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Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

Date post: 08-Dec-2016
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2 Holomorphe Funktionen Die Untersuchung von holomorphen Funktionen, auch reguläre Funktionen genannt, bildet ein Kernstück der Funktionentheorie. Abschnitt 2.3.4 zeigt, dass eine Charakterisierung dieser Funk- tionen auf verschiedene Weise möglich ist. 2.1 Differenzierbarkeit im Komplexen, Holomorphie Wir benutzen die Differenzierbarkeit von komplexen Funktionen als Einstieg in die Funktionen- theorie und insbesondere zur Definition der holomorphen Funktionen. 2.1.1 Ableitungsbegriff, Holomorphie Der Ableitungsbegriff für reellwertige Funktionen f wurde in Burg/Haf/Wille [12]mit Hilfe des Differenzenquotienten f (x ) f (x 0 ) x x 0 durch Grenzübergang x x 0 erklärt. Analog hierzu gehen wir im komplexen Fall vor: Definition 2.1: (a) Die komplexwertige Funktion f sei auf einem Gebiet D C erklärt. Man sagt, f ist differenzierbar im Punkt z 0 D, wenn der Grenzwert lim zz 0 f (z ) f (z 0 ) z z 0 (2.1) existiert. Dieser Grenzwert ist hierbei im Sinne von Definition 1.13 zu verstehen. Man nennt diesen Grenzwert (erste) Ableitung oder Differentialquotient von f in z 0 und benutzt die Schreibweisen f (z 0 ), d dz f (z 0 ) oder d f dz (z 0 ). (b) f heißt differenzierbar im Gebiet D, falls f in jedem Punkt von D differenzier- bar ist. (c) f heißt stetig differenzierbar im Gebiet D, falls f in D differenzierbar und die Ableitung f in D stetig ist. K. Burg, H. Haf, F. Wille, A. Meister, Funktionentheorie, DOI 10.1007/978-3-8348-2340-3_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013
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Page 1: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2 Holomorphe Funktionen

Die Untersuchung von holomorphen Funktionen, auch reguläre Funktionen genannt, bildet einKernstück der Funktionentheorie. Abschnitt 2.3.4 zeigt, dass eine Charakterisierung dieser Funk-tionen auf verschiedene Weise möglich ist.

2.1 Differenzierbarkeit im Komplexen, Holomorphie

Wir benutzen die Differenzierbarkeit von komplexen Funktionen als Einstieg in die Funktionen-theorie und insbesondere zur Definition der holomorphen Funktionen.

2.1.1 Ableitungsbegriff, Holomorphie

Der Ableitungsbegriff für reellwertige Funktionen f wurde in Burg/Haf/Wille [12]mit Hilfe desDifferenzenquotienten

f (x)− f (x0)

x − x0

durch Grenzübergang x → x0 erklärt. Analog hierzu gehen wir im komplexen Fall vor:

Definition 2.1:

(a) Die komplexwertige Funktion f sei auf einem Gebiet D ⊂ C erklärt. Man sagt,f ist differenzierbar im Punkt z0 ∈ D, wenn der Grenzwert

limz→z0

f (z)− f (z0)

z − z0(2.1)

existiert. Dieser Grenzwert ist hierbei im Sinne von Definition 1.13 zu verstehen.Man nennt diesen Grenzwert (erste) Ableitung oder Differentialquotient von fin z0 und benutzt die Schreibweisen

f ′(z0) ,ddz

f (z0) oderd fdz

(z0) .

(b) f heißt differenzierbar im Gebiet D, falls f in jedem Punkt von D differenzier-bar ist.

(c) f heißt stetig differenzierbar im Gebiet D, falls f in D differenzierbar und dieAbleitung f ′ in D stetig ist.

K. Burg, H. Haf, F. Wille, A. Meister, Funktionentheorie, DOI 10.1007/978-3-8348-2340-3_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

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34 2 Holomorphe Funktionen

Beispiel 2.1:

Die Funktion

f (z) = zn , n ∈ N

ist in ganz C stetig differenzierbar. (Zeigen!)

Aus der Differenzierbarkeit von f in z0 folgt insbesondere die Stetigkeit von f in diesemPunkt, eine Aussage, die nicht besonders überrascht.

In Abschnitt 1.2.2, Satz 1.7, haben wir gesehen, dass sich die Stetigkeit von f = u + i v imPunkt z0 = x0+ i y0 auf die Stetigkeit von Realteil u und Imaginärteil v von f im Punkt (x0, y0)

überträgt und umgekehrt. Gilt eine entsprechende Aussage auch für die Differenzierbarkeit? Diesist nicht der Fall, wie das folgende Beispiel zeigt:

Beispiel 2.2:

Wir betrachten die Funktion

f (z) = |z| , z ∈ C .

Setzen wir z = x + i y, u(x, y) = √x2 + y2 und v(x, y) = 0, so können wir f in der Form

f (z) =√

x2 + y2 + i 0 = u(x, y)+ i v(x, y)

darstellen. Die Funktionen u und v sind für alle (x, y) �= (0,0) differenzierbar. Jedoch ist f auchfür z0 �= 0 nicht differenzierbar:

(i) Wir wählen zunächst eine Folge {zn} auf dem Kreis um den 0-Punkt mit Radius |z0|, d.h.für diese Folge gilt |zn| = |z0| und

zn → z0 für n →∞ (zn �= z0) .

Daher folgt f (zn) = f (z0) und somit

f (zn)− f (z0)

zn − z0−→ 0 für n →∞ .

(ii) Nehmen wir nun eine Folge {zn}, die auf der Geraden durch die Punkte 0 und z0 liegt, alsomit arg zn = arg z0 für die

zn → z0 für n →∞ (zn �= z0)

gilt. Wegen

f (zn)− f (z0) = |zn| − |z0| �= 0

und

zn − z0 = (|zn| − |z0|) ei arg z0

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2.1 Differenzierbarkeit im Komplexen, Holomorphie 35

folgt dann für n →∞f (zn)− f (z0)

zn − z0−→ e− i arg z0 �= 0 .

Für die beiden Folgen aus (i) und (ii) ergeben sich somit unterschiedliche Grenzwerte, fkann also in z0 nicht differenzierbar sein.

Die Frage, unter welchen zusätzlichen Voraussetzungen an die Funktionen u und v auf dieDifferenzierbarkeit von f geschlossen werden kann, wird uns in Abschnitt 2.1.3 noch beschäfti-gen.

Der folgende Holomorphiebegriff steht im Zentrum der Funktionentheorie:

Definition 2.2:

Sei D ein Gebiet in C und f : D → C.

(i) Wir sagen, f ist holomorph (oder regulär, oder analytisch ) in D, falls f in Dstetig differenzierbar ist.

(ii) Wir nennen f holomorph im Punkt z0 ∈ D, falls f in einer Umgebung von z0stetig differenzierbar ist.

Bemerkung: Wir beachten, dass die Holomorphie einer Funktion f in z0 mehr verlangt, als dassf stetig differenzierbar in z0 ist: f muss in einer Umgebung von z0 stetig differenzierbar sein.

2.1.2 Rechenregeln für holomorphe Funktionen

Wie in der reellen Analysis (s. Burg/Haf/Wille [12]) beweist man die folgenden Sätze:

Satz 2.1:

Die Funktionen f und g seien holomorph im Gebiet D. Dann sind auch die Funktionen

f ± g , f · g undfg

(falls g(z) �= 0 in D)

holomorph in D, und es gelten die Ableitungsregeln

( f ± g)′ = f ′ ± g′ ; (2.2)( f · g)′ = f ′g + f g′ ; (Produktregel) (2.3)(

fg

)′= f ′g − f g′

g2 . (Quotientenregel) (2.4)

Dieser Satz ist bei vielen Holomorphienachweisen hilfreich.

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Beispiel 2.3:

Das komplexe Polynom

Pn(z) = anzn + an−1zn−1 + . . .+ a1z + a0 ; z, ai ∈ C , n ∈ N

ist in ganz C holomorph.

Beispiel 2.4:

Die rationale Funktion

f (z) = anzn + . . .+ a1z + a0

bm zm + . . .+ b1z + b0

(a j , bk ∈ C , j = 0,1, . . . , n , k = 0,1, . . . , m , n, m ∈ N)

ist in ganz C mit Ausnahme der Nullstellen des Nennerpolynoms holomorph.

Auch bei der Verkettung von komplexwertigen Funktionen lassen wir uns von der reellenAnalysis leiten (s. Burg/Haf/Wille [12]):Seien D1, D2 und D3 Gebiete in C

g : D1 → D2 und f : D2 → D3 .

Dann ist die Verkettung von f und g

f ◦ g : D1 → D3

durch

( f ◦ g)(z) = f (g(z)) , z ∈ D1 (2.5)

erklärt. Es gilt

Satz 2.2:

(Kettenregel) Ist g : D1 → D2 holomorph in D1, und ist f : D2 → D3 holomorph inD2, so ist die Verkettung f ◦ g : D1 → D3 holomorph in D1 und es gilt

( f ◦ g)′ = ( f ′ ◦ g)g′ . (2.6)

Auch der Beweis dieses Satzes lässt sich unmittelbar aus dem entsprechenden reellen Beweis (s.Burg/Haf/Wille [12]) übernehmen.

2.1.3 Die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen

Im Folgenden untersuchen wir die Konsequenzen der komplexen Differenzierbarkeit von

f (z) = u(x, y)+ i v(x, y) im Punkt z0 = x0 + i y0

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2.1 Differenzierbarkeit im Komplexen, Holomorphie 37

auf die reellen Funktionen

u(x, y) und v(x, y) im Punkt (x0, y0) .

Wir leiten eine notwendige Bedingung für die Differenzierbarkeit von f in z0 her:

Satz 2.3:

(Cauchy-Riemannsche1 Differentialgleichungen) Sei D ein Gebiet in C, z0 = x0 +i y0 ∈ D und die Funktion f (z) = u(x, y) + i v(x, y) differenzierbar in z0. Dannbesitzen die Funktionen u und v in (x0, y0) partielle Ableitungen ux , uy, vx , vy

2 undes gilt

ux (x0, y0) = vy(x0, y0) , vx (x0, y0) = −uy(x0, y0) . (2.7)

Für die Ableitung f ′ in z0 gilt

f ′(z0) = ux (x0, y0)+ i vx (x0, y0) = vy(x0, y0)− i uy(x0, y0) . (2.8)

Beweis:

Nach Voraussetzung existiert der Grenzwert

limz→z0

f (z)− f (z0)

z − z0= f ′(z0) ,

wie auch immer wir mit z gegen z0 gehen.

(i) Dies gilt insbesondere, wenn wir uns auf einer Parallelen zur x-Achse durch z0 dem Punktz0 nähern: Für jede reelle Folge {hn} mit hn → 0 für n →∞ (hn �= 0) muss also gelten

f (z0 + hn)− f (z0)

hn=[u(x0 + hn, y0)+ i v(x0 + hn, y0)

]−[u(x0, y0)+ i v(x0, y0)

]hn

= u(x0 + hn, y0)− u(x0, y0)

hn+ i

v(x0 + hn, y0)− v(x0, y0)

hn

−→ f ′(z0) für n →∞ .

Nach Satz 1.7, Abschnitt 1.2.2, existieren also die partiellen Ableitungen ux und vx in(x0, y0) und es gilt

f ′(z0) = ux (x0, y0)+ i vx (x0, y0) . (2.9)

1 A.L. Cauchy (1789-1857), französischer Mathematiker; B. Riemann (1826-1866), deutscher Mathematiker.2 ux steht für ∂u

∂x , uy für ∂u∂y usw.

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(ii) Nun nähern wir uns auf einer Parallelen zur y-Achse durch z0 dem Punkt z0: Für jede reelleFolge {hn} mit hn → 0 für n →∞ (hn �= 0) muss also gelten

f (z0 + i hn)− f (z0)

i hn=[u(x0, y0 + hn)+ i v(x0, y0 + hn)

]−[u(x0, y0)+ i v(x0, y0)

]i hn

= v(x0, y0 + hn)− v(x0, y0)

hn− i

u(x0, y0 + hn)− u(x0, y0)

hn

−→ f ′(z0) für n →∞ .

Daher existieren – wieder nach Satz 1.7 – die partiellen Ableitungen vy und uy in (x0, y0)

und es gilt

f ′(z0) = vy(x0, y0)− i uy(x0, y0) . (2.10)

Durch (2.9) und (2.10) ist die Beziehung (2.8) bewiesen.

Ferner ergibt sich

ux (x0, y0)+ i vx (x0, y0) = vy(x0, y0)− i uy(x0, y0) ,

womit auch (2.7) nachgewiesen ist.

Beispiel 2.5:

Die Funktion

f (z) = |z|2 , z ∈ C

lässt sich mit z = x + i y, u(x, y) = x2 + y2 und v(x, y) = 0 in der Form

f (z) = (x2 + y2)+ i 0 = u(x, y)+ i v(x, y)

schreiben. Da für alle (x, y) ∈ R2

ux (x, y) = 2x , uy(x, y) = 2y

vx (x, y) = 0 , vy(x, y) = 0

gilt, sind die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen (2.7) in keinem Punkt (x, y) ∈ R2

mit (x, y) �= (0,0) erfüllt, die Funktion f ist daher für kein z ∈ C − {0} differenzierbar, also inkeinem Punkt z0 ∈ C holomorph. Dagegen ist f wegen

f (z)− f (0)

z − 0= |z|2

z= z → 0 für z → 0

im Punkt z0 = 0 differenzierbar.

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2.1 Differenzierbarkeit im Komplexen, Holomorphie 39

Bemerkung: Beachten wir, dass die Funktion

f (x) = |x |2 = x2 , x ∈ R

in ganz R differenzierbar ist, so zeigt uns Beispiel (2.5), dass die Forderung der Differenzier-barkeit im Komplexen wesentlich restriktiver als im Reellen ist. Die reelle Differenzierbarkeitverlangt lediglich die Existenz des Grenzwertes

limn→∞

f (x0 + hn)− f (x0)

hn

für jede reelle Nullfolge {hn} (hn �= 0) (s. Fig. 2.1), während im komplexen Fall beliebigekomplexe Nullfolgen {hn} (hn �= 0) zugelassen werden müssen (s. Fig 2.2).

Wir wenden uns jetzt der Frage zu, ob die in Satz 2.3 angegebenen Bedingungen auch hinrei-chend für komplexe Differenzierbarkeit sind. Dies ist nicht der Fall: So besitzt etwa die Funktionf = u + i v mit

f (z) =

⎧⎪⎨⎪⎩

z5

|z|4 für z �= 0

0 für z = 0

in (x0, y0) = (0,0) zwar partielle Ableitungen ux , uy, vx , vy , die den Cauchy-RiemannschenDifferentialgleichungen genügen; sie ist aber in z = 0 nicht differenzierbar (s. Üb. 2.2).

Fig. 2.1: Zur reellen Differenzierbarkeit Fig. 2.2: Zur komplexen Differenzierbarkeit

Um vom Verhalten der Funktionen u und v auf Differenzierbarkeitseigenschaften von f schlie-ßen zu können, sind also zusätzliche Voraussetzungen nötig. Dies zeigt der folgende

Satz 2.4:

Die Funktionen u und v seien in einem Gebiet D des R2 erklärt. Besitzen u und v in

D stetige partielle Ableitungen erster Ordnung und genügen diese dort den Cauchy-

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40 2 Holomorphe Funktionen

Riemannschen Differentialgleichungen (2.7), so ist die Funktion

f (z) = f (x + i y) = u(x, y)+ i v(x, y)

in D stetig differenzierbar, wobei wir D jetzt als Gebiet in C auffassen.

Ein einfacher Beweis dieses Satzes ergibt sich mit Hilfe des Satzes von Morera (s. Abschn. 2.2.4,Bemerkung im Anschluss an Satz 2.20), so dass wir diesen Nachweis noch zurückstellen.

Mit den obigen Resultaten gewinnen wir die folgende Charakterisierung der holomorphenFunktionen:

Satz 2.5:

Die Funktion f ist holomorph im Gebiet D, d.h. f ist in D stetig differenzierbar,genau dann, wenn Realteil u und Imaginärteil v von f stetige partielle Ableitungenerster Ordnung in D (als Gebiet in R

2 aufgefasst) besitzen, die dort den Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen

ux (x, y) = vy(x, y) , vx (x, y) = −uy(x, y)

genügen.

Beweis:

Beachten wir, dass sich die Stetigkeit von f ′ in D auf Real- und Imaginärteil von f ′ überträgt(s. Satz 1.7, Abschn. 1.2.2), so folgt aus Satz 2.3, (2.8) die Stetigkeit von ux , uy , vx , vy in D undwegen (2.7), dass auch die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen erfüllt sind.Die Umkehrung ist durch Satz 2.4 gegeben. �

Bemerkung: Satz 2.5 ist in zahlreichen Fällen geeignet, die Holomorphie einer vorgegebenenFunktion zu überprüfen.

Beispiel 2.6:

Wir betrachten die Exponentialfunktion ez , die wir mit z = x+i y wegen (1.43) (s. Abschn. 1.2.3)in der Form

ez = ex cos y + i ex sin y =: u(x, y)+ i v(x, y)

darstellen können. Offensichtlich besitzen die Funktionen u und v stetige partielle Ableitungenerster Ordnung in ganz R

2:

ux (x, y) = ex cos y , uy(x, y) = − ex sin y , vx (x, y) = ex sin y , vy(x, y) = ex cos y .

Ferner gilt in R2

ux (x, y) = vy(x, y) und uy(x, y) = −vx (x, y) ,

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2.1 Differenzierbarkeit im Komplexen, Holomorphie 41

so dass aus Satz 2.5 die Holomorphie von ez in ganz C folgt. Insbesondere gilt wegen Satz 2.3,(2.8)

ddz

ez = ux (x, y)+ i vx (x, y) = ex cos y + i ex sin y = ex (cos y + i sin y) ,

also

ddz

ez = ez für alle z ∈ C (2.11)

Beispiel 2.7:

Für die Sinus- bzw. Cosinus-Funktion haben wir in Abschnitt 1.2.3, II die Beziehungen

sin z = ei z − e− i z

2 ibzw. cos z = ei z + e− i z

2

gewonnen. Wegen Satz 2.1, Abschnitt 2.1.2, und Beispiel 2.6 folgt, dass sin z und cos z in ganzC holomorphe Funktionen sind. Außerdem gilt wegen Satz 2.2, (2.6)

ddz

sin z = 12 i

(i ei z + i e− i z

)= ei z + e− i z

2,

ddz

cos z = 12

(i ei z − i e− i z

)= −ei z − e− i z

2 i,

also für alle z ∈ C

ddz

sin z = cos z ; ddz

cos z = − sin z . (2.12)

Es stellt sich die Frage nach der Umkehrung von holomorphen Funktionen, insbesondere auchder elementaren Funktionen. Als lokales Resultat ergibt sich

Satz 2.6:

Die Funktion f sei in z0 holomorph (d.h. in einer Umgebung von z0 stetig differen-zierbar), und es gelte f ′(z0) �= 0. Dann bildet f eine Umgebung von z0 umkehrbareindeutig auf eine Umgebung von w0 = f (z0) ab. Die Umkehrfunktion f −1 ist holo-morph in w0, und es gilt

(f −1)′(w0) = 1

f ′(z0). (2.13)

Beweis:

Nach Voraussetzung ist f ′ stetig in einer Umgebung von z0. Wegen f ′(z0) �= 0 gilt daherf ′(z) �= 0 in einer (möglicherweise kleineren) Umgebung von z0. Benutzen wir noch für

f (z) = f (x + i y) = u(x, y)+ i v(x, y)

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42 2 Holomorphe Funktionen

die Beziehung

f ′(z) = ux (x, y)+ i vx (x, y)

(s. Abschn. 2.1.3, (2.8)) und die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen (2.7), so erhal-ten wir∣∣∣∣ux uy

vx vy

∣∣∣∣ =∣∣∣∣ux −vxvx ux

∣∣∣∣ = u2x + v2

x =∣∣∣ f ′(z)

∣∣∣2 �= 0 .

Mit Satz 6.16, Abschnitt 6.4.2, Burg/Haf/Wille [12], folgt daher, dass durch f eine genügendkleine Umgebung von z0 umkehrbar eindeutig auf eine Umgebung von w0 abgebildet wird. Diestetige Differenzierbarkeit der Umkehrabbildung f −1 in dieser Umgebung folgt dann mit w =f (z), w� = f (z�) aus

limw�→w

f −1(w�)− f −1(w)

w� − w= lim

z�→z

z� − zf (z�)− f (z)

= limz�→z

1f (z�)− f (z)

z�−z

= 1f ′(z)

.

Bemerkung: Das Beispiel f (z) = z2 macht deutlich:

(i) Die Forderung f ′(z0) �= 0 ist wesentlich.

(ii) Ist f ′(z) �= 0 in einem Gebiet D, so folgt nicht notwendig, dass f in ganz D umkehrbareindeutig ist. (Begründung!)

Diese Problematik führt in die Theorie der Riemannschen Flächen. Wir kommen auf diesenPunkt im Zusammenhang mit der Umkehrung der elementaren Funktionen in Abschnitt 2.1.4zurück.

2.1.4 Umkehrung der elementaren Funktionen

In Abschnitt 1.2.3 haben wir uns in einem ersten Durchgang mit einigen elementaren Funktionen,insbesondere mit der Exponentialfunktion und den trigonometrischen Funktionen, beschäftigtund einige Eigenschaften dieser Funktionen kennengelernt. Wir wollen diese Betrachtungen imFolgenden wieder aufnehmen und erweitern, insbesondere durch Hinzunahme der Potenzfunkti-on. Dabei steht die Frage nach der Umkehrbarkeit der elementaren Funktionen im Mittelpunktunserer Überlegungen.

Gestützt auf Satz 2.6, Abschnitt 2.1.3, können wir sagen, dass eine im Punkt z0 holomorpheFunktion f mit f ′(z0) �= 0 lokal umkehrbar eindeutig ist, also in einer Umgebung von z0 eineUmkehrfunktion besitzt. Nun fragen wir nach dem natürlichen (globalen) Definitionsbereich dero.g. Umkehrfunktionen, sowie nach ihren geometrischen Eigenschaften. Wir lernen hierbei einfür die Umkehrung typisches Phänomen kennen: Die »Mehrdeutigkeit« dieser Umkehrfunktio-nen.

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2.1 Differenzierbarkeit im Komplexen, Holomorphie 43

I. Potenz- und Wurzelfunktionen

In Analogie zur reellen Potenzfunktion definieren wir die Potenzfunktion im Komplexen:

w = f (z) = zn , n ∈ N , z ∈ C . (2.14)

Diese Funktion ist in ganz C holomorph und wegen

f ′(z) = nzn−1

für alle z �= 0 lokal umkehrbar eindeutig. Im Spezialfall n = 1 ist f auch in z = 0 umkehrbareindeutig. Es liegt dann die identische Abbildung vor, die ganz C umkehrbar eindeutig auf sichabbildet. Wir schließen diesen trivialen Fall im Folgenden aus und orientieren uns zunächst amFall n = 2:Wir betrachten also

w = f (z) = z2 , z ∈ C . (2.15)

Verwenden wir für z die Darstellung

z = r ei ϕ

so folgt aus (2.14)

w = r2 ei 2ϕ ,

d.h. jeder Winkel, dessen Scheitel im Nullpunkt liegt, wird verdoppelt. Insbesondere wird dieobere Halbebene ohne die negative reelle Achse und ohne den Nullpunkt

H1 = {z = r ei ϕ∣∣∣ 0 ≤ ϕ < π , 0 < r <∞}

auf G = C − {0} abgebildet (s. Fig 2.3); ebenso die untere Halbebene ohne die positive reelleAchse und ohne den Nullpunkt

H2 = {z = r ei ϕ∣∣∣ π ≤ ϕ < 2π , 0 < r <∞}

(s. Fig. 2.4).Wenden wir uns der Frage nach der Umkehrung von w = f (z) = z2 zu. Nach Satz 1.1,

Abschnitt 1.1.1, erhalten wir zu jedem w �= 0 genau zwei komplexe Zahlen z1, z2 mit z21 = z2

2 =w, nämlich

z1 =√|w| ei Arg w

2 , z2 =√|w| ei

(Arg w

2 +π)

. 3

Die Abbildung f ist daher nicht umkehrbar, eine eindeutige Beschreibung der »Umkehrfunktion

3 Arg w bezeichnet das Hauptargument von w, also den w zugeordneten Winkel ϕ mit −π < ϕ ≤ π (s. Burg/Haf/-Wille [12]).

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44 2 Holomorphe Funktionen

√w« somit nicht möglich. Dagegen gelangt man zu einer Beschreibung von »

√w« als mehrdeu-

tiger Funktion auf folgende Weise: Schränken wir den Definitionsbereich von f z.B. gemäßFig. 2.3

Fig. 2.3: Abbildung von H1 durch w = z2

Fig. 2.4: Abbildung von H2 durch w = z2

bzw. Fig. 2.4 ein, so erhalten wir umkehrbar eindeutige Abbildungen von H1 auf G bzw. von H2auf G. Damit ergeben sich zwei Umkehrfunktionen,

z1 =√|w| ei Arg w

2 bzw. z2 =√|w| ei

(Arg w

2 +π), (2.16)

die man auch Zweige der Umkehrfunktion nennt; der erste dieser Zweige heißt Hauptzweig. Bei-de Zweige lassen sich durch analytische Fortsetzung (s. hierzu Abschn. 2.3.5) ineinander überfüh-ren. Wir wollen jetzt die beiden Zweige z1(w) und z2(w) durch eine entsprechende Erweiterungdes Funktionsbegriffs zu einer mehrdeutigen Funktion

√w zusammenfassen. Dies geschieht da-

durch, dass wir als Definitionsbereich der Umkehrfunktion nicht wie bisher eine Teilmenge derw-Ebene betrachten, sondern einen allgemeineren, eine sogenannte Riemannsche Fläche: Wirwissen, dass durch w = f (z) = z2 die w-Ebene mit Ausnahme von w = 0 doppelt überdeckt

Page 13: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.1 Differenzierbarkeit im Komplexen, Holomorphie 45

wird. Wir denken uns nun zwei Exemplare von punktierten w-Ebenen: G1 = G2 = G = C−{0}(s. Fig. 2.3/ 2.4) übereinander gelegt. Wir schneiden dann G entlang der positiven Halbachsex > 0 auf und verheften den oberen Rand (——) von G1 mit dem unteren Rand (- - -) von G2und den oberen Rand (——) von G2 mit dem unteren Rand (- - -) von G1. Ferner nehmen wir denNullpunkt, einfach gezählt, hinzu. Auf diese Weise entsteht eine 2-blättrige Riemannsche FlächeR = G1 ∪ G2 ∪ {0}.

Fig. 2.5: Riemannsche Fläche R von√

w

Wir benutzen das 1. Blatt von R als Argumentbereich für z1(w), das 2. Blatt von R als Ar-gumentbereich für z2(w). Dadurch stellt R einen Argumentbereich dar, der es uns ermöglicht,die durch Zusammenfassung von z1(w) und z2(w) entstehende Funktion

√w eindeutig zu erklä-

ren: Jedes w ∈ R ist in eindeutiger Weise einem der beiden Blätter von R zugeordnet, und wirdefinieren

√w durch

√w := z j (w) für w ∈ R . (2.17)

Dabei ist j = 1 falls w auf dem ersten Blatt G1 liegt, und j = 2, falls w auf dem zweiten BlattG2 liegt.Insgesamt gilt:

Die Funktion w = f (z) = z2 stellt eine umkehrbar eindeutige und in ganz C holomorpheAbbildung der z-Ebene auf die 2-blättrige Riemannsche Fläche R dar.

Bemerkung 1: Üblicherweise vertauscht man noch bei Beschreibung der Umkehrfunktion dieVariablen w und z (s. auch Burg/Haf/Wille [12]), und schreibt

w = f −1(z) = √z . (2.18)

Bemerkung 2: Der Punkt w = 0 spielt eine Sonderrolle: Wird er auf einem Kreis mit beliebig(kleinem) Radius umlaufen, so entspricht diesem Umlauf auf R ein Weg, der von einem Blattin das andere führt (s. Fig. 2.5). Man bezeichnet w = 0 daher auch als Verzweigungspunktder Riemannschen Fläche R. Im gleichen Sinn ist auch ∞ ein Verzweigungspunkt, was sichbesonders gut an der (»zweiblättrigen«) Riemannschen Zahlenkugel veranschaulichen lässt.

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46 2 Holomorphe Funktionen

Der allgemeine Fall w = f (z) = zn (n > 2) lässt sich entsprechend behandeln. Hierbeiwerden anstelle der beiden Halbebenen H1 und H2 die n Winkelbereiche

Wn ={

z = r ei ϕ∣∣∣∣ 2πk

n≤ ϕ <

2π(k + 1)

n, 0 < r <∞

}(2.19)

jeweils durch die n Zweige der Umkehrfunktion

zk(w) = n√|w| ei

(Arg w

n + 2π(k−1)n

), k = 1,2, . . . , n (2.20)

umkehrbar eindeutig auf die w-Ebene (ohne Nullpunkt): G, abgebildet. Durch Verwendung einern-blättrigen Riemannschen Fläche R, die man wie im Fall n = 2 konstruiert, ergibt sich dann,dass w = f (z) = zn die z-Ebene umkehrbar eindeutig auf R abbildet. Die Definition von n

√w

erfolgt entsprechend dem Fall n = 2.

II. Exponentialfunktion und Logarithmus

Fig. 2.6: Abbildung von Periodenstreifen durch ez

Aus Abschnitt 2.1.3, Beispiel 2.6, bzw. Abschnitt 1.2.3 ist uns bekannt, dass die Exponential-funktion

w = f (z) = ez , z ∈ C (2.21)

eine in ganz C holomorphe und periodische Funktion mit der (imaginären) Periode 2π i ist.Durch f wird jeder Periodenstreifen

Sk = {z = x + i y∣∣ −∞ < x <∞ , 2kπ − π < y ≤ 2kπ + π} (k ∈ Z) (2.22)

auf G = C−{0} umkehrbar eindeutig abgebildet (s. Fig. 2.6). Dass ez jeden von 0 verschiedenenWert w in jedem Periodenstreifen genau einmal annimmt, wissen wir bereits aus Abschnitt 1.2.3,I.c). Es gibt also unendlich viele Umkehrfunktionen (=Zweige der mehrdeutigen Umkehrfunkti-on) von ez . Wir gewinnen diese auf folgende Weise:

Page 15: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.1 Differenzierbarkeit im Komplexen, Holomorphie 47

Mit w = |w| ei(Arg w+2kπ) , w �= 0 und z = x + i y folgen aus w = ez bzw. aus

|w| ei(Arg w+2kπ) = ex+i y = ex · ei y

die Beziehungen

|w| = ex oder x = ln |w| und y = Arg w + 2kπ .

Die gesuchten Zweige der Umkehrfunktion werden also durch

zk(w) = ln |w| + i(Arg w + 2kπ) , k ∈ Z (2.23)

gegeben. Wir verwenden für zk(w) die Schreibweise logk w. Für k = 0 spricht man vom Haupt-wert des Logarithmus und benutzt die Schreibweisen

Log w und log0 w .

Für reelle positive Argumente w stimmt Log w mit ln w überein. Wie schon bei der Potenzfunk-tion lassen sich auch in diesem Fall die Funktionen zk(w) zu einer mehrdeutigen Funktion zu-sammenfassen. Allerdings benötigen wir dazu jetzt abzählbar unendlich viele Exemplare G vonw-Ebenen ohne Nullpunkt (s. Fig. 2.7): Gk := G(k ∈ Z), wobei wir wieder wie in I. verheften:Den oberen Rand von Gk mit dem unteren Rand von Gk+1. Dadurch entsteht eine RiemannscheFläche R, die aus unendlich vielen Blättern besteht.

Fig. 2.7: Riemannsche Fläche der log-Funktion

Wir können uns R als zusammengedrückte unendliche Wendeltreppe um den Punkt w = 0vorstellen (s. Fig. 2.7). Für jedes k ∈ Z benutzen wir Gk als Argumentbereich des k-ten Zweigeszk(w), w �= 0. Auf R lässt sich dann log w eindeutig definieren: Zu jedem w ∈ R gibt es eineindeutig bestimmtes k = k(w) ∈ Z mit w ∈ Gk(w), und wir erklären log w durch

log w := zk(w) für w ∈ R . (2.24)

Wir kommen auf die Logarithmus-Funktion noch einmal im Zusammenhang mit der analyti-schen Fortsetzung von holomorphen Funktionen in Abschnitt 2.3.5 zurück.

Page 16: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

48 2 Holomorphe Funktionen

III. Die allgemeine Potenzfunktion

Wir beschließen diesen Abschnitt mit einer Bemerkung über die allgemeine Potenzfunktion: Inder reellen Analysis erklärt man die Potenz xa , a irrational und x > 0, durch

xa = ea ln x . (2.25)

(Für rationale Exponenten s. Burg/Haf/Wille [12]) Wir benutzen (2.25) zur Übertragung auf denkomplexen Fall. Für a ∈ C und z ∈ C (z �= 0) definieren wir za durch

za = ea log z . (2.26)

Je zwei Werte von za unterscheiden sich um einen Faktor e2kπ i a (k ∈ Z), so dass für irrationalesa ∈ C (abzählbar) unendlich viele Werte za auftreten. In diesem Fall können wir z �→ za somitals Abbildung der Riemannschen Fläche aus II. in die w-Ebene auffassen.

Dagegen besitzt za für a ∈ Z wegen e2kπ i a = 1 genau einen Wert. Im Fall a = 1n (n =

2,3, . . .) gilt e2πk i

n = e2π k i

n genau dann, wenn k− k ein Vielfaches von n ist. Für k ∈ Z erhalten

wir daher n verschiedene Werte für e2πk i

n :

e2π i

n , e4π i

n , . . . , e2nπ i

n = e2π i = 1

und für z1n die n Werte

e1n log z , e

2π in · e 1

n log z , . . . , e2(n−1)π i

n · e 1n log z

bei festem z ∈ C (z �= 0). Diese Werte sind gerade die n-ten Wurzeln von a (wir beachten, dass(e

2kπ in e

1n log z

)n=(

e1n log z+ 2kπ i

n)n= z

ist!). Wie üblich erklärt man 0a durch 0a = 0 für alle a ∈ C \ {0} und durch 00 = 1 für a = 0. Jenachdem ob wir z oder a als Variable auffassen, gelangen wir zur Potenzfunktion f (z) = za oderzur Exponentialfunktion g(z) = bz . Wir verzichten auf eine weitergehende Diskussion dieserFunktionen. Diese findet sich z.B. in [20], S.123 ff.

2.1.5 Die Potentialgleichung

In Abschnitt 2.1.3 haben wir gesehen: Ist

f (z) = u(x, y)+ i v(x, y) (2.27)

in einem Gebiet D ⊂ C holomorph, so existieren die partiellen Ableitungen erster Ordnung vonu und v in D. Diese sind in D stetig und genügen dort den Cauchy-Riemannschen Differential-

Page 17: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.1 Differenzierbarkeit im Komplexen, Holomorphie 49

gleichungen

∂u∂x= ∂v

∂y,

∂u∂y= −∂v

∂x. (2.28)

Nun verlangen wir zusätzlich, dass sämtliche partiellen Ableitungen zweiter Ordnung in D exi-stieren und stetig sind. 4 Differenzieren wir dann die erste Gleichung in (2.28) nach x , die zweitenach y und beachten wir, dass die Differentiationsreihenfolge vertauscht werden darf (s. Burg/-Haf/Wille [12]), so erhalten wir

∂2u∂x2 =

∂2v

∂x∂y,

∂2u∂y2 = −

∂2v

∂y∂x= − ∂2v

∂x∂y

oder

∂2u∂x2 +

∂2u∂y2 = 0 in D . (2.29)

Entsprechend ergibt sich für die Funktion v:

∂2v

∂x2 +∂2v

∂y2 = 0 in D . (2.30)

Mit dem Laplace-Operator

Δ := ∂2

∂x2 +∂2

∂y2 (2.31)

können wir (2.29) bzw. (2.30) kürzer schreiben; wir erhalten

Satz 2.7:

Unter den obigen Voraussetzungen genügen Realteil u und Imaginärteil v von f in Dder Potentialgleichung (oder Laplaceschen Differentialgleichung)

Δu = 0 und Δv = 0 . (2.32)

Lösungen der Potentialgleichung mit stetigen partiellen Ableitungen zweiter Ordnung heißenPotentialfunktionen oder harmonische Funktionen; u und v sind also unter den obigen Voraus-setzungen harmonische Funktionen; v heißt zu u konjugiert harmonisch , u zu v konjugiert har-monisch. (Beachte: u und v genügen den Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen.)

Wir wollen jetzt der Frage nachgehen, ob es zu jeder harmonischen Funktion u eine konjugiertharmonische Funktion v gibt. Wir beweisen

4 Wie wir später sehen werden, ist diese Forderung bei holomorphen Funktionen ohnehin erfüllt (s. Abschn. 2.2.3,III).

Page 18: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

50 2 Holomorphe Funktionen

Satz 2.8:

Sei u eine im einfach zusammenhängenden Gebiet D harmonische Funktion. Danngibt es eine in D zu u konjugiert harmonische Funktion v. Diese ist bis auf eine addi-tive Konstante eindeutig bestimmt. Durch

f := u + i v (2.33)

ist damit eine in D holomorphe Funktion erklärt.

Beweis:

Nach Voraussetzung gilt Δu = 0 in D, d.h.

∂y

(−∂u

∂y

)= ∂

∂x

(∂u∂x

)in D . (2.34)

Nun wählen wir einen festen Anfangspunkt (x0, y0) ∈ D. Wegen (2.34) ist das Integral

(x,y)∫(x0,y0)

(−∂u

∂ydx + ∂u

∂xdy)

für (x, y) ∈ D vom Weg, der die beiden Punkte in D verbindet, unabhängig5 und definiert dahereine eindeutig bestimmte Funktion:

v(x, y) :=(x,y)∫

(x0,y0)

(−∂u

∂ydx + ∂u

∂xdy)

. (2.35)

Ferner gilt in D

∂v(x, y)

∂x= −∂u(x, y)

∂y,

∂v(x, y)

∂y= ∂u(x, y)

∂x. (2.36)

Daher ist die durch (2.35) erklärte Funktion v zu u konjugiert harmonisch. 6

Wir zeigen noch, dass jede weitere zu u konjugiert harmonische Funktion v sich von v nurdurch eine additive Konstante unterscheiden kann: Setzen wir

f (z) := u(x, y)+ i v(x, y) , f (z) := u(x, y)+ i v(x, y)

für (x, y) ∈ D, dann gilt: f und f sind in D holomorph; daher ist auch g mit

g(z) := f (z)− f (z) = i(v(x, y)− v(x, y)

)(d.h. Re g ≡ 0) in D holomorph. Hieraus folgt aber ∂

∂x (v(x, y) − v(x, y)) = ∂∂y (v(x, y) −

5 s. Burg/Haf/Wille [13].6 Beachte: u besitzt nach Voraussetzung stetige partielle Ableitungen 2. Ordnung und damit, wegen (2.36), auch v.

Page 19: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.1 Differenzierbarkeit im Komplexen, Holomorphie 51

v(x, y)) = 0 und damit

v = v + C (C = const) .

Bemerkung: Mit Hilfe dieses Satzes lassen sich wichtige Eigenschaften von harmonischenFunktionen aus entsprechenden Eigenschaften holomorpher Funktionen herleiten (s. z.B. Ab-schn. 2.2.5, a)).

Zwischen konjugiert harmonischen Funktionen besteht noch ein weiterer interessanter geo-metrischer Zusammenhang: Aus den Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen ux = vy ,uy = −vx folgt nämlich

∇u · ∇v = uxvx + uyvy = uxvx + (−vx )ux ,

also

∇u · ∇v = 0 . (2.37)

Diese Beziehung besagt: Die Kurvenscharen u(x, y) = c1 und v(x, y) = c2 schneiden sich fürbeliebige Konstanten c1 und c2 rechtwinklig, denn: Aus u(x, y) = c1 folgt mit Hilfe der Ketten-regel ux +uy · y′(u) = 0, also y′(u) = − ux

uyund entsprechend y′(v) = − vx

vyals Tangentensteigungen

dieser Kurven. Die entsprechenden Tangentenvektoren t(u) = {−uy, ux } und t(v) = {−vy, vx }erfüllen dann wegen (2.37) die Beziehung

t(u) · t(v) = uxvx + uyvy = 0 .

Wir können diesen Sachverhalt auch folgendermaßen ausdrücken:

Satz 2.9:

Die Funktionen u und v seien konjugiert harmonisch. Dann sind die Kurven v(x, y) =const Orthogonaltrajektorien der Schar u(x, y) = const.

Bemerkung: Potentialfunktionen (= harmonische Funktionen) spielen in den Anwendungen, et-wa in der Strömungslehre und in der Elektrostatik, eine bedeutende Rolle. In zahlreichen Fällenlassen sich räumliche Probleme näherungsweise als ebene Probleme behandeln, so dass funk-tionentheoretische Methoden eingesetzt werden können. Wir kommen auf diese Thematik inAbschnitt 3.2 zurück.

Übungen

Übung 2.1:

Zeige: Die Funktion f (z) = zn , n ∈ N, ist in ganz C stetig differenzierbar.

Page 20: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

52 2 Holomorphe Funktionen

Übung 2.2*:

Ist die Funktion

f (z) =

⎧⎪⎨⎪⎩

z5

|z|4 für z �= 0

0 für z = 0

im Punkt z = 0 holomorph?

Übung 2.3*:

In welchen Bereichen der z-Ebene sind die Funktionen

a) f (z) = Re z ; b) f (z) = f (x + i y) = xy2 + i x2 y ;

c) f (z) ={

1 für |z| < 10 für |z| ≥ 1

holomorph? Benutze zur Lösung die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen.

Übung 2.4:

Zeige:

a)ddz

tan z = 1cos2 z

= 1+ tan2 z ; b)ddz

cot z = − 1

sin2 z= −(1+ cot2 z) .

Wo sind die Funktionen tan z und cot z holomorph?

Übung 2.5*:

Sei f (z) = z3, z ∈ C und C die Strecke, die die Punkte z1 = 1 und z2 = i verbindet. Beweise:

f (i)− f (1)

i−1�= f ′(ζ ) für alle ζ ∈ C .

(Der Mittelwertsatz der Differentialrechnung gilt also für komplexe Funktionen nicht!)

Übung 2.6:

Zeige, dass die folgenden Funktionenpaare (u, v) den Cauchy-Riemannschen Differentialglei-chungen genügen:

a) u(x, y) = x3 − 3xy2 ; v(x, y) = 3x2 y − y3 ;b) u(x, y) = sin x · cosh y ; v(x, y) = cos x · sinh y .

Page 21: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.2 Komplexe Integration 53

Übung 2.7:

a) Zeige: Die Funktion

u(x, y) = ex (x cos y − y sin y)

genügt der Potentialgleichung. b) Bestimme zu u(x, y) die konjugiert harmonische Funktionv(x, y) mit v(0,0) = 0 und bilde f (z) = f (x+ i y) = u(x, y)+ i v(x, y). Wo ist f holomorph?

Übung 2.8:

Transformiere die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen durch Einführung von Polar-koordinaten

x = r cos ϕ , y = r sin ϕ , U = R cos Φ , V = R sin Φ ,

und leite die folgenden Gleichungen her:

a) rUr = Vϕ , r Vr = −Uϕ ; b)1R

Rx = Φy ,1R

Ry = −Φx ;

c)rR

Rr = Φϕ ,1R

Rϕ = −rΦr .

2.2 Komplexe Integration

Wir haben im Abschnitt 2.1.1 holomorphe Funktionen über die Differenzierbarkeit im Komple-xen definiert. Um einen tieferen Einblick in das Wesen holomorpher Funktionen zu gewinnen, istdie komplexe Integralrechnung erforderlich. Sie stellt das wichtigste Instrumentarium der Funk-tionentheorie dar.

2.2.1 Integralbegriff

Wir knüpfen an Abschnitt 1.1.6 an, wo wir uns mit Wegen, Kurven und Gebieten in C beschäftigthaben und definieren Kurvenintegrale in C entsprechend den Kurvenintegralen im R

n (s. Burg/-Haf/Wille [13]).

Definition 2.3:

Sei D ein Gebiet in C und f : D �→ C eine auf D stetige Funktion. Ferner seiγ : [a, b] �→ C ein stückweise glatter Weg mit Wertebereich γ ([a, b]) ⊂ D. Unterdem Kurvenintegral von f längs γ versteht man den Ausdruck

∫γ

f (z)dz :=b∫

a

f(γ (t)

)γ ′(t)dt . (2.38)

Page 22: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

54 2 Holomorphe Funktionen

Bemerkung 1: Der Integrand auf der rechten Seite von (2.38) ist auf [a, b] stückweise stetig, daγ dort stückweise stetig differenzierbar ist. Damit ist dieser Ausdruck sinnvoll. Es zeigt sich, dasssich für äquivalente Wege dieselben Werte der Kurvenintegrale (2.38) ergeben (s. Burg/Haf/Wille[13]).Bemerkung 2: Wird aus dem Kontext, etwa aufgrund einer gegebenen Abbildung γ oder auseiner Skizze (Kurve mit Pfeilen) klar, um welche Kurve C es sich handelt und wie diese Kurvedurchlaufen wird, so verwenden wir im Folgenden für das Kurvenintegral (2.38) meist die in denAnwendungen übliche Schreibweise∫

C

f (z)dz .

Anstelle der Voraussetzungen über γ in Definition 2.3 verwenden wir dann die entsprechendenVoraussetzungen über C : »sei C eine stückweise glatte, orientierte Kurve im Gebiet D«. Beigeschlossenen Kurven, die sich nicht überschneiden und positiv orientiert sind (s. Def. 1.10,Abschn. 1.1.6), benutzen wir auch die Schreibweise∮

C

f (z)dz .

Zurückführung auf reelle Kurvenintegrale

Das Kurvenintegral (2.38) lässt sich auf zwei reelle Kurvenintegrale zurückführen, die bereits inBurg/Haf/Wille [13]behandelt wurden:Mit

f (z) = f (x + i y) = u(x, y)+ i v(x, y)

und

γ (t) = x(t)+ i y(t) , t ∈ [a, b]folgt aus (2.38)∫

γ

f (z)dz =b∫

a

[u(x(t), y(t)

)+ i v(x(t), y(t)

)][x ′(t)+ i y′(t)

]dt

=b∫

a

[u(x(t), y(t)

) · x ′(t)− v(x(t), y(t)

) · y′(t)]dt

+ i

b∫a

[u(x(t), y(t)

) · y′(t)+ v(x(t), y(t)

) · x ′(t)]dt

=∫γ

[u(x, y)dx − v(x, y)dy

]+ i

∫γ

[u(x, y)dy + v(x, y)dx

]

Page 23: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.2 Komplexe Integration 55

oder, in der Schreibweise von Bemerkung 2,

∫C

f (z)dz =∫C

[u dx − v dy

]+ i∫C

[u dy + v dx

](2.39)

Merkregel: Man bilde formal

f (z)dz = (u + i v)(dx + i dy) = [udx − vdy] + i[udy + vdx] .

Fig. 2.8: Integration über einen positiv orientierten Kreis

Beispiel 2.8:

Sei C die positiv orientierte Kreislinie

{z| |z − z0| = r} und f (z) = (z − z0)n , n ∈ Z .

Wir verwenden für C die Parameterdarstellung 7

z(t) = z0 + r ei t = (x0 + r cos t)+ i(y0 + r sin t) , 0 ≤ t < 2π .

Es gilt dann

z′(t) = x ′(t)+ i y′(t) = (−r sin t)+ i(r cos t) = i r(cos t + i sin t) = i r ei t

und

f(z(t)

) = (z(t)− z0

)n = (r ei t

)n = rn ei nt .

7 Anstelle von γ = γ (t) schreiben wir im Folgenden häufig z = z(t).

Page 24: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

56 2 Holomorphe Funktionen

Damit erhalten wir wegen (2.38)

∫C

f (z)dz =2π∫

0

rn ei nt i r ei t dt = i rn+1

2π∫0

ei(n+1)t dt

= i rn+1

2π∫0

(cos(n + 1)t + i sin(n + 1)t

)dt ,

woraus sich die Beziehung

∫C

f (z)dz =∮

|z−z0|=r

(z − z0)ndz =

{0 , für n ∈ Z, n �= −12π i , für n = −1

ergibt.

Aufgrund der Tatsache, dass sich komplexe Integrale auf reelle Kurvenintegrale zurückführenlassen, übertragen sich die bekannten Integrationsregeln im Reellen auch auf den komplexen Fall.Wir fassen einige zusammen.

Satz 2.10:

Sei D ein Gebiet in C und C eine stückweise glatte, orientierte Kurve in D. Fernerseien f und g in D stetige Funktionen.

(i) Für beliebige α, β ∈ C gilt∫C

(α f (z)+ βg(z)

)dz = α

∫C

f (z)dz + β

∫C

g(z)dz .

(ii) Die Kurve C sei in die beiden orientierten Teilkurven C1 und C2 zerlegt: C =C1 + C2. Dann gilt∫

C

f (z)dz =∫

C1+C2

f (z)dz =∫C1

f (z)dz +∫C2

f (z)dz .

(iii) Sei −C die in umgekehrtem Sinn durchlaufene Kurve, dann gilt∫C

f (z)dz = −∫−C

f (z)dz .

Page 25: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.2 Komplexe Integration 57

Fig. 2.9: Verschiedene Integrationswege

Beispiel 2.9:

Wir berechnen∫

C zdz, wobei wir für C zwei verschiedene Kurven mit gleichem Anfangspunktz1 = −1 und gleichem Endpunkt z2 = 1+ i wählen:

(i) Die Strecke, die z1 = −1 und z2 = 1+ i verbindet;

(ii) Den Streckenzug von z1 = −1 über z3 = 1 nach z2 = 1+ i (s. Fig. 2.9)

Zu (i): Für C1 nehmen wir die Parameterdarstellung

z(t) = −1+ t (1+ i+1) = (−1+ 2t)+ i t , 0 ≤ t ≤ 1 .

Dann gilt

z′(t) = 2+ i

und f(z(t)

) = z(t) = (−1+ 2t)− i t .Formel (2.38) liefert dann

∫C1

zdz =1∫

0

[(−1+ 2t)− i t

](2+ i)dt = 1

2− i .

Zu (ii): Wir berechnen zunächst das Integral, das die Punkte z1 = −1 und z3 = 1 geradlinigverbindet: C ′2 : z(t) = −1 + 2t , 0 ≤ t ≤ 1. Damit ist z′(t) = 2, f (z(t)) = −1 + 2t , und wirerhalten

∫C ′2

zdz =1∫

0

(−1+ 2t) · 2dt = 0 .

Für die Verbindungsstrecke der Punkte z3 und z2 nehmen wir die Parameterdarstellung

C ′′2 : z(t) = 1+ i t , 0 ≤ t ≤ 1 .

Page 26: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

58 2 Holomorphe Funktionen

Damit ist z′(t) = i, f (z(t)) = 1− i t , und wir erhalten

∫C ′′2

zdz =1∫

0

(1− i t) i dt = 12+ i .

Nach Satz 2.10 (b) folgt dann∫C2

zdz =∫C ′2

zdz +∫

C ′′2

zdz = 12+ i .

Wir beachten

• das obige Integral über f (z) = z ist vom Weg, der z1 und z2 verbindet, abhängig;

• der Integrand ist in keinem Punkt z ∈ C komplex differenzierbar (warum?), also nirgendsholomorph.

Die folgende Abschätzung für komplexe Integrale ist häufig von Nutzen:

Satz 2.11:

Sei D ⊂ C ein Gebiet, C eine stückweise glatte, orientierte Kurve in D und L(C) dieLänge von C . Ist dann f eine in D stetige Funktion, so gilt∣∣∣∣∣∣

∫C

f (z)dz

∣∣∣∣∣∣ ≤ L(C) ·maxz∈C

| f (z)| . (2.40)

Beweis:

Wir verwenden zum Beweis die Schwarzsche Ungleichung für Integrale:

⎛⎝ b∫

a

f (t)g(t)dt

⎞⎠

2

≤⎛⎝ b∫

a

f 2(t)dt

⎞⎠⎛⎝ b∫

a

g2(t)dt

⎞⎠ , (2.41)

die man aus der entsprechenden Ungleichung im Rn (s. Burg/Haf/Wille [12]) gewinnt, wenn man

die Integrale als Grenzwerte von Riemannschen Summen (s. Burg/Haf/Wille [12]) auffasst.Für die Darstellung von C wählen wir die Parameterdarstellung mit der Bogenlänge s als

Parameter:

z(s) = x(s)+ i y(s) , 0 ≤ s ≤ L(C) .

Es gilt dann (s. Burg/Haf/Wille [13])

(x ′(s))2 + (y′(s))2 = 1 . (2.42)

Page 27: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.2 Komplexe Integration 59

Mit (2.39) und (2.41) gewinnen wir die Abschätzung∣∣∣∣∣∣∫C

f (z)dz

∣∣∣∣∣∣2

=⎛⎝∫

C

(udx − vdy)

⎞⎠2

+⎛⎝∫

C

(udy + vdx)

⎞⎠2

=⎛⎝ L(C)∫

0

(ux ′ − vy′) · 1ds

⎞⎠

2

+⎛⎝ L(C)∫

0

(uy′ + vx ′) · 1ds

⎞⎠

2

≤L(C)∫0

(ux ′ − vy′)2ds ·L(C)∫0

12ds +L(C)∫0

(uy′ + vx ′)2ds ·L(C)∫0

12ds

= L(C)

L(C)∫0

[(ux ′ − vy′)2 + (uy′ + vx ′)2

]ds .

Wegen (2.42) folgt daher∣∣∣∣∣∣∫C

f (z)dz

∣∣∣∣∣∣2

≤ L(C)

L(C)∫0

(u2+v2)ds ≤ L(C)

L(C)∫0

| f (z(s))|2 ds ≤ L(C)·L(C)

(maxz∈C

| f (z)|)2

und damit die Behauptung. �

2.2.2 Der Cauchysche Integralsatz

Komplexe Integrale sind im Allgemeinen abhängig vom Integrationsweg. Dies hat uns Beispiel2.9, Abschnitt 2.2.1, verdeutlicht. Es stellt sich nun die Frage, für welche Funktionenklasse kom-plexe Integrale wegunabhängig sind.

Die Antwort darauf gewinnen wir aus dem folgenden Satz, der im Mittelpunkt der Funktionen-theorie steht:

Satz 2.12:

(Cauchyscher Integralsatz) Sei D ⊂ C ein einfach zusammenhängendes Gebiet und feine in D holomorphe Funktion. Dann gilt für jede ganz in D verlaufende stückweiseglatte, geschlossene Kurve8C (s. Fig. 2.10)∫

C

f (z)dz = 0 . (2.43)

8 Die Orientierung von C spielt hierbei keine Rolle.

Page 28: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

60 2 Holomorphe Funktionen

Beweis:

Bezeichne u den Realteil und v den Imaginärteil von f . Nach (2.39) gilt dann∫C

f (z)dz =∫C

(udx − vdy)+ i∫C

(udy + vdx) .

Nach Voraussetzung ist f holomorph in D. Daher besitzen die Funktionen u und v nach Satz 2.5,Abschnitt 2.1.3, stetige partielle Ableitungen ux , uy, vx , vy in D, die dort den Cauchy-Riemann-schen Differentialgleichungen

ux = vy , uy = −vx

genügen. Bilden wir das Vektorfeld K (x, y) := {v(x, y), u(x, y)}, so folgt nach Burg/Haf/Wille[13]:∫

C

(vdx + udy) = 0

und entsprechend, falls wir K (x, y) := {u(x, y),−v(x, y)} setzen∫C

(udx − vdy) = 0 .

Damit ergibt sich die Behauptung von Satz 2.12. �

Fig. 2.10: Zum Cauchyschen Integralsatz Fig. 2.11: Wegunabhängigkeit bei Integration holo-morpher Funktionen

Page 29: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.2 Komplexe Integration 61

Folgerung 2.1:

Sei D ⊂ C ein einfach zusammenhängendes Gebiet, seien z1 und z2 beliebige Punktein D und sei f eine in D holomorphe Funktion. Dann gilt für alle ganz in D verlau-fenden stückweise glatten Kurven C1, C2, die z1 (Anfangspunkt) und z2 (Endpunkt)verbinden (s. Fig. 2.11)∫

C1

f (z)dz =∫C2

f (z)dz (2.44)

d.h. das Integral über holomorphe Funktionen ist unabhängig vom Weg, der z1 und z2verbindet.

Beweis:

Aus den Sätzen 2.12 und 2.10 gewinnen wir

0 =∫

C1+(−C2)

f (z)dz =∫C1

f (z)dz +∫−C2

f (z)dz =∫C1

f (z)dz −∫C2

f (z)dz .

Bemerkung 1: Auf die Forderung in Satz 2.12 bzw. in der anschließenden Folgerung, dass dasGebiet D einfach zusammenhängend ist, kann nicht verzichtet werden. Dies zeigt Beispiel 2.8in Abschnitt 2.2.1: Wählen wir für D die punktierte komplexe Ebene C − {z0} und für C diepositiv orientierte Kreislinie |z − z0| = r , so gilt∮

|z−z0|=r

dzz − z0

= 2π i .

Die Funktion f (z) = 1z−z0

ist zwar in D holomorph, jedoch ist D kein einfach zusammenhän-gendes Gebiet.

Bemerkung 2: Durch geeignete Wahl des Integrationsweges lässt sich die Berechnung von kom-plexen Integralen aufgrund von (2.44) in vielen Fällen erheblich vereinfachen.

2.2.3 Folgerungen aus dem Cauchyschen Integralsatz

Aus dem Cauchyschen Integralsatz ergeben sich eine Reihe von Konsequenzen. Wir behandelneinige in diesem, weitere im nachfolgenden Abschnitt.

I. Cauchyscher Integralsatz für mehrfach zusammenhängende Gebiete

Wir betrachten zunächst ein zweifach zusammenhängendes Gebiet D. Durch C1 und C2 seiengeschlossene, doppelpunktfreie, stückweise glatte, positiv orientierte Kurven gegeben, die ganzin D verlaufen; C2 liege im Inneren von C1, und das Ringgebiet G zwischen C1 und C2 gehöre

Page 30: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

62 2 Holomorphe Funktionen

ganz zu D (s. Fig. 2.12). Wir zeigen: Ist f eine in D holomorphe Funktion, so gilt∫C1

f (z)dz =∫C2

f (z)dz (2.45)

d.h. der Wert des Integrals (2.45) ist unabhängig von der speziellen Wahl des Integrationsweges.Nach Satz 2.12 ist (2.45) trivial, wenn das Innere von C1 ganz zu D gehört. (Beide Integrale

verschwinden dann.) Liege jetzt die in Figur 2.12 dargestellte Situation vor. Wir verbinden nunC1 und C2 durch zwei in G verlaufende stückweise glatte, doppelpunktfreie Kurven S′ und S′′,die sich nicht schneiden; wir schlitzen das Ringgebiet G gewissermaßen längs S′ und S′′ auf. Aufdiese Weise wird G in zwei einfach zusammenhängende Gebiete G1 und G2 zerlegt. Orientierenwir S′ und S′′ so, dass die Randkurven ∂G1 und ∂G2 von G1 und G2 positiv orientiert sind (s.Fig. 2.13), so lässt sich Satz 2.12 anwenden, da sich ∂G1 und ∂G2 in einfach zusammenhängendeGebiete von D einbetten lassen:

Fig. 2.12: Zum Cauchyschen Integralsatz bei zwei-fach zusammenhängenden Gebieten

Fig. 2.13: Zerlegung in zwei einfach zusammenhän-gende Gebiete

∫∂G1

f (z)dz =∫

∂G2

f (z)dz = 0 . (2.46)

Andererseits gilt, da sich die Integrale über die Verbindungswege S′ und S′′ wegkürzen:∫∂G1

f (z)dz +∫

∂G2

f (z)dz =∫C1

f (z)dz +∫−C2

f (z)dz ,

woraus mit (2.46)∫C1

f (z)dz =∫C2

f (z)dz

folgt. Damit ist (2.45) nachgewiesen.

Page 31: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.2 Komplexe Integration 63

Beispiel 2.10:

Wir berechnen das Integral∮C

(z − z0)ndz , n ∈ Z ,

wobei C irgendeine geschlossene, doppelpunktfreie, stückweise glatte, positiv orientierte Kurveist, für die z0 im Inneren liegt. Daneben betrachten wir die positiv orientierte Kreislinie um z0mit Radius r : Kr (z0), wobei wir r so wählen, dass C im Inneren von Kr (z0) liegt (s. Fig. 2.14).Wegen (2.45) gilt dann∫

C

(z − z0)ndz =

∫Kr (z0)

(z − z0)ndz

und Beispiel 2.8, Abschnitt 2.2.1 liefert uns

∮C

(z − z0)ndz =

{0 für n ∈ Z , n �= −1

2π i für n = −1.

Fig. 2.14: Zweckmäßig gewählter IntegrationswegKr (z0)

Fig. 2.15: Integrale über mehrfach zusammenhän-gende Gebiete

Wenden wir uns nun ganz allgemeinen mehrfach zusammenhängenden Gebieten zu. 9 Dieoben entwickelten Gedankengänge lassen sich dann analog übertragen und wir gelangen zu

9 In Fig. 2.15 ist ein 4-fach zusammenhängendes Gebiet dargestellt.

Page 32: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

64 2 Holomorphe Funktionen

Satz 2.13:

Es seien C, C1, . . . , Cn geschlossene doppelpunktfreie, stückweise glatte, positivorientierte Kurven, die ganz in einem Gebiet D verlaufen. Sämtliche Kurven Ck(k = 1, . . . , n) sollen im Inneren der Kurve C liegen und jede Kurve Ck im Äuße-ren jeder Kurve C j (k �= j). Ferner liege das durch C und die Kurven Ck gebildeteRinggebiet ganz in D (für n = 3 s. Fig. 2.15). Ist dann f eine in D holomorpheFunktion, so gilt

∫C

f (z)dz =n∑

k=1

∫Ck

f (z)dz . (2.47)

Wir überlassen den Nachweis dem Leser.

Bemerkung: Kurven Ck , deren Inneres ganz in D enthalten ist, liefern nach dem CauchyschenIntegralsatz in (2.47) keinen Beitrag. Der Wert des Integrals auf der linken Seite von (2.47) wirdalso nur von solchen Kurven Ck beeinflusst, die Bereiche umschließen, die nicht zu D gehören.

II. Stammfunktionen im Komplexen

Wir betrachten das komplexe Integral

F(z) :=z∫

z0

f (ζ )dζ . (2.48)

Sind die Voraussetzungen des Cauchyschen Integralsatzes erfüllt, so ist dieses Integral unabhän-gig von der Kurve C , die die Punkte z0 und z in D verbindet. Wir weisen nach, dass die durch(2.48) erklärte Funktion F in D differenzierbar ist und dort F ′ = f erfüllt. Wie im Reellennennen wir eine solche Funktion eine Stammfunktion von f in D.

Zum Nachweis, dass F eine Stammfunktion ist, gehen wir wie folgt vor: D ist ein Gebiet inC und somit eine offene Punktmenge in C. Zu jedem Punkt z ∈ D gibt es daher ein τ > 0, sodass das Kreisgebiet Kτ (z) = {ζ

∣∣|z−ζ | ≤ τ } in D liegt. Sei nun h ∈ C beliebig mit |h| < τ undsei C(h) die geradlinige Verbindung der Punkte z und z + h (s. Fig. 2.16). Wir beachten, dasswir die Verbindungskurve in (2.48) wegen Satz 2.12, Folgerung, frei wählen können!Parameterdarstellung von C(h):

ζ = ζ(t) = z + th , 0 ≤ t ≤ 1 .

Wegen

F(z + h) =z+h∫z0

f (ζ )dζ =z∫

z0

f (ζ )dζ +∫

C(h)

f (ζ )dζ = F(z)+∫

C(h)

f (ζ )dζ

Page 33: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.2 Komplexe Integration 65

Fig. 2.16: Wahl des Integrationsweges

gilt

F(z + h)− F(z)h

= 1h

∫C(h)

f (ζ )dζ ,

woraus sich mit der obigen Parameterdarstellung für C(h)

F(z + h)− F(z)h

= 1h

1∫0

f (z + th)ζ ′(t)dt =1∫

0

f (z + th)dt

ergibt. Nun führen wir die Zerlegung

1∫0

f (z + th)dt =1∫

0

[f (z + th)− f (z)+ f (z)

]dt = f (z)+

1∫0

[f (z + th)− f (z)

]dt

durch und beachten, dass der Integrand des letzten Integrals für h→0 gleichmäßig gegen 0 strebt(warum?). Damit erhalten wir

F(z + h)− F(z)h

−→ f (z) für h → 0 ,

also: F ′(z) = f (z) in D. Durch (2.48) ist also eine Stammfunktion von f gegeben.Gibt es noch andere Stammfunktionen von f ? Zur Beantwortung dieser Frage nehmen wir

an, G sei eine weitere Stammfunktion von f , d.h. es gelte G ′ = f in D. Mit

u(x, y) := Re(F − G) , v(x, y) := Im(F − G)

ergibt sich dann aus Satz 2.3, Abschnitt 2.1.3

ux (x, y) = uy(x, y) = 0 , vx (x, y) = vy(x, y) = 0

in D, so dass u und v in D konstant sind. Dies bedeutet aber, dass sich G nur durch eineKonstante von F unterscheiden kann. Damit ist gezeigt:

Page 34: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

66 2 Holomorphe Funktionen

Satz 2.14:

Sei D ein einfach zusammenhängendes Gebiet, und f sei eine in D holomorphe Funk-tion. Dann ist für festes z0 ∈ D durch

F(z) =z∫

z0

f (ζ )dζ (2.49)

eine Stammfunktion von f in D gegeben, wobei der Integrationsweg irgendeine ganzin D verlaufende stückweise glatte Kurve ist, die z0 mit z verbindet. Ist G eine weitereStammfunktion von f in D, so gilt

G(z) = F(z)+ c (2.50)

mit einer geeigneten Konstanten c.

In der »Reellen Analysis« haben wir gesehen, dass sich Stammfunktionen zur Berechnung vonbestimmten Integralen benutzen lassen. Dies ist auch im Komplexen möglich, wie der folgendeSatz zeigt:

Satz 2.15:

Unter den Voraussetzungen von Satz 2.14 gilt für beliebige z1, z2 ∈ D

z2∫z1

f (ζ )dζ = F(z2)− F(z1) , (2.51)

falls F eine Stammfunktion von f in D ist.

Beweis:

Nach Satz 2.14 gilt

F(z) =z∫

z1

f (ζ )dζ + c (c = const) .

Setzen wir z = z1, so folgt hieraus

F(z1) = c

und, wenn wir nun z = z2 setzen, die Behauptung. �

Beispiel 2.11:

Wir berechnen∫

C ez dz längs der Strecke 1 nach i. Diese Strecke lässt sich in ein einfach zu-sammenhängendes Gebiet D einbetten (s. Fig. 2.17), in dem f (z) = ez holomorph ist. (Nach

Page 35: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.2 Komplexe Integration 67

Beisp. 2.6, Abschn. 2.1.3, ist f in ganz C holomorph.) Nach Satz 2.15 gilt daher mit F(z) = ez

∫C

ez dz = F(i)− F(1) = ei− e = (cos 1− e)+ i sin 1 .

Beispiel 2.12:

Es soll∫

Cdzz2 längs des Streckenzuges C von 1 über 1+ i und −1+ i nach −1 berechnet werden.

Da f (z) = 1z2 in z = 0 nicht differenzierbar ist, wählen wir ein einfach zusammenhängendes

Gebiet D so, dass z = 0 /∈ D, aber C ganz in D enthalten ist (s. Fig. 2.18). Mit F(z) = − 1z und

Satz 2.15 folgt dann∫C

dzz2 = F(−1)− F(1) = 1 − (−1) = 2 .

Fig. 2.17: Integration längs der Strecke C Fig. 2.18: Integration längs des Streckenzuges C

III. Die Cauchysche Integralformel

Der Cauchysche Integralsatz liefert uns die Möglichkeit, eine Integraldarstellung für die Funkti-onswerte holomorpher Funktionen herzuleiten. Wir zeigen

Satz 2.16:

(Cauchysche Integralformel) Sei f eine in einem einfach zusammenhängenden Ge-biet D holomorphe Funktion. Ferner sei C eine ganz in D verlaufende geschlossene,doppelpunktfreie, stückweise glatte und positiv orientierte Kurve. Dann gilt für jedesz aus dem Inneren von C

f (z) = 12π i

∫C

f (ζ )

ζ − zdζ , (2.52)

d.h. f ist im Inneren von C bereits durch die Funktionswerte auf dem Rand C eindeu-tig bestimmt.

Page 36: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

68 2 Holomorphe Funktionen

Fig. 2.19: Zur Cauchyschen Integralformel Fig. 2.20: Zum Beweis von Satz 2.16

Beweis:

Für z ∈ In(C) ist f (ζ )ζ−z in D − {z} holomorph. Wir wählen nun ein τ0 > 0, so dass der Kreis

|ζ−z| ≤ τ0 in In(C) liegt (s. Fig. 2.20). Nach I, Formel (2.45) gilt dann für alle τ mit 0 < τ < τ0∫C

f (ζ )

ζ − zdζ =

∫Kτ (z)

f (ζ )

ζ − zdζ ,

wobei Kτ die positiv orientierte Kreislinie Kτ (z) = {ζ | |ζ − z| = τ } ist. Mit

f (ζ ) = f (z)+ [ f (ζ )− f (z)]

und ∫Kτ (z)

1ζ − z

dζ = 2π i (s. Beisp. 2.8, Abschn. 2.2.1)

folgt daher

∫C

f (ζ )

ζ − zdζ = f (z)

∫Kτ (z)

1ζ − z

dζ+∫

Kτ (z)

f (ζ )− f (z)ζ − z

dζ = 2π i f (z)+∫

Kτ (z)

f (ζ )− f (z)ζ − z

dζ .

(2.53)

Da f holomorph (d.h. stetig differenzierbar) in D ist, ist der Integrand des letzten Integrals ineiner Umgebung von z beschränkt, etwa durch die Konstante k, und wir erhalten mit Satz 2.11,Abschnitt 2.2.1, die Abschätzung∣∣∣∣∣∣∣

∫Kτ (z)

f (ζ )− f (z)ζ − z

∣∣∣∣∣∣∣ ≤ k · L(Kτ (z)

) = k · 2πτ −→ 0 für τ → 0.

Page 37: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.2 Komplexe Integration 69

Damit folgt aus (2.53) für τ → 0∫C

f (ζ )

ζ − zdζ = 2π i f (z) ,

wodurch unser Satz bewiesen ist. �

Bemerkung 1: Die Cauchysche Integralformel zeigt, dass die Eigenschaft »stetige Differenzier-barkeit in D« (= Holomorphie in D) im Komplexen bedeutend restriktiver ist, als dies im Reellender Fall ist: Dort sind die Funktionswerte etwa im Inneren eines Intervalls keineswegs durch dieFunktionswerte an den Intervallenden festgelegt.

Bemerkung 2: Die Cauchysche Integralformel bleibt auch für mehrfach zusammenhängendeGebiete gültig, wenn C ganz in einem einfach zusammenhängenden Teilgebiet von D liegt.

Aus Satz 2.16 gewinnen wir sehr einfach die sogenannte Mittelwertformel für holomorpheFunktionen:

Satz 2.17:

Sei f holomorph im Gebiet D, z ∈ D und Kr (z) ein positiv orientierter Kreis um zmit Radius r , der zusammen mit seinem Inneren ganz in D liegt. Dann gilt

f (z) = 12π

2π∫0

f (z + r ei t )dt . (2.54)

(Der Funktionswert im Mittelpunkt des Kreises Kr (z) ist gleich dem »arithmetischenMittel« der Funktionswerte auf Kr (z).)

Beweis:

Mit der Parameterdarstellung

ζ = ζ(t) = z + r ei t , 0 ≤ t ≤ 2π

für Kr (z) folgt aus (2.52)

f (z) = 12π i

∫Kr (z)

f (ζ )

ζ − zdζ = 1

2π i

2π∫0

f (z + r ei t )

r ei t r i ei t dt = 12π

2π∫0

f (z + r ei t )dt .

Die Cauchysche Integralformel besitzt eine interessante Erweiterung:

Page 38: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

70 2 Holomorphe Funktionen

Satz 2.18:

(Cauchysche Integralformel für die n-te Ableitung) Seien die Voraussetzungen vonSatz 2.16 erfüllt. Dann gilt für alle z ∈ In(C) und für alle n ∈ N

f (n)(z) = n!2π i

∫C

f (ζ )

(ζ − z)n+1 dζ . (2.55)

Bemerkung 1: Dieser Satz besagt, dass die stetige Differenzierbarkeit (= Holomorphie) einerFunktion f im Gebiet D bereits nach sich zieht, dass f in D sogar beliebig oft differenzierbarist. Auch dieses überraschende Resultat macht deutlich: Differenzierbarkeit im Komplexen istwesentlich folgenschwerer als im Reellen.Bemerkung 2: In Verschärfung der Aussage des Satzes 2.16 gilt: Nicht nur die holomorpheFunktion f selbst, sondern auch jede ihrer Ableitungen, ist im Inneren von C bereits durch dieFunktionswerte von f auf dem Rand C eindeutig bestimmt.

Beweis:

Wir führen diesen zunächst für n = 1: Sei z0 ∈ In(C) beliebig, fest. Nun wählen wir h ∈ C so,dass z0 + h ∈ In(C) ist. Setzen wir

F1(z0) := 12π i

∫C

f (ζ )

(ζ − z0)2 dζ ,

so folgt mit Satz 2.16

f (z0 + h)− f (z0)

h− F1(z0) = 1

2π i

∫C

{1h

[1

ζ − z0 − h− 1

ζ − z0

]− 1

(ζ − z0)2

}f (ζ )dζ

= h2π i

∫C

f (ζ )

(ζ − z0 − h)(ζ − z0)2 dζ .

Fig. 2.21: Zum Beweis von Satz 2.18

Sei nun Gδ := {z ∈ In (C)| |z − ζ | ≥ δ für alle ζ ∈ C}, wobei wir δ > 0 so wählen, dass z0

Page 39: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.2 Komplexe Integration 71

aus Gδ ist, also |ζ − z0| ≥ δ gilt. Wählen wir h ∈ C mit |h| < δ/2, so folgt |ζ − z0 − h| ≥ δ/2.Setzen wir noch M := maxz∈C | f (z)|, so ergibt sich aus Satz 2.11, Abschnitt 2.2.1∣∣∣∣ f (z0 + h)− f (z0)

h− F1(z0)

∣∣∣∣ ≤ L(C)|h|2π

2Mδ · δ2 → 0

für h → 0 gleichmäßig in Gδ . Damit erhalten wir

f ′(z0) = F1(z0) für z0 ∈ In(C) beliebig,

so dass Satz 2.18 für den Fall n = 1 bewiesen ist.

Für n > 1 führen wir den Beweis mittels vollständiger Induktion: Wir setzen

Fn(z0) := n!2π i

∫C

f (ζ )

(ζ − z0)n+1 dζ (2.56)

und haben zu zeigen, dass für alle n ∈ N und z0 ∈ In(C)

f (n)(z0 + h)− f (n)(z0)

h− Fn+1(z0) −→

h→00 (2.57)

gilt. Wie wir bereits gezeigt haben, ist dies für n = 0 richtig. Wir nehmen nun an, (2.57) geltefür n = k − 1 (k ∈ N fest), d.h. es sei

f (k)(z0) = Fk(z0) für z0 ∈ In(C) beliebig

erfüllt. Dann folgt mit

f (k)(z0 + h)− f (k)(z0)

h− Fk+1(z0)

= k!2π i

∫C

1h

[1

(ζ − z0 − h)k+1 −1

(ζ − z0)k+1

]f (ζ )dζ − (k + 1)!

2π i

∫C

f (ζ )

(ζ − z0)k+2 dζ

= k!2π i

∫C

{1h

[1

(ζ − z0 − h)k+1 −1

(ζ − z0)k+1

]− (k + 1)

(ζ − z0)k+2

}f (ζ )dζ .

Nun benutzen wir für { . . . } die Beziehung

b−n − a−n

b − a+ na−n−1 = (b − a)

[a−2b−n + 2a−3b−n+1 + . . .+ na−n−1b−1

]die für alle n ∈ N, a, b ∈ C (a �= b) gilt. (Mittels vollständiger Induktion zeigen!) Dazu setzenwir

a := ζ − z0 , b := ζ − z0 − h und n := k + 1

Page 40: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

72 2 Holomorphe Funktionen

und erhalten

− Fk+1(z0)+ f (k)(z0 + h)− f (k)(z0)

h

= k!2π i

∫C

h{

1 · (ζ − z0)−2(ζ − z0 − h)−k−1

+ 2 · (ζ − z0)−3(ζ − z0 − h)−k + . . .

+ (k + 1) · (ζ − z0)−k−2(ζ − z0 − h)−1

}· f (ζ )dζ .

Seien Gδ und M wie oben erklärt. Wegen |ζ − z0| ≥ δ, |ζ − z0 − h| ≥ δ2 (s.o.) und

1+ 2+ . . .+ (k + 1) = (k + 1)(k + 2)

2

erhalten wir unter Beachtung von Satz 2.11, Abschnitt 2.2.1∣∣∣∣∣ f (k)(z0 + h)− f (k)(z0)

h− Fk+1(z0)

∣∣∣∣∣ ≤ L(C) · k!|h|2π

2k+1

δ3+k(k + 1)(k + 2)

2M → 0

für h → 0 gleichmäßig in Gδ . Damit ist gezeigt:

f (k+1)(z0) = Fk+1(z0) für z0 ∈ In(C) beliebig,

so dass nach dem Induktionsprinzip die Aussage von Satz 2.18 folgt. �

Bemerkung: Da eine im Gebiet D holomorphe Funktion f dort beliebig oft differenzierbarist, zeigt sich im Rückblick auf Abschnitt 2.1.5 (s. 1. Fußnote), dass sowohl Realteil, als auchImaginärteil von f in D der Potentialgleichung genügen.

Aus Satz 2.18 gewinnen wir sehr einfach eine Abschätzung für die Ableitungen von f , fallseine Abschätzung für f bekannt ist:

Satz 2.19:

(Cauchy-Ungleichung) Sei f holomorph in einem Gebiet D, z ein beliebiger Punktin D und die Kreislinie Kr (z) sowie ihr Inneres ganz in D enthalten. Gilt dann

| f (ζ )| ≤ M für alle ζ ∈ Kr (z)

mit einer Konstanten M > 0, so gilt für alle n ∈ N0∣∣∣ f (n)(z)∣∣∣ ≤ n!M

rn . (2.58)

Page 41: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.2 Komplexe Integration 73

Beweis:

Nach Satz 2.18 und Satz 2.11, Abschnitt 2.2.1, gilt

∣∣∣ f (n)(z)∣∣∣ =

∣∣∣∣∣∣∣n!

2π i

∫Kr (z)

f (ζ )

(ζ − z)n+1 dζ

∣∣∣∣∣∣∣ ≤n!2π· 2πr

Mrn+1 =

n!Mrn .

2.2.4 Umkehrung des Cauchyschen Integralsatzes

Wir erinnern daran, dass wir mit Hilfe des Cauchyschen Integralsatzes aus der Holomorphie vonf in D die Beziehung∫

C

f (z)dz = 0

für jede in D verlaufende stückweise glatte, geschlossene Kurve C erhalten (s. Abschn. 2.2.2). Esstellt sich nun die Frage nach der Umkehrung dieses Sachverhaltes. Der folgende Satz ermöglichtuns eine weitere Charakterisierung holomorpher Funktionen:

Satz 2.20:

(Morera10) Es sei D ein einfach zusammenhängendes Gebiet und f eine in D stetigeFunktion. Ferner gelte∫

C

f (z)dz = 0 (2.59)

für jede in D verlaufende stückweise glatte, geschlossene Kurve C . Dann ist f in Dholomorph.

Beweis:

Wegen (2.59) ist das durch

z∫z0

f (ζ )dζ =: F(z)

erklärte Integral unabhängig vom Weg, der z0 und z verbindet. Der Beweis von Satz 2.14, Ab-schnitt 2.2.3, zeigt uns, dass dann F eine Stammfunktion von f ist:

F ′(z) = f (z) .

10 G. Morera (1856-1909), italienischer Mathematiker.

Page 42: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

74 2 Holomorphe Funktionen

(Wir beachten, dass der Beweis an dieser Stelle nur die Stetigkeit von f verlangt.) F ist also in Dstetig differenzierbar und damit holomorph in D. Nach Satz 2.18, Abschnitt 2.2.3, ist F folglichbeliebig oft differenzierbar in D und wegen F ′ = f auch f . Damit ist die Holomorphie von fin D nachgewiesen. �

Bemerkung: Der Satz von Morera ermöglicht uns einen besonders einfachen Beweis von Satz2.4, Abschnitt 2.1.3: Nach Voraussetzung besitzen u und v in D stetige partielle Ableitungenerster Ordnung, die den Cauchy-Riemannschen DGln (s. (2.7)) genügen. Wie im Beweis vonSatz 2.12 (Cauchyscher Integralsatz) ergibt sich daraus:∫

C

f (z)dz = 0 ,

für alle geschlossenen, stückweise glatten Kurven C , die in einem einfach zusammenhängendenTeilgebiet G von D verlaufen. Nach dem Satz von Morera ist damit f in jedem einfach zusam-menhängenden Teilgebiet von D – und somit in D selbst – holomorph.

2.2.5 Anwendungen der komplexen Integralrechnung

Die »Cauchyschen Sätze«, die wir in den vorhergehenden Abschnitten kennengelernt haben, be-sitzen zahlreiche Anwendungen. Wir behandeln im Folgenden:

(a) das Maximumprinzip, das z.B. bei Eindeutigkeitsnachweisen für die Lösung von Randwert-problemen der Potentialtheorie eine Rolle spielt;

(b) eine Dirichletsche Randwertaufgabe der Potentialtheorie;

(c) den Fundamentalsatz der Algebra, der sich mit den o.g. Hilfsmitteln einfach und elegantbeweisen lässt.

(a) Das Maximumprinzip

Wir betrachten die im Gebiet D holomorphe Funktion

f (z) = f (x + i y) = u(x, y)+ i v(x, y) .

Die Holomorphie von f in D zieht die Stetigkeit von f und | f | in D nach sich. Dabei ist

| f (z)| =√

u2(x, y)+ v2(x, y) .

Wir zeigen zunächst

Satz 2.21:

Die Funktion f sei im Gebiet D holomorph und nicht konstant. Dann besitzt die (re-ellwertige) Funktion | f | in D kein Maximum.

Page 43: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.2 Komplexe Integration 75

Beweis:

Wir führen den Beweis indirekt und nehmen hierzu an, es existiere ein z0 ∈ D mit∣∣ f (z0)∣∣ ≥ ∣∣ f (z)

∣∣ für alle z ∈ D. (2.60)

Sei Kr (z0) ein (positiv orientierter) Kreis, der zusammen mit seinem Inneren ganz in D liege.Nach der Mittelwertformel (s. Satz 2.17, Abschn. 2.2.3) gilt dann

f (z0) = 12π

2π∫0

f (z0 + r ei t )dt , (2.61)

woraus die Abschätzung

∣∣ f (z0)∣∣ ≤ 1

2π∫0

∣∣ f (z0 + r ei t )∣∣dt

folgt. Hieraus erhalten wir mit der Identität

∣∣ f (z0)∣∣ = 1

2π∫0

∣∣ f (z0)∣∣dt

die Beziehung

12π

2π∫0

{∣∣ f (z0)∣∣− ∣∣ f (z0 + r ei t )

∣∣} dt ≤ 0 .

Andererseits gilt wegen (2.60): | f (z0)| ≥ | f (z0 + r ei t )|, so dass | f (z0)| = | f (z0 + r ei t )| unddamit

f (z0 + r ei t ) = ei ϕ f (z0) , 0 ≤ ϕ < 2π (2.62)

folgt. Hierbei hängt ϕ von t ab. Setzen wir (2.62) in (2.61) ein, so ergibt sich

f (z0) = 12π

2π∫0

ei ϕ(t) f (z0)dt = f (z0)1

2π∫0

ei ϕ(t) dt

oder

1 = 12π

2π∫0

(cos ϕ(t)+ i sin ϕ(t)

)dt .

Page 44: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

76 2 Holomorphe Funktionen

Da die linke Seite dieser Gleichung reell ist, muss notwendig

1 = 12π

2π∫0

cos ϕ(t) dt

gelten. Dies ist aber nur für cos ϕ(t) ≡ 1, also für ϕ(t) ≡ 0 möglich. Aus (2.62) folgt dannf (z0 + r ei t ) = f (z0) bzw. f (z0 + ρ ei t ) = f (z0) für alle ρ mit 0 ≤ ρ ≤ r und damit

f (z) = f (z0) für alle z ∈ Kr (z0) ∪ In(Kr (z0)),

so dass f in einer Umgebung von z0 konstant ist.

Fig. 2.22: Zum Kreiskettenverfahren

Sei nun z ein beliebiger Punkt aus D. Da D zusammenhängend ist (D ist ein Gebiet!), gibtes einen in D verlaufenden Polygonzug K , der z0 mit z verbindet. Da K ⊂ D kompakt ist, gibtes nach Hilfssatz 1.1, Abschnitt 1.1.4, ein d > 0 mit |z − ζ | ≥ d für alle z ∈ K und ζ ∈ ∂ D.Nun zerlegen wir K durch endlich viele Teilpunkte z0, z1, . . . , zn = z in n Teile mit einer Längejeweils kleiner als d. Die Kreisgebiete

Ud(zi ) = {z| |z − zi | < d , i = 0,1, . . . , n} ⊂ D

bilden eine Kreiskette in D (man spricht daher auch von einem Kreiskettenverfahren): jedesKreisgebiet Ud(zi ) enthält den Mittelpunkt des nachfolgenden Kreisgebietes

zi ∈ Ud(zi−1) , i = 1, . . . , n

(s. Fig. 2.22). Nach unseren obigen Überlegungen gilt f (z) = f (z0) für z ∈ Ud(z0) und nachdem Identitätssatz 11 auch für z ∈ Ud(z1). Durch (n−2)-fache Wiederholung folgt dies auch für

11 s. Abschn 2.3.5, Satz 2.39.

Page 45: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.2 Komplexe Integration 77

z ∈ Ud(zn−1). Insbesondere gilt also f (z) = f (z0). Da z ∈ D beliebig ist, ergibt sich f = constin D, im Widerspruch zu den Voraussetzungen des Satzes. �

Aus diesem Satz ergibt sich nunmehr sofort

Satz 2.22:

(Maximumprinzip) Sei D ein beschränktes Gebiet mit dem Rand ∂ D. Die Funktionf sei holomorph in D und stetig in D = D ∪ ∂ D. Dann nimmt die Funktion | f | ihrMaximum auf dem Rand ∂ D von D an, d.h. es gibt ein z0 ∈ ∂ D mit∣∣ f (z0)

∣∣ = maxz∈D

∣∣ f (z)∣∣ . (2.63)

Beweis:

Mit f ist auch | f | stetig auf D. Da D kompakt ist, nimmt die reellwertige Funktion | f | in D ihrMaximum an 12. Nach Satz 2.21 liegt die Maximumstelle auf dem Rand ∂ D oder es ist f ≡ constin D. �

Bemerkung: Unter der Voraussetzung, dass f in D keine Nullstelle hat, lässt sich entsprechendein Minimumprinzip beweisen (s. Üb. 2.14).

Für die Anwendungen ist es nützlich, ein Maximum- bzw. Minimumprinzip für harmoni-sche Funktionen zu besitzen. Wir erinnern daran, dass harmonische Funktionen u Lösungender Potentialgleichung Δu = 0 sind, mit stetigen partiellen Ableitungen zweiter Ordnung (s.Abschn. 2.1.5). Wir zeigen

Satz 2.23:

(Maximumprinzip für harmonische Funktionen) Sei D ein beschränktes Gebiet in R2

mit Rand ∂ D. Ferner sei u eine in D harmonische und in D = D∪∂ D stetige Funktion.Dann nimmt die Funktion u ihr Maximum auf dem Rand ∂ D von D an. Entsprechen-des gilt für das Minimum.

Beweis:

Zu u gibt es nach Satz 2.8, Abschnitt 2.1.5, eine konjugiert harmonische Funktion v, so dassf (z) = f (x + i y) = u(x, y) + i v(x, y) in D (jetzt als Gebiet in C aufgefasst) holomorph ist.Ist dann Kr (z0) ein positiv orientierter Kreis, der zusammen mit seinem Inneren ganz in D liegt,so gilt nach der Mittelwertformel (s. Satz 2.17, Abschn. 2.2.3)

f (z0) = 12π

2π∫0

f (z0 + r ei t )dt .

12 Satz 1.25, Abschn. 1.6.5, Bd. I gilt entsprechend auch im R2.

Page 46: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

78 2 Holomorphe Funktionen

Durch Realteilbildung folgt hieraus die Mittelwertformel

u(x0, y0) = 12π

2π∫0

u(x0 + r cos t, y0 + r sin t)dt (2.64)

für die harmonische Funktion u. Der weitere Beweis verläuft wie der von Satz 2.21 bzw. Satz 2.22.Im Falle des Minimumprinzips entfällt die Forderung u �= 0 in D (s.o. Bemerkung). Die beidenauf (2.61) folgenden Ungleichungen für | f | gehen in Gleichungen für u über. �

Wir zeigen nun, wie wir mit Hilfe des Maximum- bzw. Minimumprinzips die Eindeutigkeits-frage für Lösungen von Randwertaufgaben der Potentialtheorie behandeln können: Hierzu seiD ein beschränktes Gebiet mit dem Rand ∂ D. Ferner sei g eine vorgegebene auf ∂ D stetigeFunktion. Die Dirichletsche 13 Randwertaufgabe der Potentialtheorie besteht darin, eine in Dharmonische und in D = D ∪ ∂ D stetige Funktion zu finden, die auf ∂ D mit g übereinstimmt,für die also gilt:

Δu = 0 in D ; u = g auf ∂ D . (2.65)

Fig. 2.23: Dirichletsche Randwertaufgabe

Probleme dieser Art treten z.B. in der Elektrostatik auf: Man gibt auf ∂ D ein elektrostatischesPotential vor und fragt nach der Potentialverteilung im Innern (bzw. im Äußeren) von ∂ D (s.auch Abschn. 4.2).

Falls überhaupt eine Lösung von Problem (2.65) existiert, gilt

Satz 2.24:

Die Lösung der Dirichletschen Randwertaufgabe (2.65) ist eindeutig bestimmt.

13 P.G.L. Dirichlet (1805-1859), deutscher Mathematiker.

Page 47: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.2 Komplexe Integration 79

Beweis:

Wir nehmen an, es seien zwei Lösungen u1 und u2 von (2.65) vorhanden und setzen u := u1−u2.Dann genügt u dem homogenen Randwertproblem mit

Δu = 0 in D;u = 0 auf ∂ D.

}(2.66)

Nach dem Maximumprinzip für harmonische Funktionen gilt: u(x, y) ≤ 0 für (x, y) ∈ D bzw.nach dem Minimumprinzip u(x, y) ≥ 0 für (x, y) ∈ D. Hieraus folgt aber u(x, y) = 0 bzw.u1(x, y) = u2(x, y) für alle (x, y) ∈ D. �

Bemerkung: Ist der Rand ∂ D von D »gutartig«, so lässt sich zeigen, dass die DirichletscheRandwertaufgabe (2.65) stets eine Lösung besitzt (s. Abschn. 4.2.1).

Im nachfolgenden Abschnitt behandeln wir den Spezialfall eines Kreisgebiets.

(b) Eine Dirichletsche Randwertaufgabe

Wir benutzen die Cauchysche Integralformel (Satz 2.16) zur Lösung der folgenden Dirichlet-schen Randwertaufgabe der Potentialtheorie: Sei G das Kreisgebiet

G = {(x, y)

∣∣∣ x2 + y2 < R2 , R > 0}

und ∂G der Rand von G (also der Kreis x2 + y2 = R2). Gesucht ist eine in G harmonischeFunktion u, die bei Annäherung an den Rand in die vorgegebene stetige Funktion g übergeht, diealso die Dirichletsche Randwertaufgabe mit

Δu =0 in G;u =g auf ∂G

}(2.67)

löst. Wir zeigen zunächst

Satz 2.25:

(Poissonsche Integralformel) Sei u eine im Gebiet D harmonische Funktion. Das Ge-biet G = {(x, y)

∣∣ x2 + y2 ≤ R2, R > 0} liege ganz in D. Dann gilt für r < R und0 ≤ ψ < 2π

u(r cos ψ, r sin ψ)

= 12π

2π∫0

u(R cos ϕ, R sin ϕ)R2 − r2

R2 − 2Rr cos(ϕ − ψ)+ r2 dϕ(2.68)

Page 48: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

80 2 Holomorphe Funktionen

Beweis:

Wir fassen G als Gebiet in C auf: G = {z ∣∣ |z| = |x + i y| ≤ R}. Nach Satz 2.8, Abschnitt 2.1.5,gibt es eine zu u konjugiert harmonische Funktion v, so dass

f (z) = u(x, y)+ i v(x, y)

in G holomorph ist. Nun benutzen wir die Cauchysche Integralformel (Satz 2.16, Abschn. 2.2.3)und erhalten (∂G orientieren wir positiv!)

f (z) = 12π i

∫∂G

f (ζ )

ζ − zdζ , z ∈ G . (2.69)

Wir stellen z bzw. ζ in der Form

z = r ei ψ bzw. ζ = R ei ϕ

dar und »spiegeln z am Kreis ∂G« (s. Abschn. 4.1.3), d.h. wir erhalten den »Spiegelpunkt«

z = R2

z= R2

rei ψ .

Für z gilt |z| > R, so dass f (ζ )ζ−z in G holomorph ist. Daher folgt mit dem Cauchyschen Integral-

satz (Satz 2.12, Abschn. 2.2.2)∫∂G

f (ζ )

ζ − zdζ = 0 . (2.70)

Nach (2.69) und (2.70) gilt

f (z) = 12π i

∫∂G

f (ζ )

(1

ζ − z− 1

ζ − z

)dζ .

Benutzen wir für z, ζ, z Polarkoordinaten, so ergibt sich

f (z) = 12π i

2π∫0

f (R ei ϕ)

{1

R ei ϕ −r ei ψ −1

R ei ϕ − R2

r ei ψ

}i R ei ϕ dϕ

oder, nach einfacher Umformung

f (z) = 12π

2π∫0

f (R ei ϕ)R2 − r2

R2 − 2Rr cos(ϕ − ψ)+ r2 dϕ . (2.71)

Mit f (z) = u(x, y)+ i v(x, y) folgt dann durch Realteilbildung die Behauptung. �

Page 49: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.2 Komplexe Integration 81

Bemerkung: Mit diesem Ergebnis ist noch nicht die Existenz einer Lösung des DirichletschenProblems für das Kreisgebiet gezeigt. Man erhält lediglich eine Darstellung unter der Annahme,dass es eine Lösung u(x, y) gibt. Satz 2.25 liefert uns dann die Möglichkeit, die harmonischeFunktion u im Inneren eines Kreises durch ihre Randwerte zu beschreiben.

Wir wenden uns jetzt der Frage zu: Gibt es zu beliebig vorgegebenen stetigen Randwertenimmer eine im Kreisgebiet harmonische Funktion, die diese Randwerte besitzt? Dass dies zutrifftzeigt

Satz 2.26:

Die Funktion g(ϕ) := g(R cos ϕ, R sin ϕ) sei im Intervall [0,2π ] stetig. Dann besitztdas Dirichletsche Randwertproblem (2.67) genau eine Lösung. Diese ist durch

u(r cos ψ, r sin ψ) = 12π

2π∫0

g(ϕ)R2 − r2

R2 − 2Rr cos(ϕ − ψ)+ r2 dϕ (2.72)

gegeben.

Beweis:

Wegen

ζ + zζ − z

= R2 − r2 + 2 i Rr sin(ψ − ϕ)

R2 − 2Rr cos(ψ − ϕ)+ r2 (2.73)

lässt sich (2.72) auch in der Form

u(r cos ψ, r sin ψ) = 12π

Re

⎛⎝ 2π∫

0

g(ϕ)ζ + zζ − z

⎞⎠ (2.74)

schreiben. Damit ist u (als Realteil einer in G holomorphen Funktion) in G harmonisch.Wir weisen jetzt nach, dass u auch das gewünschte Randverhalten besitzt. Hierzu zeigen wir

u(r cos ψ, r sin ψ) −→ g(ϕ0) für (r, ψ)→ (R, ϕ0). (2.75)

Wir benutzen die Beziehung

12π

2π∫0

R2 − r2

R2 + r2 − 2Rr cos(ϕ − ψ)dϕ = 1 , r < R , (2.76)

die aus der Poissonschen Integralformel (2.68) folgt, wenn man für u die konstante (harmoni-sche) Funktion u ≡ 1 setzt. Wir beachten, dass der Integrand in (2.76) positiv ist.Aus der Stetigkeit von g folgt: Zu jedem ε > 0 existiert ein δ > 0 mit∣∣g(ϕ)− g(ϕ0)

∣∣ < ε für |ϕ − ϕ0| < δ.

Page 50: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

82 2 Holomorphe Funktionen

Mit (2.72), (2.76) und A := maxϕ∈[0,2π ] |g(ϕ)− g(ϕ0)| ergibt sich

∣∣u(r cos ψ, r sin ψ)− g(ϕ0)∣∣

= 12π

∣∣∣∣∣∣2π∫

0

(R2 − r2)|g(ϕ)− g(ϕ0)|R2 + r2 − 2Rr cos(ϕ − ψ)

∣∣∣∣∣∣≤ 1

∣∣∣∣∣∣∣∫

|ϕ−ϕ0|<δ

. . .

∣∣∣∣∣∣∣ +1

∣∣∣∣∣∣∣∫

|ϕ−ϕ0|≥δ

. . .

∣∣∣∣∣∣∣≤ ε + A

∫|ϕ−ϕ0|≥δ

R2 − r2

R2 + r2 − 2Rr cos(ϕ − ψ)dϕ .

(2.77)

Nun benutzen wir die Abschätzung

R2 − r2

R2 + r2 − 2Rr cos(ϕ − ψ)≤ R2 − r2

4Rr sin2 δ4

≤ R − r

R sin2 δ4

,

die für |ψ − ϕ0| ≤ δ/2 und r ≥ R/2 gilt. Für das letzte Integral in (2.77) ergibt sich dann

A2π

∫|ϕ−ϕ0|≥δ

. . . ≤ AR

R − r

sin2 δ4

, r < R .

Wählen wir noch r ≥ 0 so, dass R − r ≤ ( RA sin2 δ

4

)ε ist, so erhalten wir∣∣∣u(r cos ψ, r sin ψ)− g(ϕ0)

∣∣∣ ≤ ε + ε = 2ε ,

woraus (2.75) folgt.Die Eindeutigkeit der Lösung ergibt sich aus Satz 2.24. �

Bemerkung: Mit Hilfe von Satz 2.26 und dem Riemannschen Abbildungssatz (s. Abschn. 4.1.2)lässt sich das Dirichletsche Randwertproblem für beliebige einfach zusammenhängende Gebietemit »gutartiger« Berandung lösen. Wir zeigen dies in Abschnitt 4.2.1.

(c) Der Fundamentalsatz der Algebra

Die Frage nach den Nullstellen von Polynomen wurde bereits in Burg/Haf/Wille [12]untersucht.Die Bedeutung dieser Frage wird z.B. bei der Konstruktion von Fundamentallösungen linearerDifferentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten deutlich (s. Burg/Haf/Wille [10]). Auch beider Operatorenmethode zur Lösung inhomogener Differentialgleichungsprobleme erweist sichder Fundamentalsatz der Algebra als sehr nützlich (s. Burg/Haf/Wille [10]). Sein Beweis beruhtauf dem folgenden

Page 51: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.2 Komplexe Integration 83

Satz 2.27:

(Satz von Liouville14) Sei f in ganz C holomorph und beschränkt. Dann ist f kon-stant.

Beweis:

Sei M > 0 eine Schranke für | f | in C:∣∣ f (z)∣∣ < M für alle z ∈ C.

Nach der Cauchy-Ungleichung (s. Abschn. 2.2.3, Satz 2.19) gilt dann für jedes r > 0 und jedesz ∈ C

∣∣ f ′(z)∣∣ ≤ M

r.

Hieraus folgt durch Grenzübergang r →∞f ′(z) = 0 für alle z ∈ C.

Daraus ergibt sich (s. Beweis von Satz 2.14, Abschn. 2.2.3), dass f ≡ const in C ist. �

Bemerkung: Man nennt Funktionen, die in der ganzen komplexen Zahlenebene holomorph sind,ganze Funktionen. Beispiele für ganze Funktionen sind: Polynome, ez, sin z und cos z. Der Satzvon Liouville besagt dann, dass die Konstanten die einzigen ganzen Funktionen sind, die in ganzC beschränkt sind.

Nun zeigen wir:

Satz 2.28:

(Fundamentalsatz der Algebra) Jedes Polynom vom Grad n in z

Pn(z) = zn + an−1zn−1 + . . .+ a0

mit komplexen Koeffizienten ai (i = 0,1, . . . , n − 1) und n ≥ 1 besitzt mindestenseine Nullstelle in C.

Beweis:

(indirekt) Wir nehmen an:

Pn(z) �= 0 für alle z ∈ C.

Dann ist durch

f (z) := 1Pn(z)

14 J. Liouville (1809-1882), französischer Mathematiker.

Page 52: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

84 2 Holomorphe Funktionen

eine in ganz C holomorphe Funktion f erklärt. Wegen

∣∣Pn(z)∣∣ = ∣∣zn∣∣ ∣∣∣1+ an−1

1z+ . . .+ a0

1zn

∣∣∣und ∣∣∣an−1

1z+ . . .+ a0

1zn

∣∣∣ <12

für hinreichend großes |z| folgt

∣∣Pn(z)∣∣ ≥ |z|n (1− 1

2

)= |z|n

2−→∞ für |z| → ∞ .

Hieraus ergibt sich∣∣ f (z)∣∣→ 0 für |z| → ∞ ,

f ist also in ganz C beschränkt. Nach Satz 2.27 folgt daher: f und damit Pn sind konstanteFunktionen. Dies ist ein Widerspruch, so dass Satz 2.28 bewiesen ist. �

Folgerung:

Jedes Polynom Pn(z) vom Grad n ≥ 1 lässt sich in der Form

Pn(z) = (z − z1)(z − z2) . . . (z − zn) (2.78)

darstellen, besitzt also genau n Nullstellen. Diese können in (2.78) auch mehrfachauftreten.

Beweis:

Für n = 1 gilt Pn(z) = z − (−a0), so dass (2.78) trivialerweise erfüllt ist. Für n > 1 besitztPn(z) nach Satz 2.28 mindestens eine Nullstelle zn , so dass sich Pn in der Form

Pn(z) = (z − zn)Pn−1(z)

mit einem Polynom Pn−1 vom Grad n− 1 darstellen lässt. Dies folgt wie in Burg/Haf/Wille [12].Nun wendet man auf Pn−1 Satz 2.28 an usw. �

Wir schließen diesen Abschnitt ab mit der folgenden

Bemerkung: Sowohl der Cauchysche Integralsatz als auch die Cauchyschen Integralformelnstellen ein wertvolles Hilfsmittel bei der Berechnung von reellen uneigentlichen Integralen dar.Wir behandeln solche Anwendungen in Abschnitt 3.2.3, (a).

Page 53: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.2 Komplexe Integration 85

Übungen

Übung 2.9:

Bestimme den Wert des Integrals

1+i∫0

zdz bzw.

1+i∫0

zdz

a) längs einer Geraden; b) längs der Parabel Im z = (Re z)2. Sind die Integrale unabhängig vomWeg ?

Übung 2.10:

Berechne

1+2 i∫1−2 i

dzz2 a) mittels Stammfunktion; b) durch Integration längs der positiv orien-

tierten Kreislinie um den Nullpunkt, die die Punkte z1 = 1− 2 i und z2 = 1+ 2 i verbindet.

Übung 2.11*:

Das Integral∫C

z2 − 1z

dz ist längs der folgenden geschlossenen, positiv orientierten Kurven zu

berechnen: a) |z − 2| = 1; b) |z| = 1 für Im z ≥ 0, 2 Im z = (Re z)2 − 1 für Im z ≤ 0.

Übung 2.12*:

Bestimme durch Verwendung der Cauchyschen Integralformeln den Wert der Integrale

a)∫

|z−2 i |=2

dz(z − i)(z + i)2 , b)

∫|z|= 1

2

sin zz3(1− z)

dz ,

wenn die entsprechenden Kurven positiv orientiert sind.

Übung 2.13:

Beweise: Ist die Funktion f holomorph im Gebiet D, so ist f genau dann konstant, wenn

f ′(z) = 0 für alle z ∈ D

gilt.

Übung 2.14*:

Beweise das folgende Minimumprinzip: Sei D ein beschränktes Gebiet mit dem Rand ∂ D. DieFunktion f sei holomorph in D, stetig in D = D ∪ ∂ D und es gelte f (z) �= 0 in D. Dann

Page 54: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

86 2 Holomorphe Funktionen

nimmt die Funktion | f | ihr Minimum auf dem Rand ∂ D an, d.h. es gibt ein z0 ∈ ∂ D mit∣∣ f (z0)∣∣ = min

z∈D

∣∣ f (z)∣∣ .

Übung 2.15*:

Bestimme das Maximum von | f | im Kreisgebiet |z| ≤ 1, wenn f (z) = z2 − 1 ist.

Übung 2.16:

Weise anhand der Funktion f (z) = sin z nach, dass das Maximumprinzip im Falle unbeschränk-ter Gebiete nicht gilt.

Übung 2.17:

Sei f (z) = f (x + i y) = u(x, y)+ i v(x, y) im Gebiet D holomorph. Zeige, es gilt

Δ(| f |2

)= 4| f ′|2

(Δ := ∂2

∂x2 +∂2

∂y2

).

2.3 Erzeugung holomorpher Funktionen durch Grenzprozesse

Wir wollen aufzeigen, dass sich jede holomorphe Funktion durch eine (komplexe) Potenzrei-he darstellen lässt. Auf diese Weise gewinnen wir eine weitere Charakterisierung holomorpherFunktionen mit interessanten Konsequenzen.

2.3.1 Folgen von Funktionen

In diesem Abschnitt beschäftigt uns insbesondere die Frage, unter welchen Bedingungen eineFolge von holomorphen Funktionen eine holomorphe Grenzfunktion besitzt. Außerdem sind wiran einer Klärung der Fragen interessiert, unter welchen Voraussetzungen eine Vertauschung vonGrenzübergang und Integration bzw. Differentiation erlaubt ist. Wir benötigen hierzu

Definition 2.4:

(a) Die komplexwertigen Funktionen fn (n ∈ N) seien auf einer Menge D ⊂ C

erklärt. Die Folge { fn} heißt konvergent im Punkt z0 ∈ D, falls die (komplexe)Punktfolge { fn(z0)} konvergent ist. Wir sagen, { fn} ist punktweise konvergent inD, falls { fn} für jedes z ∈ D konvergiert. Man nennt dann die durch

f (z) = limn→∞ fn(z) , z ∈ D (2.79)

erklärte Funktion f Grenzfunktion der Folge { fn}

Page 55: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.3 Erzeugung holomorpher Funktionen durch Grenzprozesse 87

(b) { fn} heißt gleichmäßig konvergent in D mit Grenzfunktion f , wenn es zu jedemε > 0 eine natürliche Zahl n0 = n0(ε) gibt, so dass∣∣ fn(z)− f (z)

∣∣ < ε für alle n ≥ n0 und für alle z ∈ D (2.80)

gilt.

Diese Definition entspricht völlig dem reellen Fall (s. Burg/Haf/Wille [12]). Wie im Reellenergibt sich auch

Satz 2.29:

(Cauchy-Konvergenzkriterium) Die Funktionenfolge { fn} konvergiert gleichmäßig aufD gegen eine Funktion f genau dann, wenn es zu jedem ε > 0 eine natürliche Zahln0 = n0(ε) gibt, so dass∣∣ fn(z)− fm(z)

∣∣ < ε für alle n, m ≥ n0 und für alle z ∈ D (2.81)

gilt.

Der Begriff der gleichmäßigen Konvergenz spielt im Zusammenhang mit den oben angesproche-nen Vertauschungsfragen dieselbe Rolle, wie uns das schon aus dem Reellen (s. Burg/Haf/Wille[12]) bekannt ist. Wir zeigen:

Satz 2.30:

Sei { fn} eine Folge auf einem Gebiet D holomorpher Funktionen. Ferner sei { fn} aufjeder kompakten Teilmenge G von D gleichmäßig konvergent gegen f . Dann gilt

(i) Die Grenzfunktion f ist holomorph in D.

(ii) Für jede stückweise glatte, orientierte Kurve C in D gilt∫C

f (z)dz =∫C

limn→∞ fn(z)dz = lim

n→∞

∫C

fn(z)dz . (2.82)

Beweis:

Wir zeigen zunächst (ii): Seien z0 ∈ D und ε > 0 beliebig. Da D ein Gebiet ist, gibt es ein r > 0,so dass

Kr (z0) :={

z ∈ D| |z − z0| ≤ r}⊂ D .

Aus der gleichmäßigen Konvergenz von { fn} gegen f folgt: Es existiert eine natürliche Zahln0 = n0(ε), so dass∣∣ fn(z)− f (z)

∣∣ < ε für alle n ≥ n0 und für alle z ∈ Kr (z0) (2.83)

Page 56: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

88 2 Holomorphe Funktionen

gilt. Aus der Holomorphie der Funktionen fn in D ergibt sich insbesondere ihre Stetigkeit in D.Zu dem oben gewählten ε > 0 gibt es daher ein δ ∈ (0, r) mit∣∣ fn(z)− fn(z0)

∣∣ < ε für alle z ∈ Kδ(z0) und für jedes feste n. (2.84)

Mit Hilfe der Dreiecksungleichung und den Abschätzungen (2.83) und (2.84) folgt dann∣∣ f (z)− f (z0)∣∣ ≤ ∣∣ f (z)− fn(z)

∣∣+ ∣∣ fn(z)− fn(z0)∣∣+ ∣∣ fn(z0)− f (z0)

∣∣< 3ε für alle n ≥ n0 und für alle z ∈ Kδ(z0).

Daraus erhalten wir, da z0 ∈ D beliebig ist, die Stetigkeit von f in D. Damit existiert∫

c f (z)dzund mit Satz 2.11, Abschnitt 2.2.1, folgt∣∣∣∣∣∣

∫C

f (z)dz −∫C

fn(z)dz

∣∣∣∣∣∣ =∣∣∣∣∣∣∫C

[f (z)− fn(z)

]dz

∣∣∣∣∣∣ ≤ L(C) maxz∈C

∣∣ f (z)− fn(z)∣∣ . (2.85)

Da C eine kompakte Teilmenge von D ist (warum?) und { fn} nach Voraussetzung in jeder kom-pakten Teilmenge von D gleichmäßig gegen f konvergiert, gibt es zu ε > 0 eine natürliche ZahlN0 = N0(ε), so dass für alle n ≥ N0 und für alle z ∈ C∣∣ f (z)− fn(z)

∣∣ <ε

L(C)

bzw.

maxz∈C

∣∣ f (z)− fn(z)∣∣ ≤ ε

L(C)

gilt. Aus (2.85) ergibt sich dann (ii).

Zum Nachweis von (i) sei z0 ∈ D beliebig und Kr (z0) ⊂ D wie oben. Wegen (ii) gilt dannfür jede geschlossene, stückweise glatte, orientierte Kurve C in Kr (z0)∫

C

f (z)dz = limn→∞

∫C

fn(z)dz .

Da fn holomorph ist für alle n ∈ N, verschwindet das letzte Integral für jedes n, und der Satzvon Morera ergibt, dass f holomorph in Kr (z0) ist. Da wir z0 ∈ D beliebig gewählt haben, folgt(i), so dass Satz 2.30 bewiesen ist. �

Die gliedweise Differentiation von Funktionenfolgen regelt

Satz 2.31:

Sei { fn} eine Folge auf einem Gebiet D holomorpher Funktionen. Ferner sei { fn} aufjeder kompakten Teilmenge G von D gleichmäßig konvergent gegen f . Dann gilt für

Page 57: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.3 Erzeugung holomorpher Funktionen durch Grenzprozesse 89

jede natürliche Zahl k

f (k)(z) = limn→∞ f (k)

n (z) (2.86)

gleichmäßig auf jeder kompakten Teilmenge G von D.

Fig. 2.24: Überdeckung von G

Beweis:

Sei G irgendeine kompakte Teilmenge von D. Da D offen ist, gilt G ∩ ∂ D = ∅ (∂ D: Rand vonD; ∅: leere Menge). Nach Hilfssatz 1.1, Abschnitt 1.1.4, gibt es ein d > 0, so dass

|z − w| ≥ d für alle z ∈ G und alle w ∈ ∂ D

gilt. Die Mengen

U d2(z) =

{ζ ∈ D| |z − ζ | < d

2, z ∈ G

}

bilden eine offene Überdeckung von G. Da G kompakt ist, gibt es eine endliche Teilüberdeckungvon G, d.h. es gibt endlich viele Punkte z1, . . . , zm ∈ G, so dass

G ⊂m⋃

j=1

U d2(z j ) . (2.87)

Nun setzen wir K j ={z ∈ D

∣∣|z − z j | = 34 d}, j = 1, . . . , m. K j und In (K j ) liegen im Holo-

morphiebereich D der Funktionen fn und damit nach Satz 2.30 auch im Holomorphiebereich vonf . Nun benutzen wir die Cauchysche Integralformel für die k-te Ableitung von f (s. Satz 2.18,

Page 58: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

90 2 Holomorphe Funktionen

Abschn. 2.2.3), wobei wir K j positiv orientieren:

∣∣∣ f (k)(z)− f (k)n (z)

∣∣∣ =∣∣∣∣∣∣∣

k!2π i

∫K j

f (ζ )− fn(ζ )

(ζ − z)k+1 dζ

∣∣∣∣∣∣∣ , z ∈ U d2(z j ) .

Das letzte Integral schätzen wir mit Hilfe von Satz 2.11 ab und erhalten für festes j :

∣∣∣ f (k)(z)− f (k)n (z)

∣∣∣ ≤ k!2π

L(K j ) maxζ∈K j

| f (ζ )− fn(ζ )| ·(

d4

)−k−1

≤ 3k!(

d4

)−k

maxζ∈K j

| f (ζ )− fn(ζ )| .

Da { fn} in jeder kompakten Teilmenge von D gleichmäßig gegen f konvergiert, K j eine kom-pakte Teilmenge von D ist, gibt es zu jedem ε > 0 ein n j = n j (ε) ∈ N, so dass für alle n > n jund alle ζ ∈ K j

| f (ζ )− fn(ζ )| <[

3k!(

d4

)−k]−1

ε

gilt. Damit folgt für alle n > n j∣∣∣ f (k)(z)− f (k)n (z)

∣∣∣ < ε für alle z ∈ U d2(z j ) ( j = 1, . . . , m).

Setzen wir noch n0 = max j=1,...,m n j , so erhalten wir∣∣∣ f (k)(z)− f (k)n (z)

∣∣∣ < ε

für alle n ≥ n0 und alle z ∈ G (wir beachten (2.87)). �

2.3.2 Reihen von Funktionen

Die Untersuchung einer Funktionenreihe[ ∞∑k=1

fk(z)

](2.88)

im Komplexen, kann – wie im Reellen – durch Betrachtung der Teilsummen von (2.88):

sn(z) :=n∑

k=1

fk(z) (2.89)

auf Abschnitt 2.3.1 zurückgeführt werden. Wir sagen, die Reihe (2.88) konvergiert punktweise(bzw. gleichmäßig) auf einer Menge D ⊂ C, falls die Folge {sn} der Teilsummen von (2.88)auf D punktweise (bzw. gleichmäßig) konvergiert.

Page 59: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.3 Erzeugung holomorpher Funktionen durch Grenzprozesse 91

Das Cauchy-Konvergenzkriterium (s. Satz 2.29) gilt entsprechend auch für Reihen von Funk-tionen. Aus der reellen Analysis (s. Burg/Haf/Wille [12]) kann der Beweis des folgenden wich-tigen Kriteriums zum Nachweis der gleichmäßigen Konvergenz einer Funktionenreihe direktübernommen werden:

Satz 2.32:

(Weierstrass’sches Majorantenkriterium) Die Funktionen fk (k = 1,2, . . .) seien aufeiner Menge D ⊂ C erklärt. Es gelte

(a) | fk(z)| ≤ Mk für alle k ∈ N und alle z ∈ D;

(b)[∑∞

k=1 Mk]

sei konvergent.

Dann folgt: Die Funktionenreihe[∑∞

k=1 fk(z)]

konvergiert gleichmäßig auf D.

Wir wenden uns nun der Betrachtung von Reihen von Funktionen zu, bei denen die Summandenholomorphe Funktionen sind. Die Übertragung der Vertauschungssätze aus Abschnitt 2.3.1 führtzu

Satz 2.33:

Die Funktionen fk (k ∈ N) seien auf einem Gebiet D holomorph. Ferner sei dieFunktionenreihe

[∑∞k=1 fk

]auf jeder kompakten Teilmenge G von D gleichmäßig

konvergent gegen f . Dann gilt:

(i) Die Funktion f ist holomorph in D.

(ii) Für jede stückweise glatte, orientierte Kurve C in D gilt

∫C

f (z)dz =∞∑

k=1

∫C

fk(z)dz . (2.90)

(iii) Für jede natürliche Zahl l gilt

f (l)(z) =∞∑

k=1

f (l)k (z) , (2.91)

gleichmäßig auf jeder kompakten Teilmenge G von D.

2.3.3 Potenzreihen

Zwischen holomorphen Funktionen und Potenzreihen bestehen sehr enge Zusammenhänge, diewir im Folgenden herausarbeiten wollen.

Wie im Reellen (s. Burg/Haf/Wille [12]) versteht man unter einer Potenzreihe eine spezielleFunktionenreihe der Gestalt[ ∞∑

k=0

ak(z − z0)k

]. (2.92)

Page 60: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

92 2 Holomorphe Funktionen

Die komplexen Zahlen ak (k = 0,1, . . .) sind die Koeffizienten, z0 ∈ C ist der Entwicklungspunktder Potenzreihe (2.92).

Die Resultate über reelle Potenzreihen, die wir in Burg/Haf/Wille [12]gewonnen haben, lassensich unmittelbar auf den komplexen Fall übertragen; ebenso die entsprechenden Beweise. Esergibt sich

Fig. 2.25: Konvergenz- bzw. Divergenzbereich einerPotenzreihe

Fig. 2.26: Bereich der gleichmäßigen Konvergenz

Satz 2.34:

Zu jeder Potenzreihe (2.92) gibt es ein ρ mit 0 ≤ ρ ≤ ∞, den sogenannten Konver-genzradius, so dass diese Potenzreihe

(i) absolut konvergiert im Kreisgebiet {z| |z − z0| < ρ};(ii) gleichmäßig konvergiert auf {z| |z − z0| ≤ r < ρ für alle r mit 0 < r < ρ};

(iii) divergiert auf {z| |z − z0| > ρ}.(s. Fig. 2.25 und 2.26). Der Konvergenzradius ρ lässt sich aus den Koeffizienten derPotenzreihe mit der Formel

ρ = 1

limk→∞ k√|ak |

(2.93)

bzw., falls der folgende Grenzwert existiert, aus

ρ = 1

limk→∞∣∣∣ ak+1

ak

∣∣∣ (2.94)

berechnen.

Bemerkung: Ist ρ = 0, so konvergiert die Potenzreihe (2.92) nur im Punkt z0; ist ρ = ∞ sokonvergiert (2.92) in ganz C.

Welcher Zusammenhang besteht nun eigentlich zu holomorphen Funktionen? Wir zeigen zu-nächst

Page 61: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.3 Erzeugung holomorpher Funktionen durch Grenzprozesse 93

Satz 2.35:

Besitzt die Potenzreihe[ ∞∑k=0

ak(z − z0)k

]

einen von Null verschiedenen Konvergenzradius ρ, so wird durch sie eine auf demKreisgebiet {z∣∣|z − z0| < ρ} holomorphe Funktion erklärt.

Beweis:

Nach Satz 2.34 (ii) ist[∑∞

k=0 ak(z − z0)k] gleichmäßig konvergent auf {z| |z− z0| ≤ r < ρ} für

alle r mit 0 < r < ρ, also nach Satz 2.33 (i) dort holomorph. Da r beliebig ist mit 0 < r < ρ,ergibt sich die Holomorphie auch in {z| |z − z0| < ρ}. �

Hilfssatz 2.1:

Sei f die durch∑∞

k=0 ak(z − z0)k definierte Funktion und sei ρ > 0. Dann gilt in

{z| |z − z0| < ρ}

f (n)(z) =∞∑

k=n

akk!

(k − n)! (z − z0)k−n .

Beweis:

Wegen Satz 2.33 (iii) dürfen wir die Potenzreihe gliedweise differenzieren. Wir erhalten

f (n)(z) =∞∑

k=n

ak · k(k − 1) · . . . · (k − n + 1)(z − z0)k−n

und mit

k(k − 1) . . . (k − n + 1) = k!(k − n)!

die Behauptung. �Wir zeigen nun, dass auch die Umkehrung von Satz 2.35 gilt:

Satz 2.36:

Jede in Uρ(z0) = {z| |z − z0| < ρ, 0 < ρ ≤ ∞} holomorphe Funktion f lässt sichdort durch eine Potenzreihe darstellen:

f (z) =∞∑

k=0

ak(z − z0)k (2.95)

Page 62: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

94 2 Holomorphe Funktionen

Beweis:

Sei |z − z0| ≤ r < r0 < ρ und Kr0(z0) = {z| |z − z0| = r0}. Nach Satz 2.16, Abschnitt 2.2.3,gilt bei positiver Orientierung von Kr0(z0)

f (z) = 12π i

∫Kr0 (z0)

f (ζ )

ζ − zdζ . (2.96)

Nun entwickeln wir den Integranden nach Potenzen von z − z0: Für |ζ − z0| = r0 gilt

1ζ − z

= 1ζ − z0

(1

1− z−z0ζ−z0

)= 1

ζ − z0

∞∑k=0

(z − z0

ζ − z0

)k

. (2.97)

Wegen∣∣∣∣∣(

z − z0

ζ − z0

)k∣∣∣∣∣ ≤

(rr0

)k

< 1

konvergiert die geometrische Reihe[∑∞

k=0

(z−z0ζ−z0

)k]

nach Satz 2.32 gleichmäßig bezüglich ζ

auf dem Kreis |ζ − z0| = r0 (und gleichmäßig bezüglich z in |z − z0| ≤ r ). Nach Voraussetzungist f holomorph in Uρ(z0), also insbesondere stetig auf Kr0(z0). Daher ist f auf Kr0(z0) auchbeschränkt. Dies ergibt zusammen mit unseren obigen Überlegungen:

f (ζ )

ζ − z=

∞∑k=0

f (ζ )

ζ − z0

(z − z0

ζ − z0

)k

=∞∑

k=0

f (ζ )(z − z0)

k

(ζ − z0)k+1 ,

wobei diese Reihe gleichmäßig bezüglich ζ für |ζ − z0| = r0 konvergiert. Nach Satz 2.33 (ii)dürfen wir in

f (z) = 12π i

∫Kr0 (z0)

{ ∞∑k=0

f (ζ )(z − z0)

k

(ζ − z0)k+1

}dζ

die Integration mit der Summation vertauschen, und wir erhalten

f (z) =∞∑

k=0

⎧⎪⎨⎪⎩

12π i

∫Kr0 (z0)

f (ζ )

(ζ − z0)k+1 dζ

⎫⎪⎬⎪⎭ (z − z0)

k ,

also mit

ak = 12π i

∫Kr0 (z0)

f (ζ )

(ζ − z0)k+1 dζ (2.98)

Page 63: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.3 Erzeugung holomorpher Funktionen durch Grenzprozesse 95

die gewünschte Potenzreihenentwicklung

f (z) =∞∑

k=0

ak(z − z0)k .

Die Koeffizienten ak sind unabhängig davon, wie wir r0 wählen (warum?). Ferner konvergiertdie Potenzreihe für alle z mit |z − z0| < ρ, woraus sich die Behauptung von Satz 2.36 ergibt. �

Bemerkung 1: Dieser Beweis unterstreicht erneut die Bedeutung der Cauchyschen Integralfor-mel.Bemerkung 2: Formel (2.98) im Beweis von Satz 2.36 ermöglicht es uns, die Koeffizienten akder Potenzreihenentwicklung von f aus der Funktion f zu berechnen. Nehmen wir außerdemnoch Satz 2.18, Abschnitt 2.2.3, hinzu, so ergibt sich

ak = f (k)(z0)

k! , k = 0,1, . . . , (2.99)

d.h. die ak sind die Koeffizienten der Taylorentwicklung von f um z0.Wir lösen uns nun von dem speziellen Kreisgebiet Uρ(z0) in Satz 2.36 und beweisen

Satz 2.37:

Sei f eine im Gebiet D holomorphe Funktion. Dann lässt sich f um jeden Punktz0 ∈ D in eine Taylorreihe

f (z) =∞∑

k=0

f (k)(z0)

k! (z − z0)k (2.100)

entwickeln, die in jedem Kreisgebiet um z0, das ganz in D liegt, konvergiert. DieDarstellung (2.100) ist eindeutig.

Fig. 2.27: Zum Beweis von Satz 2.37

Beweis:

Sei ρ der Abstand des Punktes z0 vom Rand ∂ D von D. Dann ist Uρ(z0) = {z ∈ C| |z− z0| < ρ}ganz in D enthalten (s. Fig. 2.27). Nach Satz 2.37 und Bemerkung 2 gilt daher (2.100) in Uρ(z0).

Page 64: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

96 2 Holomorphe Funktionen

Wir haben noch die Eindeutigkeit dieser Darstellung zu zeigen: Hierzu nehmen wir an, f besitzteine weitere Darstellung durch eine Potenzreihe:

f (z) =∞∑

k=0

bk(z − z0)k ,

in einer Umgebung von z0. Nach Hilfssatz 2.1 gilt dann

f (n)(z) =∞∑

k=n

bkk!

(k − n)! (z − z0)k−n ,

woraus für z = z0 und für beliebige n ∈ N0

f (n)(z0) = bn · n!folgt. Die bn sind also notwendig die Taylorkoeffizienten von f . �

Bemerkung: Jede holomorphe Funktion besitzt also nur eine Potenzreihenentwicklung: Die Tay-lorentwicklung.

2.3.4 Charakterisierung holomorpher Funktionen

Aus den in den Abschnitten 2.1 bis 2.3 gewonnenen Resultaten ergeben sich vier verschiedeneMöglichkeiten, die Holomorphie einer Funktion zu erklären. Es gilt nämlich

Satz 2.38:

Sei D ein beliebiges Gebiet in C. Dann sind die folgenden Aussagen äquivalent:

(a) f ist holomorph in D, d.h. f ist in D stetig differenzierbar;(b) ist f (z) = f (x + i y) = u(x, y) + i v(x, y), so sind die Funktionen u und v in

D (als Gebiet im R2 aufgefasst) stetig differenzierbar und genügen den Cauchy-

Riemannschen Differentialgleichungen

ux (x, y) = vy(x, y) , uy(x, y) = −vx (x, y)

(c) ist G ein einfach zusammenhängendes Teilgebiet von D und C eine beliebigegeschlossene ganz in G verlaufende stückweise glatte Kurve, so gilt der Cauchy-sche Integralsatz∫

C

f (z)dz = 0 ,

(d) f besitzt um jeden Punkt z0 von D eine (eindeutig bestimmte) Potenzreihenent-wicklung, deren Konvergenzradius positiv ist.

Page 65: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.3 Erzeugung holomorpher Funktionen durch Grenzprozesse 97

Der Beweis ergibt sich durch Kombination der Sätze aus den vorausgehenden Abschnitten.

2.3.5 Analytische Fortsetzung

Ziel dieses Abschnittes ist es, die Grundideen der analytischen Fortsetzung von holomorphenFunktionen, also der Erweiterung dieser Funktionen auf größere Holomorphiegebiete, zu ver-deutlichen. Zunächst zeigen wir

Satz 2.39:

(Identitätssatz für holomorphe Funktionen) Die beiden Funktionen f und g seien imGebiet D holomorph. Ferner sei {zn} eine Folge von verschiedenen komplexen Zahlenin D mit mindestens einem Häufungspunkt z0 in D. Gilt außerdem

f (zn) = g(zn) für alle n ∈ N,

so folgt

f (z) = g(z) für alle z ∈ D.

Bemerkung: Dieser Satz hat eine interessante Konsequenz: Holomorphe Funktionen sind bereitsdurch ihre Funktionswerte an unendlich vielen verschiedenen Punkten, die sich an mindestenseinem Punkt im Holomorphiegebiet häufen, eindeutig bestimmt. Diese Aussage ist weitergehendals die in Abschnitt 2.2.3, III, gewonnene, wo wir gezeigt haben, dass holomorphe Funktionendurch ihre »Randwerte« bestimmt sind. Insbesondere ist also eine in D holomorphe Funktion inD eindeutig festgelegt, wenn sie in beliebig kleinen Umgebungen eines Punktes z ∈ D bekanntist.

Beweis:

Wir nehmen ohne Beschränkung der Allgemeinheit an, dass die Folge {zn} gegen z0 konvergiert(sonst Verwendung einer gegen z0 konvergenten Teilfolge). Setzen wir: h = f − g, so folgt: DieFunktion h ist holomorph in D, und es gilt h(zn) = 0 für alle n ∈ N. Nach Satz 2.36 gibt es dannein ρ > 0, so dass Uρ(z0) ⊂ D ist und h sich in Uρ(z0) durch eine Potenzreihe darstellen lässt

h(z) =∞∑

k=0

ak(z − z0)k .

Aus der Stetigkeit von h in z0 folgt, da h(zn) = 0 für alle n ∈ N ist,

a0 = h(z0) = limn→∞ h(zn) = 0

d.h.

h(z) =∞∑

k=1

ak(z − z0)k .

Page 66: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

98 2 Holomorphe Funktionen

Durch gliedweise Differentiation dieser Reihe (nach Satz 2.33 (iii), Abschn. 2.3.2, erlaubt!) ge-winnen wir

h′(z) = a1 + 2a2(z − z0)+ . . .

und hieraus, da h(z0) = 0, h(zn) = 0 für alle n ∈ N und h′ stetig in z0 ist,

h′(z0) = a1 = limn→∞

h(zn)− h(z0)

zn − z0= 0 .

Mittels vollständiger Induktion erhalten wir so ak = 0 für alle k ∈ N und damit

h(z) = 0 in Uρ(z0) bzw. f (z) = g(z) in Uρ(z0).

Fig. 2.28: Kreiskettenverfahren

Sei nun z ∈ D beliebig. Wir zeigen: f (z) = g(z). Hierzu benutzen wir das Kreiskettenver-fahren aus dem Beweis von Satz 2.21, Abschnitt 2.2.5: Demnach gibt es endlich viele Punkteα0= z0, α1, . . . , αm = z und Kreisgebiete Ud(α0), Ud(α1), . . . , Ud(αm) mit

Ud(αi ) ⊂ D (i = 0,1, . . . , m) , αi ∈ Ud(αi−1) (i = 1, . . . , m) .

Da α1 innerer Punkt von Ud(α0) ist, gilt insbesondere f (z) = g(z) in einer Umgebung von α1.Nun können wir den obigen ersten Beweisschritt erneut anwenden und erhalten f (z) = g(z) inUd(α1) und – nach m-facher Wiederholung – f (z) = g(z) in Ud(αm), woraus sich insbesonderef (αm) = g(αm) ergibt. Wegen αm = z ist dies die Behauptung. �

Bemerkung: Ist der Punkt z0 in Satz 2.39 ein Randpunkt von D, so gilt die Aussage diesesSatzes im Allgemeinen nicht. Nehmen wir z.B. für D das Gebiet C− {0} und wählen wir

f (z) = sin1z

, g(z) = 0 .

Mit z0 = 0 ∈ ∂ D erhalten wir dann für die Folge {zn} mit zn = 1πn : zn → z0 = 0 für n → ∞

und f (zn) = g(zn). Dennoch ist f �≡ g in D.

Page 67: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.3 Erzeugung holomorpher Funktionen durch Grenzprozesse 99

Eine andere Fassung des Identitätssatzes, die nur die Funktionen und sämtliche Ableitungendieser Funktionen an einer Stelle heranzieht, ist gegeben durch

Satz 2.40:

Die Funktionen f und g seien im Gebiet D holomorph. Ferner gelte in einem Punktz0 ∈ D

f (k)(z0) = g(k)(z0) für k = 0,1, . . . . (2.101)

Dann gilt

f (z) = g(z) für alle z ∈ D . (2.102)

Beweis:

Da z0 innerer Punkt von D ist, gibt es nach Satz 2.37, Abschnitt 2.3.3, eine Umgebung von z0,in der sich f und g durch Taylorentwicklungen darstellen lassen:

f (z) =∞∑

k=0

f (k)(z0)

k! (z − z0)k bzw.

g(z) =∞∑

k=0

g(k)(z0)

k! (z − z0)k .

Wegen (2.101) stimmen diese Reihen dort – und daher nach Satz 2.39 in ganz D – überein. Damitsind die Funktionen f und g in D identisch. �

Der Identitätssatz liefert uns die Möglichkeit, das »Nullstellenverhalten« von holomorphenFunktionen besser zu verstehen. Wir wenden uns nun diesem Anliegen zu:

Definition 2.5:

Die Funktion f sei holomorph im Punkt z0 (d.h. stetig differenzierbar in einer Umge-bung von z0!). Der Punkt z0 heißt Nullstelle der Ordnung m der Funktion f , falls eseine in z0 holomorphe Funktion g gibt, mit g(z0) �= 0 und

f (z) = (z − z0)m g(z) . (2.103)

Es gilt dann

Satz 2.41:

Die Funktion f sei im Punkt z0 holomorph. Der Punkt z0 ist eine Nullstelle der Ord-nung m von f genau dann, falls

f (z0) = f ′(z0) = . . . = f (m−1)(z0) = 0 und f (m)(z0) �= 0

erfüllt ist.

Page 68: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

100 2 Holomorphe Funktionen

Beweis:

Die eine Richtung ist trivial (Produktregel), die andere folgt aus der Potenzreihenentwicklungvon f . �

Satz 2.42:

(Isoliertheit der Nullstellen und ihre Ordnung) Die Funktion f sei holomorph imKreisgebiet Kρ(z0) = {z| |z − z0| < ρ}, nicht identisch Null und erfülle f (z0) = 0.Dann gilt

(a) Es gibt eine natürliche Zahl m mit

f (z0) = f ′(z0) = . . . = f (m−1)(z0) = 0 und f (m)(z0) �= 0

(d.h. z0 ist eine Nullstelle der Ordnung m von f ).

(b) Es gibt ein r0 ∈ (0, ρ] mit

f (z) �= 0 in 0 < |z − z0| < r0

(d.h. die Nullstelle z0 von f ist isoliert.)

Fig. 2.29: Isoliertheit der Nullstellen

Beweis:

(1) Aus der Holomorphie von f in Kρ(z0) folgt mit Satz 2.37, Abschnitt 2.3.3,

f (z) =∞∑

k=0

ak(z − z0)k in Kρ(z0),

mit ak = f (k)(z0)k! . Wegen a0 = f (z0) = 0 gibt es, da f nicht identisch verschwindet, eine

kleinste natürliche Zahl m, so dass am �= 0, also f (m)(z0) �= 0 ist.

(2) Nach dem Identitätssatz (Satz 2.39) kann z0 nicht Häufungspunkt von Nullstellen von fsein. Es gibt daher ein r0 ∈ (0, ρ] mit

f (z) �= 0 für alle z mit 0 < |z − z0| < r0.

Page 69: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.3 Erzeugung holomorpher Funktionen durch Grenzprozesse 101

Der Identitätssatz erschließt uns noch eine weitere wichtige Thematik: Die Frage nach der»Fortsetzbarkeit«

(i) von reellen Funktionen ins Komplexe;

(ii) von komplexen Funktionen auf »größere« Gebiete.

Zu (i): Wir erinnern an Abschnitt 1.2.3, wo wir einige elementare Funktionen (ez , sin z usw.)ausgehend von ihren reellen Reihendarstellungen mit Hilfe der entsprechenden komplexen Reiheeingeführt haben.

Dabei blieb die Frage offen, ob diese Erweiterungen eindeutig sind. Wir wollen unser Anlie-gen präzisieren. Hierzu führen wir die folgende Begriffsbildung ein (s. auch Fig. 2.30):

Definition 2.6:

Die reellwertige Funktion f sei auf dem offenen Intervall I ⊂ R erklärt. Ferner sei Feine auf einem Gebiet D ⊂ C holomorphe Funktion. Gilt dann I ⊂ D und

F(x) = f (x) , für alle x ∈ I , (2.104)

so heißt F holomorphe Ergänzung von f auf D.

Fig. 2.30: Holomorphe Ergänzung auf D

Aus Satz 2.39 (Identitätssatz) ergibt sich unmittelbar

Satz 2.43:

Es gibt höchstens eine holomorphe Ergänzung F von f auf D ⊃ I .

Damit ist unsere Vorgehensweise bei der Einführung der elementaren Funktionen ez, sin z, cos z(s. Abschn. 1.2.3) voll legitimiert: Für

f (x) = ex =∞∑

k=0

xk

k! , x ∈ R ist F(z) =∞∑

k=0

zk

k! , z ∈ C

Page 70: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

102 2 Holomorphe Funktionen

die (eindeutig bestimmte) holomorphe Ergänzung von f auf D = C; entsprechend für

f (x) = sin x =∞∑

k=0

(−1)k

(2k + 1)! x2k+1 , x ∈ R

die Funktion

F(z) = sin z =∞∑

k=0

(−1)k

(2k + 1)! z2k+1 , z ∈ C

und für

f (x) = cos x =∞∑

k=0

(−1)k

(2k)! x2k , x ∈ R

die Funktion

F(z) = cos z =∞∑

k=0

(−1)k

(2k)! z2k , z ∈ C .

Zu (ii): Wir lassen jetzt anstelle des offenen Intervalls I ⊂ R allgemein ein Gebiet D ⊂ C zuund behandeln die Frage, ob sich eine in D holomorphe Funktion f zu einer in einem größerenGebiet D ⊃ D holomorphen Funktion fortsetzen lässt.

Definition 2.7:

Es seien D1 und D2 zwei Gebiete mit D1 ∩ D2 �= ∅ (D1 ⊂ D2 oder D2 ⊂ D1 istzugelassen). Die Funktion f1 sei holomorph auf D1, die Funktion f2 holomorph aufD2. Gilt dann

f1(z) = f2(z) auf D1 ∩ D2,

so heißt f1 analytische Fortsetzung von f2 auf D1 (bzw. f2 analytische Fortsetzungvon f1 auf D2).

Fig. 2.31: Analytische Fortsetzung auf D1 bzw. D2

Page 71: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.3 Erzeugung holomorpher Funktionen durch Grenzprozesse 103

Insbesondere ist die holomorphe Ergänzung einer Funktion (im Sinne von Def. 2.6) auch analy-tische Fortsetzung dieser Funktion (D1 = I ⊂ R).

Beispiel 2.13:

Es seien

f1(z) = 11− z

und D1 = C− {1} ;

f2(z) =∞∑

k=0

zk und D2 = {z| |z| < 1} .

Dann gilt auf D1 ∩ D2: f1 = f2. Daher ist f1 eine analytische Fortsetzung von f2 auf D1. Wirzeigen jetzt

Satz 2.44:

Seien D1 und D2 Gebiete mit D1 ∩ D2 �= ∅ und sei f eine auf D1 holomorpheFunktion. Ist dann F eine analytische Fortsetzung von f auf D2, so ist sie eindeutigbestimmt.

Beweis:

Seien F1 und F2 zwei analytische Fortsetzungen von f auf D2. Wir setzen dann

F := F1 − F2 .

Die Funktion F ist holomorph auf D2, und es gilt

F(z) = F1(z)− F2(z) = f (z)− f (z) = 0

für alle z ∈ D1 ∩ D2. Nach Satz 2.39 (Identitätssatz) gilt daher F = 0 auf D2, d.h. F1 = F2 aufD2. �

Analytische Fortsetzung der Logarithmus-Funktion

Um einige mit Fortsetzungsfragen zusammenhängende Probleme aufzuzeigen, greifen wir einekonkrete Situation auf: Wir wenden uns erneut der Logarithmus-Funktion zu, die wir schon inAbschnitt 2.1.4 kennengelernt haben. Wir wollen die Fortsetzbarkeit der Funktion ln x , x > 0,untersuchen. Der naheliegendste Weg der Erweiterung besteht in der Verwendung der Potenzrei-henentwicklung dieser Funktion. Wegen

ln x = ln{

x0

(1+ x − x0

x0

)}= ln x0 + ln

(1+ x − x0

x0

)

gewinnen wir die Potenzreihendarstellung von ln x um einen Punkt x0 (x0 > 0), indem wirln(

1+ x−x0x0

)in eine Potenzreihe entwickeln (s. hierzu Burg/Haf/Wille [12]). Dadurch ergibt

Page 72: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

104 2 Holomorphe Funktionen

sich

ln x = ln x0 +∞∑

k=1

(−1)k+1

k

(x − x0

x0

)k

= ln x0 +∞∑

k=1

(−1)k+1

kxk0

(x − x0)k . (2.105)

Die Reihe in (2.105) besitzt den Konvergenzradius x0 (Konvergenz liegt ja für∣∣∣ x−x0

x0

∣∣∣ < 1, alsofür |x−x0| < x0 vor!). Die holomorphe Ergänzung von ln x auf das Kreisgebiet {z| |z−x0| < x0}ist durch

F(z) = ln x0 +∞∑

k=1

(−1)k+1

kxk0

(z − x0)k , |z − x0| < x0 (2.106)

gegeben. Dieses Resultat ist noch unbefriedigend. Bei der stetigen Fortsetzung von Funktionenmöchte man zu »möglichst großen« Gebieten D gelangen. Zur Realisierung dieses Anliegens fürdie Logarithmus-Funktion gehen wir jetzt von der Integraldarstellung

ln x =x∫

1

dtt

(2.107)

aus. Für D wählen wir die längs der negativen reellen Achse aufgeschnittene z-Ebene: D =C− {x ∈ R

∣∣x ≤ 0} (vgl. Abschn. 2.1.4, Fig. 2.6). Nun setzen wir

F(z) =z∫

1

ζ, z ∈ D . (2.108)

Ist der Integrationsweg C in (2.108) ganz in D enthalten, so hängt der Wert des Integrals nur vonz, nicht aber von C , ab. Ferner gilt: F ist holomorph in D (der Nullpunkt gehört nicht zu D!) underfüllt F ′(z) = 1/z. Ist I ⊂ R

+ ein beliebiges, offenes Intervall, so folgt wegen F(x) = ln x fürx ∈ I , dass F die holomorphe Ergänzung von ln x auf D ist. Da die Funktionen F (s. (2.106))und F für x > 0 übereinstimmen, stimmen sie nach dem Identitätssatz auch im Kreisgebiet{z| |z − x0| < x0} überein, d.h. F ist die analytische Fortsetzung von F auf D.

Wir wollen das Integral in (2.108) berechnen. Hierzu wählen wir den in Figur 2.32 skizzierten(bequemen) Integrationsweg. Mit der Parameterdarstellung für C ′′:

ζ = |z| ei t , 0 ≤ t ≤ ϕ

ergibt sich

F(z) =∫C ′

ζ+∫

C ′′

ζ=

|z|∫1

dtt+ i

ϕ∫0

dt = ln |z| + i ϕ = ln |z| + i Arg z , z ∈ D .

Bei Überquerung der negativen reellen Achse springt F um 2π i (warum?). F kann also nicht

Page 73: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.3 Erzeugung holomorpher Funktionen durch Grenzprozesse 105

Fig. 2.32: Integrationsweg für∫ z

1dζζ

stetig und damit auch nicht analytisch auf die punktierte Ebene C \ {0} fortgesetzt werden.Wir haben bei unseren bisherigen Überlegungen das Gebiet D ziemlich willkürlich gewählt.

Ebenso hätten wir auch das Gebiet D� = C−{i y|y ≤ 0}, also die längs der negativen imaginärenAchse aufgeschnittene z-Ebene, verwenden können. Falls z in der oberen Halbebene oder im 4.Quadranten liegt, lässt sich derselbe Integrationsweg für die Gebiete D und D� benutzen, undwir erhalten entsprechend die analytische Fortsetzung F� von ln x auf das Gebiet D�. Liegt zjedoch im 3. Quadranten {z|Re z < 0, Im z < 0}, so müssen wir zur Berechnung von F(z) undF�(z) unterschiedliche Integrationswege benutzen.

Fig. 2.33: Zur Berechnung von F(z) bzw. F�(z)

Um ein Überqueren der herausgenommenen Halbgeraden zu vermeiden, orientieren wir dieIntegrationswege für F und F� in diesem Fall gemäß Figur 2.33, also unterschiedlich. Beach-ten wir noch, dass in der Polarkoordinatendarstellung von z das Argument von z nur bis auf

Page 74: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

106 2 Holomorphe Funktionen

ganzzahlige Vielfache von 2π bestimmt ist:

z = |z| ei argk z mit 2kπ − π < argk z ≤ 2kπ + π ,

(k ∈ Z ; arg0 z = Arg z : Hauptargument)

so ergibt sich für die Fortsetzung F� von ln x

F�(z) =

⎧⎪⎨⎪⎩

ln |z| + i Arg z , falls − π

2< Arg z ≤ π

ln |z| + i arg1 z , falls − π < Arg z < −π

2.

Insgesamt erhalten wir

F�(z)− F(z) = 2π i , (2.109)

wenn −π < Arg z < −π/2 ist. Für alle z, die im 3. Quadranten liegen, führt die analyti-sche Fortsetzung der Logarithmus-Funktion ln x auf die Gebiete D und D� zu unterschiedlichenWerten F(z) und F�(z). Zusammen mit unseren Überlegungen aus Abschnitt 2.1.4, (Teil (ii))erhalten wir: Die dort betrachteten Zweige logk z lassen sich durch analytische Fortsetzung inein-ander überführen: logk z entsteht aus log0 z bei |k|-fachem Umlauf um den Nullpunkt (positiveOrientierung für k > 0, negative für k < 0), und zu einer einzigen mehrdeutigen Funktion log zauf der Riemannschen Fläche R zusammenfassen; log z ist die analytische Fortsetzung von ln x ,x > 0, auf R.

Weitere Beispiele für die analytische Fortsetzung von Funktionen lernen wir im Zusammen-hang mit der Eulerschen Gammafunktion (s. Abschn. 3.2.3, (b)) und mit der Besselschen Diffe-rentialgleichung (s. Abschn. 5) kennen.

Übungen

Übung 2.18*:

Zeige, dass die Funktion

f (z) :=∞∑

k=1

zk

1+ z2k

im Inneren und im Äußeren des Einheitskreises holomorph ist.

Übung 2.19*:

Gegeben sei die Funktion

ζ(z) :=∞∑

k=1

k−z , z ∈ D := {z ∈ C|Re z > 1} (Riemannsche Zeta-Funktion) .

a) Zeige: ζ ist holomorph in D.b) Leite eine Reihendarstellung für die p-te Ableitung von ζ(z) in D her.

Page 75: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.4 Asymptotische Abschätzungen 107

Übung 2.20:

Entwickle die Funktionen

f (z) = 1z − α

, g(z) = 1(z − α)2 , h(z) = 1

(z − α)3

in Potenzreihen um z0 mit z0 �= α. Welche Ausdrücke ergeben sich bei höheren Potenzen von1

z−α ? (Hinweis: Beachte f ′(z) = −g(z) usw., sowie Hilfssatz 2.1, Abschnitt 2.3.3).

Übung 2.21*:

Entwickle die folgenden Funktionen in Potenzreihen um die angegebenen Punkte z0:

a) f (z) = − 1(z − 1)2(z − 2)

, z0 = 0 ; b) f (z) = ez

1− z, z0 = 0 ;

c) f (z) = e−z , z0 = i π ; d) f (z) = ez sin z , z0 = 0 ;e) f (z) = 2 i+3z

1+ z, z0 = i .

Übung 2.22*:

Bestimme die maximalen analytischen Fortsetzungen der Funktionen

a) f1(z) :=∞∑

k=0

(−1)k z2k , |z| < 1 ; b) f2(z) :=∞∫

0

e−zt dt , Re z > 0 .

2.4 Asymptotische Abschätzungen

In zahlreichen Anwendungssituationen ist man am Verhalten von Funktionen f (z) bei großen(bzw. kleinen) Argumenten z interessiert, also an Informationen über das asymptotische Verhal-ten dieser Funktionen. Solche Probleme treten z.B. im Zusammenhang mit stationären Systemenauf (s. [35], Kap. VI, Nr. 86 - 87). Auch ist es von Interesse, für die Lösungen gewisser Diffe-rentialgleichungen (z.B. der Besselschen Differentialgleichung) asymptotische Darstellungen zubesitzen (etwa für die Hankel- und Besselfunktionen, s. Abschn. 5.2.3). Aktuelle Anwendungenhierfür ergeben sich bei der Untersuchung von Resonanzphänomenen in akustischen und elektro-magnetischen Wellenleitern. Wir verweisen auf Arbeiten von P. Werner [49], [50].

Wir wollen im Folgenden zeigen, wie sich funktionentheoretische Methoden zur Gewinnungvon asymptotischen Formeln bei großen Argumenten heranziehen lassen.

2.4.1 Asymptotische Entwicklungen

Die Grundidee bei asymptotischen Untersuchungen besteht darin, die entsprechenden Funktio-nen durch solche von einfacherer »Bauart« zu ersetzen. Dabei sollen die wesentlichen Eigen-schaften der ursprünglichen Funktion nicht verloren gehen, wenn die Argumente dieser Funktiongroß sind.

Page 76: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

108 2 Holomorphe Funktionen

Wir präzisieren dies und führen hierzu den Begriff der asymptotischen Entwicklung einerFunktion ein. Dazu betrachten wir eine Reihendarstellung der Form

s(z) = a0 + a1

z+ a2

z2 + . . . . (2.110)

Die Summe der ersten (n + 1) Glieder der Reihe (2.110) bezeichnen wir mit sn(z):

sn(z) = a0 + a1

z+ . . .+ an

zn . (2.111)

Fig. 2.34: Winkelbereich Wα,β

Definition 2.8:

Sei f eine vorgegebene Funktion, n ∈ N0 beliebig und z aus dem Winkelbereich

Wα,β := {z| arg z ∈ [α, β]} (s. Fig 2.34).

Gilt dann∣∣zn[ f (z)− sn(z)]∣∣→ 0 für z →∞, z ∈ Wα,β , (2.112)

so nennt man die Reihe in (2.110) asymptotische Entwicklung von f nach Potenzenvon 1/z im Winkelbereich Wα,β und schreibt: f (z) ∼ s(z).

Bemerkung: Mit dem Landau-Symbol 15 o lässt sich (2.112) auch in der Form

f (z)− sn(z) = o(

1zn

)für z →∞ in Wα,β (2.113)

schreiben.

15 Die Landau-Symbole o und O sind wie folgt erklärt: f (z) = o(g(z)) für z →∞ bedeutet: f (z)g(z) → 0 für z →∞;

f (z) = O(g(z)) für z →∞ bedeutet: f (z)g(z) → K �= 0 für z →∞.

Page 77: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.4 Asymptotische Abschätzungen 109

Falls es eine asymptotische Entwicklung von f in Wα,β gibt, so ist diese eindeutig bestimmt:Aus (2.112) folgt nämlich für n = 0: f (z)− a0 → 0 für z →∞ und daher

a0 = limz→∞ f (z) .

n = 1: z[

f (z)− a0 − a1z

]→ 0 für z →∞ und daher

a1 = limz→∞ z

[f (z)− a0

]und allgemein für beliebige n ∈ N0:

an = limz→∞ zn [ f (z)− sn−1(z)

](vollständige Induktion!).

Für die Summe f + g und das Produkt f · g von asymptotischen Entwicklungen

f (z) ∼∞∑

n=0

an

zn , g(z) ∼∞∑

n=0

bn

zn

bestehen die Beziehungen

f (z)+ g(z) ∼∞∑

n=0

an + bn

zn

bzw.

f (z) · g(z) ∼∞∑

n=0

a0bn + a1bn−1 + . . .+ anb0

zn

(s. Üb. 2.23).

Beispiel 2.14:

Das Gaußsche Fehlerintegral ist durch

2√π

z∫0

e−ζ 2dζ =: erf z (2.114)

(erf: Abkürzung für error function) definiert. Diese Funktion stellt eine in ganz C holomorpheFunktion dar, für die

erf z = 2√π

∞∑n=0

(−1)n

n!z2n+1

2n + 1, z ∈ C

Page 78: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

110 2 Holomorphe Funktionen

gilt (s. Üb. 2.24). Wir wollen eine asymptotische Darstellung für erf z für den Fall z = x > 0herleiten. Hierzu betrachten wir die durch

f (x) :=∞∫

x

ex2−t2dt

erklärte Funktion f . Diese lässt sich auch in der Form

f (x) = −12

∞∫x

1t

d(

ex2−t2)

dtdt

darstellen. Mittels partieller Integration (wir beachten das Konvergenzverhalten dieses uneigent-lichen Integrals!) erhalten wir

f (x) = 12x− 1

2

∞∫x

1t2 ex2−t2

dt

und durch entsprechende Wiederholungen

f (x) = 12x− 1

22x3 +1 · 323x5 ∓ . . . (−1)n−1 1 · 3 · . . . · (2n − 3)

2n x2n−1

+ (−1)n 1 · 3 · . . . · (2n − 1)

2n

∞∫x

1t2n ex2−t2

dt .

Das letzte Integral lässt sich wie folgt abschätzen: Aus

0 <

∞∫x

1t2n ex2−t2

dt = −12

∞∫x

1t2n+1

d(

ex2−t2)

dtdt = 1

2x2n+1 −2n + 1

2

∞∫x

1t2n+2 ex2−t2

dt

ergibt sich

∞∫x

1t2n ex2−t2

dt <1

2x2n+1 .

Mit

s2n−1(x) = 12x− 1

22x3 ± . . . (−1)n−1 1 · 3 · 5 · . . . · (2n − 3)

2n x2n−1

gewinnen wir daher die Abschätzung

Page 79: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.4 Asymptotische Abschätzungen 111

∣∣∣x2n−1 [ f (x)− s2n−1(x)] ∣∣∣ = ∣∣∣x2n−1 1 · 3 · . . . · (2n − 1)

2n

∞∫x

1t2n ex2−t2

dt∣∣

≤ x2n−1 1 · 3 · . . . · (2n − 1)

2n+1x2n+1 = 1 · 3 · . . . · (2n − 1)

2n+11x2 → 0 für x →∞.

Damit ist mit Definition 2.8

∞∫x

ex2−t2dt ∼ 1

2x− 1

22x3 +1 · 323x5 ∓ . . . .

Wegen

∞∫0

e−t2dt =

√π

2

(s. Burg/Haf/Wille [12]) folgt

∞∫0

ex2−t2dt = ex2 ·

√π

2,

und wir erhalten

x∫0

ex2−t2dt = ex2 ·

√π

2−

∞∫x

ex2−t2dt ∼ ex2 ·

√π

2− 1

2x+ 1

22x3 −1 · 323x5 ± . . . .

Insgesamt ergibt sich die asymptotische Entwicklung

erf x = 2√π

x∫0

e−t2dt ∼ 1− 2 e−x2

√π

(1

2x− 1

22x3 ± . . .

)

oder

erf x = 1− e−x2

√πx

(1+O

(1x2

))für x →∞ (2.115)

Bemerkung: Wir weisen darauf hin, dass

s(z) = a0 + a1

z+ a2

z2 + . . .

Page 80: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

112 2 Holomorphe Funktionen

durchaus eine asymptotische Entwicklung von verschiedenen Funktionen f, g sein kann:

f ∼ s und g ∼ s ( f �≡ g) .

Das folgende Beispiel verdeutlicht dies: Sei f (x) ≡ 0 und g(x) = e−x , x > 0. Für alle n ∈ N0ist dann s(x) ≡ 0 die asymptotische Entwicklung von f und g (wir beachten xn e−x → 0 fürx →∞).

2.4.2 Die Sattelpunktmethode

Häufig ist die zu entwickelnde Funktion f von der Form

f (z) =∫C

ezg(ζ ) dζ , (2.116)

Fig. 2.35: Integrationsweg bei der Sattelpunktmethode

wobei der Integrationsweg C etwa die orientierte Verbindungskurve von zwei Punkten z1 undz2 aus C ist (s. Fig. 2.35). In diesem Fall bietet sich die sogenannte Sattelpunktmethode (oderMethode des steilsten Abstiegs) zur asymptotischen Auswertung von f an. Für den Fall, dass zauf der positiven reellen Achse gegen∞ strebt, liegt dem Verfahren die folgende Idee zugrunde:

Ist g so beschaffen, dass Re g(ζ ) gegen −∞ strebt, wenn ζ sich den beiden Enden z1, z2 derKurve C nähert, so wird für große positive z der Einfluss der »Kurvenendstücke« gering. Man be-müht sich daher nun, den Integrationsweg C unter Verwendung des Cauchyschen Integralsatzes(Wegunabhängigkeit des Integrals bei holomorphen Funktionen!) so zu verformen (s. Fig. 2.35),dass nur ein kleines Teilstück des neuen Integrationsweges C für den Wert des Integrals (2.116)von Bedeutung ist. Dabei wird C zweckmäßig so gewählt, dass Re g(ζ ) möglichst schnell abfällt,wenn man sich von einem Wert ζ0 entfernt, für den Re g(ζ )maximal wird. 16 Wir nehmen an, dasses solch ein ζ0 gibt. Um zu erkennen wie C verlaufen soll, stellen wir Re g(ζ ), ζ = u + i v, alsFläche F über der u, v-Ebene dar.

16 Wir beachten: | ezg(ζ ) | = ex Re g(ζ ) für z = x > 0.

Page 81: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.4 Asymptotische Abschätzungen 113

Die Kurven mit steilstem Abfall sind die Orthogonaltrajektorien der Höhenlinien

Re g(ζ ) = const

(warum?), also nach Satz 2.9, Abschnitt 2.1.5, durch die Kurven

Im g(ζ ) = const

gegeben (Holomorphie von g vorausgesetzt). Ist nun insbesondere ζ0 ein Sattelpunkt 17 von F , sowählen wir den neuen Integrationsweg C so, dass dieser in einer Umgebung von ζ0 die durch ζ0verlaufende Kurve Im g(ζ ) = const enthält (s. Fig. 2.35). Bei mehreren Sattelpunkten versuchtman entsprechend, C aus mehreren solchen Teilstücken zusammenzusetzen, um auf diese Weisedas gewünschte Ziel zu erreichen.

Wie gelangen wir zu Sattelpunkten von Re g(ζ )? Bilden wir in einem Sattelpunkt die Ablei-tung der Funktionen Re g(ζ ) und Im g(ζ ) längs der Kurve

Im g(ζ ) = const ,

so besitzen diese den Wert Null. Daher verschwindet dort auch g′(ζ ) (s. Satz 2.3, Abschn. 2.1.3),d.h.:

Die Sattelpunkte sind in der Menge der Nullstellen der Funktion g′ enthalten.

Diese Nullstellen gilt es also zu bestimmen. Wir verdeutlichen die Vorgehensweise anhand von

Beispiel 2.15:

Wir betrachten die durch

− 1π

∫C1

e− i z sin ζ+i λζ dζ =: H1λ (z)

− 1π

∫C2

e− i z sin ζ+i λζ dζ =: H2λ (z)

(2.117)

erklärten Funktionen18 H1λ (z), H2

λ (z), λ und z aus C, mit den durch Figur 2.36 dargestelltenIntegrationswegen C1 und C2.

Unser Ziel ist es, asymptotische Formeln für H1λ (z) und H2

λ (z) bei großen Argumenten z =x > 0 zu gewinnen. Wir nehmen dabei an, dass x > λ ist und betrachten das erste Integral in(2.117). Mit der Substitution λ/x =: cos α, 0 < α < π/2 geht dieses in das Integral∫

C1

ex(− i sin ζ+i ζ cos α) dζ (2.118)

17 zu Sattelflächen s. auch Burg/Haf/Wille [12].18 Man nennt sie Hankelsche Funktionen (s. Abschn. 5.1.2).

Page 82: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

114 2 Holomorphe Funktionen

Fig. 2.36: Integrationswege für die Funktionen H1λ und H2

λ

über, ist also von der oben diskutierten Form∫C1

exg(ζ ) dζ ,

wenn wir g(ζ ) := − i sin ζ + i ζ cos α setzen. Durch Zerlegung von g in Real- und Imaginärteilfolgt mit ζ = u + i v und (1.48), Abschnitt 1.2.3,

g(ζ ) = (cos u · sinh v − v cos α)+ i(− sin u · cosh v + u cos α) . (2.119)

Die benötigten Sattelpunkte gewinnen wir aus der Beziehung

g′(ζ ) = − i cos ζ + i cos α = 0 ,

also aus der Gleichung cos ζ = cos α zu

ζ = ±α , 0 < α <π

2. (2.120)

Die Begründung dafür, dass diese beiden Punkte tatsächlich Sattelpunkte sind, überlassen wirdem Leser. Nach unseren obigen Überlegungen benötigen wir jetzt die durch

Im g(ζ ) = − sin u · cosh v + u cos α = const (2.121)

gegebenen Kurven. Insbesondere genügen die Kurven, die durch die Sattelpunkte ζ = u + i v =±α führen, den Gleichungen

− sin u · cosh v + u cos α = − sin(±α) cosh 0± α cos α

Page 83: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.4 Asymptotische Abschätzungen 115

also

cosh v = cos αu

sin u± sin α − α cos α

sin u. (2.122)

Fig. 2.37: Kurven mit Im g(ζ ) = const durch die Sattelpunkte ±α

Es ergeben sich die in Figur 2.37 dargestellten Kurven, die jeweils aus zwei Zweigen durchdie Sattelpunkte bestehen. Im nächsten Schritt denken wir uns den Integrationsweg C1 unseresursprünglichen Integrals (2.117) (s. Fig. 2.36) in die Form C1 gemäß Figur 2.37 deformiert; C1wird durch

cosh v = cos αu

sin u− sin α − α cos α

sin u(2.123)

beschrieben. Nach dem Cauchyschen Integralsatz ändert sich der Wert dieses Integrals dabeinicht. (Wir beachten die Holomorphie von g in ganz C. Die Deformation von C1 in einer beliebigkleinen Umgebung von Re ζ = −π bzw. von Re ζ = 0 liefert nur einen beliebig kleinen Beitragfür das Integral!) Es gilt also∫

C1

ex(− i sin ζ+i ζ cos α) dζ =∫C1

ex(− i sin ζ+i ζ cos α) dζ . (2.124)

Bei Annäherung von ζ = u + i v an den Anfangs- bzw. Endpunkt von C1 strebt

Re g(ζ ) = cos u · sinh v − v cos α

gegen −∞, da aus (2.123) für den gewählten Zweig C1 folgt: v → +∞ für u → +(−π) bzw.v → −∞ für u → −0. Das (einzige) Maximum von Re g(ζ ) auf C1 wird an der Stelle ζ = −α

angenommen (warum?). Der Winkel, den die Tangente an diesen Zweig durch ζ = −α mit der

Page 84: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

116 2 Holomorphe Funktionen

positiven v-Achse einschließt, ist Θ = 3π/4. In der Umgebung von ζ = −α erwarten wir nunden entscheidenden Anteil des Integrationsweges.

Fig. 2.38: Vereinfachung des Integrationsweges

Zur Abschätzung unseres über C1 gebildeten Integrals ersetzen wir in einer Umgebung desSattelpunktes ζ = −α das Kurvenstück von C1 durch das Tangentenstück Ct durch den Sattel-punkt und durch die beiden Verbindungsstücke gemäß Figur 2.38. Der Wert des Integrals ändertsich dabei nach dem Cauchyschen Integralsatz nicht. Nun untersuchen wir den Beitrag des Tan-gentenstückes Ct : Mit

g(−α) = i sin α − i α cos α , g′(−α) = 0 , g′′(−α) = − i sin α

liefert die Taylorentwicklung von g um ζ = −α für ζ ∈ Ct und ε → 0:

g(ζ ) = g(−α)+ g′(−α)(ζ − (−α))+ g′′(−α)

2! (ζ − (−α))2 +O(ε3) 19

= i sin α − i α cos α − i2

sin α · (ζ + α)2 +O(ε3) .

Verwenden wir noch die Beziehungen

ey = 1+O(y) für y → 0

und

exO(ε3) = 1+O(xε3) für ε → 0,

so folgt

∫Ct

exg(ζ ) dζ = ei x(sin α−α cos α)

−α+ε ei 3π/4∫−α−ε ei 3π/4

e−i x2 sin α·(ζ+α)2

dζ · (1+O(xε3)) . (2.125)

19 O bezeichnet das in Abschnitt 2.4.1 erklärte Landau-Symbol.

Page 85: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

2.4 Asymptotische Abschätzungen 117

Mit der Substitution

τ :=√

x sin α

2e− i 3π

4 (ζ + α) (2.126)

bzw. mit

τ 2 = x sin α

2e− i 3π

2 (ζ + α)2 = i x2

sin α · (ζ + α)2

und

dτ =√

x sin α

2e− i 3π

4 dζ

ergibt sich für das Integral auf der rechten Seite von (2.125) der Ausdruck

ei 3π4

√2

x sin α

√x sin α

2∫−ε

√x sin α

2

e−τ 2dτ . (2.127)

Setzen wir schließlich ε := x−2/5, so geht das Integral in (2.127) für x → +∞ in√

π über 20,und der O-Anteil in (2.125) strebt gegen Null. Mit ei 3π/4 = − e− i π/4 erhalten wir also

∫Ct

exg(ζ ) dζ = − e− i π/4

√2

x sin α

√π ei x(sin α−α cos α)+O

(1

x7/10

)

= −√

x sin αei x(sin α−α cos α)−i π/4+O

(1

x7/10

)für x →∞.

(2.128)

Für die restlichen Anteile des Integrationsweges lassen sich entsprechende Abschätzungengewinnen. Dabei zeigt es sich, dass diese Anteile für x → ∞ schneller gegen Null streben, alsder durch (2.128) gegebene Ausdruck. Wegen (2.117) ergibt sich damit für H1

λ (x) – und analogfür H2

λ (x) – die asymptotische Formel

H1λ (x) ∼

√2

πx sin αei x(sin α−α cos α)−i π

4 bzw. (2.129)

H2λ (x) ∼

√2

πx sin αe− i x(sin α−α cos α)+i π

4 (2.130)

mit λx = cos α, 0 < α < π

2 .

20 Nach Burg/Haf/Wille [12] gilt∫∞−∞ e−τ2

dτ = √π .

Page 86: Funktionentheorie || Holomorphe Funktionen

118 2 Holomorphe Funktionen

Bemerkung: Die hier an einem konkreten Beispiel aufgezeigte Sattelpunktmethode lässt sich zuallgemeineren Theorien ausbauen bzw. modifizieren, etwa zur Methode der stationären Phasen.Eine ausführliche Behandlung findet sich z.B. in [37], pp. 340-388, oder in [35], Kapitel V, §3.

Übungen

Übung 2.23:

Zeige: Für die Summe f + g bzw. für das Produkt f · g der asymptotischen Entwicklungen

f (z) ∼∞∑

n=0

an

zn , g(z) ∼∞∑

n=0

bn

zn

gelten die Beziehungen

f (z)+ g(z) ∼∞∑

n=0

an + bn

zn

bzw.

f (z) · g(z) ∼∞∑

n=0

a0bn + a1bn−1 + . . .+ anb0zn .

Übung 2.24*:

Sei g durch

g(z) = 2√π

z∫0

e−ζ 2dζ , z ∈ C

erklärt. Zeige, dass g in ganz C holomorph ist und sich in der Form

g(z) = 2√π

∞∑n=0

(−1)n

n!z2n+1

2n + 1, z ∈ C

darstellen lässt.


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