relevant genug war, um sie ohne seine Zustimmung nach obenweiterzumelden.ErwürdesichIljinschnappen,sobalderwiederzuHausewar,unddannwürdeeseinigeszuklärengeben.Iljinwarihmbislangkompetentundloyal erschienen. Was, wenn er sich in seinem Stellvertreter getäuscht hatte?Vielleicht hatte der Mann aber auch vollkommen angemessen auf eine

  • unvorhergesehene Situation reagiert und durch diese Direktmeldung Schadenabgewandt. Sokolow zwang seineUnruhe nieder undwandte sichmit bemühtausdrucksloserMieneGussewzu."Genosse Generalleutnant, soll ich dann...", setzte Gussew an, den das

    Schweigenwiebeabsichtigtirritierte."Dafür sindSiedochhier",bemerkteMorosow.SeineundSokolowsBlicke

    kreuzten sich in einem Moment des Verständnisses, dass man es mit einemAnfänger zu tun hatte. Telefondienst war auch keine Aufgabe, die höchsteAnsprücheandieErfahrungeinesMitarbeitersderAufklärungstellte..."DerKommandant derGarnisonHagenowhatMeldung erstattet, dass zwei

    Zivilistenabgängigsind."Sokolowsetztesichaufrechter.ErwarnochnichtlangeLeiterdesSchweriner

    OperationsgebietsdermilitärischenAufklärung,aberderStandortHagenowwarihm sehr wohl ein Begriff. Er versuchte sich an die Details der Kaserne zuerinnern. Ein Bataillon der 2. Garde Panzerarmee und ein motorisiertesSchützenregiment der 21. Division waren dort stationiert, nebst ansehnlichemArsenal.DasGeländeglicheinerkleinen russischenEnklaveund lagvomOrtHagenow ein Stück entfernt. Er war ein einziges Mal dort gewesen, kurznachdemerseinenaktuellenPostenimvergangenenJahrübernommenhatte."ZweiZivilisten?""Alexander, genannt Sascha, Janowitsch Petrow und Alexej Dmitriwitsch

    Orlow, beide zwölf Jahre alt, sind offenbar seit zwei Tagen verschwunden.Zunächst gingen die Eltern wohl davon aus, dass sich die Jungen auf demGelände der Kaserne versteckt hätten, aber gestern wurde Meldung an denKommandantengemachtunddasGeländedurchsucht–ohneErfolg.HeutefrühwurdenwirundihreDienststelleinSchwerininformiert."Morosow legte die Stirn in Falten und blickte erwartungsvoll in Sokolows

    Richtung."Wir wissen nichts weiter?" Sokolow war über den ruhigen Klang seiner

    Worteselbstverwundert.AufeineArtwardasGehörtewenigerdramatisch,alserzunächstbefürchtethatte.EshattekeinenmilitärischenZwischenfallgegeben,keine Grenzübertritte, keine Aktivitäten der westlichen Geheimdieste, die zuverhindern ihre Aufgabe war. Zugleich ahnte er, dass diese Sache unterUmständennochhässlichwerdenkonnte.

  • "EinausführlichererBerichtliegtwohlIhremBürovor",antworteteGussew."WennSiemireineVerbindungschalten,werdeichmichumgehendbeiMajor

    Iljin informieren und die erforderlichen Maßnahmen einleiten", erklärteSokolow,aberMorosowschütteltenurdenKopf."IchbinmitMajorOrlowbekannt,GenosseSokolow.Persönlichbekannt.Ein

    guter Mann. Ein guter Soldat und ausgezeichneter Offizier. Wenn OrlowsJüngstem hier etwas passiert ist, dann fasse ich das als persönlicheAngelegenheitauf,fastalsFamilienangelegenheit.VerstehenSiemich?"Sokolow legte den Kopf ein wenig auf die Seite. Sein erster, in dieser

    Situation eigentlich vollkommen nutzloser Gedanke war, ob wohl derGeneralleutnant und seineVorgesetzten direkt darüber entschieden,wer in dieEinheitenderGSSDaufgenommenunddamitinderDeutschenDemokratischenRepublik stationiert wurde. Dann fragte er sich, wie weit dasVertrautheitsverhältniszwischendiesemOrlowundMorosowging– jedenfallskonnte er sich darauf einrichten, dass die gesamte Untersuchung unter demscharfen Blick der Zentrale durchgeführt würde. Fast eineFamilienangelegenheit. "Ichdenke, ichverstehe,GenosseGeneralleutnant. IchhabegenaudenrichtigenMann–"MorosowschossinseinemSitznachvornundseinFrettchengesichtwarnun

    deutlichnäher,alserihnunterbrach:"Sie,Sokolow.SiesindgenauderrichtigeManndafür.""GenosseMorosow...""Sie sindnochnicht sehr lange inDeutschland. Ihr aktuellerPosten scheint

    Ihnenaberdurchauszuzusagen."MorosowwarteteeinenAugenblick,umseinenWortendiebeabsichtigteBedrohlichkeitzuverleihen."Umehrlichzusein,binichvon IhrerArbeitbisherwenigerbeeindruckt, als ichdiesvoneinemMannIhrerReputationerwartethatte.DieserFallbietetIhnenjedochMöglichkeiten.""UndwelcheMöglichkeitenwärendas?"SokolowbisssichaufdieZunge.Er

    hasstesolchvorlautenÄußerungenbeiseineneigenenUntergebenen."Siemüssenbedenken,dassessichumeineEntführunghandelnkönnte.Es

    könnten faschistische Kräfte hinter dem Verschwinden der Jungen stecken.WennsiesichtatsächlichnichtaufdemGarnisonsarealaufhalten,dannwerdenSienichtvermeidenkönnen,dieDeutscheVolkspolizeieinzuschalten."DasGanzewurde immerbesser,dachteSokolow.Aberwenigstenshatteder

  • Generalleutnant damit tatsächlich einen sachlichen Grund, ihm den Fallpersönlich zu übertragen. "Und Sie denken, dass ich aufgrund meinerSprachkenntnisseambestengeeignetbin,diese...Liaisonzuführen?""Siehabeneserfasst,OberstSokolow."

    Es war spät am Abend, als das Dienstfahrzeug der sowjetischenHauptverwaltung Aufklärung mit Sokolow wieder auf den Parkplatz derSchweriner Kaserne zurückkehrte. Er meinte fast, das erleichterte AufatmenseinesFahrerszuhören,alsderdenWagenaufdemgekennzeichnetenStellplatzplatziertunddenMotorabgestellthatte."Wenndasalleswar,GenosseOberst...", setztederMannan. "Oder soll ich

    SienochgleichdasStück–""Nein,dasistnichtnotwendig."Sokolowstiegaus."IchwünscheIhneneinen

    guten Abend, Andrej." Der Geheimdienstoffizier nahm seine Aktentasche ausdemKofferraumundbetratdasGebäudedurchdenhinterenEingang."GutenAbend."Erwar nichtwirklich überrascht, Iljin an seinem üblichen Platz hinter dem

    Schreibtisch des Vorzimmers zu sehen. Sokolow nickte und nahm die warmeMützeab.ImVergleichzudenTemperatureninSanktPetersburgwarSchwerinderzeit nichtwinterlich, dennoch fror er hier häufiger als zuHause. EntwederwurdeerlangsamweichodereswardieseNässeinderLuft,diesounangenehmzwischenalleLagenKleidungkroch."IchhabediebisherigenInformationenzumVorgangOrlow/PetrowaufIhrem

    Schreibtischzurechtgelegt,GenosseOberst.Essieht–""Nichtjetzt,Iljin",schnittSokolowihmdasWortab."Ichwerdemichheute

    Abendmitdembefassen,wasSiezusammengetragenhaben.Unddannwerdenwirmorgenfrühdarübersprechen.""Aber–"SokolowwarfdieTürhintersichinsSchloss.SeinArztwürdeihnfürseinen

    Blutdruckrügen,dochesgelangihmnicht,dieWutüberdenVerlaufdesTageszuunterdrücken.IljinmitseinerbeflissenenArtmachtedasGanzenichtbesser,denn Sokolow fragte sich noch immer, ob sein Assistent ihn mit Absicht beiseinemVorgesetztenhatteinsMesserlaufenlassen.Nungut,dachteSokolow,nachdemeretwaeineStundespäterdieUnterlagen

  • aufseinemTischvollständiggesichtethatte.WenigstenswarIljinkeinVorwurfzumachen,dennandersalsvermutet,hattenichter,sondernihrVertreterinderGarnison Hagenow direkteMeldung nachWünsdorf gemacht. Kurz nachdemderdortigeKommandantauchdieDeutscheVolkspolizeiinformierthatte.Aus den Aufzeichnungen des Kommandanten wurden Sokolow einige

    interessante Aspekte des Vorganges klar: Es war nicht der von Morosowgeschätzte Major Orlow, sondern die Eltern des anderen Jungen, die denKommandantenunterDruckgesetztunddieEinschaltungderPolizeigeforderthatten,nachdemdie ersteSucheerfolglosverlaufenwar.ZwischendenZeilenmeinte er außerdem zu lesen, dass dasVerschwindenmöglicherweise nicht sogänzlich unerwartet und einmalig war, wie die Petrows glaubten. DerKommandant schrieb von einer gewissen Tendenz zum Ungehorsam, diezumindestandemjungenOrlowaufgefallensei.OberstSokolowlehntesichinseinemStuhlzurückundblicktenachdenklichinsLeere.

  • 17:05uhrKellersStimmunghattesichkaumaufgehelltalsernacheinergutenStunde

    FahrtaufdenrissigenAsphaltdesHinterhofesderNervenklinikrollte.DeralteBacksteinbau war heruntergekommen. Nicht einmal die rußigen Spurenvergangener Zimmerbrände hatte man beseitigt. Mit seiner Laderampe, denmetallenen Außenaufgängen und der garagenähnlichen Einfahrt wirkte dasGebäude eher wie eine aufgelassene Fabrik oder eine Lagerhalle. In so einerEinrichtungwäreervonganzalleineverrücktgeworden.Nirgendwo brannte ein Licht, obwohl es bereits dämmerte. Er parkte den

    Wartburg direkt vor den eisernen Schiebetoren. Hier fuhr jedenfalls niemandraus, während er seine Befragung durchführte. Eigentlich gab es überhauptkeinenGrundfüreinesolcheMaßnahme,aberschadenkonntesieauchnicht–undwenn er nur das unfreundliche Personalmit seinerBlockade ärgerte.WiebefürchtetgabesanderRückseitedesKlinikgebäudeskeineKlingel.Nachdemweder das Dröhnen seiner Faustschläge noch das Rütteln an der Tür zurLaderampeeineReaktionimHausprovozierten,machteKellersichgrummelndaufdenWegzumHaupteingangaufderanderenSeite."Ja?""Oberleutnant Keller von der K, Mordkommission Leipzig. Ich war heute

    Nachtschoneinmalhier."KeineAntwort,nurdasGrundrauschenderGegensprechanlage.Kellerschlug

    mitderflachenHandaufdasMessinggitterdesLautsprechers."Aufmachen!""Ja,Siewünschen?"Keller versuchte, ruhig zu bleiben. "Oberleutnant Keller von der

    Kriminalpolizei in Leipzig, ich ermittle im Tötungsdelikt ProfessorWolfgangHeise.""Ja?""IchmussnocheinigePersonenbefragen.FürmeinenBericht.ÖffnenSiedie

    Tür."KeineReaktionausderGegensprechanlage.Esreichtejetzt."Wenn Sie nicht augenblicklich die Tür öffnen, werde ich von meiner

  • Schusswaffe Gebrauch machen. Anschließend haben Sie eine Hundertschafthier, die dieses Irrenhaus mit Mann und Maus auf den Kopf stellt. Und Sienehmeichmirhöchstpersönlichvor."EinleisesKlicken.

    Keller marschierte geradewegs in die geflieste Eingangshalle, auf dieSchwesterzu,diemittenimRaumstand,alshättesievergessen,wosiegeradehinwollte. "Wieso behindern Sie die Arbeit der Volkspolizei, BürgerinSpringfeld?Gibtesdaetwas,wasichwissensollte?"Im Damenbart der korpulenten Stationsschwester sammelten sich

    Schweißtropfen. "Ich wusste nicht... Ich dachte, die Untersuchungen wärenabgeschlossen.DerFallistdochklar,HerrKommissar.""Oberleutnant“, korrigierte er scharf. "Kommissar gibt's schon lange nicht

    mehr; und wenn dann Oberkommissar, Genossin Springfeld." Angewidertbeobachtete er,wie ihrSchweißaufdenKittel tropfte. "Ichmussnocheinmalmit dem Patienten Doktor Kaltenbrunn sprechen. Und während Sie michbegleiten,könnenSiemirauchgleicherklären,warumderFallklarist.KommenSie.WoistdasZimmerdesPatienten,Genossin?"Sie schüttelte heftig den Kopf und ruderte mit den Armen. Keller zuckte

    zusammen, als er Schweißtropfen fliegen sah. "Also, das geht momentanwirklich nicht, Genosse Oberleutnant! Der Patient ist ruhiggestellt. Es wirdfrühestensmorgenmöglichsein,ihnzusehen.""BringenSiemichsofortzuKaltenbrunnsZimmer.Ichkannauchselbstjeden

    Raumdurchsuchen,wennIhnendaslieberist."Springfeld gewann wieder an Fassung. "Das ist nicht möglich, Genosse

    Oberleutnant.DerPatientwurdeverlegt.Siekönnenihnjetztnichtsprechen.""Verlegt?" Keller verlor die Geduld und ergriff den Oberarm der

    Krankenschwester, die diesmit einem lautenQuieken quittierte. "Sie erzählenmir jetzt, was es mit dieser Verlegung auf sich hat, oder ich vergesse meineManieren.Also?"Wenn er sie verunsichert hatte, dann ließ sie sich das nicht anmerken. Sie

    schüttelteseineHandvonihremArmundmachteeinenkleinenSchrittzurück."Soweitichweiß,wurdeDoktorKaltenbrunnheuteNachmittagaufAnordnungvon Frau Doktor Piechkow zur Beobachtung in das Krankenhaus der

  • Strafvollzugseinrichtung verlegt. Sie können es ja dort versuchen." Dannlächeltesie."Allerdingsheutenichtmehr."DieStationsschwesterschiengenauzuwissen,dasserdortohnerichterlichen

    Beschluss weder Auskunft noch Einlass bekam. Vielleicht log sie aber auchschlicht.FüreinenMomenterwoger,sämtlicheKrankenzimmerzuüberprüfen,entschied jedoch, dass esnoch zu früh sei, dasganzgroßeFass aufzumachen.DieSpringfeldwirktenachihrerletztenAuskunftzusicher,undKellerhieltsienicht für nervenstark genug, um einen Bluff durchzuziehen. Jedenfalls nichtohneUnterstützungvonhöhererStelle."Und die Genossin Doktor Piechkow können Sie natürlich auch nicht

    erreichen.""Genau,kannichnicht,GenosseOberleutnant."Kellernicktenachdenklich,dannstapfteerdavon.Springfeld folgte ihm schnaubend. "Wowollen Sie hin,was haben Sie vor,

    GenosseOberleutnant?"Der Polizist wandte sich um, fasste erneut den schwitzigen Oberarm der

    protestierenden Stationsschwester und zog sie hinter sich über denKrankenhausflur. "Da Sie sich so für die Arbeit der Polizei interessieren…besuchenwirProfessorHeisesArbeitszimmerjetztzusammen.Wollenwirmalschauen, ob der Herr Doktor nicht doch Aufzeichnungen über seinenLieblingspatientenhat.Dannsehenwirweiter."SieversuchtesichseinemGriffzu entwinden, aber diesmal ließ er es nicht zu. "Sie kommen schön mit undleisten mir Gesellschaft, sonst kommen Sie mir noch in die Versuchung, denHaushaltunsererRepublikmitunnötigenTelefongebührenzubelasten."Kellerzerriss das Polizeisiegel und schob die schnaubende Schwester in dasBehandlungszimmerdesKlinikleiters."DaskönnenSiedochnicht...""Ichkann.SetzenSiesichdahinundhaltenSiedenMund."Erwiesaufden

    abgewetztenLedersessel,aufdemvornichteinmalvierundzwanzigStundendertote Psychiater gesessen hatte. "WennSie hier herumkrakeelen oder sonstwieÄrger machen, bekommen Sie Handschellen und Knebel. Sie wissen doch:GefahrimVerzugundso.SiesolltenöftermalPolizeirufgucken."KellermachtesichaufdieSuchenachAufzeichnungenzudenPatienten,die

    Heise in seinen Räumen behandelt hatte und wurde rasch in einem

  • Metallkabinett fündig. Eigentlich erstaunlich, dass die Unterlagen nicht allezentral verwaltet und aufbewahrt wurden, dachte er. Er durchsuchte dieHängeregister der umfangreichen Patientenkartei. Ob das hierZweitausfertigungen aller Patientenunterlagen waren? Oder nur die Fälle, dieHeise besonders beschäftigt hatten? Er wagte kaum zu glauben, dass es soeinfachseinwürde,aberunterdemBuchstabenKwartatsächlicheinReitermitKaltenbrunn abgelegt.Offenbarhatte indemAufruhrumHeisesTodniemanddaran gedacht, dass hier Zweitakten lagen, und seit die Polizei die Klinikverlassenhatte,warderRaumjaauchpolizeilichversiegeltgewesen.Keller warf einen raschen Blick auf die beleibte Oberschwester, die ihm

    demonstrativ den Rücken zugekehrt hatte, als wollte sie jeden Verdacht vonNeugier weit von sich weisen. Dann nahm er die dünne Mappe aus demHängeregister.Natürlich haben die aufgeräumt. Verdammt noch mal! Als er den Hefter

    aufklappte, fandKellernurzweiBögenPapierdarin,unddaserstedavon,mitKaltenbrunns vermeintlichenDaten, kannte er bereits. Das zweite nahm er ansichund lasdenernüchterndknappen Inhalt:EingeliefertwurdederMannamneunten Oktober des vergangenen Jahres, weil er am frühen Morgen imverwirrtenZustandanderLandstraßezwischenCoswigundRadebeulsaß.EineStreifederVolkspolizeihatteihnaufgegriffen.UmViertelnachsiebenhattemanihn in Waldheim aufgenommen. Laut Einlieferungsschein hatte KaltenbrunnwederPapiere,nochsonstigeDokumentebeisichgehabt,nurdieSachen,dieeram Leibe trug. Die Kleidung wurde – angeblich um die Einschleppung vonKeimenzuverhindern–aufWeisungvonProfessorHeiseumgehendvernichtet.Die Identifizierung des Patienten wurde nach seinen eigenen Angaben hinvorgenommen.Die anschließende Erstuntersuchung ergab die von Jörg Tasselerwähnte Diagnose und medikamentöse Einstellung. Eine Anamnese gab esebensowenig wie Therapievorschläge oder einen Behandlungsplan.UnterzeichnetwardasGanzevonProf.Dr.WolfgangHeise.Hier ist so ziemlich alles faul, was faul sein kann. Kellers Alarmglocken

    gingenaufDauerbetrieb.Nichtnur,dassKaltenbrunnallemAnscheinnacheineSonderbehandlung von Professor Heise bekam, es stellte auch niemand dieFrage,woerherkamundwererwirklichwar.UndseineVorgeschichteodereineTherapie spielten offenbar keine Rolle. Entweder war diese psychiatrische

  • Einrichtung besonders schlampig, was Keller nicht glaubte, denn die anderenAkten,dieerinHändengehabthatte,widersprachendem–oderesgabimFalledesPatientenKaltenbrunnmancheszuverbergen."SchaffenSiemirsofortdiesenTasselherbei."DiebeleibteStationsschwester setztezueinerBemerkungan,entschied sich

    aberangesichtsderMienedesOberleutnantsanders.

    KellernutztedieZeitbiszuTasselsAnkunft,indemerHeisesgesamtesBüronochmalseinerraschenDurchsuchungunterzog.WenneraufkeineschriftlicheDokumentation hoffen konnte, dann vielleicht wenigstens auf Zeugnisse derBehandlung, von der die Springfeld berichtet hatte? Erinnerungen, Notizen,Rezepte–irgendwassolltesichdochfindenlassen.ErdachteinersterLinieandieInjektionen,dieHeiselautAussagenpersönlichverabreichthatte,undhof


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