+ All Categories
Home > Documents > FussballWunderBauten

FussballWunderBauten

Date post: 25-Mar-2016
Category:
Upload: georg-dw-callwey-gmbh-co-kg
View: 219 times
Download: 1 times
Share this document with a friend
Description:
Millionen von Menschen pilgern jedes Wochenende in Fußballstadien. Warum? Diese Frage beantworten die Autoren in ihrem Buch FußballWunderBauten. Sie besuchten die faszinierendsten und schönsten Fußballstadien, befragten Fans, prominente Spieler, Architekten nach ihrer ganz persönlichen Geschichte in Verbindung mit dem jeweiligen Rund und erzählen die spektakulärsten Geschichten drum herum.
50
CHAMPIONS LEAGUE SIGNAL IDUNA PARK BERNABÉU ANFIELD MARACANÃ ALLIANZ ARENA ERSTE LIGA SAN SIRO CAMP NOU AZTEKENSTADION LA BOMBONERA AZADI OLD TRAFFORD CELTIC PARK OLYMPIASTADION INöNü VELTINS - ARENA EMIRATES üBERRASCHUNGSERFOLGE CRAVEN COTTAGE BRAGA TOMÁS ADOLFO DUCÓ FUSSBALL WUNDER BAUTEN DIE SCHöNSTEN STADIEN UND IHRE GESCHICHTEN im Interview: Günter Netzer, Volkwin Marg, Campino und viele mehr MIT FOTOS VON REINALDO CODDOU H. UND ANDEREN ANDREAS BOCK ALEXANDER GUTZMER BENJAMIN KUHLHOFF
Transcript
Page 1: FussballWunderBauten

C h a m p i o n s L e a g u e

signaL iDuna paRKbeRnabÉuanfieLD

maRaCanÃaLLianz aRena

e R st e L i g a

san siRoCamp nou

azteKenstaDionLa bomboneRa

azaDioLD tRaffoRDCeLtiC paRK

oLympiastaDioninönü

VeLtins-aRenaemiRates

ü b e R R a s C h u n g s e R f o L g e

CRaVen CottagebRaga

tomÁs aDoLfo DuCÓ

fussbaLLwunDeR

bautenDie sChönsten staDien

unD ihRe

gesChiChten

★ ★ ★

im interview: günter netzer, Volkwin marg, Campino und viele mehr

m it f otos Vo n R e i n a L D o C o D D o u h . u n D a n D e R e n

a n D R eas b o C K a Lexa n D e R g utzm e R b e nj a m i n Ku h Lh o f f

★ ★ ★

Page 2: FussballWunderBauten

6

I N H A LT

C H A M P I O N S L E A G U E� � �

Seite 22 SIGNAL IDUNA PARK Dortmund

Seite 32 BERNABÉU Madrid

Seite 42 ANFIELD Liverpool

Seite 52 MARACANÃ Rio de Janeiro

Seite 62 ALLIANZ ARENA München

E R S T E L I G A� �

Seite 74 SAN SIRO Mailand

Seite 82 CAMP NOU Barcelona

Seite 90 AZTEKENSTADION Mexiko-Stadt

Seite 98 LA BOMBONERA Buenos Aires

Page 3: FussballWunderBauten

7

I N H A LT

Seite 106 AZADI Teheran

Seite 114 OLD TRAFFORD Manchester

Seite 122 CELTIC PARK Glasgow

Seite 130 OLYMPIASTADION Berlin

Seite 138 INÖNÜ Istanbul

Seite 146 VELTINS-ARENA Gelsenkirchen

Seite 154 EMIRATES London

Ü B E R R A S C H U N G S E R F O L G E�

Seite 164 ESTADIO MUNICIPAL DE BRAGA Braga

Seite 172 CRAVEN COTTAGE London

Seite 180 TOMÁS ADOLFO DUCÓ Buenos Aires

Page 4: FussballWunderBauten
Page 5: FussballWunderBauten
Page 6: FussballWunderBauten
Page 7: FussballWunderBauten
Page 8: FussballWunderBauten

1 4

I N T E R V I E W

KESSEL VOLLER HYSTERIEVolkwin Marg ist der wohl bekannteste Stadionarchitekt Deutschlands. Sonja Fuss ist ebenfalls Architektin – und wurde mit der deutschen Frauen-National-mannschaft Fußball-Weltmeister. Ein Expertengespräch über Stadien und gebaute Emotionen

Interview: Alexander Gutzmer

Page 9: FussballWunderBauten

1 5

I N T E R V I E W

Herr Marg, wie kamen Sie zum Stadionbau?Volkwin Marg: Unser erster Wettbe-werbsbeitrag galt den Olympischen Spie-len 1972. In unserem Büro kursierten zwei unterschiedliche Entwürfe. Einer setzte vor allem auf Zeltstrukturen. Meinhard (von Gerkan) und ich hielten das für zu gewagt. So kann man sich ir-ren. Am Ende haben so ziemlich alle am Wettbewerb beteiligten Architekten für die Spiele gebaut, nur wir nicht.

Hätten Sie es besser gekonnt als Frei Otto und Günther Behnisch?V M: Nein, das Resultat ist natürlich bis heute unerreicht: das Münchner Olympia-Gelände ist die wohl schönste Choreographie der Bewegung von Men-schenmassen. Die Jugend der Welt wogt frei umher – geführt von Otl Eicher.

Aber als Fußballstadion war das Olympiastadion immer ohne Atmo-sphäre.V M: Das Stadion war sehr geeignet, um darin Fußball zu spielen. Aber es hysteri-siert die Massen nicht stimmungsmäßig, ist kein Hysteriekessel. Man schaut aus der Höhe heraus in die Weite.

Frau Fuss, wie macht man das als Architekt besser?Sonja Fuss: Vor allem erzeugt die Archi-tektur des Stadions Emotionen für Sportler und Besucher. Dabei können viele architektonische Aspekte eine Rolle spielen. Das fängt beim Tragwerk an, geht über die Tribünengestaltung, die Akustik, die Farbgestaltung bis zur We-geführung. Sogar die Wahl der Materi-alien kann Einfluss nehmen. Ein wahn-sinnig spannender und herausfordernder Entwurfsbereich. V M: Gerade die Akustik wird unter-schätzt. Tribünendächer etwa dienen ja nicht nur dem Witterungsschutz. Sie sind vor allem Schalldeckel, wie über der Kanzel in Kirchen.

Frau Fuss, wie würden Sie die Aura von Fußballstadien beschreiben?S F: Ich denke, dass jeder Stadionbau seine eigene Aura entwickelt. Für mich als Sportlerin, für einen Fan, aber auch für den objektiven Betrachter. Eine Aura entsteht durch Emotionen. Für mich als Fußballerin und auch generell für Sport-ler ist die Sache vielleicht noch einen Tick emotionaler.V M: Die Hauptfunktion eines Fußball-stadions liegt darin, das Publikum in ei-nen Bann mit sich selbst zu schlagen.

Dazu braucht es optische Dichte, die möglichst absolute Geschlossenheit, was Selbstinszenierungen wie »La Ola« beför-dert. S F: Je steiler die Ränge, je mehr Drama-tik eine neue Architektur für mich als Sportler erzeugt, desto stärker empfinde ich auch die Aura eines Stadions. In gu-ten Arenen muss man sich wie in einem Hexenkessel fühlen. Dann schafft man für den Sportler eine aufregende Atmo-sphäre. Man muss sich fühlen wie ein Gladiator.V M: Sehr wichtig auch: das Licht. Fuß-ballspiele werden am besten bei Nacht angeschaut. Künstliches Licht macht aus einem Stadion eine hermetisch abge-schlossene Arena.

Wie hat sich die Beleuchtung von Stadien verändert?V M: Illuminiert wird heute nicht mehr nur das Spiel. Alte Flutlichtmasten be-leuchteten lediglich die Spieler, und zwar kreuzweise. Heute bringt man Beleuch-tungssysteme am Stadiondachrand an. Diese leuchten alles schattenfrei aus – vor allem auch die Zuschauer. Und Licht wird dynamisiert. In Berlin etwa macht die Beleuchtung die Welle mit.

Ansonsten aber wirkt Ihr Berliner Stadionbau nicht übermäßig »geschlossen«.V M: Es war unsere Grundidee, das Sta-dion zum Reichsportfeld offen zu gestal-ten. Das Olympiastadion ist ein Mittel-ding zwischen Denkmalschutz, Fuß-ballarena und einer Mehrzwecknutzung. S F: Dennoch: Historisch geprägte Sta-dien wie das Olympiastadion bringen noch mal einen ganz besonders ehr-furchterregenden Aspekt für mich mit.

Welche Entwicklungen sind im Sta- dionbau momentan zu beobachten?V M: Der Trend geht hin zum Kon-sumtempel. Ich bedaure das. Vor allem, weil durch den Konsumfokus die sozi-alen Unterschiede immer mehr betont werden.

War das früher anders?V M: Bei den paramilitärischen Spielen der Griechen waren alle gleich. Während der Spiele herrschte sogar Waffenstill-stand – der Krieg zwischen den Stadt-staaten wurde ins Stadion verlagert.

Diese Leistungsschau der Stadtstaaten wurde dann aber von den Römern ab-gelöst.V M: Da ging es um die Ruhigstellung

VolkwinMarg

ist Gründungspartner des international agie-renden Architekturbü-ros gmp von Gerkan, Marg und Partner. Er wurde 1936 in Königs-berg/Ostpreußen gebo-ren und war von 1980 bis 1985 Präsident des Bundes Deutscher Ar-chitekten BDA. 1986 übernahm er einen Lehrstuhl für Stadtbe-reichsplanung und Werklehre an der RWTH Aachen. Marg ist Mitglied der Deut-schen Akademie für Städtebau und Landes-planung und der Freien Akademie der Künste zu Hamburg, 2007. Er ist Träger des Bundes-verdienstkreuzes.

»Bei rhythmi-schem Klatschen im Stadion läuft mir noch immer ein Schauer über den Rücken und ich gucke nach dem Ausgang.«

Volkwin Marg

Page 10: FussballWunderBauten

1 6

I N T E R V I E W

Spieler. Frau Fuss, haben Stadien Ihre Karriere beeinflusst?S F: Hat man einmal Gefallen am Leis-tungssport gefunden, saugt man natür-lich auch die Atmosphäre der Wett-kampfstätten ein. Natürlich hat es mich in meiner Karriere, zusätzlich zu dem Gewinn eines Wettbewerbs, auch moti-viert, die Atmosphäre in einem be-stimmten für das Endspiel ausgewählten Stadion genießen zu können. Solche zu-sätzlich motivierenden Erlebnisse, auf die man sich freut, treiben den Ehrgeiz im Leben eines Sportlers noch weiter an.

Und jetzt arbeiten Sie beide als Archi-tekten an der Schaffung dieser Erfah-rungen mit. Herr Marg, welches Ihrer Stadien gefällt Ihnen am besten?V M: Schwierig. Die meiste Aufmerk-samkeit widmet man natürlich immer den Problemkindern. Das Warschauer Nationalstadion zum Beispiel war hoch komplex: Wir haben auf dem Trümmer-schutt des Warschauer Aufstands gebaut. Da konnte es sein, dass Sie beim Bag-gern auf Gasmasken stoßen. Das textile Dach, das geöffnet werden kann, ist das Erste dieser Art, das die volle Schneelast trägt. Auch politisch ist es heikel, wenn Sie als deutsche Firma ein polnisches Nationalsymbol bauen.

Und über gmp hinaus?V M: Rein ästhetisch sehr gelungen finde ich Renzo Pianos San-Nicola-Stadion in Bari. Seine Offenheit ist konsequent. Genau damit ist es aber leider als Fuß-ballstadion auch ungeeignet.

Nach Manchester ins Old-Trafford-Stadion sind Sie aber noch nie mit Ihrem Enkel gefahren.V M: Nein, da habe ich bisher gekniffen.

der Massen. Es wurden regelrechte See-schlachten inszeniert. Die römischen Stadien konnte man fluten. Oft gingen die Schlachten tödlich aus.

Eine Idee, die der Absolutismus wieder aufgegriffen hat ...V M: Die Spiele sollten das Ancien Ré-gime retten. Nationale Spiele zur Gleich-schaltung der Untertanen. Und der gro-ße Vordenker war Étienne-Louis Boul-lée, den man fälschlicherweise immer als Revolutionsarchitekten sieht. Er schlug ein Stadion für 300.000 Menschen vor, mit dem Ziel, diese gleichzuschalten.

Zurück in die Gegenwart – wie sehen Stadien künftig aus?V M: Wir werden immer mehr Spezial-stadien für nur noch eine Sportart haben - Fußball, Radfahren, Schwimmen. Und der Trend zur sozialen Segregation wird weitergehen. Unterschieden wird dabei nicht nach Bildung, sondern nach Kon-sumverhalten. Uns als Architekten bleibt nichts anderes, als dieses Bedürfnis zu bedienen – auch wenn wir diese Enter-tainment-Kommerzialisierung eigentlich ablehnen.

Sagen Sie das Ihren Bauherren?V M: Da lächeln die nur. Überschätzen Sie nicht die Macht des Architekten. Gerade Institutionen wie die UEFA oder die FIFA treten extrem machtbewusst auf.

Welche Rolle spielt das Fernsehen?V M: Eine Hauptrolle. Stadien mit 50.000 Leuten dienen heute nicht zu-letzt dazu, die richtige Atmosphäre für TV-Übertragungen zu liefern. 50.000 Stadionbesucher singen für 50 Millionen Fernsehzuschauer.

Man müsste sie dafür bezahlen.V M: Richtig.

Stadien werden zur TV-Kulisse – aber zugleich immer größer ...V M: Ja, vor allem in den USA können wir schon beobachten, wie immer mehr Verweilanreize durch Zusatzangebote ge-setzt werden: Shopping, Gastronomie. Außerdem werden immer mehr veran-staltungsfremde Funktionen integriert, etwa ganze Konferenzzentren, die nur die Aura des leeren Stadions nutzen. Man sucht die Sakralaura der Masse – ohne die Masse. 20.000 Quadratmeter Nebenfläche haben wir in Warschau mit-geplant. Bayer Leverkusen hat früh ein Hotel ans Stadion angebaut.

Im Falle von Bayer Leverkusen war ein Konzern der Bauherr. Oft sind aber auch Vereine ohne Konzern im Rücken Bauherren. V M: Ja, in München etwa taten sich ja zwei Clubs zusammen. Wobei – die Are-na haben sie zusammen gewuppt. Die gesamte Infrastruktur, die in etwa genau-so teuer war, hat die Stadt gebaut.

Stadionbau und Städtebau hängen eng zusammen. Bauen wir irgendwann um Stadien urbane Strukturen herum?V M: Denkbar ist das. Ich glaube aber auch, dass wir wieder in der Stadt selbst bauen werden – da also, wo der Massen-transport perfekt ausgebaut ist.

Man baut da, wo der Verkehrsinfarkt sowieso schon Realität ist ...V M: Das klingt zwar zynisch, ist aber nicht komplett falsch. Es kommt darauf an, Fußballspiele antizyklisch zu termi-nieren.

Gehen Sie selbst zu Fußballspielen?V M: Man muss nicht krank sein, um Krankenhäuser zu bauen, und kein Fuß-ballfan, um Stadien zu bauen. Ins Stadi-on gehe ich vor allem wegen meinem Enkel. Er fiebert für Manchester United.

Sie selbst hat das Fußballgen nie angesteckt?V M: Ich bin nicht der Typ für Massen-ansammlungen. In negativer Form habe ich diese reichlich erlebt: In den dreißi-ger Jahren, dann in den Fünfzigern in der DDR. Politisch choreografierte Massentreffen wie das Weltjugendtreffen der FDJ. Bei rhythmischem Klatschen im Stadion läuft mir noch immer ein Schauer über den Rücken, und ich gu-cke nach dem Ausgang. Der Wissen-schaftler Gustave Le Bon hat gezeigt, warum Menschen auch ein Bedürfnis nach dem Aufgehen in der Masse haben.

Aber solange es beim Fußball bleibt, ist das doch harmlos.V M: Auch wenn politische Wachsam-keit wichtig bleibt, haben Sie natürlich Recht. Außerdem hat das ja auch positi-ve Effekte. Deutschland ist bei der WM 2006 in Stadien seine Minderwertig-keitskomplexe losgeworden. Außerdem lernen wir über Sport auch das Einhalten von Regeln.

Das heißt, die Erfahrung des Stadions beeinflusst die Zuschauer. Anders her-um hat der Zuschauer-Architektur-Komplex auch Auswirkungen auf die

SonjaFuss

ist ehemalige Fußball-Nationalspielerin und studierte Architektin. Die 1978 in Bonn ge-borene Fuss verbrachte den größten Teil ihrer Karriere beim SV Grün-Weiß Brauweiler, der sich im Jahr 2000 in den FFC Brauweiler Pulheim 2000 umbe-nannte. Als Studentin spielte sie zwischenzei-tig für das Team der Hartford University im US-Bundesstaat Con-necticut. 2003 und 2005 wurde die Vertei-digerin Fußball-Welt-meister.

»In guten Arenen muss man sich wie in einem Hexenkessel fühlen. Man muss sich fühlen wie ein Gladiator.«

Sonja Fuss

Page 11: FussballWunderBauten
Page 12: FussballWunderBauten
Page 13: FussballWunderBauten
Page 14: FussballWunderBauten

2 8

C H A M P I O N S L E A G U E

dem Gipfel liegt kein Schnee. In 150 Minuten geht es los.

13:00Die Tribüne füllt sich. Wie ein Schwarm Bienen auf dem Weg zur Arbeit strömen die BVB-Anhänger auf ihre Plätze. Und obwohl die Südtribüne ausschließlich aus frei wählbaren Stehplätzen besteht, zieht es jeden offenbar auf eine feste Ko-ordinate. Es ist Ende Januar, das erste Heimspiel des BVB und überall wün-schen sich die Menschen ein frohes neu-es Jahr. Willkommen in der Familie.

15:24Block 10, Reihe 1: Ganz unten strömen die letzten Kuttenträger ein. Erken-nungszeichen: Jeansweste, Südtribüne-Aufnäher, Pils und Kippe. Ein Blick über die rechte Schulter lässt erste Zweifel am Projekt »Besteigung« aufkommen. Es ist kein Beton mehr zu sehen, nur noch Schwarz und Gelb und Köpfe und Schals und leuchtende Augen. Für einen kurzen Moment vernimmt man eine fast gespentische Ruhe. Es folgt ein festes Ritual. Stadionsprecher Norbert Dickel kündigt an: »Und bevor wir die Mann-schaftsaufstellung verlesen, kommt wie immer ›You’ll never walk alone‹!« Wild-fremde Menschen nehmen sich in den Arm, halten den Schal des Nebenman-nes, ein Mann names »Lucky« drückt sich eine Träne aus dem Knopfloch. Man zwinkert sich wissend zu. Für die nächs-ten 82 Sekunden spricht die Süd mit ei-ner Stimme: »Walk on!« Gänsehaut.

15:30Anpfiff. Der Ball rollt. Zwei Männer unterhalten sich über die wichtigen Themen: Schwangerschaften. Der eine: »Ich bin froh, dass es bei euch endlich geklappt hat. Es kann ja auch nicht jeder Schuss ein Treffer sein.« Der andere: »Ham wir noch wat auf der Karte? Ich brauch’ ’n Pils.« Man versteht sich.

15:46Block 10, Reihe 4: Die Reise beginnt, der Ellbogen wird zum wichtigsten Hilfsmittel. Und eines ist bereits nach wenigen Minuten klar: Wer seinen Platz auf der Süd wechselt, der fällt auf. »Du stehst aber auch nicht oft hier, oder?«, ist die meistgehörte Frage auf dieser Expedition. Und bevor man antworten kann, fällt das 1:0 durch Shinji Kagawa. Die Süd explodiert. Literweise Bier fliegt durch die Luft und landet in eiskalten Schwällen im Nacken des Vordermanns. Ein Rinnsal Gerstensaft sucht sich seinen Weg über die Wirbelsäule gen Süden. Eine Taufe nach Dortmunder Art. Halleluja.

15:55Block 10, Reihe 13: 25.000 vollkommen Entrückte setzen zum kollektiven Pogo an. 50.000 Beine bringen den kalten Be-ton zum Beben. Es ist, als würden Hun-derte Elefanten über die Tribüne getrie-ben. Dem Neuling sackt kurz das Herz in die Hose. Der Blick wandert zum Bo-den. Ehrfürchtig, voller Angst, suchend. Sind irgendwo Risse in den Betonstufen? Tut sich der Boden auf? Ist das Ende nah? Nein, eine Mittvierzigerin rempelt mit einem breiten Grinsen mit. Ihre Haare sind entweder vergilbt oder ge-färbt, aber auf jeden Fall gelb, ihre Haut gegerbt von der Höhensonne aus der Steckdose. Als man zaghaft zurückstoßen will, bricht sie in Gelächter aus und fährt den Ellbogen aus. »Heja BVB«, brüllt sie. »Ich heiß’ Katha!« Hallo Katha.

16:01Block 11, Reihe 31: Kevin Großkreutz erhöht auf 2:0. Er ist ein Sohn der Süd-tribüne. Einer, der es vom kalten Beton auf den heiligen Rasen geschafft hat. Vor nicht einmal vier Jahren hat er noch selbst hier gestanden und gehüpft, ge-brüllt, gesungen. Jetzt steht er auf der anderen Seite und sorgt für den nächsten Gerstensaftorgasmus. Ein modernes

Messner, Buhl, Bonatti – die großen Bergsteiger haben die Welt bereits mehr-fach von ganz oben gesehen. Wagemutig kämpften sie sich durch vereiste Steil-wände und unwegsame Achttausender hinauf. Doch einen Aufstieg ließen sie alle aus: die gelbe Wand im Westfalen-stadion zu Dortmund. Und wer schon einmal vor der menschenleeren Südtri-büne stehen durfte, der ahnt, warum die alpinen Heroen dieses Ungetüm stets ge-mieden haben. Denn der bloße Anblick der scheinbar endlosen Stahlbetonkon-struktion, dieser knapp 6.900 Quadrat-meter graue Bedrohung, lässt einem den Atem stocken. Man ahnt, dass hier schon bald knapp 25.000 Menschen zu-sammenkommen, um ihre 90-minütige Party durchzuziehen – ohne Rücksicht auf Verluste. Die Versuchsanordnung ist so einfach wie waghalsig: Der Autor will die Südtribüne während eines Fußball-spiels besteigen. Startpunkt ganz unten: Reihe 1, Block 10. Das Ziel liegt ganz oben: Block 84, Reihe 140. Hilfsmittel: keine. Auf Sherpas wurde bewusst ver-zichtet, es heißt, die »Süd« sei ein Aben-teuer, dass man alleine erfahren muss. Auch das Sauerstoffgerät schaffte es nicht durch den Security-Check. Die äußeren Bedingungen sind perfekt. Die Tempera-tur liegt knapp über dem Gefrierpunkt, geringe Luftfeuchtigkeit, blauer Him-mel, leichter Wind von Nordwest. Auf

Logbuch28.01.2012 13:00

Page 15: FussballWunderBauten

2 9

D O R T M U N D : W E S T FA L E N S TA D I O N

Page 16: FussballWunderBauten

3 0

C H A M P I O N S L E A G U E

G R U N D R I S S

S C H N I TT

19

18

Buffet

1235

Umkleide

TV

TVTV

TVTV

TV TV

TVTV

TVTV

E 2

E 3

E 4

E 5

E 1

E 6

E 7

WC

FAN-SHOP

GASTRONOMIE

GASTRONOMIE

POLIZEISTATION

13 STG.

15,96/30

13 STG.16/30

13 STG.16/30

BESTAND E2

16/30 BETON-WANDSCHEIBE

12 STG.

KAMERA-12 STG. PLATTFORM

15,96/30104.16

107.74

105.94

103.39

105.94

103.39

OK 123.75

122.57

118.41

114.25

110.09

112.15

118.63

114.25

124.57

126.73

133.75

106.48OK EINBAUTEN107.73

104.23

109.99

112.17

100.34

108.17

104.13

106.2548

OK PFLASTER

106.86

18

20

21

22

23

2425

26

27

28

29

30

31

32

33

19

34

35

36

37

1

38

39

40

41

42

43

44

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

COUNTER

VORHANDENE NEBENRÄUME

E 2

9

14

15

16

17

18

19

20

21

E 4

E 5

2

3

4

5

6

7

8

1

22

23

24

25

26

27

10

11

12

13

E 6

COUNTER

E 1

COUNTER

13 STG15.58/30

7 STG15.79/30

14 STG16/30

14 STG16/30

107.74

105.94

104.16

105.94

103.39103.39

104.25

114.825

119.305

100.2099.77

121.33

123.465

115.93

129.97

99.37

104.21-104.22

102.01

PARKEBENE

ZBV

128.25

KAMERAPLATTFORM

97.15

Nord / Süd

Page 17: FussballWunderBauten

3 1

Fußballmärchen. Die nächste Ladung Bier setzt zum Landeanflug an. Längst alles egal, längst ist man Mikrobestand-teil der gelben Wand, aufgesaugt von je-ner gelbschwarzen Masse, die den Boden zum Beben, die Luft zum Erzittern, die Tribüne zum Leben und den Kreislauf bis an den Rande der Belastbarkeit bringt. Dieses Monster treibt jedem den Schweiß auf die Stirn. Mittlerweile wird nicht einmal mehr der bemitleidenswerte Geg-ner ausgepfiffen. Er ist allenfalls Statist in diesem Spektakel. Oder ehrfürchtiger Zuschauer. Kommt ganz auf den Blick-winkel an.

16:08Block 12, Reihe 48: Willkommen im Epizentrum der Borussia-Liebe, der Wiege der Dortmunder Fankultur. Hier in Block 12 und 13 schlägt seit jeher der Puls der Südtribüne. Schlachtrufe und Gesänge finden hier ihren Startpunkt, peitschen ans Stadiondach und kommen mit doppelter Wucht zurück. Wellenför-mig schwappt der Support auf die um-liegenden Blöcke, ergreift irgendwann das gesamte Stadion. Für 90 Minuten scheint die Süd den Menschen die Le-benskraft aus den Körpern zu saugen, sie pumpt sie in den Verein. Ein junger Mann lässt sich mit ausgebreiteten Ar-men nach hinten fallen. Er fällt in ein Meer aus Händen. Sein Grinsen wandert zum Stadiondach. Da oben muss er wohnen, der Fußballgott.

16:16Block 13, Reihe 62: Halbzeit. Pause. Durchatmen. Zeit für eine Stärkung. Am Wurststand stehen zwei rothaarige Kerle in Celtic-Glasgow-Trikots. Garry und Mark sind extra aus Schottland an-gereist. Billigflug, 49 Euro, heute Abend geht es zurück. Wie sie da stehen mit roten Wangen und glänzenden Augen, erinnern sie an Kleinkinder im Spiel-zeugparadies. Man sieht ihnen an, dass sie diesen Ausflug ins Ruhrgebiet nie-mals vergessen werden. Doch in diesem Moment fehlen 2 Euro für die Pausen-wurst. Eine unbekannte Hand reicht ihre Bezahlkarte rüber. Hier teilt man

Tabak, Schal und notfalls wahrscheinlich auch das Sparbuch – das ist Ehrensache. Im Hintergrund wankt ein älterer Herr im BVB-Bademantel in Richtung Toi-lette. »BVB is fucking crazy«, sagt Mark und beißt in seine Currywurst.

16:30Block 82, Reihe 85: Anpfiff zu Hälfte zwei. Willkommen auf dem jüngsten Teil der Süd. Der obere Ring der Steh-tribüne wurde im Jahr 2000 aufgesetzt und erhöhte die Kapazität auf sagenhafte 24.454 Plätze. Hier kommt der Support von Block 12/13 mit voller Wucht an und trifft auf fruchtbare Kehlen. Zünd-stufe zwei. Hier erahnt man auch erst-mals, wie beschwerlich der zweite Teil des Aufstieg werden wird. Die Gänge werden schmaler, jede Reihe ist mit einem Wellenbrecher geschützt, die Tribüne neigt sich hier bis zu 37 Grad. Wie auf einer Skisprungschanze. Ist das schon Angstschweiß oder noch Bier?

16:45Block 83, Reihe 91: Shinji Kagawa er-höht auf 3:0. Der endlose Steilhang aus Fahnen, Doppelhaltern, Schals und Pils-bechern wogt, wankt und bebt erneut. Der bloße Anblick dieser Euphorieexplo-sion setzt Endorphine frei, vor denen sich niemand schützen kann. Die Hor-mone tanzen Rock’n’Roll.

16:57Block 83, Reihe 103: Werner hat ein paar kleine Freudentränen in den Augen. So einen BVB hat er schon sehr lange nicht mehr erlebt. Dabei geht er seit den achtziger Jahren ins Westfalenstadion, immer auf der Süd. Darauf erst einmal eine Gute-Laune-Zigarette. Seine Zipfel-mütze erinnert an die grellen Champi-ons-League-Zeiten, jene Jahre, in denen sich der BVB seinen Erfolg auf Pump finanzierte. Ein System, dass den Klub bis an den Rande des Kollaps brachte.

»Da war hier eine Stimmung wie auffe Beerdigung von Omma«, sagt er. Unter dem selbstgestrickten Pulli in Hummel-optik blitzt eine Bauchtasche hervor. Ein Griff, darauf erstmal eine Nostalgie-Zigarette.

17:09Block 84, Reihe 124: Auf den letzten Metern wird es noch einmal eng. Hier oben haben es die Menschen nicht so gern, wenn man kurz vor dem Abpfiff das Drängeln anfängt. Der faire Einsatz von Ellbogen, entschuldigende Worte und ein euphorisches Zuprosten schüt-zen vor allzu großen Wutausbrüchen. Die Sicht auf den Gipfel ist durch eine Treppe leicht verbaut. Das, was unten auf dem Rasen passiert, ist sowieso längst Nebensache. Was zählt, ist das Projekt.

17:12Block 84, Reihe 140: Mit durchnässter Jacke, Ketchup-Flecken auf der Hose, drei Pils intus und leuchtenden Augen ist das Ziel erreicht. 125 Stufen, 40 Hö-henmeter und eine Wegstrecke von 121 Metern, die Besteigung der Süd ist gelungen. Ein Kraftakt. Die Erkenntnis: Hier auf der gelben Wand liegen Leiden-schaft und Drama, Liebe und Leiden al-lenfalls Millimeter voneinander entfernt. 25.000 Menschen geben ihre Lebens- geschichte bei der Security ab und ver-schmelzen zu einer gigantischen Einheit in Schwarz-Gelb. So etwas wie die Süd-tribüne gibt es auf der ganzen Welt kein zweites Mal. Und wenn man tief in sich reinhorcht, hört man eine innere Stim-me sagen: »Lass uns bitte nie wieder ge-hen!« Ja, die gelbe Wand ist wohl die beste Tribüne der Fußball-Welt. Dieses Geständnis ist besonders schmerzhaft, denn der Autor dieser Zeilen ist Anhän-ger des FC Schalke 04.

D O R T M U N D : S I G N A L I D U N A PA R K

W E ST FA L E N STA D I O N S I G N A L I D U N A

PA R K

Ort:Dortmund

Verein:Borussia Dortmund

Architektur:Hochbauamt Dortmund

Eröffnung:1974

Letzte Renovierung:2005

Kapazität:80.720

Sitzplätze:53.569

Stehplätze: 27.023

Prominente Besucher:Dietmar Bär,

Marius Müller-Westernhagen, Joachim Król

Halbzeitsnack:Currywurst

Page 18: FussballWunderBauten
Page 19: FussballWunderBauten

3 3

M A D R I D : B E R N A B É U

EINAUSDRUCKVONMACHT

Als Günter Netzer 1973 zu Real Madrid wechsel-te, klagte Berti Vogts: »Die Gladbacher Fohlen sind nicht mehr!« Im legendären Estadio Santiago Bernabéu wurde das Wildpferd Netzer zum Nibelungen-König. Ein Gespräch über Wikinger und brechende Torpfosten

Interview: Alex Raack

Page 20: FussballWunderBauten

3 4

C H A M P I O N S L E A G U E

»Wenn den Zu-schauern etwas nicht gepasst hat, dann war es totenstill in diesem riesigen Stadion. Das war fast noch schlim-mer als Buhrufe und Pfiffe.«

Günter Netzer

Page 21: FussballWunderBauten

3 5

M A D R I D : B E R N A B É U

Das Bernabéu liegt direkt am Paseo de la Castellana, Madrids wichtigster Haupt-

verkehrsachse.

Page 22: FussballWunderBauten
Page 23: FussballWunderBauten

3 7

M A D R I D : B E R N A B É U

links

Der Torfall von Madrid: Am 1. April 1998 brach kurz vor Anpfiff der Partie zwischen Real Madrid und Borussia Dortmund ein Tor zusam-men. Das Spiel begann mit

76 Minuten Verspätung.

oben

Seit 2007 gehört das Bernabéu zu den UEFA- Elitestadien. Der Verein

nennt sein Heim bescheiden das »einzige Neun-Sterne-

Stadion der Welt«.

Page 24: FussballWunderBauten

3 8

von Jorge Valdano, dem ehemaligen Generaldirektor von Real Madrid, gibt es ein schönes Zitat: »Das Estadio San-tiago Bernabéu hat auf mich dieselbe Wirkung wie das Meer – mir kommt es nie klein vor, immer monumental. Beide Orte atmen Größe.« Stimmen Sie ihm zu?Günter Netzer: So schön wie Jorge kann ich mich gar nicht ausdrücken. Für mich war das Bernabéu immer der sicht-bare Ausdruck der Größe und Macht von Real Madrid. Kein Verein auf die-sem Planeten versprüht einen ähnlichen Mythos der Größe, und dieses Stadion ist die eindrucksvolle Visitenkarte. Nach dem Aztekenstadion in Mexiko-Stadt ist das Santiago Bernabéu für mich das be-eindruckendste Stadion der Welt.

Sie wechselten 1973 von Borussia Mönchengladbach nach Madrid. Eine große Umstellung?G N: Auf jeden Fall. Mein Arbeitsplatz in all den Jahren zuvor war der kusche-lige Bökelberg und nun durfte ich vor 125.000 Zuschauern in diesem giganti-schen Gebilde spielen. Das waren neue Maßstäbe der Aufmerksamkeit, an die ich mich erst gewöhnen musste.

Sie sagen »Gebilde« – war dieses Stadi-on für Sie als Kunstliebhaber auch ein architektonischer Genuss?G N: Nein, das nicht. Es war einfach ein monströser Bau, drei steile Ränge über-einander, einzig dafür gebaut, so viele Menschen wie möglich zu schlucken. Mit Kunst hatte das nichts zu tun. Dafür waren wir Spieler zuständig.

Hat Sie die gewaltige Kulisse also zunächst eingeschüchtert?G N: Nein. Gegen diese Ausrede wider-setze ich mich schon seit Jahrzehnten: Mir kann kein Spitzenfußballer der Welt erzählen, dass die Atmosphäre im Stadi-on seine Leistung beeinflusst. Mich hat

das jedenfalls nie gestört. Ob vor 30.000 am Bökelberg oder vor 120.000 im San-tiago Bernabéu.

Die Superstars der Gegenwart werden bei ihrer Begrüßung in Madrid ver-lässlich von mehreren zehntausend Zuschauern erwartet. Wie war das bei Ihnen?G N: Vicente del Bosque, der ehemalige Real-Trainer, hat mir mal erzählt, was ihm durch den Kopf ging, als 2001 Neu-zugang Zinedine Zidane von vielen tau-send Fans begrüßt wurde: »Genau wie bei Netzer!« Als ich kurz vor der Saison 1973/74 gemeinsam mit meinen neuen Mitspielern ins Stadion spazierte, stan-den auf den Tribünen 25.000 Menschen und applaudierten. Niemand hatte mit diesem Ansturm gerechnet, die Leute waren alle aus eigenem Antrieb gekom-men, um mich zu sehen.

Das muss Ihnen doch Angst gemacht haben?G N: Von wegen! Ich nahm das ganz cool zur Kenntnis und winkte so lässig wie möglich ins weite Rund. Ich dachte, das sei nun mal so üblich bei einem gro-ßen Klub wie Real Madrid. Dabei hätte ich nur Vereinslegende Ferenc Puskas ins Gesicht schauen müssen. Der stand ne-ben mir und bekam den Mund nicht mehr zu. So etwas hatte selbst der Major (Puskas’ Spitzname, d. Red.) noch nicht gesehen.

Wirkliche Stimmungskanonen sollen die Fans aber nicht gewesen sein. Von Puskas stammt der Satz: »Wenn sie (die Zuschauer) nicht pfeifen, haben sie den Mund voll.« War es wirklich so schlimm?G N: Ich mache es nicht gerne, aber da muss ich Puskas widersprechen. Gepfif-fen wurde im Bernabéu nicht. Dafür aber geschwiegen. Wenn den Zuschau-ern etwas nicht gepasst hat, dann war es

totenstill in diesem riesigen Stadion. Das war fast noch schlimmer als Buhrufe und Pfiffe.

Bis heute gelten die Fans von Real Madrid als sehr verwöhnt. War das auch damals so?G N: Absolut. Und daran ist die Genera-tion um Puskas und Alfredo di Stefano schuld! Die haben in den glorreichen Zeiten der fünfziger und sechziger Jahre so unglaublich erfolgreichen Fußball ge-spielt, dass die Fans sich seither nur noch mit dem Besten zufriedengeben. Das ist der Anspruch, wenn du das Santiago Bernabéu zum Jubeln bringen willst: Fußball auf Weltklasse-Niveau. Alles, was darunter ist, wird in diesem Stadion schlichtweg ignoriert.

Wie erging es Ihnen dann in Ihrer ersten Saison, als Real Madrid alles andere als königlich spielte?G N: Ach, eine furchtbare Saison! Wir waren zeitweise sogar in Abstiegsgefahr und ich spielte die meiste Zeit ganz grässlichen Fußball. Ich kann mich noch gut an mein erstes Spiel erinnern. Ich verschoss einen Elfmeter.

Und das Stadion machte Sie fertig?G N: Im Gegenteil. Sie applaudierten mir und munterten mich auf. Am Bö-kelberg hätten sie sich wahrscheinlich die Finger wund gepfiffen.

Was ist Ihnen – außer den Fans – noch im Gedächtnis geblieben?G N: Der Rasen. Ein unglaublich schö-ner Teppich, solch eine Qualität kannte ich sonst nur von Golfplätzen. Für einen Techniker wie mich war das natürlich die ideale Arbeitsfläche. Auswärts setzten sie über Nacht ihr eigenes Spielfeld unter Wasser, damit ihre minderbemittelten Fußballer auch mal eine Chance hatten. Nicht so im Santiago Bernabéu – der Rasen war immer ausreichend feucht, weich und kurz geschnitten. Perfekt!

Als Sie 1973 nach Madrid kamen, herrschte in Spanien noch immer die Diktatur von General Franco, dessen erklärter Lieblingsverein Real Madrid hieß. Wie präsent war Franco in diesen Jahren?G N: Ich habe ihn nicht einmal im Sta-dion gesehen, er existierte zu dieser Zeit eigentlich schon gar nicht mehr für Real. Als ich 1976 Madrid verließ, um bei den Grasshoppers Zürich meine Karriere zu beenden, war Franco schon Geschichte. Er starb 1975. Auch vom rechtsextremen

Einfluss, unter dem ein Teil der Real- Anhänger ja bis heute steht, habe ich damals nichts gespürt.

Hatten Sie eigentlich einen Spitzna-men während Ihrer Zeit in Spanien?G N: Ich hatte viele. Sie nannten mich abwechselnd »El Rubio«, den Blonden, und »Nibelungo«, ein Name, der mir natürlich prächtig gefiel. Und für all die deutschen Spieler hatten die Spanier so-wieso einen universalen Begriff: »Los Vikingos«, die Wikinger.

Gemeinsam mit Ihrem Mitspieler José Martínez Sánchez, genannt »Pirri«, haben Sie in den folgenden beiden Spielzeiten die Massen begeistert, wur-den zweimal Meister und einmal Po-kalsieger. Publikumsliebling »Pirri« soll Ihnen, dem »Nibelungo«, nach schönen Pässen sogar regelmäßig Kusshändchen zugeworfen haben.G N: (lacht) Der Pirri? (lacht immer noch) Kusshändchen? Wir waren zwar gut befreundet und haben uns auf dem Platz blind verstanden. Aber zu solchen Zärtlichkeiten ist es dann doch nie ge-kommen.

1998 erlangte das Estadio Santiago Bernabéu noch einmal Weltruhm, als beim Champions-League-Spiel zwi-schen Real Madrid und Borussia Dort-mund der Pfosten brach. Waren Sie im Stadion?G N: Nein, ich saß zu Hause vor dem Fernseher, als dieses Spektakel begann. Auf dem Rasen lief mein armer Freund José Luis Serrano (damals Geschäftsfüh-rer von Real Madrid, d. Red.) auf und ab und wusste nicht weiter. Während ich dem wunderbaren Dialog zwischen Mar-cel Reif und Günther Jauch lauschte, wartete ich ab, was passieren würde. Ich wusste ja, dass die Ersatztore ganz weit entfernt standen, auf der Ciudad Depor-tiva, Reals Trainingsgelände! Wie die Madrilenen es dann schafften, die riesi-gen Tore durch diesen klitzekleinen Spie-lertunnel zu bugsieren, ist mir bis heute ein Rätsel. Eine gigantische Leistung! Vielleicht sollten sie dem Platzwart mal ein Denkmal setzen.

C H A M P I O N S L E A G U E

GünterNetzer,

Page 25: FussballWunderBauten

3 9

M A D R I D : B E R N A B É U

GünterNetzer

ist ehemaliger Fußball-Nationalspieler, TV-Ex-perte und Lebemann. Der 1944 in Mönchen-gladbach geborene Net-zer verbrachte lange Jahre seiner Karriere bei Borussia Mönchen-gladbach und war dort die zentrale Figur der legendären »Fohlen-Elf«, die in den sieb-ziger Jahren den deut-schen Fußball revoluti-onierte und zwei Meis-tertitel und einen Pokalsieg errang. 1973 wechselte der Mann mit den markanten blonden Haaren zu Real Madrid und wurde endgültig zum Weltstar. 1972 wurde er mit der deutschen National-mannschaft Europa-meister, 1974 Welt-meister. Heute arbeitet Netzer unter anderem für das Fußball-Radio 90elf. Seine Mönchen-gladbacher Diskothek »Lovers Lane«, die er in den siebziger Jahren betrieb, ist zum Bedau-ern vieler Fans heute geschlossen.

rechts

Die Geburt der Galak-tischen: Zwischen 1955

und 1960 holte Real Madrid fünf Mal in

Folge den Europapokal der Landesmeister.

Page 26: FussballWunderBauten

4 0

C H A M P I O N S L E A G U E

E STA D I OS A N T I A G O B E R N A B É U

Ort:Madrid

Verein: Real Madrid

Architekt:Luis Alemany Soler u.a.

Eröffnung:1947

Umbau:1982

Letzte Renovierung:2000

Kapazität:80.925

Sitzplätze:80.925

Prominente Besucher:Antonio Banderas,

Penelope Cruz, Usain Bolt, Rafael Nadal

Halbzeitsnack:Piñas

rechts

Jorge Valdano prägte den Begriff des »miedo esceni-

co«, jenes »Lampenfiebers«, das Spieler ergreift, wenn

sie die steilen Stadionränge hinaufblicken.

ganz rechts

Landesmeister-Finale 1980. 2011 beschloss Real, das Stadion umzugestalten.

Page 27: FussballWunderBauten
Page 28: FussballWunderBauten

4 2

C H A M P I O N S L E A G U E

DAS IST LIVERPOOL, DAS IST ANFIELDAls junger Punk wurde Campino in deutschen Stadien häufig mit ausge-strecktem rechtem Arm begrüßt. Also suchte der Sänger der Toten Hosen sich eine Ersatzheimat – und fand sie an der Anfield Road, dem Geburts- ort der Fankultur.

Interview: Andreas Bock

Page 29: FussballWunderBauten
Page 30: FussballWunderBauten
Page 31: FussballWunderBauten

4 5

L I V E R P O O L : A N F I E L D

Campino

bürgerlich Andreas Frege, ist Sänger der Punkrockband »Die Toten Hosen«. Er wuchs in Düsseldorf als Sohn eines Richters und einer Lehrerin auf. Durch seine englische Mutter kam er recht früh in Kontakt mit der britischen Musik- und Fußballkultur. Gele-gentlich taucht das Thema Fußball in den Liedern der Toten Ho-sen auf, so zum Beispiel im Song »Bayern«. Der Hit »Hier kommt Alex« war eigentlich dem Protagonisten aus dem Film »Clockwork Orange« gewidmet. Als Aleksandar Ristic zu Fortuna Düsseldorf kam, interpretierten ihn die Fans allerdings als Hommage auf den bosnischen Trainer. Campino ist Fan von Fortuna Düsseldorf und dem FC Liverpool.

serzeilen schlängelt, diese ganze Back-steinarchitektur, Häuser, von deren Fenstern aus man Steine aufs Spielfeld schmeißen könnte. Und dann kommen sie aus der Kabine und sehen dieses Schild: »This is Anfield!« Ja, das ist An-field! Ein historischer Ort. Liverpools Spieler schlagen vor dem Einlaufen im-mer einmal mit der Hand gegen das Schild, während ihnen von draußen der Chant »You’ll never walk alone« entge-genschallt. Das ist doch brillant!

Wie sind Sie eigentlich zum FC Liver-pool gekommen?C: Meine Mutter war Engländerin und bei uns zu Hause lief ständig der Radio-sender BFBS. So kam auch ich recht früh mit englischem Fußball in Kon-takt. Bald klebte ich jeden Samstag vor dem Radio und hörte mir die Spiele der Ersten Division an. Sonntags bin ich dann zu den großen Zeitungsläden am Düsseldorfer Hauptbahnhof gefahren und habe mir dort den Daily Mirror oder den Observer gekauft. Damals habe ich die Berichte und Fotos ausgeschnit-ten und in ein Album geklebt. Liverpool hatte ich zu meinem Lieblingsverein auserkoren.

Ihre Mutter und zwei Geschwister stammen aus Burnley ...C: ... andere Verwandte lebten in Wol-verhampton. Seltsam, nicht wahr? Es gab auch in Düsseldorf keinen Freund, der meine Leidenschaft für die Reds teil-te. Mich hatte niemand auf diesen Klub sensibilisiert. Das war meine eigene Sache, meine Welt, meine Liebe.

Anfangs war es eine Fernbeziehung. Frustrierte das nicht?C: Nein, ich war acht Jahre alt und da war eine Stadt wie Dortmund genauso weit weg. 1973 änderte sich das. Die Reds gewannen das Hinspiel des UEFA-Cup-Finals gegen Borussia Mönchen-gladbach mit 3:0, Kevin Keegan traf zweimal. Am nächsten Tag sah ich sein Foto auf der Titelseite der Rheinischen Post. Die Mighty Mouse schwebte durch den Strafraum und nickte ein, darunter stand der Satz: »Keegan trifft wie ein fliegender Fisch.« Das Rückspiel fand in Düsseldorf statt – und mit einem Mal war der FC Liverpool ganz nah.

Warum konnten Sie sich anfangs nicht für Fortuna Düsseldorf begeistern?C: Mit 13 war ich ein Punk und lief of-fen so rum. Deutsche Fußballfans hat-ten damals ein sehr ablehnendes Ver-

hältnis zu linken Subkulturen. Die mischten oft den Ratinger Hof auf, später dann das Domino, wo ich mich gerne aufhielt. Die Schläger vom HSV, die Borussenfront, die Hertha-Frösche und auch die Hools von Fortuna. Ich hatte das Gefühl, ich gehöre nicht zum deutschen Fußball. Ich gehörte nach England.

Wann haben Sie denn Ihr erstes Spiel an der Anfield Road gesehen? C: Bevor ich mein erstes Spiel dort sah, war ich einige Male an spielfreien Tagen in Liverpool, einfach, um die Stimmung der Stadt aufzusaugen. Mit 17 bin ich schließlich von Wolverhampton zu ei-nem Spiel gefahren. Alleine, mit öffent-lichen Verkehrsmitteln. Es war ein un-glaubliches Chaos auf den Straßen und ich kam erst zur 50. Minute am Stadion an. Die Dame am Kassenhäuschen sag-te: »Pretty late, aren’t you?« Dann führte sie mich um das halbe Stadion und be-gleitete mich zu meinem Platz. Ich war ziemlich perplex, denn alles fühlte sich so familiär an, wie bei einem Vorstadt-klub.

Ist das Stadion auch deswegen so ein besonderer Ort für Sie geblieben, weil es trotz der Triumphe des FC Liver-pool eine gewisse Wärme ausstrahlt?C: Der FC Liverpool ist einer der traditi-onsreichsten und erfolgreichsten Vereine in Europa. Doch sein Zuhause ist nach wie vor ein kleines Kästchen. Manchmal scheint es, als würden sich dort alle Fans untereinander kennen. Hier findet man nichts Arrogantes, nichts Neureiches, die Leute können sich hier also gar nicht groß aufspielen, denn sie wissen, der Star ist und bleibt der Verein.

Der FC Liverpool hat 18 mal die eng-lische Meisterschaft gewonnen, 3 mal den UEFA-Cup und 5 mal den Lan-desmeisterpokal. Irgendwo muss man doch Prunk sehen? C: Natürlich gibt es einen Pokalraum. Trotzdem wird damit nicht groß angege-ben. Schon aufgrund der Enge ist das gar nicht möglich. In den Katakomben ist alles im englischen Stil gehalten, es liegt Teppich aus; es gibt viele gemütliche Räume, große und kleine Sessel, und überall an den Wänden eingerahmte, alte, historische Zeitungsartikel. Ein paar Wände weiter befinden sich die Kabinen der Mannschaften. Es ist alles sehr nah beieinander. Man kommt sich ein biss-chen vor wie in einem Wohnzimmer. Geborgen, sicher, beisammen.

Sie bezeichnen das Stadion an der An-field Road als Ihre Kirche. In einer Kirche sucht man eigentlich Ruhe. Campino: An spielfreien Tagen. Wäh-rend der Messe ist die Kirche aber voll, es gibt Gesänge und die Besucher stehen beisammen, im Gefühl, etwas Großem beizuwohnen.

So wie beim Fußball?C: Wenn ich früher einen neuen Punk-song hörte, bekam ich oftmals Schauer über den Rücken. Da war dieses Gefühl, etwas Fantastisches und Neues entdeckt zu haben. Das hat im Laufe der Zeit ab-genommen. In Liverpool ist dieses Ge-fühl hingegen für mich über all die Jahre geblieben. Schon die Ankunft an der Anfield Road: Gänsehaut! Ich bin gerne zwei Stunden vor Spielbeginn da.

Was ist denn der Unterschied zu deutschen Stadien?C: Du springst vom Bus, gehst vorbei an den Fish-and-Chips-Buden, dem legen-dären Albert Pub, den Polizisten auf ih-ren Pferden, den unzähligen Schal- und Fanzineverkäufern, am Hillsborough-Memorial und der Bill-Shankly-Statue. Dann stehst du unter dem Shankly-Gate mit dem Slogan »You’ll never walk alone« im Torbogen. Diese vielen Schnapp-schüsse der Fans aus aller Welt und die-ses Gewusel sind unvergleichlich. Das ist Liverpool. Das ist Anfield.

Der legendäre Liverpool-Trainer Bill Shankly ließ einst ein Schild mit ge-nau diesen Worten im Spielertunnel anbringen: »This is Anfield.« Eigent-lich überflüssig, oder?C: Ähnlich überflüssig wie die Ansage eines Bono, der bei einem Konzert die Zuschauer mit »Hi, we are U2« begrüßt. Ich verstehe das als Psychotrick. Jeder Spieler weiß natürlich, dass er sich im Anfield-Stadion befindet.

Soll dieses Schild auch die Besonder-heit dieser Stätte und des Moments verdeutlichen?C: Absolut. Den Mannschaften weht ja schon auf dem Weg zum Stadion die Tradition des FC Liverpool entgegen. Wenn sich ihr Bus durch die engen Häu-

Campino,

Page 32: FussballWunderBauten

4 6

Während draußen die Straßen verwai-sen? Der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung sagte einmal: »Liverpool is the pool of life.«C: Ein schöner Satz. Liverpool zeigte sich mir bei meinen ersten Besuchen als hartes Pflaster. Kein Haus ohne Alarm-anlage. Doch die Menschen haben eine unwahrscheinlich herzliche Art, als wür-den sie versuchen, das Elend der Stadt wegzulachen. Einmal wollte ich nach ei-nem Spiel zurück zum Hotel, doch ich hatte mich verlaufen. Also stieg ich in einen Bus und fragte nach dem Weg zu meiner Bleibe. Der Fahrer sagte: »You’re completely wrong, but never mind. Just sit down!« Nachdem er seine Linienfahrt beendet hatte, fuhr er mich als einzigen Fahrgast durch die halbe Stadt bis vor mein Hotel. Das fühlte sich an wie in einem frühen Beatles-Film.

Dennoch prägt dieses harte Pflaster die Umgebung der Anfield Road heute noch. Wird mit einem neuen Stadion alles besser, schöner? C: Es gibt seit über zehn Jahren Pläne, das Stadion entweder komplett umzu-bauen oder im angrenzenden Stanley Park ein neues zu bauen. Im Zuge dessen wurden viele Leute aus den Wohnungen geschmissen, es gibt nahe der Anfield Road ganze Straßenblocks, wo nur noch ein oder zwei Häuser bewohnt sind. Wenn dir in der Rockfield Road nachts kleine Gruppen von vermummten Ju-gendlichen in Trainingsanzügen entge-genkommen, ist das kein gutes Zeichen. Ob durch ein neues Stadion alles besser wird? Schwer zu sagen. Ich frage mich eher, ob ein neues Stadion überhaupt die Seele des Klubs transportieren kann.

Fans von Manchester United sagen, der einzige Ort, wo man in Liverpool nicht beklaut würde, sei das Hills- borough-Memorial vor dem Anfield Stadion.C: Fans von Manchester United reden viel Mist. Tatsächlich ist das Memorial eine Stelle, wo die Leute innehalten. Es wird täglich gepflegt, eine Kerze brennt ununterbrochen. Menschen aus aller Welt kommen an diesen Ort und lassen sich hier über die Stadionkatastrophe von 1989 aufklären ...

... und darüber, warum man in Liver-pool die Sun nicht kauft. C: In der ganzen Stadt prangen Aufkle-ber mit dem Appell »Don’t buy the Sun«. Die Zeitung gab den Fans die Schuld an der Hillsborough-Tragödie

und schrieb von Leichenfledderei. Nir-gendwo, nicht mal in einer Liverpooler Fish-and-Chips-Bude, würde die Sun zum Lesen ausliegen.

Wie hat sich die Fankultur an der Anfield Road in den vergangenen 30 Jahren verändert? C: Seit der Hillsborough-Katastrophe ist das Anfield-Stadion ein All-Seater. Na-türlich ist dadurch die Stimmung nicht mehr so wie früher, doch ich kann damit leben. Denn heute ist Fußball ein ge-samtgesellschaftliches Ereignis.

Wie war es denn bei Ihren frühen Besuchen? C: Fußball war damals eine sehr män-nerlastige Angelegenheit. Englische Fans besaßen ein unumstößliches Prügel-Image. Ich war 1990 beim WM-Halb- finale zwischen Deutschland und Eng-land. Das war keine gewöhnliche Rivali-tät, das war Krieg, bei dem es keine neu-tralen Beobachter gab. Natürlich hat der moderne Fußball absurde Preise und eine gediegenere Fankultur mit sich ge-bracht. Ich muss das auch nicht alles gut finden. Doch wenn es so weniger Ver-letzte und Tote gibt, kann ich diese Art Fußball auch ein Stück weit begrüßen.

Beim FC Arsenal monieren die Fans heute eine Atmosphäre wie im Opern-haus. Es gibt sogar ein Komitee aus Vereinsfunktionären, das sich mit dem Problem der schlechten Stimmung beschäftigt. Wie ist es denn an der Anfield Road? C: Der Kop hinter dem südwestlichen Tor ist nach wie vor der Inbegriff der Fankultur. Hier entstanden in den frü-hen sechziger Jahren die ersten Fan- gesänge weltweit überhaupt.

Als bei einem Nebelspiel ein Tor auf der anderen Seite fiel, sangen die Fans aus dem Kop: »Who scored the goal, who scored the goal?« Die Gegenseite antwortete: »Tony Hateley!«C: Es war auch aufregend, weil es rough war. Vor 1989 war es manchmal so eng im Kop, dass man nicht mal zur Toilette gehen konnte. Viele Fans pissten also in ihre Bierbecher und reichten die nach unten durch. Das gibt es heute nicht mehr. Auch der Kop besteht ausschließ-lich aus Sitzplätzen. Dennoch ist die Stimmung super, schließlich stehen die Fans im Kop auch heute noch ununter-brochen vor ihren Sitzen.

Heutzutage wird das Lied »You’ll never walk alone«, das in der Fußballwelt seinen Ursprung im Kop hat, in vielen anderen Stadien gesungen. Wie fühlt sich das für Sie an?C: In England würde das nicht passieren, es ist ein Liverpool-Chant und das weiß dort jeder. Ich habe aber kein Problem damit, dass das Lied in Dortmund oder beim FC St. Pauli gesungen wird. Ich nehme es als Kompliment für Liverpool und seine Fans, die diesen Chant seit über 50 Jahren von Generation zu Generation weitergeben.

Sehen sich die heutigen Liverpool-Fans denn immer noch in der Chant-Tradition der sechziger Jahre? C: Singen ist an der Anfield Road im-mens wichtig. Es wird nicht nur im Fan-block gesungen, sondern am Bierstand, an der Pissrinne, in den Bahnhöfen. Und das ganze Stadion singt in den Schluss-minuten »You’ll never walk alone« – ganz egal, wie es steht. Jeder Spieler wird mit einem eigenen Lied bedacht. Dabei nehmen die Fans ihre Stars auch gerne mal auf die Schippe. Der Text zum Song über Peter Crouch lautete etwa: »He's big, he's red, his feet stick out of bed.«

Woher rührt eigentlich die besondere Spielerverehrung beim FC Liverpool?C: Ein raues Leben, aber auch Schick-salsschläge wie Hillsborough und Heysel haben die Menschen in Liverpool sehr geprägt. Oft haben sie sich gefragt, war-um ein Fußballtrainer in Manchester zum Sir geadelt wird, während das Kö-nigshaus nach den Stadionkatastrophen für ihre Stadt kaum Anteilnahme bekun-dete. So entstand zwischen den Scousern ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl und eine »Wir gegen alle«-Haltung. Zu-gleich eine Treue zu ehemaligen Spielern, die sich mit der Stadt und dem Klub identifizieren konnten. Wenn Dietmar Hamann heute durch Liverpool läuft, schlägt ihm eine ähnliche Verehrung ent-gegen wie Paul McCartney.

Viele Vereine glauben, mit ihren Sta-dien eine Gleichheit der Besucher zu suggerieren. Wie ist es an der Anfield Road? Gibt es dort Hierarchien?C: Natürlich gibt es Plätze für Besserver-diener, es gibt VIP-Bereiche und Plätze für die normalen Gäste. Letztlich hat man aber durch die Gesänge viel eher das Gefühl, dass es in den 90 Minuten um eine Gemeinschaft geht. Denn hier feuern alle ihr Team an, vom Arbeiter bis zum Anwalt. Einige outen sich dabei als

Wochenendfans, wenn sie gerade mal den Text von »You’ll never walk alone« draufhaben, andere als Hardcore-Fans, wenn sie jeden Text von »The Fields Of Anfield Road« oder »Scouser Tommy« mitsingen. Doch letztendlich ist das egal. Es wird niemand schief angeguckt, wenn er Textschwächen hat.

Bei welchem Spiel war es denn am lautesten?C: Vielleicht beim Champions-League-Halbfinale 2005 gegen den FC Chelsea.

Das beste Spiel, das Sie je im Anfield gesehen haben?C: Da gab es mehrere. Aber dieses gehör-te auch dazu. Wir gewannen durch ein Tor von Luis Garcia und standen im Finale der Champions League. Ich saß beim Endspiel gegen den AC Mailand inmitten der Hardcore-Fans. Didi ver-senkte seinen Elfmeter mit gebrochenem Fuß. Wir flogen zurück nach Liverpool, wo die Hölle los war. Die Menschen sa-ßen auf den Dächern und jubelten. Die ganze Stadt in Rot. So in etwa muss die Ankunft der Beatles verlaufen sein, als sie einst von ihrer Amerika-Tour heim-kehrten.

Sie pflegen zu mehreren Spielern des FC Liverpool eine enge Freundschaft. Sami Hyypiä hat Sie einmal gefragt, ob die Toten Hosen bei seinem Ab-schiedsspiel in der Anfield Road auf-treten würden, wenn es dazu käme. Sie haben abgelehnt. Warum?C: Ich habe das nicht abgelehnt, sondern Sami angeboten, dass wir nach dem Spiel in einer Kneipe auftreten, wenn er dort weiterfeiert. Ich möchte meinen Job nicht in einer Kirche ausüben. Es wäre schlichtweg eine Nummer zu groß. Anfield ist ein heiliger Ort.

C H A M P I O N S L E A G U E

Page 33: FussballWunderBauten

4 7

L I V E R P O O L : A N F I E L D

rechts

Der Spielertunnel: Bevor die »Reds« das

Feld betreten, klopfen sie auf das Schild »This

is Anfield«.

links

Gerry (Marsden) machte mit seinen »Pacemakers« den Song »You’ll never

walk alone« zur Anfield-Hymne.

Mitte links

Einst bot das Anfield-Stadion mehr als 61.000 Zuschauern Platz. Heute hat es ein Fassungsvermö-

gen von rund 45.000.

unten rechts

Bill Shankly sagte einmal: »Manchmal habe ich das Gefühl, dass der Kop den

Ball ins Tor saugt.«

Page 34: FussballWunderBauten

4 8

C H A M P I O N S L E A G U E

links oben

Am Stadion befinden sich viele Pubs und Fish&Chips-Buden.

links unten

Der Kurven-Klassiker »You’ll never walk alo-ne« wurde in den Sech-zigern hier erfunden.

rechts oben

»The Kop« galt einst als lauteste Stehplatz-

tribüne Europas.

rechts unten

William »Bill« Shanky, der wohl

populärste aller Liverpool-Trainer.

rechte Seite

Früher soll es im Kop so eng gewesen sein, dass die Fans in Plas-tikbecher pinkelten.

Page 35: FussballWunderBauten
Page 36: FussballWunderBauten

5 0

Page 37: FussballWunderBauten

5 1

»Alles fühlt sich so familiär an ... Man kommt sich ein bisschen vor wie in einem Wohnzimmer - geborgen, sicher, beisammen.«

A N F I E L D

Ort:Liverpool

Verein: FC Liverpool

Architekt:Archibald Leitch

Eröffnung:1884

Letzte Renovierung:1994

Kapazität:45.362

Sitzplätze:45.362

Prominente Besucher:Campino, Dr. Dre

Halbzeitsnack:Meat Pie,

Sausage Rolls

Das Stadion liegt einge-bettet im trostlosen Stadtteil Anfield mit seinen zahlreichen Terraced Houses.

Campino

L I V E R P O O L : A N F I E L D

Page 38: FussballWunderBauten

E R S T E L I G A

MITTENDRIN UND NICHT DABEIÜber 30 Jahren war Renate Kressin bei jedem Heimspiel von Hertha BSC im Berliner Olympiastadion. Und doch hat sie in all der Zeit kaum ein Spiel gesehen. Denn als Chefkassiererin arbeitete sie jedes zweite Wochenende in den Katakomben des Stadions.

Text: Benjamin Kuhlhoff

Page 39: FussballWunderBauten

B E R L I N : O L Y M P I A S TA D I O N

Page 40: FussballWunderBauten

1 3 2

Zehn Minuten vor dem Anpfiff zuckt Re-nate Kressin kurz zusammen. Es ist, als empfange sie ein Signal. Sie dreht sich um. Sie muss jetzt gehen. Wieder ein-mal. So wie alle zwei Wochen. Seit über 30 Jahren. Es ist ihr Job.

Sie verlässt die Ostkurve, drückt zum Abschied noch einmal die umstehenden Kumpels. Die Jungen, die Alten, alle-samt in Kutten gehüllt, als sei es ihre zweite Haut. Hastig erhöht sie ihre Schrittfrequenz. Immer raus aus dem Stadion. So, als sei sie falsch gepolt. Denn Hunderte andere kommen ihr entgegen, so gehetzt wie man eben geht, wenn man sich auf ein Fußballstadion zu- bewegt. Wenn man bloß nichts verpas-sen möchte. Los, los. Auch Renate Kres-sin hat es eilig. Sie wird allerdings alles verpassen, mal wieder, denn sie muss wieder an die Arbeit. Die kleine dunkel-haarige Frau ist zwar seit über 30 Jahren bei jedem Heimspiel von Hertha BSC im Olympiastadion. Und doch hat sie in all den Jahren kaum ein Heimspiel gese-hen. Dabei ist Renate Kressin – rund um das Olympiastadion besser als Hertha-Renate bekannt – vermutlich der größte Fan der alten Dame. Aber sie ist haupt-beruflich eben auch noch die Chefkassie-rerin des Vereins, Neudeutsch: Ticket-managerin, das Mastermind der Ein-trittskarten sozusagen, letzte Prüfinstanz und gute Seele in einem.

Und deshalb sitzt sie pünktlich um 15:30 Uhr wieder in ihrem Keller vor dem Osttor und zählt Geld. Vom Spiel bekommt sie hier nur etwas mit, wenn die Ostkurve explodiert. Das kommt in diesen Tagen selten vor. Es ging der Her-tha schon einmal besser. Heute ist Han-nover 96 zu Gast. Selbst die Niedersach-sen sind mittlerweile zu groß für den Hauptstadtklub. Gerade jetzt könnte der Verein Fans wie Renate gebrauchen. 100 Prozent loyal, 100 Prozent leidensfähig. Doch das geht nicht. Ihr Job geht vor.

E R S T E L I G A

Renate Kressin

wurde 1947 in Berlin gebo-ren. Mit ihrem kleinen Bru-der ging sie erstmals zur Hertha und arbeitete schon bald als Mädchen für alles. Schließlich war sie über 30 Jahre Hauptkassiererin im Olympiastadion. Seit Juni 2012 ist sie in Rente und kann endlich auch mal ein Spiel ihrer Hertha sehen.

Das Stadion wurde 2006 vom Architektur-büro gmp umgebaut. Die blaue Tartanbahn war ein Wunsch von

Hertha BSC.

»Natürlich fühle ich mich hier ein bisschen zu Hause. Es ist das schönste Stadion der Welt.«

Renate Kressin

Page 41: FussballWunderBauten

1 3 3

Page 42: FussballWunderBauten

1 3 4

B L I N DT E X T

Page 43: FussballWunderBauten

1 3 5

O LY M P I A STA D I O NSpitzname:

Deutsches Wembley

Ort:Berlin

Verein: Hertha BSC

Architekt: Werner March

Eröffnung:1936

Letzte Renovierung:2000–2004

Kapazität:74.244

Sitzplätze:74.244

Prominente Besucher:Otto Schily,

Volker Schlöndorff,Christian Ulmen,Wolfgang Thierse,

Sabine Christiansen

Halbzeitsnack:Bratwurst

Über dem Olympiator, dem heutigen Haupt-

eingang an der Ostseite des Stadions, hängen die fünf olympischen Ringe. Sie erinnern an

die Olympischen Spiele 1936, für die das Sta-dion gebaut wurde.

Page 44: FussballWunderBauten
Page 45: FussballWunderBauten

6 3

M Ü N C H E N : A L L I A N Z A R E N A

DIE MAGIE DES RUNDEN IM RUNDEN

Mit der Münchner Allianz Arena schufen Herzog & de Meuron ein Fußballstadion neuen

Typs. Architektur und Fassadentechnologie verschaffen dem Bautypus Stadion eine bleibende Rolle im gesellschaftlichen

Formenkanon. Und guter Fußballwird auch darin gespielt. Eine

stadionphilosophischeBetrachtung

Text: Alexander Gutzmer

Page 46: FussballWunderBauten

rechts

Die Arena liegt in der Fröttmaninger Heide

im Norden Münchens.

Jacques Herzog (links)&

Pierre de Meuron (rechts)

Sie sind die Konzeptstars der momentanen Architekturszene. Die Architektur des von Jacques Herzog und Pierre de Meuron 1978 gegründeten Baseler Büros ist intellektuell und analytisch. Bekannt wurden Herzog & de Meuron durch die Umgestaltung der Bankside Powerstation zur Tate Modern in London. Das Pekinger Olympiastadion »Birds’ Nest« sorgte für Aufsehen.

C H A M P I O N S L E A G U E

6 4

Page 47: FussballWunderBauten
Page 48: FussballWunderBauten

6 8

s ist, man kann das schon so sagen, das ultimative Fußballstadion. Nicht sosehr wegen seiner Atmosphäre – die ist zwar gut, aber nicht unbedingt besser als in anderen funktionierenden Fußballstadi-en. Doch die Allianz Arena im Norden Münchens hat eine Eigenschaft von Sta-dien besser verstanden und konsequenter umgesetzt als die meisten, auch die meis-ten neuen Arenen: nämlich jene des Sta-dions als singuläres bauliches Objekt. Ein Stadion steht zunächst einmal für sich allein; seine inneren Prozesse sind immer präsenter als die Einbettung in die Funktionen der Stadt. Jeder Plan für einen Stadionneubau bietet daher die Chance, eine große, souveräne, auf präg-nante Weise einfache Form in die Land-schaft zu setzen. Genau das schafften Herzog & de Meuron mit der 2005 er-öffneten Allianz Arena.

Die nahezu runde Form dieser Fußball-schüssel und natürlich auch die in drei Farben schillernde Außenhaut su-chen in Ausdrucksstärke und einfacher Geste ihresgleichen. Dieses Stadion wirkt nicht wie eine amorphe, rein die-nende Struktur, sondern wie ein selbst-bewusstes Objekt. Es ist das Pendant zum Ball, jener radikal reduzierten Rundform, aus der der Fußball seine gesamte Dynamik zieht. Der Ball ist die kleinste Einheit des Fußballs, das Stadi-on die größte – und die Münchner Arena vielleicht deren konsequenteste Verkörperung.

Möglich wurde diese Konsequenz auch deshalb, weil städtebaulich die Aufgabe der Architekten in gewisser Hinsicht ein-fach war. Es gab nämlich kein nennens-wertes städtisches Umfeld. Das bestätigt auch Architekt Jacques Herzog: »Im Fall der Allianz Arena handelte es sich um ei-nen Nicht-Ort, eine städtebauliche Leer-stelle ohne wichtige Bezugspunkte. Es gab lediglich einen großen Müllberg mit einem Windrad und eine Autobahnkreu-zung.« Angesichts dieser Lage ist es nur konsequent, ein Stadion so formenstark

und zugleich so introspektiv zu bauen wie die Allianz Arena. Natürlich ist der Landschaftspark schön, den die Planer mit einer begrünten Esplanade über dem größten Parkhaus Europas realisierten. Dennoch: Das Stadion selbst muss sich nicht auf seine Umgebung beziehen und keine komplexen Interaktionen zwischen Stadion und etwaigen anderen Gebäu-den herstellen oder managen. Folgerich-tig gewährt die Arena keine besonderen Einblicke nach außen – und von außen lange keine Indizien ihrer inneren Struk-tur. Die je nach Fußballspiel in Rot (wenn der FC Bayern spielt), Blau (TSV 1860) oder Weiß (Nationalteam) schim-mernde Fassade aus luftgefüllten ETFE-Kissen eröffnet keine Blicke ins Innen-leben. Sie symbolisiert dieses vielmehr – wie ein Bildschirm, auf dem verhei-ßungsvolle, aber rätselhafte Filme ablaufen.

ichtig und architektonisch konsequent umgesetzt ist das Management der Emo-tionen des Besuchers. Den Architekten gelang es, das für Fußballfans typische, schrittweise Ansteigen der Herzfrequenz architektonisch zu begleiten. Jacques Herzog erklärt dazu: »Nicht nur im In-nenraum, auch auf der Promenade in Richtung der Eingänge setzen wir die Besucherströme geradezu gestalterisch ein: Die Menschen steigen auf Treppen aus dem Parkhaus auf eine imposante Oberfläche empor. Dort angekommen, vereinigen sie sich mit anderen Zuschau-erströmen und pilgern gemeinsam zu ihrem Ziel, dem Stadion.« Dort erreicht die Betriebstemperatur des Besuchers ihren Höhepunkt – wofür nicht zuletzt die bis heute vorbildlich steilen Ränge sorgen. Dieses Stadion erfüllt architek-tonisch alle Voraussetzungen, um sich in das zu verwandeln, was Fußballreporter ehrfürchtig einen »Hexenkessel« nennen. Grundvoraussetzung für das Aufheizen bis zum Siedepunkt beim Siegtor oder Abpfiff: Das Prinzip der Konkurrenz, das kaum irgendwo so in Reinform gelebt wird wie in einem Fußballstadion. Zwei

gegnerische Teams treffen hier aufeinan-der, mit dem einzigen Ziel, das je andere Team im Rahmen bestehender Regeln auseinanderzunehmen. Mal abstrakter, mal leider auch sehr konkret und regel-los gilt dieses Ziel auch für die Anhän-gerschaften.

Diese Gegnerschaften gilt es planerisch zu inszenieren, aber auch zu kanalisieren. Herzog: »Fußballstadien sind Kampfstät-ten zweier Teams mit den dazugehörigen Fangruppen, die in speziell gekennzeich-neten Sektoren das Spiel verfolgen. Die Zuschauer sitzen viel steiler, sie befinden sich damit noch näher am Kampfgesche-hen als im Leichtathletikstadion, das noch ganz in der antiken Tradition steht. Unsere Fußballstadien sind fast wie In-nenräume konzipiert, die zu eigentlichen Wahrnehmungsmaschinen werden.«

Doch Stadien wie die Allianz Arena sind nicht nur Wahrnehmungsmaschinen, sie sind auch gesellschaftliche Selbstfin-dungsmaschinen. Und dabei wirken ge-nau die erwähnten Gegnerschaften. Sta-dien, könnte man sagen, übersetzen das (zumindest in Marktwirtschaften) gesell-schaftliche Grundprinzip der Konkur-renz ins Fußballerische – und damit in eine nahezu volksreligiöse Region. Ge-nau hierin gewinnen sie ihre gesellschaft-liche Zentralität. Der Philosoph Peter Sloterdijk beschreibt diesen Vorgang so: »Die Spaltung eines Kollektivs in Sieger und Nicht-Sieger entwickelt sich zum zentralen Sakrament des modernen Er-eigniskults.«

Aber: Die Stadionerfahrung bleibt bei der Gegnerschaft nicht stehen. Denn, so Sloterdijk: Mit dem Sakrament im Stadi-on »wird die Einfühlung in den Sieger zu einer Hauptübung der sozialen Affektivi-tät erhoben«. Das heißt: Zwar steht am Beginn die Gegnerschaft. Doch am Ende hat, vermittelt durch die architektoni-sche Aura des Stadions, auch der Besieg-te Teil an der affektiven Aufgeladenheit des Sieges und des Siegers. Die Aura des Stadions wertet laut Sloterdijk alle auf.

Macht dies Stadien aber zu Zentralpunk-ten unserer spätmodernen Gesellschaf-ten? »Finden« wir uns in Stadien? Nicht wirklich. Am Ende ist das Stadion – je-des Stadion – soziologisch gesehen eher ein Kontrapunkt zu den Funktionswei-sen der Gesellschaft. Nicht nur, weil wir in ihm »mal so richtig die Sau rauslas-sen« können. Von seiner ganzen Grund-funktionsweise her bildet ein Stadion

unsere Zeit nicht ab, sondern bezieht eine Gegenposition zum gesellschaftli-chen Mainstream. In ihm findet all das statt, was im Normalfall nicht mehr stattfinden darf.

nd zwar nicht erst seit heute. Peter Slo-terdijk sieht revolutionäres Potenzial schon in den Vorläufern des im frühen 20. Jahrhundert einsetzenden Stadion-booms – dem Bayreuther Festspielhaus etwa oder dem Roten Platz in Moskau. Sie sind für ihn Orte, in denen eine dem gesellschaftlichen Megatrend der Dezen-tralisierung entgegenlaufende »Rezentra-lisierung« stattfindet. Wenn Gesellschaft sich atomisiert, bilden die neuen Ver-sammlungsorte einen Gegenpol.

Allerdings macht diese natürlich die fun-damentale gesellschaftliche Dezentrali-sierungstendenz der Moderne nicht komplett rückgängig. Zentralität wird in ihnen nur zeitweise erreicht. Sloterdijk drückt es so aus: »An solchen Orten wal-ten Agenten ihres Amtes, Zentralität zu simulieren.« Und zwar in der puren Kraft des Megaevents, aus dessen Anlass heute mehr denn je Massen in Stadien zusammenströmen.

Diese Simulation ist ein Kontrapunkt zur Dezentralitätsannahme, auf der un-sere gesamte Wirtschaft aufbaut und de-ren Wirkmacht durch das Internet noch einmal potenziert wurde. Vielleicht ge-nau deshalb zieht es uns in Stadien – zu Fußballspielen genau so wie zu Popkon-zerten, religiösen Kundgebungen, den Darbietungen von Comedians oder zu Kollektivtrauerfeiern (Stichwort Robert Enke). Vielleicht versuchen wir mit un-serem Besuch im Stadion ein Statement gegen die Dezentralität und die Virtuali-tät – eines, das uns mit knapp 70.000 anderen Menschen verbindet (genau 69.901 Besucher fasst die Allianz Arena). Dass unsere Nähe zu den vielen anderen simuliert ist, tut dieser Argumentation keinen Abbruch. Denn die entwickelten Emotionen sind echt.

E UW

C H A M P I O N S L E A G U E

Page 49: FussballWunderBauten

6 9

oben

Architektonische Chimäre: Das Stadion passt sich den Farben

der Heimmannschaften an. Weiß steht für

Länderspiele.

M Ü N C H E N : A L L I A N Z A R E N A

D E TA I LFA S S A D E

D A C H A U F S I C H T

Page 50: FussballWunderBauten

mit Rudi Assauer, Jacques Herzog, Hansi Müller, Marcel Reif und anderen

w w w. cA llw ey. d e

,!7ID7G6-hbjgja!ISBN 978-3-7667-1969-0

★ ★ ★

★ ★ ★

ARcHitektuR deR

eMotionen die FAszinAtion

FussbAll FunktionieRt nuR in koMbinAtion

Mit deM legendäRen oRt, deM stAdion, deM club,

den MenscHen.

die besten und schönsten Fußballstadien der welt und ihre einzig-

artigen geschichten

Fußballlegenden und ihre ganz

persönlichen Highlights aus den stadien

spannende interviews, packende Reportagen und amüsante selbstversuche

das zusammenspiel von Architektur und Fußball – erzählt von den Machern

der zeitschrift 11FReunde und des Architekturmagazins

baumeister

192 seiten Arenafeeling für jeden Architektur-

und Fußballfan