5 Anwendung der Funktionentheorie auf die Besselsche
Differentialgleichung
Im vorhergehenden Abschnitt haben wir gesehen, wie sich funktionentheoretische Methodenzur Behandlung von ebenen (= 2-dimensionalen) Problemen heranziehen lassen. Im Folgendenwollen wir aufzeigen, dass die Funktionentheorie auch bei höher-dimensionalen Problemen, etwaim Zusammenhang mit der Schwingungsgleichung im R
n , eine wichtige Rolle spielt.
5.1 Die Besselsche Differentialgleichung
5.1.1 Motivierung
Wir gehen bei unseren Betrachtungen von der Helmholtzschen 1 Schwingungsgleichung (kurzSchwingungsgleichung genannt) im R
n , n ∈ N, aus:
ΔU (x)+ k2U (x) = 0 . (5.1)
Hierbei ist x = (x1, . . . , xn) ∈ Rn , k ∈ C (Im k ≥ 0) und Δ = ∂2
∂x21+ . . . + ∂2
∂x2n
der Laplace-
Operator. Die Schwingungsgleichung enthält für k = 0 den Spezialfall der
Potentialgleichung ΔU (x) = 0 , x ∈ Rn . (5.2)
Außerdem stößt man auf die Schwingungsgleichung, wenn man bei der Wärmeleitungsgleichung
∂u(x, t)∂t
= Δu(x, t) , x ∈ Rn , t ∈ [0,∞) (5.3)
bzw. bei der Wellengleichung
∂2u(x, t)∂t2 = Δu(x, t) , x ∈ R
n , t ∈ [0,∞) (5.4)
zur Gewinnung einer Lösung einen Separationsansatz
u(x, t) = U (x) · V (t) (5.5)
durchführt. In beiden Fällen genügt U dann der Schwingungsgleichung (zeigen!). In der Theorieder partiellen Differentialgleichungen kommt dieser Gleichung daher eine gewisse Schlüsselstel-lung zu (vgl. auch Burg/Haf/Wille [11]).
Wir fragen im Rahmen dieses Bandes nach speziellen Lösungen von (5.1), nämlich nach denradialsymmetrischen Lösungen. Das sind solche Lösungen, die nur von |x| =: r abhängen, also
1 H. v. Helmholtz (1821-1894), deutscher Physiker und Physiologe.
K. Burg, H. Haf, F. Wille, A. Meister, Funktionentheorie, DOI 10.1007/978-3-8348-2340-3_5, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013
200 5 Anwendung auf die Besselsche Differentialgleichung
nur vom Betrag, nicht aber von der Richtung des Vektors x:
U = U (|x|) =: f (r) . (5.6)
Diese Lösungen werden zum Aufbau der Theorie der Schwingungsgleichung benötigt (s. Burg/-Haf/Wille [11]). Mit (5.6) folgt aus (5.1) für f die gewöhnliche Differentialgleichung
f ′′(r)+ n − 1r
f ′(r)+ k2 f (r) = 0 (5.7)
(s. Üb. 5.1). Setzen wir
f (r) =: r−n−2
2 g(kr) , kr =: ρ , (5.8)
so geht (5.7) in eine gewöhnliche Differentialgleichung für g über:
g′′(ρ)+ 1ρ
g′(ρ)+ g(ρ)
⎡⎢⎣1−
(n−2
2
)2
ρ2
⎤⎥⎦ = 0 . (5.9)
Dies ist eine Besselsche Differentialgleichung, die als Spezialfall in der allgemeinen BesselschenDifferentialgleichung mit Index λ
u′′(z)+ 1z
u′(z)+(
1− λ2
z2
)u(z) = 0 , λ, z ∈ C (5.10)
enthalten ist. Wir erkennen den Zusammenhang zwischen den Gleichungen (5.9) und (5.10),wenn wir
u := g , z := ρ , λ := n − 22
(5.11)
setzen. In Abschnitt 5.3.1 kommen wir auf Gleichung (5.9) bzw. auf die Schwingungsgleichung(5.1) zurück.Bemerkung: Eine erste Behandlung der Besselschen Differentialgleichung im Reellen erfolgtebereits in Burg/Haf/Wille [10], Abschnitt 4.2.2, mit Hilfe von verallgemeinerten Potenzreihenan-sätzen. Für eine tiefergehende und umfassende Diskussion dieser Gleichung ist eine Erweiterungauf den komplexen Fall unentbehrlich. Zur Bestimmung einer Lösung von (5.10) könnte man,analog zum Reellen, von einem Ansatz der Form
u(z) =∞∑
k=0
ak zλ+k (5.12)
ausgehen und zusammen mit (5.10) die Koeffizienten ak sukzessive bestimmen. Die Durchfüh-rung dieses Programms findet sich z.B. in [48], S. 126-141. Wir bevorzugen einen anderen Wegund verwenden hierzu eine geeignete Integraltransformation.
5.1 Die Besselsche Differentialgleichung 201
5.1.2 Die Hankelschen Funktionen
Wir wollen sämtliche Lösungen der Besselschen Differentialgleichung (5.10), die wir jetzt in derForm
z2u′′ + zu′ + z2u − λ2u = 0 (5.13)
schreiben, bestimmen. Hierbei setzen wir z und λ als komplex voraus. Um zu Lösungen von(5.13) zu gelangen, benutzen wir die Methode der Integraltransformation (s. hierzu auch Burg/-Haf/Wille [10].). Wir suchen dabei Lösungen der Form
u(z) =∫C
K (z, ζ )w(ζ )dζ . (5.14)
In (5.14) lassen wir noch offen, welchen Integrationsweg C und welchen Kern K (z, ζ ) wir ver-wenden und setzen lediglich voraus, dass K (z, ζ ) sowohl bezüglich z als auch bezüglich ζ ho-lomorph ist. Setzen wir (5.14) in (5.13) ein und vertauschen wir Differentiation bezüglich z undIntegration (nachher ist zu zeigen, dass dies erlaubt ist!), so ergibt sich∫
C
(z2 ∂2 K
∂z2 + z∂K∂z+ z2 K − λ2 K
)w(ζ )dζ = 0 . (5.15)
Falls der Kern K (z, ζ ) unserer Transformation (5.14) der Differentialgleichung
z2 ∂2 K∂z2 + z
∂K∂z+ z2 K + ∂2 K
∂ζ 2 = 0 (5.16)
genügt, geht (5.15) über in∫C
(∂2 K∂ζ 2 + λ2 K
)w(ζ )dζ = 0 . (5.17)
Durch zweimalige partielle Integration ergibt sich, wenn ζ0 und ζ1 den Anfangs- und Endpunktvon C bezeichnen,∫
C
∂2 K∂ζ 2 w(ζ )dζ =
∫C
Kw′′(ζ )dζ +∣∣∣∣∂K∂ζ
w − Kw′∣∣∣∣ζ=ζ1
ζ=ζ0
und daraus wegen (5.17)∫C
(w′′ + λ2w)K dζ +∣∣∣∣∂K∂ζ
w − Kw′∣∣∣∣ζ=ζ1
ζ=ζ0
= 0 . (5.18)
Eine sowohl bezüglich z als auch ζ in ganz C holomorphe Lösung der Differentialgleichung
202 5 Anwendung auf die Besselsche Differentialgleichung
(5.16) ist durch
K (z, ζ ) = e− i z sin ζ (5.19)
gegeben. Dies lässt sich durch Nachrechnen einfach bestätigen. Ferner besitzt die Differential-gleichung
w′′ + λ2w = 0
die Lösungen e± i λζ . Mit diesen Lösungen und dem Kern (5.19) gelangen wir nun aufgrund
Fig. 5.1: Wahl der Integrationswege
von (5.14) zu Lösungen der Besselschen Differentialgleichung, wenn wir den IntegrationswegC so wählen, dass der letzte Ausdruck in (5.18) verschwindet. Dies gelingt, wenn wir uns z.B.für die Wege C1 und C2 gemäß Figur 5.1 entscheiden: Auf den Halbgeraden ζ = −π + i s undζ = π + i s, s ≥ 0, gilt (s. Abschn. 1.2.3):
sin ζ = sin(∓π + i s) = sin(∓π) cos(i s)+ cos(∓π) sin(i s) = − sin(i s) = − i sinh s ;auf der negativen imaginären Achse (ζ = − i s, s ≥ 0) gilt
sin ζ = sin(− i s) = − sin(i s) = − i sinh s , s ≥ 0 .
Für diese Anteile von C1 und C2 erhalten wir daher∣∣K (z, ζ )∣∣ = ∣∣∣e− i z sin ζ
∣∣∣ = ∣∣∣e− i(Rez+i Imz)(− i sinh s)∣∣∣ = ∣∣∣e−Rez·sinh s e− i Imz·sinh s
∣∣∣ = ∣∣∣e− Rez·sinh s∣∣∣ .
Wegen sinh s = 12 (es − e−s) strebt K (z, ζ ) für Re z > 0 also wie
e− 12 Re z · es
auf den betrachteten Integrationswegen für s → ∞ gegen Null. Ferner konvergieren dort auch
5.1 Die Besselsche Differentialgleichung 203
die Ausdrücke
∂K∂ζ
w = (− i z) cos ζ · e± i λζ K (z, ζ )
und
Kw′ = ±(i λ) e± i λζ K (z, ζ )
für s →∞ gegen Null, also dann, wenn wir uns den Enden von C1 und C2 nähern. (Wir beachten,dass die Faktoren vor K nicht so stark wachsen können, wie K gegen Null strebt!) Insgesamtergeben sich wegen (5.18) durch∫
C1
e− i z sin ζ+i λζ dζ und∫C2
e− i z sin ζ+i λζ dζ
zwei (formale) Lösungen der Besselschen Differentialgleichung (5.13). Daran ändert sich nichts,wenn wir die beiden Integrale mit dem Faktor −1/π multiplizieren. Die so entstehenden (forma-len) Lösungen nennt man
Hankelsche Funktionen:
H1λ (z) = − 1
π
∫C1
e− i z sin ζ+i λζ dζ
H2λ (z) = − 1
π
∫C2
e− i z sin ζ+i λζ dζ
(5.20)
Bemerkung: Die Integrale in (5.20) existieren für Re z > 0, und H1λ (z) und H2
λ (z) sind tatsäch-lich Lösungen der Besselschen Differentialgleichung (5.13), die für Re z > 0 holomorph sind (s.Üb. 5.2 a)).
Analytische Fortsetzung von H1λ (z) und H2
λ (z)
Wir benutzen das erste Integral in (5.20) zur Klärung der Frage, ob sich H1λ (z) in die linke
Halbebene Re z < 0 analytisch fortsetzen lässt. Hierzu untersuchen wir das Konvergenzverhaltendieses Integrals: Sei z := x + i y beliebig fest, ζ := u + i v, λ := α + i β und gz(ζ ) :=− i z sin ζ + i λζ . Dann gilt
Re gz(ζ ) = y sin u · cosh v + x cos u · sinh v − βu − αv (5.21)Im gz(ζ ) = −x sin u · cosh v + y cos u · sinh v + αu − βv . (5.22)
Nun wählen wir anstelle des Integrationsweges C1 (s. Fig. 5.1) den Integrationsweg C1 gemäßFigur 5.2 mit u0 ∈ R beliebig.
204 5 Anwendung auf die Besselsche Differentialgleichung
Fig. 5.2: Wahl eines neuen Integrationsweges Fig. 5.3: Konvergenzbereich des Integrals
Das Integral∫C1
egz(ζ ) dζ (5.23)
existiert für alle z ∈ C mit Re gz(ζ ) < 0, also wegen (5.21) für alle z = x + i y mit
y sin u0 · cosh v − x cos u0 · sinh v < 0 , v > 0 .
(Die linearen Anteile und Konstanten in Re gz(ζ ) auf C1 spielen für die Existenz des Integralswegen des exponentiellen Verhaltens von cosh v und sinh v keine Rolle.) Mit
cosh v = ev + e−v
2und sinh v = ev − e−v
2
lautet diese Bedingung
y sin u0 · ev + e−v
2− x cos u0 · ev − e−v
2< 0 , v > 0 .
Für die Existenz des Integrals sind nur die Anteile mit ev (v > 0) von Bedeutung, so dass sichdie Bedingung
y sin u0 · ev
2− x cos u0 · ev
2= ev
2(y sin u0 − x cos u0) < 0
ergibt; sie ist für alle z = x + i y mit
y sin u0 − x cos u0 < 0
erfüllt, also für u0 �= kπ (k ∈ Z) unterhalb der Geraden y = cos u0sin u0
x (s. Fig. 5.3). Nach Satz A.1,Anhang, stellt Integral (5.23) dort also eine holomorphe Funktion dar.
5.1 Die Besselsche Differentialgleichung 205
Nach dem Cauchyschen Integralsatz stimmt diese Funktion für Re z > 0 mit H1λ (z) überein
(Begründung!), ist also deren analytische Fortsetzung. Da wir für u0 jeden reellen Wert wählenkönnen, also insbesondere eine unbeschränkte Folge in R
+ bzw. in R−, ergibt sich die analy-
tische Fortsetzung von H1λ (z) auf die linke Halbebene Re z < 0 als i.a. unendlich vieldeutige
Funktion mit dem Nullpunkt als Verzweigungspunkt. Entsprechendes gilt für H2λ (z).
5.1.3 Allgemeine Lösung der Besselschen Differentialgleichung
Wir wollen jetzt zeigen, dass die Hankelschen Funktionen H1λ (z) und H2
λ (z) linear unabhängigsind.2 Damit gewinnen wir dann alle Lösungen der Besselschen Differentialgleichung (5.13) alsLinearkombination von H1
λ (z) und H2λ (z):
Jede Lösung w(z) der Besselschen Differentialgleichung (5.13) ist von der Form
w(z) = c1 H1λ (z)+ c2 H2
λ (z) ; c1, c2: Konstanten. (5.24)
Wir schließen die lineare Unabhängigkeit der Hankelschen Funktionen aus ihrem asymptotischenVerhalten für große |z|: Nach Abschnitt 2.4.2, Beispiel 2.15, gelten für große Argumente z = x >
0 und reelle λ mit x > λ die asymptotischen Formeln
H1λ (x) ∼
√2
πx sin αei x(sin α−α cos α)−i π
4 (5.25)
und
H2λ (x) ∼
√2
πx sin αe− i x(sin α−α cos α)+i π
4 (5.26)
mit λ/x = cos α, 0 < α < π/2. Mit ν := √x2 − λ2 lassen sich diese Formeln in der Form
H1λ (x) ∼
√2
πνei(ν−λ arcsin ν
x− π4 )
und
H2λ (x) ∼
√2
πνe− i(ν−λ arcsin ν
x− π4 )
schreiben. Eine weitere Vereinfachung ergibt sich, wenn wir x � λ voraussetzen.3 Dann istnämlich ν ≈ x und α = arcsin ν
x ≈ π2 . Wir erhalten dann für große x und für λ > 0 bzw.
aufgrund von Übung 5.3 sogar für alle λ ∈ R:
2 Wie im Reellen heißt ein komplexes Funktionensystem f1(z), f2(z), . . . , fk (z) linear unabhängig auf D ⊂ C,falls aus c1 f1(z)+c2 f2(z)+. . .+ck fk (z) = 0 für alle z ∈ D (c j ∈ C, j = 1, . . . , k) folgt: c1 = c2 = . . . = ck = 0.Andernfalls heißt es linear abhängig.
3 Die nachfolgende Herleitung ist mehr heuristisch als streng.
206 5 Anwendung auf die Besselsche Differentialgleichung
H1λ (x) ∼
√2
πxei(x−λ π
2 − π4 ) (5.27)
H1λ (x) ∼
√2
πxe− i(x−λ π
2 − π4 ) (λ� x , λ, x ∈ R) (5.28)
Diese beiden Formeln ergeben, da ihre rechten Seiten linear unabhängig sind (warum?), dassH1
λ (x) und H2λ (x) für große x und beliebige reelle λ linear unabhängig sind. Da andererseits
die durch (5.20) erklärten Hankelschen Funktionen H1λ (z) und H2
λ (z) Lösungen einer linearenDifferentialgleichung 2-ter Ordnung sind, nämlich der Besselschen Differentialgleichung, ergibtsich die lineare Unabhängigkeit von H 1
λ (z) und H2λ (z) für beliebige λ ∈ R und z ∈ C durch eine
Schlussweise wie im Reellen (s. hierzu Burg/Haf/Wille [10]. Die Übertragung auf den komplexenFall findet sich z.B. in [47], S. 142-144).
Übungen
Übung 5.1:
Zeige: Die radialsymmetrischen Lösungen
U = U (|x|) =: f (r) , r = |x|
der Schwingungsgleichung im Rn
ΔU (x)+ k2U (x) = 0 , x ∈ Rn (n ∈ N)
genügen der Differentialgleichung
f ′′(r)+ n − 1r
f ′(r)+ k2 f (r) = 0 .
Übung 5.2*:
Beweise: Die durch (5.20), Abschnitt 5.1.2, erklärten Hankelschen Funktionen H1λ (z) und H2
λ (z)sind
a) für Re z > 0 sowohl bezüglich z als auch bezüglich λ holomorph und lösenb) die Besselsche Differentialgleichung.
Übung 5.3*:
Weise nach, dass für λ, z ∈ C die Beziehungen
H1−λ(z) = ei λπ H1λ (z) , H2−λ(z) = e− i λπ H2
λ (z)
gelten.
5.2 Die Besselschen und Neumannschen Funktionen 207
5.2 Die Besselschen und Neumannschen Funktionen
5.2.1 Definitionen und grundlegende Eigenschaften
Wir fragen nach Lösungen der Besselschen Differentialgleichung
z2u′′ + zu′ + (z2 − λ2)u = 0 , (5.29)
die für reelle λ und z reell sind. Diese erweisen sich als besonders nützlich für die Anwendungen(s. auch Abschn. 5.3). Um solche Lösungen zu finden, zerlegen wir die Hankelschen FunktionenH1
λ (z) und H2λ (z) wie folgt:
H1λ (z) =: Jλ(z)+ i Nλ(z)
H2λ (z) =: Jλ(z)− i Nλ(z)
}(5.30)
Aus (5.30) sehen wir, wie sich Jλ(z) und Nλ(z) aus den Hankelschen Funktionen bestimmenlassen: Es gilt
Jλ(z) = H1λ (z)+ H2
λ (z)2
(5.31)
Nλ(z) = H1λ (z)− H2
λ (z)2 i
(5.32)
Man nennt
Jλ(z) Besselsche Funktion vom Index λ;
Nλ(z) Neumannsche Funktion vom Index λ.4
(i) Die Funktionen Jλ(z) und Nλ(z) sind für alle λ ∈ C linear unabhängig.Zum Nachweis zeigen wir, dass aus
α Jλ(z)+ βNλ(z) = 0 , z ∈ C , α, β ∈ C (5.33)
α = β = 0 folgt. Mit (5.31) und (5.32) lautet (5.33)
α
[12
(H1
λ (z)+ H2λ (z)
)]+ β
[12 i
(H1
λ (z)− H2λ (z)
)]= 0
oder (α
2+ β
2 i
)H1
λ (z)+(
α
2− β
2 i
)H2
λ (z) = 0 .
4 Man nennt Jλ, Nλ und Hλ auch Zylinderfunktionen erster, zweiter und dritter Art.
208 5 Anwendung auf die Besselsche Differentialgleichung
Da nach Abschnitt 5.1.3 H1λ (z) und H2
λ (z) für jedes λ ∈ C linear unabhängig in C sind, mussα2 + β
2 i = 0 und α2 − β
2 i = 0 gelten, woraus α = β = 0 folgt.
(ii) Für λ, z ∈ R sind Jλ(z) und Nλ(z) reell.
Um dies zu zeigen, gehen wir von (5.20) aus, also von
H1λ (z) = − 1
π
∫C1
e− i z sin ζ+i λζ dζ .
Ist Cs1 der an der reellen Achse gespiegelte Integrationsweg C1, so gilt für solche f , für die∫
C1f (ζ )dζ existiert, die Beziehung
∫C1
f (ζ )dζ =∫Cs
1
f (ζ )dζ (5.34)
(warum?). Dabei bezeichne der Querstrich wie üblich den zugehörigen konjugiert komplexenAusdruck. Wir setzen nun f (ζ ) := e− i z sin ζ+i λζ . Wegen
(ei xw
) = e− i xw , (x ∈ R , w ∈ C) und sin ζ = sin ζ , (ζ ∈ C)
folgt dann für reelle z und λ
H1λ (z) = − 1
π
∫C1
f (ζ )dζ = − 1π
∫Cs
1
f (ζ )dζ = − 1π
∫Cs
1
(e− i z sin ζ
) (ei λζ
)dζ
= − 1π
∫Cs
1
ei zsin ζ · e− i λζ dζ = − 1π
∫Cs
1
ei z sin ζ−i λζ dζ .
Ersetzen wir im letzten Integral ζ durch −ζ , so ergibt sich
H1λ (z) = 1
π
∫−C2
e− i z sin ζ+i λζ dζ = − 1π
∫C2
e− i z sin ζ+i λζ dζ ,
mit dem durch Figur 5.1 gegebenen Integrationsweg C2. (Wir beachten, dass bei dieser Trans-formation Cs
1 in −C2 übergeht!) Damit ist gezeigt, dass die Hankelschen Funktionen H1λ (z) und
H2λ (z) für reelle λ und reelle z zueinander konjugiert komplex sind:
H1λ (z) = H2
λ (z) für λ, z ∈ R . (5.35)
Aus (5.30) und (5.31) bzw. (5.32) ergibt sich dann unmittelbar:
5.2 Die Besselschen und Neumannschen Funktionen 209
Die Besselsche Funktion Jλ(z) und die Neumannsche Funktion Nλ(z) sind für reelle λ und zreelle Funktionen. Insbesondere gilt in diesem Fall
Jλ(z) = Re H1λ (z) , Nλ(z) = Im H1
λ (z) (5.36)
(iii) Darstellung der allgemeinen Lösung der Besselschen Differentialgleichung mit Hilfe derBesselschen bzw. Neumannschen Funktionen.
Aus den für λ, z ∈ C gültigen Beziehungen
H1−λ(z) = ei πλ H1λ (z) , H2−λ(z) = e− i πλ H2
λ (z) (5.37)
(s. Üb. 5.3) ergibt sich, dass die Hankelschen Funktionen H1λ (z) und H1−λ(z) bzw. H2
λ (z) undH2−λ(z) linear abhängige Lösungen der Besselschen Differentialgleichung sind. Sind auch dieentsprechenden Besselschen bzw. Neumannschen Funktionen Jλ(z) und J−λ(z) bzw. Nλ(z) undN−λ(z) linear abhängig? Es zeigt sich, dass dies nicht für alle λ ∈ C der Fall ist: Aus
α J−λ(z)+ β Jλ(z) = 0 für alle z ∈ C
folgt mit (5.37) und (5.31) nach Zusammenfassung der Koeffizienten von H1λ (z) bzw. H2
λ (z)(α
2ei πλ+β
2
)H1
λ (z)+(
α
2e− i πλ+β
2
)H2
λ (z) = 0 , z ∈ C
und hieraus, da H1λ (z) und H2
λ (z) linear unabhängig sind,
α ei πλ+β = 0 und α e− i πλ+β = 0 . (5.38)
Hieraus ergibt sich für λ /∈ Z
α(
ei πλ− e− i πλ)= 0 oder α sin πλ = 0 , (5.39)
also α = 0 und damit wegen (5.38) auch β = 0. Entsprechendes gilt für Nλ(z).
Für λ /∈ Z sind die Besselschen Funktionen Jλ(z) und J−λ(z) bzw. die Neumannschen Funk-tionen Nλ(z) und N−λ(z) linear unabhängig, und die allgemeine Lösung der BesselschenDifferentialgleichung (5.29) lässt sich in der Form
u(z) = c1 Jλ(z)+ c2 J−λ(z) (c1, c2 : Konstanten) (5.40)
angeben.
Im Falle λ = n ∈ Z sind Jn(z) und J−n(z) wegen (5.50), Abschnitt 5.2.3, linear abhängig.Entsprechendes gilt für Nn(z) und wir erhalten:
210 5 Anwendung auf die Besselsche Differentialgleichung
Für λ = n ∈ Z sind die Besselschen Funktionen Jn(z) und J−n(z) bzw. die NeumannschenFunktionen Nn(z) und N−n(z) linear abhängig und die allgemeine Lösung der BesselschenDifferentialgleichung (5.29) lässt sich in der Form
u(z) = a1 Jn(z)+ a2 Nn(z) (a1, a2 : Konstanten) (5.41)
angeben.
5.2.2 Integraldarstellung der Besselschen Funktionen
Nach (5.20), Abschnitt 5.1.2, gilt für Re z > 0
H1λ (z) = − 1
π
∫C1
e− i z sin ζ+i λζ dζ
bzw.
H2λ (z) = − 1
π
∫C2
e− i z sin ζ+i λζ dζ
mit den durch Figur 5.4 gegebenen Integrationswegen C1 bzw. C2. Wegen (5.31) gilt daher
Jλ(z) = 12
[H1
λ (z)+ H2λ (z)
]= − 1
2π
∫C1+C2
e− i z sin ζ+i λζ dζ
oder
Jλ(z) = − 12π
∫C
e− i z sin ζ+i λζ dζ , Re z > 0 (5.42)
Dabei ist C der Integrationsweg gemäß Figur 5.5. (Die Anteile auf der negativen imaginärenAchse kürzen sich weg!)Eine weitere Integraldarstellung für Jλ ergibt sich, wenn wir im Integral (5.42) die Substitutionw := e− i ζ durchführen. Dabei geht C , wie man sehr einfach einsieht, in den neuen Integrations-weg C� gemäß Figur 5.6 über. Für Jλ ergibt sich dann wegen
ei λζ = e(− i ζ )(−λ) = w−λ , e− i z sin ζ = e− i z ei ζ − e− i ζ
2 i = ez2
(w− 1
w
)
und
dζ = 1(− i) e− i ζ dw = − 1
i wdw
die Darstellung
5.2 Die Besselschen und Neumannschen Funktionen 211
Fig. 5.4: Integrationsweg von H1λ (z) bzw. H2
λ (z) Fig. 5.5: Integrationsweg von Jλ(z)
Fig. 5.6: Integrationsweg C� bei Abbildung w = e− i ζ
Jλ(w) = 12π i
∫C�
ez2
(w− 1
w
)wλ+1 dw , Re z > 0 (5.43)
Sei nun zunächst z eine positive reelle Zahl. Führen wir die Substitution w := 2ζ/z durch, sogeht C� wieder in einen Integrationsweg von derselben Form wie C� über, insbesondere könnenwir C� selbst nehmen, ohne dass sich der Wert des Integrals ändert, und wir erhalten eine weitereDarstellung für Jλ:
Jλ(z) = 12π i
( z2
)λ∫
C�
eζ− z24ζ ζ−λ−1dζ , z ∈ C (5.44)
Das Integral in (5.44) konvergiert für alle z ∈ C. Daher werden die Besselschen Funktionendurch (5.44) für alle z ∈ C dargestellt.
212 5 Anwendung auf die Besselsche Differentialgleichung
Die Darstellung (5.44) zeigt, dass Jλ(z)/zλ bezüglich z eine in ganz C holomorphe Funktion,also eine ganze Funktion (s. Abschn. 2.2.5, (c)) ist. 5
5.2.3 Reihenentwicklung und asymptotisches Verhalten der Besselschen Funktionen
Wir benutzen die Darstellung (5.44) zur Herleitung einer Reihendarstellung der BesselschenFunktionen. Wegen
e−z24ζ = e−
1ζ (
z2 )
2 =∞∑
k=0
(−1)k
k! ζ k
( z2
)2k(5.45)
folgt aus (5.44)
Jλ(z) = 12π i
( z2
)λ∫
C�
eζ ζ−λ−1
[ ∞∑k=0
(−1)k
k! ζ k
( z2
)2k]
dζ . (5.46)
Da die Reihe (5.45) bezüglich ζ in jedem Gebiet der ζ -Ebene, das den Nullpunkt nicht enthält,gleichmäßig konvergiert, dürfen wir in (5.46) gliedweise integrieren und erhalten
Jλ(z) =∞∑
k=0
(−1)k
k!( z
2
)2k+λ 12π i
∫C�
eζ ζ−(λ+k+1)dζ .
Nach (3.65), Abschnitt 3.2.3 gilt:
12π i
∫C�
eζ ζ−(λ+k+1)dζ = 1Γ (λ+ k + 1)
,
so dass sich die folgende Reihenentwicklung für Jλ(z) ergibt:6
Jλ(z) =( z
2
)λ∞∑
k=0
(−1)k
k!Γ (λ+ k + 1)
( z2
)2k ; λ, z ∈ C (5.47)
Wir untersuchen noch einige Spezialfälle:(i) λ = n ∈ N0: Wegen Γ (n + k + 1) = (n + k)! (s. (3.53), Abschn. 3.2.3) folgt aus (5.47)
Jn(z) =( z
2
)n ∞∑k=0
(−1)k
k!(n + k)!( z
2
)2k, z ∈ C , n ∈ N0 (5.48)
5 Für λ /∈ Z ist Jλ(z) eine mehrdeutige Funktion; z = 0 ist Verzweigungspunkt.6 Es handelt sich um eine Potenzreihenentwicklung der Funktion Jλ(z)
zλ .
5.2 Die Besselschen und Neumannschen Funktionen 213
(ii) λ = −n, n ∈ N0: Wegen
1Γ (−n + k + 1)
= 0 für k = 0,1, . . . , n − 1
(Γ besitzt nach Abschnitt 3.2.3, (3.48), an diesen Stellen Pole) folgt aus (5.47)
J−n(z) =( z
2
)−n ∞∑k=n
(−1)k
k!(n + k)!( z
2
)2k
oder, wenn wir k durch k − n ersetzen,
J−n(z) =( z
2
)n ∞∑k=0
(−1)n+k
k!(n + k)!( z
2
)2kz ∈ C , n ∈ N (5.49)
Bemerkung: Die Besselschen Funktionen Jλ(z) sind also für λ = n ∈ Z ganze Funktionen.Ein Vergleich von (5.48) und (5.49) zeigt
J−n(z) = (−1)n Jn(z) , z ∈ C , n ∈ N (5.50)
(iii) λ = − 12: Wegen
Γ
(k + 1
2
)=(
k − 12
)(k − 3
2
)· . . . · 3
2· 1
2Γ
(12
)und Γ
(12
)= √π
(s. (3.51), (3.60) Abschn. 3.2.3) folgt aus (5.47)
J− 12(z) =
( z2
)− 12∞∑
k=0
(−1)k
k!Γ(
k + 12
) ( z2
)2k =( z
2
)− 12∞∑
k=0
(−1)k z2k
k! 1·3·...·(2k−1)
2k
√π22k
=√
2π z
∞∑k=0
(−1)k z2k
k!2k1 · 3 · . . . · (2k − 1)=√
2π z
∞∑k=0
(−1)k
(2k)! z2k ,
also wegen (1.38), Abschnitt 1.2.3,
J− 12(z) =
√2π z
cos z , z ∈ C (5.51)
(iv) λ = + 12
: Analog zum vorhergehenden Fall ergibt sich
J 12(z) =
√2π z
sin z , z ∈ C (5.52)
Die Besselschen Funktionen J1/2(z) und J−1/2(z) lassen sich also in einfacher Weise durch dietrigonometrischen Funktionen sin z und cos z ausdrücken. Wir zeigen nun, dass zwischen den
214 5 Anwendung auf die Besselsche Differentialgleichung
Hankelschen Funktionen H11/2(z) und H2
1/2(z) und der Exponentialfunktion ähnliche Zusammen-hänge gelten: Aus den Formeln (5.31) und (5.37), Abschnitt 5.2.1, ergibt sich für λ = 1
2
J1/2(z) = 12
[H1
1/2(z)+ H21/2(z)
], J−1/2(z) = i
2
[H1
1/2(z)− H21/2(z)
]und hieraus
H11/2(z) = J1/2(z)− i J−1/2(z) , H2
1/2(z) = J1/2(z)+ i J−1/2(z) . (5.53)
Setzen wir noch die obigen Formeln für J1/2(z) und J−1/2(z) ein, so erhalten wir
H11/2(z) =
√2π z
(sin z − i cos z) , H21/2(z) =
√2π z
(sin z + i cos z) (5.54)
oder, wenn wir (1.45), Abschnitt 1.2.3, verwenden,
H11/2(z) = − i
√2π z
ei z , H21/2(z) = i
√2π z
e− i z (5.55)
Insgesamt wird deutlich: Es besteht eine interessante Analogie zwischen
Sinus-, Cosinus- und Exponentialfunktion
und
Bessel-, Neumann- und Hankelfunktionen.
Asymptotisches Verhalten
(a) Aus den asymptotischen Darstellungen der Hankelschen Funktionen H1λ (z) und H2
λ (z) (s.(5.27), (5.28), Abschn. 5.1.3) und der Beziehung
Jλ(z) = 12
[H1
λ (z)+ H2λ (z)
](s. (5.31))
erhalten wir für z = x � λ sofort eine asymptotische Darstellung der Besselschen Funktio-nen:
Jλ(x) ∼√
2πx
cos(
x − λπ
2− π
4
)(5.56)
(b) Das Verhalten der Besselschen Funktionen Jλ(z) für kleine Argumente z können wir – un-abhängig von λ – den Reihenentwicklungen dieses Abschnittes entnehmen (s. (5.47) ff.).Für λ /∈ Z verhält sich Jλ(z) im Nullpunkt wie zλ, für λ = n ∈ N0 wie zn , und fürλ = −n (n ∈ N) ebenfalls wie zn . Im Nullpunkt können also nur Singularitäten der Formzλ, λ /∈ Z, auftreten.
5.2 Die Besselschen und Neumannschen Funktionen 215
5.2.4 Orthogonalität und Nullstellen der Besselschen Funktion
Ersetzen wir in der Besselschen Differentialgleichung
z2 d2
dz2 Jλ(z)+ zddz
Jλ(z)+ (z2 − λ2)Jλ(z) = 0 (5.57)
z durch α1t bzw. α2t , und multiplizieren wir die so entstehenden Gleichungen mit t−1, so lassensich diese in der Form
ddt
[tdJλ(α1t)
dt
]+(
α21 t − λ2
t
)Jλ(α1t) = 0 (5.58)
bzw.
ddt
[tdJλ(α2t)
dt
]+(
α22 t − λ2
t
)Jλ(α2t) = 0 (5.59)
schreiben. Nun multiplizieren wir (5.58) mit Jλ(α2t), (5.59) mit Jλ(α1t) und subtrahieren diezweite Gleichung von der ersten. Anschließend integrieren wir bezüglich t von 0 bis l, wobeil > 0 beliebig ist. Wir erhalten dann
l∫0
{Jλ(α2t)
ddt
[tdJλ(α1t)
dt
]− Jλ(α1t)
ddt
[tdJλ(α2t)
dt
]}dt
+(α2
1 − α22
) l∫0
t Jλ(α1t)Jλ(α2t)dt = 0 .
(5.60)
Wegen{. . .
}= d
dt
[tdJλ(α1t)
dtJλ(α2t)− t
dJλ(α2t)dt
Jλ(α1t)]
können wir (5.60) auch so schreiben:
∣∣∣∣t dJλ(α1t)dt
Jλ(α2t)− tdJλ(α2t)
dtJλ(α1t)
∣∣∣∣t=l
t=0+(α2
1 − α22
) l∫0
t Jλ(α1t)Jλ(α2t)dt = 0 . (5.61)
Mit dJλ(αt)dt = α J ′λ(αt) lautet diese Gleichung
∣∣∣α1t J ′λ(α1t)Jλ(α2t)−α2t J ′λ(α2t)Jλ(α1t)∣∣∣t=l
t=0+(α2
1 − α22
) l∫0
t Jλ(α1t)Jλ(α2t)dt = 0 . (5.62)
216 5 Anwendung auf die Besselsche Differentialgleichung
Für kleine z verhält sich Jλ(z) wie zλ (s. Abschn. 3.2.3). Ferner folgt aus der Reihenentwicklung(5.47) durch Differentiation die Beziehung
J ′λ(z) = −Jλ+1(z)+ λJλ(z)z
.
Daher existiert das Integral in (5.62) für reelle λ > −1, und der Ausdruck∣∣ . . . ∣∣ verschwindet
für t = 0. Aus (5.62) ergibt sich somit für λ > −1
l[α1 J ′λ(α1l)Jλ(α2l)− α2 J ′λ(α2l)Jλ(α1l)
]+ (α21 − α2
2
) l∫0
t Jλ(α1t)Jλ(α2t)dt = 0 (5.63)
Insbesondere erhalten wir hieraus für l = 1
α1 J ′λ(α1)Jλ(α2)− α2 J ′λ(α2)Jλ(α1)+(α2
1 − α22
) 1∫0
t Jλ(α1t)Jλ(α2t)dt = 0 . (5.64)
Mit Hilfe dieser Gleichung lässt sich ein Überblick über die Verteilung der Nullstellen vonJλ(z) gewinnen. Hierzu sei λ reell, λ > −1, und α �= 0 eine Nullstelle von Jλ(z). Die Reihenent-wicklung
Jλ(z) =( z
2
)λ∞∑
k=0
(−1)k
k!Γ (k + λ+ 1)
( z2
)2k(5.65)
(s. (5.47), Abschn. 5.2.3) besitzt für reelle z und λ reelle Koeffizienten. Mit Jλ(α) = 0 mussdaher auch Jλ(α) = 0 für die zu α konjugiert komplexe Zahl α gelten (s. Üb. 1.6, Abschn. 1.1.6),und aus (5.64) folgt für α1 = α und α2 = α
(α2 − α2
) 1∫0
t Jλ(αt)Jλ(αt)dt =(α2 − α2
) 1∫0
t |Jλ(αt)|2 dt = 0 (5.66)
(wir beachten, dass Jλ(αt) und Jλ(αt) konjugiert komplex sind). Da Jλ nicht identisch verschwin-det, muss α2 − α2 = (α − α)(α + α) = 0 sein, also α = α oder α = −α gelten. Dies bedeutet,dass α entweder reell oder rein imaginär sein muss. Wir zeigen dass der zweite Fall für λ > −1nicht eintreten kann. Hierzu setzen wir z = i a (a �= 0, reell) in der Reihenentwicklung (5.65).Dadurch ergibt sich für diese z
Jλ(z)zλ
= 12λ
∞∑k=0
1k!Γ (k + λ+ 1)
(a2
)2k. (5.67)
Für reelle λ mit λ > −1 und alle k ∈ N0 gilt Γ (k+λ+ 1) > 0 (s. Abschn. 3.2.3(b)); d.h. alleKoeffizienten der Reihe in (5.67) sind positiv. Daher ist die rechte Seite von (5.67) positiv und
5.2 Die Besselschen und Neumannschen Funktionen 217
damit auch Jλ(z)/zλ, so dass dieser Ausdruck keine Nullstellen der Form z = i a haben kann.Für reelle λ > −1 besitzt Jλ(z) also nur reelle Nullstellen.
Aus der asymptotischen Formel
Jλ(x) ∼√
2πx
cos(
x − λπ
2− π
4
)(5.68)
(s. (5.56), Abschn. 5.2.3) ersehen wir, dass Jλ(z) unendlich viele positive Nullstellen besitzt (dieCosinus-Funktion wechselt unendlich oft ihr Vorzeichen!). Wegen Jλ(−z) = ei λπ Jλ(z)7 tretenaußerdem unendlich viele negative Nullstellen auf, die bezüglich des Nullpunktes symmetrischliegen. Insgesamt erhalten wir:
Für reelle λ mit λ > −1 besitzt Jλ(z) nur reelle Nullstellen: unendlich viele positive undnegative, die bezüglich des Nullpunktes symmetrisch liegen.
Diese Nullstellen lassen sich näherungsweise aus (5.68) berechnen:
αn = αn(λ) ≈ −π
4+ λ
π
2+ nπ , n = 0, ±1, ±2, . . . . (5.69)
Die Genauigkeit dieser Werte nimmt mit wachsendem |n| zu.Bemerkung: Umfangreiche Tabellen über die Nullstellen der Besselschen Funktionen findensich z.B. in [27], S. 192-195.
Eine weitere interessante Eigenschaft der Besselschen Funktionen, die bei der Entwicklungvorgegebener Funktionen nach Besselschen Funktionen von Bedeutung ist 8, ist deren Orthogo-nalität. Sie ergibt sich wie folgt:
Gilt für z = α1 und z = α2 (α1 �= α2)
Jλ(α1l) = 0 , Jλ(α2l) = 0 (5.70)
oder
J ′λ(α1l) = 0 , J ′λ(α2l) = 0 , (5.71)
so folgt aus (5.64) sofort
l∫0
t Jλ(α1t)Jλ(α2t)dt = 0 , λ > −1
(Orthogonalitätseigenschaft der Besselschen Funktionen)
(5.72)
Wir beachten, dass auch die Funktion J ′λ(z) für λ > −1 unendlich viele reelle Nullstellen besitzt(warum?). Ist {αn}∞n=1 also eine Folge mit Jλ(αnl) = 0 oder J ′λ(αnl) = 0, so bildet {Jλ(αnt)}∞n=1ein orthogonales Funktionensystem (mit Gewicht t) auf (0, l).
7 Diese Beziehung folgt aus (5.65). (Zeigen!)8 s. auch Abschnitt 5.3.2, Schwingungen einer Membran.
218 5 Anwendung auf die Besselsche Differentialgleichung
5.2.5 Die Neumannschen Funktionen
Nach (5.31), Abschnitt 5.2.1, sind die Neumannschen Funktionen Nλ(z) durch
Nλ(z) = 12 i
[H1
λ (z)− H2λ (z)
](5.73)
erklärt. Wir wollen sie durch die Besselschen Funktionen Jλ(z) und J−λ(z) ausdrücken: Fürλ /∈ Z gelten die Zusammenhänge
H1λ (z) = −e− i λπ Jλ(z)− J−λ(z)
i sin λπ, H2
λ (z) = ei λπ Jλ(z)− J−λ(z)i sin λπ
. (5.74)
Dies folgt aus (5.31) und (5.37) (s. Abschn. 5.2.1), wenn wir nach H1λ (z) bzw. H2
λ (z) auflösen.Setzen wir (5.74) in (5.73) ein, so erhalten wir
Nλ(z) = cos λπ · Jλ(z)− J−λ(z)sin λπ
, λ /∈ Z . (5.75)
Für den Fall, dass λ = n ∈ Z ist, wollen wir Nn(z) aus (5.75) durch Grenzübergang λ → nmit Hilfe der Regel von de l’Hospital bestimmen:9 Für z �= 0 sind Zähler und Nenner in (5.75)bezüglich λ holomorphe Funktionen (nach Üb. 5.2 gilt die Holomorphie für die HankelschenFunktionen und damit auch für die Besselschen Funktionen für λ ∈ C). Außerdem verschwin-den Zähler (wir beachten (5.50)) und Nenner an den Stellen λ = n ∈ Z. Mit der Regel vonde l’Hospital erhalten wir daher
Nn(z) = limλ→n
cos λπ · Jλ(z)− J−λ(z)sin λπ
= limλ→n
∂∂λ
[cos λπ · Jλ(z)− J−λ(z)
]∂∂λ
sin λπ
= limλ→n
−π sin λπ · Jλ(z)+ ∂ Jλ(z)∂λ
cos λπ − ∂ J−λ(z)∂λ
π cos λπ,
oder
Nn(z) = 1π
[∂ Jλ(z)
∂λ− (−1)n ∂ J−λ(z)
∂λ
]λ=n
, n ∈ Z , z �= 0 (5.76)
Diese Formel gestattet es, Resultate, die wir für die Besselschen Funktionen gewonnen haben,auf die Neumannschen Funktionen zu übertragen. So folgt aus der Tatsache, dass Jλ(z) undJ−λ(z) Lösungen der Besselschen Differentialgleichung sind, wegen (5.76) und (5.50) sehr ein-fach, dass dies auch für Nn(z) gilt. Ebenso lassen sich verschiedene Integraldarstellungen fürNn(z) aus denen von Jλ(z) und J−λ(z) gewinnen. Wir begnügen uns damit, mit Hilfe von (5.76)Reihenentwicklungen für Nn(z) herzuleiten: Hierzu gehen wir von
Jλ(z) =( z
2
)λ∞∑
k=0
(−1)k
k!Γ (λ+ k + 1)
( z2
)2k
9 Die reelle Version dieser Regel wird in Burg/Haf/Wille [12]behandelt; sie gilt entsprechend auch im Komplexen.
5.2 Die Besselschen und Neumannschen Funktionen 219
aus (s. (5.47), Abschn. 5.2.3). Es gilt
∂ Jλ(z)∂λ
= ∂
∂λ
[eλ log z
2 ·∞∑
k=0
(−1)k
k!Γ (λ+ k + 1)
( z2
)2k]
= logz2· Jλ(z)+
( z2
)λ ∂
∂λ
∞∑k=0
(−1)k
k!Γ (λ+ k + 1)
( z2
)2k.
Da wir im letzten Ausdruck Differentiation und Summation vertauschen dürfen (warum?), ergibtsich
∂ Jλ(z)∂λ
= Jλ(z) logz2+( z
2
)λ∞∑
k=0
(−1)k
k!( z
2
)2k ddt
1Γ (t)
∣∣∣∣∣t=λ+k+1
und entsprechend
∂ J−λ(z)∂λ
= −J−λ(z) logz2−( z
2
)−λ∞∑
k=0
(−1)k
k!( z
2
)2k ddt
1Γ (t)
∣∣∣∣∣t=−λ+k+1
.
Setzen wir nun diese Ausdrücke in (5.76) ein, und verwenden wir außerdem die Beziehungen 10
ddt
1Γ (t)
∣∣∣∣t=n
= 1(n − 1)!
(C − 1− 1
2− . . .− 1
n − 1
), n ∈ N (5.77)
(C : Eulersche Konstante) und
ddt
1Γ (t)
∣∣∣∣t=−n
= (−1)nn! n ∈ N0 , (5.78)
so erhalten wir für λ = n ∈ N:
Nn(z) = 2π
Jn(z)(
logz2+ C
)− 1
π
( z2
)−n n−1∑k=0
(n − k − 1)!k!
( z2
)2k − 1π
·( z
2
)n 1n!(
1n+ 1
n − 1+ . . .+ 1
)− 1
π
( z2
)n ∞∑k=1
(−1)k
k!(n + k)! ·( z
2
)2k
·(
1n + k
+ 1n + k − 1
+ . . .+ 1+ 1+ 1k+ 1
k − 1+ . . .+ 1
)(5.79)
und für λ = n = 0:
10 Beweise finden sich z.B. in [16], S. 431-432.
220 5 Anwendung auf die Besselsche Differentialgleichung
N0(z) = 2π
J0(z)(
logz2+ C
)− 2
π
∞∑k=1
(−1)k
(k!)2
( z2
)2k(
1k+ 1
k − 1+ . . .+ 1
)(5.80)
Ferner ergibt sich aus (5.76) und (5.50)
N−n(z) = (−1)n Nn(z) , n ∈ N . (5.81)
Bemerkung: Die obigen Darstellungen zeigen, dass bei den Neumannschen Funktionen nebenden Potenzen von z ein Logarithmusterm auftritt.
Asymptotisches Verhalten
(a) Aus den asymptotischen Darstellungen der Hankelschen Funktionen H1λ (z) und H2
λ (z) (s.(5.27), (5.28), und der Beziehung Nλ(z) = 1
2 i
[H1
λ (z)− H2λ (z)
](s. (5.32), Abschn. 5.2.1)
erhalten wir für z = x � λ unmittelbar eine asymptotische Darstellung der NeumannschenFunktionen:
Nλ(x) ∼√
2πx
sin(
x − λπ
2− π
4
)(5.82)
(b) Das Verhalten der Neumannschen Funktionen Nλ(z) für kleine Argumente z und λ = n ∈ Z
lässt sich nach (5.79) bis (5.81) und Abschnitt 5.2.3 durch eine Singularität im Nullpunktder Form zn log z und einen Pol der Ordnung n beschreiben.
5.2.6 Verhalten der Lösung der Besselschen Differentialgleichung
Nach Abschnitt 5.2.1 lautet die allgemeine Lösung der Besselschen Differentialgleichung fürden Fall λ /∈ Z
u(z) = c1 Jλ(z)+ c2 J−λ(z) (5.83)
und für den Fall λ = n ∈ Z
u(z) = c1 Jn(z)+ c2 Nn(z) . (5.84)
Mit den Ergebnissen über die Funktionen Jλ(z) und Nλ(z) der obigen Abschnitte lässt sichdas Verhalten dieser Lösungen vollständig überschauen:
(i) Für λ /∈ Z kann die allgemeine Lösung im Punkt z = 0 nur Singularitäten der Form zλ bzw.z−λ besitzen.
(ii) Für λ = n ∈ Z kann die allgemeine Lösung nur eine Singularität der Form zn log z undeinen Pol der Ordnung n im Punkt z = 0 besitzen.
(iii) In C treten keine weiteren Singularitäten der Lösungen auf. Jedoch stellt der Punkt z = ∞für jede Lösung u �≡ 0 eine wesentliche Singularität dar.
(iv) Durch die Besselschen Funktionen Jn(z), n ∈ Z, sind diejenigen Lösungen gegeben, die inganz C holomorph sind.
5.3 Anwendungen 221
5.3 Anwendungen
5.3.1 Radialsymmetrische Lösungen der Schwingungsgleichung
Die radialsymmetrischen Lösungen11 U (|x|) =: f (r) der Schwingungsgleichung im Rn
ΔU + k2U = 0 (5.85)
genügen der Differentialgleichung
f ′′(r)+ n − 1r
f ′(r)+ k2 f (r) = 0 (5.86)
(s. Abschn. 5.1.1). Diese geht mit
f (r) =: r−n−2
2 g(kr) , kr =: ρin die Besselsche Differentialgleichung
g′′(ρ)+ 1ρ
g′(ρ)+⎡⎢⎣1−
(n−2
2
)2
ρ2
⎤⎥⎦ g(ρ) = 0 (5.87)
mit Index λ = (n − 2)/2 über. Den angegebenen Raumdimensionen n entsprechen also diefolgenden λ-Werte:
n = 2 : λ = 0 ∈ Z
n = 3 : λ = 12
/∈ Z
n = 4 : λ = 1 ∈ Z
n = 5 : λ = 32
/∈ Z usw.
Wir wollen linear unabhängige radialsymmetrische Lösungen der Schwingungsgleichung in Ab-hängigkeit von der Raumdimension n angeben:
Ein Fundamentalsystem von Lösungen der Gleichung (5.87) ist nach Abschnitt 5.1.3 durchdie Hankelschen Funktionen
H1n−2
2(ρ) und H2
n−22
(ρ)
gegeben. Die entsprechenden Lösungen für Gleichung (5.86) lauten
r−n−2
2 H1n−2
2(kr) und r−
n−22 H2
n−22
(kr)
bzw. für die Schwingungsgleichung (5.85)
11 Sie werden zum Aufbau der Theorie der Schwingungsgleichung benötigt (s. Burg/Haf/Wille [11]).
222 5 Anwendung auf die Besselsche Differentialgleichung
|x|− n−22 H1
n−22
(k|x|) und |x|− n−22 H2
n−22
(k|x|) (5.88)
Man nennt diese Lösungen auch Grundlösungen der Schwingungsgleichung.Insbesondere ergeben sich als Grundlösungen für die Raumdimensionen
n = 3: |x|− 12 H1
12(k|x|) und |x|− 1
2 H212(k|x|) .
Diese Lösungen lassen sich noch einfacher darstellen, wenn wir die Beziehungen
H112(z) = − i
√2π z
ei z , H212(z) = i
√2π z
e− i z
benutzen (s. (5.55), Abschn. 5.2.3). Wir erhalten dann als Grundlösungen im R3
ei k|x|
|x| unde− i k|x|
|x| (5.89)
Die Gesamtheit der radialsymmetrischen Lösungen von (5.85) ist für n=3 durch
U (x) = c1ei k|x|
|x| + c2e− i k|x|
|x| , k �= 0 (5.90)
gegeben. Dabei sind c1, c2 beliebige Konstanten. Im Falle k = 0 liefert (5.90) nur eine Lösung;12
eine weitere linear unabhängige Lösung von (5.86) ist f (r) ≡ 1. Sämtliche radialsymmetrischenLösungen sind dann für n = 3 durch
U (x) = c11|x| + c2 (5.91)
gegeben.Alle diese Lösungen besitzen im Nullpunkt eine Singularität der Form 1/|x|.n = 2: Aus (5.88) ergeben sich die Grundlösungen
H10 (k|x|) und H2
0 (k|x|) (5.92)
Die Gesamtheit der radialsymmetrischen Lösungen von (5.85) ist in diesem Fall durch
U (x) = c1 H10 (k|x|)+ c2 H2
0 (k|x|) (5.93)
gegeben. Dabei sind c1, c2 beliebige Konstanten. Wegen
H10 (z) = J0(z)+ i N0(z) , H2
0 (z) = J0(z)− i N0(z)
12 Für k = 0 geht die Schwingungsgleichung ΔU + k2U = 0 in die Potentialgleichung ΔU = 0 über.
5.3 Anwendungen 223
und dem aus Abschnitt 5.2.6 bekannten Verhalten der Funktionen J0(z) und N0(z) ist ersichtlich,dass die Grundlösungen (und damit auch die allgemeine Lösung (5.93)) im Falle n = 2 imNullpunkt eine logarithmische Singularität der Form log |x| besitzen.Bemerkung: Mit den bisher gewonnenen Resultaten beherrschen wir insbesondere das Verhaltender radialsymmetrischen Lösungen der Schwingungsgleichung in Abhängigkeit von der Raum-dimension n sowohl in einer Umgebung des Punktes x = 0 als auch für große Argumente |x|.Beides wird z.B. bei der Behandlung von Ganzraumproblemen der inhomogenen Schwingungs-gleichung
ΔU + k2U = f in Rn
mit Hilfe von »Volumenpotentialen« benötigt: Das Verhalten im Nahbereich (d.h. in einer Umge-bung von x = 0) ist für den Nachweis wichtig, dass das »Volumenpotential« der Schwingungs-gleichung genügt. Das asymptotische Verhalten (große |x|) ist vor allem für den Fall reeller kvon Bedeutung, um die korrekte Eindeutigkeitsbedingung zu gewinnen (s. hierzu Burg/Haf/Wille[11]).
5.3.2 Schwingungen einer Membran
Als weitere Anwendung der Theorie der Besselschen Funktionen untersuchen wir das Schwin-gungsverhalten einer kreisförmigen Membran. Wir wählen dieses Standardbeispiel, weil sichhier die Lösungsmethode, nämlich die Entwicklung der Lösung nach Besselschen Funktionen,besonders schön und einfach verdeutlichen lässt.
Die Auslenkungen U (x, y, t) einer im Gleichgewichtszustand in der (x, y)-Ebene liegendenMembran, die unter dem Einfluss von Spannungskräften steht, werden für den Fall kleiner WerteU beschrieben durch die Wellengleichung
∂2U∂t2 = a2
(∂2U∂x2 +
∂2U∂y2
)(5.94)
mit a2 = T/ρ, T : Spannung, ρ: Flächendichte. Wir nehmen an, dass der Rand C der Membrander Gleichung x2 + y2 = r2
0 , r0 > 0, genügt, also kreisförmig und fest eingespannt ist. Diesliefert die Randbedingung
U (x, y, t) = 0 auf C . (5.95)
Ferner geben wir noch die Anfangslage und die Anfangsgeschwindigkeit der Membranpunktevor, d.h. die Anfangsbedingungen
U (x, y, t)|t=0 = f (x, y) ,∂U (x, y, t)
∂t
∣∣∣∣t=0
= g(x, y) . (5.96)
Durch (5.94), (5.95) und (5.96) liegt ein Rand- und Anfangswertproblem für die Wellenglei-chung vor. Führen wir Polarkoordinaten ein:
x = r cos ϕ , y = r sin ϕ , 0 ≤ r ≤ r0 , 0 ≤ ϕ ≤ 2π ,
224 5 Anwendung auf die Besselsche Differentialgleichung
so geht (5.94) in die Gleichung
∂2U∂t2 = a2
(∂2U∂r2 +
1r
∂U∂r+ ∂2U
∂ϕ2
)(5.97)
über, wobei U (r, ϕ, t) := U (r cos ϕ, r sin ϕ, t) ist. Zur weiteren Behandlung unseres Problemsgehen wir ähnlich vor wie bei der Behandlung der schwingenden Saite: Wir benutzen die »Me-thode der stehenden Wellen«13 (s. Burg/Haf/Wille [10]). Hierzu gehen wir vom Produktansatz
U (r, ϕ, t) = V (r, ϕ)W (t) (5.98)
aus. Setzen wir (5.98) in (5.97) ein und trennen wir die Veränderlichen (r, ϕ) und t , so ergibt sichdie Gleichung
1V
(∂2V∂r2 +
1r
∂V∂r+ 1
r2∂2V∂ϕ2
)= 1
a2
∂2W∂t2
W=: −k2 . (5.99)
Hierbei ist k eine Konstante. (Die linke Seite von (5.99) ist unabhängig von t , die rechte von rund ϕ.) Wir erhalten für W die gewöhnliche Differentialgleichung
W ′′(t)+ a2k2W (t) = 0 (5.100)
und für V die partielle Differentialgleichung
∂2V∂r2 +
1r
∂V∂r+ 1
r2∂2V∂ϕ2 = −k2V . (5.101)
Verwenden wir erneut einen Produktansatz:
V (r, ϕ) = X (r)Y (ϕ) (5.102)
und gehen wir damit in (5.101) ein, so erhalten wir nach Trennung der Veränderlichen r und ϕ
r2 X ′′
X+ r
X ′
X+ k2r2 = −Y ′′
Y=: λ2 (5.103)
(λ = const) oder die beiden gewöhnlichen Differentialgleichungen für X und Y
Y ′′(ϕ)+ λ2Y (ϕ) = 0 (5.104)
und
X ′′ + 1r
X ′ +(
k2 − λ2
r2
)X = 0 . (5.105)
Durch Übergang zu der Variablen ρ := kr folgt aus (5.105) für Z(ρ) := X (ρ/k) die Besselsche
13 auch Fourier-Methode genannt.
5.3 Anwendungen 225
Differentialgleichung
Z ′′(ρ)+ 1ρ
Z ′(ρ)+(
1− λ2
ρ2
)Z(ρ) = 0 . (5.106)
Mit ω := ak lautet die allgemeine Lösung von (5.100)
W (t) = a cos ωt + b sin ωt (a, b: Konstanten) (5.107)
Die allgemeine Lösung von (5.104) ist durch
Y (ϕ) = c cos λϕ + d sin λϕ (c, d : Konstanten) (5.108)
gegeben. Da U (r, ϕ, t) als Funktion von ϕ 2π -periodisch ist, muss dies auch für V (r, ϕ) undY (ϕ) gelten. Dies bedeutet aber, dass λ ∈ Z sein muss. Wir nehmen o.B.d.A. an: λ ∈ N0 underhalten damit aus (5.108)
Yn(ϕ) = c cos nϕ + d sin nϕ , n ∈ N0 . (5.109)
(Die Abhängigkeit der Lösung Y von n kennzeichnen wir durch den Index n.)
Wir wenden uns nun der Besselschen Differentialgleichung (5.106) zu, wobei wir λ = n ∈ N0setzen:
Z ′′(ρ)+ 1ρ
Z ′(ρ)+(
1− n2
ρ2
)Z(ρ) = 0 . (5.110)
Nach Abschnitt 5.2.1 (iii) lautet die allgemeine Lösung dieser Gleichung
Zn(ρ) = C1 Jn(ρ)+ C2 Nn(ρ) , n ∈ N0
mit den Besselschen Funktionen Jn und den Neumannschen Funktionen Nn . Für die allgemeineLösung von (5.110) ergibt sich dann
Xn(r) = C1 Jn(kr)+ C2 Nn(kr) . (5.111)
Da wir von unserer Lösung U (auch aus physikalischen Gründen) erwarten, dass sie auch fürr = 0 beschränkt ist, muss C2 = 0 sein, da Nn im Nullpunkt singulär ist. Setzen wir nochC1 = 1, was für die Lösung U ohne Einfluss ist, so gilt
Xn(r) = Jn(kr) , n ∈ N0 . (5.112)
Aufgrund der Randbedingung (5.95), die U (r, ϕ, t)|r=r0 = 0 zur Folge hat, muss
Jn(kr0) = 0 (5.113)
gelten, d.h. es sind die Nullstellen der Besselschen Funktionen zu bestimmen. Davon gibt es
226 5 Anwendung auf die Besselsche Differentialgleichung
unendlich viele positive (s. Abschn. 5.2.4):
k(n)0 r0 , k(n)
1 r0 , k(n)2 r0 , . . . , k(n)
m r0 , . . . . (5.114)
Insgesamt erhalten wir wegen der Gleichungen (5.107), (5.109) und (5.112) unendlich viele Lö-sungen Un,m(r, ϕ, t) von (5.97) der Form
Un,m(r, ϕ, t) =(a cos ωn,mt + b sin ωn,mt)·· (c cos nϕ + d sin nϕ)Jn
(k(n)
m r)
, n, m ∈ N0(5.115)
mit ωn,m = ak(n)m , die sowohl die Wellengleichung (5.94) als auch die Randbedingung
Un,m(r, ϕ, t)|t=0 = 0 erfüllen. Da die Konstanten a, b, c, d jeweils von n und m abhängen,bringen wir dies durch die Schreibweisen an,m, bn,m usw. im Folgenden zum Ausdruck. Umauch noch die Anfangsbedingungen (5.96) bzw.
U (r, ϕ, t)|t=0 = f (r cos ϕ, r sin ϕ) =: f (r, ϕ) (5.116)
und
∂U (r, ϕ, t)∂t
∣∣∣∣∣t=0
= g(r cos ϕ, r sin ϕ) =: g(r, ϕ) (5.117)
zu erfüllen, überlagern wir die unendlich vielen Lösungen Un,m : Durch Superposition erhaltenwir damit den formalen Lösungsansatz
U (r, ϕ, t) =∞∑
n,m=0
(αn,m cos ωn,mt + βn,m sin ωn,mt) cos nϕ · Jn
(k(n)
m r)
+∞∑
n,m=0
(γn,m cos ωn,mt + δn,m sin ωn,mt) sin nϕ · Jn
(k(n)
m r) (5.118)
Dabei ist αn,m := an,mcn,m , βn,m := bn,mcn,m , γn,m := an,mdn,m , δn,m := bn,mdn,m . Für dasweitere Vorgehen, das auf die Bestimmung dieser Konstanten hinausläuft, begnügen wir uns miteinem formalen Standpunkt. (Wir nehmen an, dass die jeweiligen Reihen konvergieren und diedurchzuführenden Vertauschungen erlaubt sind.) Mit (5.116), (5.117) und (5.118) gelangen wirzu den Beziehungen
f (r, ϕ) =∞∑
n,m=0
(αn,m cos nϕ + γn,m sin nϕ)Jn
(k(n)
m r)
(5.119)
und
g(r, ϕ) =∞∑
n,m=0
ωn,m(βn,m cos nϕ + δn,m sin nϕ)Jn
(k(n)
m r)
. (5.120)
5.3 Anwendungen 227
Die Funktion f (wie auch g) ist als Funktion von ϕ 2π -periodisch. Wir entwickeln sie in eineFourierreihe (s. hierzu Burg/Haf/Wille [12]):
f (r, ϕ) =∞∑
n=0
(An cos nϕ + Bn sin nϕ) (5.121)
mit
An = An(r) = 1π
π∫−π
f (r, ϕ) cos nϕ dϕ , n = 1,2, . . . ;
A0 = A0(r) = 12π
π∫−π
f (r, ϕ) dϕ
(5.122)
und
Bn = Bn(r) = 1π
π∫−π
f (r, ϕ) sin nϕ dϕ , n = 0,1,2, . . . . (5.123)
Ein Vergleich von (5.119) mit (5.121) zeigt:
An(r) =∞∑
m=0
αn,m Jn
(k(n)
m r)
, Bn(r) =∞∑
m=0
γn,m Jn
(k(n)
m r)
. (5.124)
Aufgrund von (5.122) und (5.123) sind An(r) und Bn(r) bekannt, und es stellt sich die Aufgabe,die Koeffizienten αn,m und γn,m aus (5.124) zu ermitteln. Hierzu benutzen wir die folgendenOrthogonalitätsrelationen für die Besselschen Funktionen:
r0∫0
r Jn
(k(n)
j r)
Jn
(k(n)
l r)
dr = 0 für j �= l. (5.125)
(s. (5.72), Abschn. 5.2.4). Multiplizieren wir die erste der Gleichungen (5.124) jeweils mit demFaktor r Jn
(k(n)
j r)
und integrieren wir anschließend von 0 bis r0, so erhalten wir wegen (5.125)
r0∫0
An(r)r Jn
(k(n)
j r)
dr = αn, j
r0∫0
r[
Jn
(k(n)
j r)]2
dr , j ∈ N0
oder, wenn wir j durch m ersetzen,
228 5 Anwendung auf die Besselsche Differentialgleichung
αn,m =
r0∫0
r An(r)Jn
(k(n)
m r)
dr
r0∫0
r[
Jn
(k(n)
m r)]2
dr, n, m = 0,1,2, . . . . (5.126)
Entsprechende Formeln ergeben sich für die Koeffizienten γn,m , und, wenn wir analog bei gvorgehen, für die Koeffizienten βn,m und δn,m . Unser Problem ist damit (formal) gelöst: Mit(5.118) haben wir eine Reihenentwicklung von U (r, ϕ, t) nach Besselschen Funktionen, wobeidie Koeffizienten αn,m aus (5.126) und (5.122) und die übrigen Koeffizienten aus entsprechendenFormeln bestimmt werden können. Unter geeigneten Voraussetzungen an die Funktionen f und g(s. Anfangsbedingungen (5.96)) lässt sich zeigen, dass die so gewonnene formale Lösung (5.118)tatsächlich das Gewünschte leistet.
5.3.3 Elastizitätstheorie in der Ebene
Die Funktionentheorie erweist sich als nützliches mathematisches Hilfsmittel bei zahlreichenFragestellungen der Elastizitätstheorie. Dies wird z.B. in dem Werk von Mußchelischwili [39]überzeugend verdeutlicht. Insbesondere bei der Lösung von ebenen Problemen der Elastostatiklassen sich funktionentheoretische Methoden, genauer: komplexe Potentiale, vorteilhaft verwen-den.
Im Folgenden beschränken wir uns auf die Untersuchung eines ebenen Spannungszustandes.Technische Modelle hierfür sind in guter Näherung Scheiben mit geringer Dicke.
Wir gehen von einem (x, y, z)-Koordinatensystem aus, wobei sich die Scheibe S in der (x, y)-Ebene befinde. Wir nehmen d � S an und setzen voraus, dass die äußeren Kräfte in der (x, y)-Ebene wirken. Dann liegt in der Scheibe in guter Näherung ein ebener Spannungszustand vor(s. Fig. 5.7).
Zunächst legen wir einige Bezeichnungen fest: Den Spannungsvektor auf einer Ebene x =const schreiben wir
sx = (σxx , σyx , σzx ) ,
entsprechend auf den Ebenen y = const und z = const
sy = (σxy, σyy, σzy) und sz = (σxz, σyz, σzz) .
Die Spannungskomponenten lassen sich in der Matrix
σ =⎛⎝σxx σxy σxz
σyx σyy σyzσzx σzy σzz
⎞⎠ (5.127)
zusammenfassen. Man nennt σ den Cauchyschen Spannungstensor. 14 Seine Komponenten er-
14 Zur Behandlung von Tensoren s. z.B. auch Burg/Haf/Wille [13]
5.3 Anwendungen 229
z
S
x
y
d
Fig. 5.7: Dünne Scheibe
füllen die lokalen Gleichgewichtsbedingungen für die Kräfte:
∂σxx
∂x+ ∂σxy
∂y+ ∂σxz
∂z+ fx = 0
∂σyx
∂x+ ∂σyy
∂y+ ∂σyz
∂z+ fy = 0
∂σzx
∂x+ ∂σzy
∂y+ ∂σzz
∂z+ fz = 0
(5.128)
mit f = ( fx , fy, fz) als spezifische Volumenkraft, und die lokalen Gleichgewichtsbedingungenfür die Momente
σxy = σyx , σyz = σzy , σzx = σxz . (5.129)
Im Fall des ebenen Spannungszustandes gilt:
σxz = σyz = σzz = 0 und fz = 0 . (5.130)
Die übrigen Größen σxx , σyy , σxy = σyx , fx , fy hängen nur von x und y ab.Setzt man verschwindende Volumenkräfte voraus, so führen die Bedingungen für das mecha-
nische Gleichgewicht auf das homogene Differentialgleichungssystem
∂σxx
∂x+ ∂σxy
∂y= 0
∂σyx
∂x+ ∂σyy
∂y= 0
(σxy = σyx ) . (5.131)
230 5 Anwendung auf die Besselsche Differentialgleichung
Hinzu kommt die Kompatibilitätsbedingung, d.h. eine Integrabilitätsbedingung für den Verzer-rungszustand. Diese lässt sich mit dem Hooke’schen Gesetz durch die Spannungen ausdrückenund führt mit der Annahme f = 0 auf die Gleichung
Δ(σxx + σyy) = 0 . (5.132)
Zur Herleitung s. z.B. Becker/Gross [4]. Das Differentialgleichungssystem (5.131), (5.132) lässtsich mit Hilfe der Airyschen Spannungsfunktion F(x, y), die über die Beziehungen
σxx = ∂2 F∂y2 , σyy = ∂2 F
∂x2 , σxy = ∂2 F∂x∂y
, (5.133)
erklärt ist, elegant vereinfachen. Wie immer man die Spannungsfunktion F wählt: die homoge-nen Gleichgewichtsbedingungen (5.131) sind mit diesem F unmittelbar erfüllt, so dass nur nochdie homogene Kompatibilitätsbedingung (5.132) erfasst werden muss.
Offensichtlich gilt σxx + σyy = ΔF . Aus der Beziehung Δ(σxx + σyy) = 0 ergibt sich daherdie Formel
ΔΔF = ∂4 F∂x4 + 2
∂4 F∂x2∂y2 +
∂4 F∂y4 = 0 , (5.134)
also eine partielle Differentialgleichung vierter Ordnung für F . Man nennt sie Bipotentialglei-chung oder Scheibengleichung.
Das ebene Spannungsproblem lässt sich also auf die Bipotentialgleichung zurückführen. Die-se gilt es zu lösen. Das ist allerdings nicht die Hauptschwierigkeit. Bei der Lösung von Scheiben-problemen verursachen in der Regel die Randbedingungen die größeren Probleme.
Wir zeigen im Folgenden, wie sich funktionentheoretische Methoden, speziell komplexe Po-tentiale, bei der Lösung von ebenen Problemen heranziehen lassen.
Komplexe Potentiale sind uns bereits im Zusammenhang mit ebenen Strömungen begegnet.(s. Abschn. 4.2.4). Mit z = x + i y und der konjugiert Komplexen z = x − i y lassen sich x undy in der Form
x = 12(z + z) , y = 1
2 i(z − z) (5.135)
bzw. ∂∂x und ∂
∂y in der Form
∂
∂x= ∂
∂z+ ∂
∂z,
∂
∂y= i
(∂
∂z− ∂
∂z
)(5.136)
schreiben. Damit lautet die Bipotentialgleichung (5.134)
4∂4 F
∂z2∂z2 = 0 . (5.137)
Für beliebige komplexe Potentiale ϕ(z) und χ(z) ergibt sich hieraus die Airysche Spannungs-
5.3 Anwendungen 231
funktion F zu
F = Re [zϕ(z)+ χ(z)] (5.138)
(warum?). Nun ziehen wir noch die sogenannten Kolosovschen Gleichungen heran (siehe z.B.Becker/Gross [4], S. 99):
2G(u + i v) = κ ϕ(z)− zϕ′(z)− ψ(z)
σxx + σyy = 2[ϕ′(z)+ ϕ′(z)
]σyy − σxx + 2 i σxy = 2
[zϕ′′(z)+ ψ ′(z)
].
(5.139)
Dabei sind u(x, y) und v(x, y) die Komponenten des Verschiebungsvektors u = (u, v) undψ(z) := χ ′(z). Der Verschiebungsvektor ist eine eindeutige Ortsfunktion, da mit (5.132) bzw.ΔΔF = 0 die Kompatibilitätsbedingung erfüllt ist. G bezeichne den Schubmodul, und κ isteine Materialkonstante. Addition bzw. Subtraktion der letzten beiden Gleichungen (5.139) lieferndann für die Spannungskomponenten σxx , σyy und σxy die Beziehungen
σyy + i σxy = ϕ′(z)+ ϕ′(z)+ zϕ′′(z)+ ψ ′(z)σxx − i σxy = ϕ′(z)+ ϕ′(z)− zϕ′′(z)− ψ ′(z) .
(5.140)
Wir beachten: Diese Gleichungen sind für beliebige komplexe Potentiale ϕ und ψ erfüllt. ZurLösung eines Randwertproblems müssen daher diese Potentiale nur noch so bestimmt werden,dass die entsprechenden Randbedingungen erfüllt sind.
Nimmt man als Beispiel den Fall, dass die Scheibe die gesamte z-Ebene bildet, so erweist sichfür die komplexen Potentiale die Wahl
ϕ(z) = a Log z , ψ(z) = b Log z 15 (5.141)
als sinnvoll, wobei die komplexen Konstanten a und b noch zu bestimmen sind. Dieses Beispielsowie weitere interessante Fälle werden etwa in dem Buch von Becker/Gross [4] im Kapitel 2.7ausführlich behandelt.
5.3.4 Streuung einer ebenen Welle
In diesem Abschnitt wollen wir skizzenhaft aufzeigen, wie sich Probleme der Schwingungstheo-rie mit Hilfe der Fouriertransformation (die sich z.B. in Burg/Haf/Wille [10]nachlesen lässt) undmit Methoden der Funktionentheorie auf Randwertprobleme vom Wiener-Hopf-Typ zurückfüh-ren und lösen lassen.16 Wir beschränken uns dabei auf ein Problem, das sich auf die Ausbreitungelektromagnetischer Wellen und deren Beugung an einer scharfen Kante anwenden lässt.
Auf die als ideal leitend angenommene Halbebene
S :={(x, y, z) ∈ R
3 | 0 ≤ x <∞ , y = 0 , −∞ < z <∞}
(5.142)
15 Zur komplexen Logarithmusfunktion s. Abschn. 2.1.4, II16 Eine ausführliche Behandlung findet sich z.B. bei E. Meister [38], B. Noble [42] und D.S. Jones [30]
232 5 Anwendung auf die Besselsche Differentialgleichung
falle eine ebene zeitharmonische Welle , die wir in der Form
ϕ(x, y, t) = Re{
ei k(x cos τ+y sin τ)−i ωt}
(5.143)
schreiben. Dabei seien k = k1 + i k2 �= 0, k1, k2 ≥ 0 und 0 < τ < π . Die Halbebene S besitzedie scharfe Kante
K :={(x, y, z) ∈ R
3 | x = 0 , y = 0 , −∞ < z <∞}
. (5.144)
Wir interessieren uns besonders für das Streufeld. Das gesamte Wellenfeld bezeichnen wir mitϕG . Wir nehmen an, dass ϕG ebenfalls zeitharmonisch mit der Frequenz ω ist und außerdem nurvon x und y abhängt: ϕG = ϕG(x, y, t). Die zugehörige (komplexwertige) Amplitudenfunktionbezeichnen wir mit UG = UG(x, y). Ist dann
S0 :={(x, y) ∈ R
2 | 0 ≤ x <∞ , y = 0}
, (5.145)
so zeigt ein Separationsansatz (s. Abschn 5.1.1), dass UG im Gebiet R2 \ S0 der Helmholtzschen
Schwingungsgleichung
ΔUG + k2UG = 0 (5.146)
genügt. Wir gehen in unserer Anwendung davon aus, dass eine elektromagnetische Welle vorliegt,deren elektrisches Feld zur z-Achse, also parallel zur Kante K , polarisiert ist. Dann muss UG derDirichletschen Randbedingung
limy→0
UG(x, y) = 0 , 0 < x <∞ (5.147)
auf S0 genügen. Hinzu kommen weitere Bedingungen (s. nachfolgende gesamte Problemstel-lung), insbesondere Ausstrahlungsbedingungen für das Verhalten des gestreuten Wellenanteilsfür große Werte r := √
x2 + y2 (d.h. r → ∞) und Werte in der Nähe der Kante (d.h. r → 0).Diese gewinnt man mit Hilfe der Darstellungsformeln für die zweidimensionale HelmholtzscheSchwingungsgleichung (s. z.B. Burg/Haf/Wille [11]), wobei als schöne Anwendung der Funk-tionentheorie die in Abschnitt 5.1.3 dieses Bandes gewonnene Asymptotik der HankelschenFunktionen voll zum Tragen kommt. Die mühsame Herleitung dieser Ausstrahlungsbedingun-gen findet sich z.B. bei E. Meister [38], S. 260-261.
Zur weiteren Behandlung unseres Problems teilen wir das Gebiet R2 \ S0 gemäß Fig. 5.8 auf.
Es bezeichne Ue den einfallenden, Ur den reflektierten, Ug den gebeugten Anteil des Gesamt-feldes (Amplitudenfunktionen). Dabei ist Ue(x, y) = ei k(x cos τ+y sin τ). Das Gesamtfeld UG(Amplitude!) setzt sich im Gebiet I aus den Strahlungsquellen auf S0 zusammen:
UG(x, y) = Ue(x, y)+Ur (x, y)+Ug(x, y) . (5.148)
Im Gebiet II gilt:
UG(x, y) = Ue(x, y)+Ug(x, y) (5.149)
5.3 Anwendungen 233
x
Ue(x, y)
S0
I−τ
IIIII
y = tan τ · x
τ
y = − tan τ · x
y
Ue +Ur +Ug
Ue +Ug Ug
Fig. 5.8: Zur Streuung einer ebenen Welle
(es fehlt der reflektierte Anteil!) und im Gebiet III ist nur der Beugungsanteil vorhanden:
UG(x, y) = Ug(x, y) . (5.150)
Für das Streufeld
Us(x, y) := UG(x, y)−Ue(x, y) (5.151)
ergibt sich insgesamt ein gemischtes Randwertproblem mit der Helmholtzschen Schwingungs-gleichung
ΔUs + k2Us = 0 im R2 \ R (= R
2+ ∪ R2−) , (5.152)
den Randbedingungen
limy→±0
Us(x, y) = −Ue(x,0) = − ei kx cos τ , x > 0 (5.153)
limy→+0
Us(x, y) = limy→−0
Us(x, y) =: a(x) , x < 0 (5.154)
und
limy→+0
∂Us(x, y)
∂y= lim
y→−0
∂Us(x,0)
∂y=: b(x) , x < 0 , (5.155)
wobei die Funktionen a(x) und b(x) noch unbekannt sind. y → +0 bzw. y → −0 bezeichnet
234 5 Anwendung auf die Besselsche Differentialgleichung
die Grenzwerte von links bzw. rechts. Ferner seien die Kantenbedingungen
Us(x, y) = O(1) für r → 0 , 17 (5.156)
∇Us(x, y) = O(r−β) , 0 ≤ β < 1 für r → 0 (5.157)
erfüllt. Außerdem die Ausstrahlungsbedingungen
Us(x, y) =
⎧⎪⎪⎪⎪⎨⎪⎪⎪⎪⎩
O(e−k2x cos τ )+O(1) für x →∞0 ≤ arg(x, y) ≤ δ , 2π − δ ≤ arg(x, y) ≤ 2π
O(e−k2r sin δ) für r →∞0 < δ ≤ arg(x, y) ≤ 2π − δ .
(5.158)
Zur weiteren Behandlung unseres Problems ziehen wir die Fouriertransformation heran. Sie istunter geeigneten Voraussetzungen an eine Funktion f durch
F[ f (t)] = f (s) := 1√2π
∞∫−∞
f (t) e− i st dt , s ∈ R (5.159)
erklärt. Ferner gilt bei entsprechenden Voraussetzungen der Differentiationssatz
F[ f (r)(t)] = (i s)rF[ f (t)] , s ∈ R , (5.160)
d.h. die r -te Ableitung von f führt auf den algebraischen Faktor (i s)r (s. hierzu z.B. Burg/Haf/-Wille [10]).
Mit diesen Hilfsmitteln wenden wir uns wieder unserem Problem zu. Wir bilden die Fourier-transformierte von Us(x, y) bezüglich x :
Us(λ, y) = 1√2π
∞∫−∞
Us(x, y) e− i λx dx , λ ∈ R . (5.161)
Ferner definieren wir für λ ∈ R
J+(λ) := 1√2π
∞∫0
J (x) e− i λx dx
:= 1√2π
∞∫0
(∂Us(x, y)
∂y
∣∣∣∣y=+0
− ∂Us(x, y)
∂y
∣∣∣∣y=−0
)e− i λx dx
(5.162)
17 Wir verwenden hier erneut das Landau-Symbol O, welches wir bereits in Abschn. 2.4.1 kennengelernt haben. DieAussage f (r) = O(g(r)) für r → 0 bzw. r →∞ besagt: Es gibt eine Konstante M > 0 mit | f (r)| ≤ M |g(r)| fürhinreichend kleine bzw. große r .
5.3 Anwendungen 235
und nehmen im folgenden an, dass die entsprechenden Grenzprozesse vertauschbar sind. Dannergibt sich aus (5.152) mit Hilfe von (5.160) für r = 2
d2Us(λ, y)
dy2 + (k2 − λ2)Us(λ, y) = 0 , y > 0 bzw. y < 0 , (5.163)
also eine gewöhnliche Differentialgleichung für Us . Ihre allgemeine Lösung lautet (s. z.B. Burg/-Haf/Wille [10])
Us(λ, y) =⎧⎨⎩C1(λ) e−y
√λ2−k2 +C2(λ) ey
√λ2−k2
, y > 0
D1(λ) e−y√
λ2−k2 +D2(λ) ey√
λ2−k2, y < 0 .
(5.164)
Für die Quadratwurzel√
λ2 − k2 legt man dabei zweckmäßig die Verzweigungsschnitte18 vonλ = k nach i∞ und von λ = −k nach − i∞ wie in Fig. 5.9 gezeigt fest (s. E. Meister [38],S. 263).
k1
k2
λ+ k
λ
λ− k
k
−k
Re λ
Im λ
Fig. 5.9: Verzweigungsschnitt zu√
λ2 − k2
Für |Re λ| → ∞ ist√
λ2 − k2 ≈ |λ|. Us(x, y) muss für |y| → ∞ beschränkt bleiben unddaher auch Us(λ, y). Aus (5.164) folgt somit
C2(λ) ≡ 0 und D1(λ) ≡ 0 ,
18 Zur Verzweigung der Wurzelfunktion s. auch Abschnitt 2.1.4, I
236 5 Anwendung auf die Besselsche Differentialgleichung
so dass
Us(λ, y) =⎧⎨⎩C1(λ) e−y
√λ2−k2
, y > 0
D1(λ) ey√
λ2−k2, y < 0
(5.165)
gelten muss. Wegen Us(x,+0) = Us(x,−0) für x ∈ R ergibt sich C1(λ) = D2(λ) =: A(λ), und(5.165) geht in
Us(λ, y) = A(λ) e−|y|√
λ2−k2(5.166)
über. Differenzieren wir nun bezüglich y und führen wir den Grenzübergang y → ±0 durch, soerhalten wir aufgrund der Beziehungen (5.155) und (5.162)
∂Us(λ,+0)
∂y− ∂Us(λ,−0)
∂y= J+(λ) = −2
√λ2 − k2 A(λ) . (5.167)
Die Dirichletsche Randbedingung (5.153), (5.154) liefert
limy→+0
Us(λ, y) = a−(λ)− F+[−Ue(x,0)](λ) . (5.168)
Dabei bedeuten die Indizes− bzw.+, dass die jeweiligen Funktionen, deren Fouriertransformier-te gebildet werden, nur auf R
− bzw. R+ von 0 verschieden sind. Mit (5.166) folgt hieraus mit
k = k1 + i k2
A(λ) = a−(λ)+ [i√2π(λ+ k cos τ)]−1 , −k2 cos τ < Im λ < k2 . (5.169)
(k2 > 0, doch lässt sich a−(λ) nach Im λ < k2 analytisch fortsetzen.)
Eliminiert man jetzt A(λ), das wegen (5.166) gleich Us(λ,0) ist, aus den Gleichungen (5.167)und (5.169), so ergibt sich für unser Streuproblem eine Funktionalgleichung vom sogenanntenWiener-Hopf-Typ:
J+(λ) = −2√
λ2 − k2·{
a−(λ)+ [i√2π(λ+ cos τ)]−1}
,
− k2 cos τ < Im λ < k2 .(5.170)
Durch Aufspaltung von√
λ2 − k2 in der Form√
λ− k · √λ+ k lässt sich zeigen (s. z.B. E.Meister [38], S. 264-265)
J+(λ) = −2√
λ+ k · √−k cos τ − k · [i√2π(λ+ k cos τ)]−1 , (5.171)Im λ > −k2 cos τ
a−(λ) = −[1−√−k cos τ − k/√
λ− k] · [i√2π(λ+ k cos τ)]−1 , (5.172)Im λ < k2 .
Diese beiden Gleichungen enthalten die Lösung der Wiener-Hopf-Gleichung (5.170). Mit der
5.3 Anwendungen 237
Beziehung√−k cos τ − k = i
√2k cos τ
2 und (5.167) sowie (5.166) ergibt sich nämlich
Us(λ, y) = −√2k cosτ
2e−|y|
√λ2−k2
√λ− k
√2π(λ+ k cos τ)
,
− k2 cos τ < Im λ < k2 , y ∈ R .
(5.173)
Wendet man darauf die inverse Fouriertransformation an, so ergibt sich für das gesuchte Streu-feld Us(x, y) die Fourier-Integraldarstellung
Us(x, y) = −√
2k cos τ2
2π
i c+∞∫i c−∞
e− i λx−|y|√
λ2−k2
√λ− k(λ+ k cos τ)
dλ (5.174)
Bemerkung 1: Durch geeignete Deformation des Integrationsweges (dazu benutzt man denCauchyschen Integralsatz, s. Abschn. 2.2.2) lassen sich aus (5.174) weitere interessante Inte-graldarstellungen des Streufeldes gewinnen.
Bemerkung 2: Wie bereits erwähnt, haben wir diese Anwendung mehr fragmentarisch behan-delt und auf einige schwierige Herleitungen verzichtet. Diese lassen sich z.B. in dem Buch vonE. Meister [38], an dem wir uns orientiert haben, oder bei B. Noble [42] und D.S. Jones [30]nachlesen.