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Friedrich Nietzsches Ur-Urgroßvater Christoph Andreas Nietzsche (um 1682–1739)

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DOKUMENTATION DANIEL DEVREESE FRIEDRICH NIETZSCHES UR-URGROSSVATER CHRISTOPH ANDREAS NITZSCHE (UM 1682 – 1739). EIN BEITRAG ZUR AHNENFORSCHUNG UND ZUR HISTORISCHEN REKONSTRUKTION DER POLNISCHEN LEGENDE Zusammenfassung: In diesem Aufsatz wird Nietzsches Legende von seiner polnischen adligen Ab- stammung historisch-kritisch untersucht. Über Hans von Müllers genealogische Rekonstruktion hinausgehend, wird Nietzsches historischer Ur-Urgroßvater Christoph Andreas Nitzsche (geb. um 1682 in Weitzschen in Kursachsen, gest. 1739 in Bibra) aufgrund seiner Immatrikulation an der Leipziger Universität (1699) identifiziert. Sein Curriculum an der Juristischen Fakultät ermöglicht es, seine Biographie zu rekonstruieren und aufzudecken, dass er 1709 von Kursach- sen nach Bibra in Thüringen übersiedelte, wo er den Titel eines ‚Königlichen Pohlnischen und Chursächsischen Accise-Inspectors‘ erhielt. Die adeligen Ambitionen können nur seinem Sohn Gotthelf Engelbert Nietzsche (1714 – 1804) zugeschrieben werden und sind im Kontext der sächsisch-polnischen Union (1697–1763) zu sehen. Beide Elemente wurden als Kern der Fami- lienlegende vom polnischen Adel an die späteren Generationen weitergereicht. Schlagwörter: Nietzsches polnische Legende, Christoph Andreas Nitzsche, Gotthelf Engelbert Nietzsche. Abstract: In this study, Nietzsche’s legend about his Polish noble ancestor is analyzed. Beyond the genealogical reconstruction by Hans von Müller, Nietzsche’s historical ancestor Christoph Andreas Nitzsche (Weitzschen c. 1682 – Bibra 1739) is identified on the basis of his matricu- lation as student of law at the University of Leipzig in 1699. In light of this curriculum, his biography and his migration from Saxony to Bibra in Thuringia in 1709 as a ‘Königlichen Pohlnischen und Chursächsischen Accise-Inspector’ is reconstructed. Noble ambitions can only be attributed to his son Gotthelf Engelbert Nietzsche (1704 – 1804) in Bibra in the era of the Saxon-Polish Union (1697–1763), but both elements have been transmitted to the following generations as the kernel of the family’s legend of their Polish nobility. Keywords: Nietzsche’s Polish legend, Christoph Andreas Nitzsche, Gotthelf Engelbert Nietzsche. Résumé: Dans cette étude la légende polonaise de Nietzsche est analysée par une méthode historico- critique. Au-delà de la reconstruction généalogique par Hans von Müller, la biographie de Chris- toph Andreas Nitzsche (Weitzschen en Saxe, ca. 1682 – Bibra 1739) est reconstituée sur la base de son immatriculation à l’université de Leipzig en 1699. Son curriculum à la Faculté de Droit permet de reconstituer sa carrière juridique et sa migration de Saxe vers Bibra en Thuringue Brought to you by | University of Stellenbosch Authenticated | 146.232.129.75 Download Date | 9/27/13 10:46 AM
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DOKUMENTATION

DANIEL DEVREESE

FRIEDRICH NIETZSCHES UR-URGROSSVATERCHRISTOPH ANDREAS NITZSCHE (UM 1682–1739).

EIN BEITRAG ZUR AHNENFORSCHUNG UND ZUR HISTORISCHENREKONSTRUKTION DER POLNISCHEN LEGENDE

Zusammenfassung: In diesem Aufsatz wird Nietzsches Legende von seiner polnischen adligen Ab-stammung historisch-kritisch untersucht. Über Hans von Müllers genealogische Rekonstruktionhinausgehend, wird Nietzsches historischer Ur-Urgroßvater Christoph Andreas Nitzsche (geb.um 1682 in Weitzschen in Kursachsen, gest. 1739 in Bibra) aufgrund seiner Immatrikulation ander Leipziger Universität (1699) identifiziert. Sein Curriculum an der Juristischen Fakultätermöglicht es, seine Biographie zu rekonstruieren und aufzudecken, dass er 1709 von Kursach-sen nach Bibra in Thüringen übersiedelte, wo er den Titel eines ‚Königlichen Pohlnischen undChursächsischen Accise-Inspectors‘ erhielt. Die adeligen Ambitionen können nur seinem SohnGotthelf Engelbert Nietzsche (1714–1804) zugeschrieben werden und sind im Kontext dersächsisch-polnischen Union (1697–1763) zu sehen. Beide Elemente wurden als Kern der Fami-lienlegende vom polnischen Adel an die späteren Generationen weitergereicht.

Schlagwörter: Nietzsches polnische Legende, Christoph Andreas Nitzsche, Gotthelf EngelbertNietzsche.

Abstract: In this study, Nietzsche’s legend about his Polish noble ancestor is analyzed. Beyondthe genealogical reconstruction by Hans von Müller, Nietzsche’s historical ancestor ChristophAndreas Nitzsche (Weitzschen c. 1682 – Bibra 1739) is identified on the basis of his matricu-lation as student of law at the University of Leipzig in 1699. In light of this curriculum,his biography and his migration from Saxony to Bibra in Thuringia in 1709 as a ‘KöniglichenPohlnischen und Chursächsischen Accise-Inspector’ is reconstructed. Noble ambitions can onlybe attributed to his son Gotthelf Engelbert Nietzsche (1704–1804) in Bibra in the era of theSaxon-Polish Union (1697–1763), but both elements have been transmitted to the followinggenerations as the kernel of the family’s legend of their Polish nobility.

Keywords: Nietzsche’s Polish legend, Christoph Andreas Nitzsche, Gotthelf Engelbert Nietzsche.

Résumé: Dans cette étude la légende polonaise de Nietzsche est analysée par une méthode historico-critique. Au-delà de la reconstruction généalogique par Hans von Müller, la biographie de Chris-toph Andreas Nitzsche (Weitzschen en Saxe, ca. 1682 – Bibra 1739) est reconstituée sur la basede son immatriculation à l’université de Leipzig en 1699. Son curriculum à la Faculté de Droitpermet de reconstituer sa carrière juridique et sa migration de Saxe vers Bibra en Thuringue

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en 1709 en tant que ‹Königlichen Pohlnischen und Chursächsischen Accise-Inspector›. Desambitions nobiliaires ne peuvent être attribuées qu’à son fils Gotthelf Engelbert Nietzsche(1714–1804) à Bibra dans l’ère de l’Union saxo-polonaise (1697–1763), mais ces deux élémentsétaient transmis vers les générations succédentes comme noyau de la légende d’une origine no-ble polonaise.

Mots-clés: La légende polonaise de Nietzsche, Christoph Andreas Nitzsche, Gotthelf EngelbertNietzsche.

1. Christoph Andreas Nitzsche (um 1682–1739) aus Weitzschen

In der Forschung ist Nietzsches polnische Legende ein Fremdkörper, umden die Biographen einen großen Bogen gemacht haben. Nur der E.T.A. Hoff-mann-Biograph Hans von Müller (1875–1944), vorübergehender MitarbeiterElisabeth Förster-Nietzsches in den ersten Jahren des Weimarer Nietzsche-Archivs, hat dieses genealogische Problem erforscht. Nach seiner ersten kriti-schen Veröffentlichung 1898, anlässlich seiner Entdeckung der Niederlassungdes „Accise-Inspectors Christoph Nitzsche“ am „30. Oktober 1709“ in Bibra(Thüringen), brach Elisabeth Förster-Nietzsche jeden Kontakt ab.1 Seine spä-tere Untersuchung, abgeschlossen nach ihrem Tod im Jahre 1935 und nach derÜbernahme der Leitung des Nietzsche-Archivs in Weimar durch ihren VetterMax Oehler,2 wurde nie publiziert. Erst vor Kurzem wurde sein Aufsatz aufge-funden – veröffentlicht wurde er 2002.3 Gegen von Müllers Kritik spann Eli-sabeth Förster-Nietzsche die polnische Legende in ihren Biographien fort.4 Inihrer Biographie aus dem Jahre 1925 heißt es:

Mein Bruder erwähnt oft seine polnische Abkunft, für welche er auch in späteren Zei-ten Nachforschungen mit guten Resultaten hat anstellen lassen. Ich selbst weiß nichtsBestimmtes darüber, weil Papiere meines Bruders nach seiner Erkrankung in Tu-rin verloren gegangen sind.5 Die Familientradition erzählt, daß ein Schlachsize Nicki

1 Hans von Müller, Nietzsches Vorfahren, in: Die Zukunft, Heft 23 (1898), S. 403–405. Als vonMüller 1900, kurz nach Nietzsches Tod, Aussichten hatte, doch noch einen polnischen adligenAhnherr zu finden, wurde der Kontakt zu seiner „nunmehr ausgesöhnte[n] mütterliche[n]Freundin“ wiederhergestellt (Hans von Müller, Nietzsches Vorfahren. Herausgegeben von Eve-lyn S. und Richard F. Krummel, in: Nietzsche-Studien 31 (2002), S. 253–275, hier S. 265).

2 David Marc Hoffmann, Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs. Chronik, Studien und Doku-mente (Supplementa Nietzscheana, Bd. 2), Berlin / New York 1991, S. 115.

3 Vgl. von Müller, Nietzsches Vorfahren 2002.4 Elisabeth Förster-Nietzsche, Nietzsches Ahnen, in: Die Zukunft, Heft 39 (1898), S. 577.5 Hier kritisiert Elisabeth Förster-Nietzsche Franz Overbeck, den sie beschuldigte, er habe be-

stimmte Schriften des 1889 in Turin wahnsinnig gewordenen Philosophen entweder nicht auf-bewahrt oder vernichtet. Von Nietzsches angeblichen genealogischen Nachforschungen inBibra 1866, als Student der Altphilologie in Leipzig, die seine Schwester erwähnt, findet sichin seinen Aufzeichnungen nicht die geringste Spur und auch ein Aufenthalt in Bibra ist nicht be-legt.

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(phonetisch Nietzky) sich August dem Starken als König von Polen besonders ange-schlossen hat und von ihm den Grafentitel erhielt. Als dann der Pole Stanislaus Lesz-czynski König wurde, verwickelte sich unser mythischer Vorfahr in eine Verschwörungzu Gunsten des Sachsen und des Protestantismus. Er wurde zum Tode verurteilt, flohmit seiner Frau, die soeben einen Sohn gebohren hatte und irrte mit ihr zwei oder dreiJahre flüchtend in den Kleinstaaten Deutschlands umher.6

Die religiöse Unterdrückung des polnischen, adligen und protestantischen Vor-fahren, wie sie in stark stilisierter Fassung in Friedrich Nietzsches Nachlass 1882(21[2], KSA 9.681f.) und im Aphorismus 264 von Jenseits von Gut und Böse er-scheint,7 wird nun zu einer Verschwörung gegen den polnischen GegenkönigStanislaus Leszczynski (1704–1709)! Über eine solche Verschwörung ist jedochnichts bekannt.8 In Bezug auf Elisabeths Fabel merkte Hans von Müller an:

In Polen gab es keinen Grafentitel. Wohl verliehen die Monarchen von Polen mitunterden Grafentitel, aber nur an Ausländer, niemals an Inländer, weil dies letztere verbotenund ungesetzlich war, auch die Grafentitelverleihungen für Polen keine Gültigkeit hat-ten. Wenn also einem Niecki der Grafentitel verliehen worden ist, so muß dieserNiecki ein Ausländer gewesen sein, was ein umgekehrtes Bild der Tradition ergebenwürde.9

Falls dieser Titel einem Ausländer verliehen wurde, so war er kein Pole; fallsdieser vom sächsischen Kurfürsten und polnischen König einem Polen verlie-hen worden wäre, so gab es keinen Grund, ihn in Deutschland seines protes-tantischen Glaubens halber aufzugeben! Die heroische Verschwörung gegenKönig Stanislaus Leszczinski (1704–1709) mit dem dreijährigem Streifzug durchDeutschland musste jedoch an das Datum der Niederlassung des Accise-Inspec-tors Christoph (Andreas) Nitzsche am 30. Oktober 1709 in Bibra sowie an dieGeburt seines ersten Kindes im Jahre 1710, einer Tochter, wie Hans von Müller1898 im Bibraer Kirchenbuch entdeckt hatte, anschließen.10 Elisabeth Förster-Nietzsche schmückte ihre Fabel mit einer Scheinplausibilität aus, die der histo-rischen Kritik nicht standhalten kann und in allen Punkten ad absurdum geführtwird. Der Keim dieser Absurdität lag jedoch bereits in Friedrich Nietzsches

6 Elisabeth Förster-Nietzsche, Der einsame Nietzsche, Leipzig 1925, Bd. I, S. 7.7 Siehe dazu: Daniel Devreese / Benjamin Biebuyck, ‚Il Polacco‘. Überlegungen zu Nietzsches

polnischer Legende im Lichte einer neuen Quelle: Ernst von der Brüggens Polens Auflösung, in:Nietzsche-Studien 35 (2006), S. 263–270, und Daniel Devreese, ‚Der einsamste Deutsche‘.Friedrich Wilhelm Nietzsche in de Duitse geschiedenis. Een proeve van psychobiografie in hetlicht van zijn familieroman und prinsenfantasme, Diss. Gent 2007.

8 Siehe: Gotthold Rhode, Kleine Geschichte Polens, Darmstadt 1965, S. 295–299, und WielandHeld, Der Adel und August der Starke. Konflikt und Konfliktaustrag zwischen 1694 und 1707in Kursachsen, Köln / Weimar / Wien 1999, S. 182, 186f., 204, 207. Die gegenreformatorischeOffensive erreichte erst 1724, unter dem katholischen sächsischen Kurfürsten und polnischenKönig August dem Starken, mit dem ‚Thorner Blutgericht‘ ihren Höhepunkt (Rhode, KleineGeschichte Polens, S. 299f.).

9 Von Müller, Nietzsches Vorfahren 2002, S. 265; von Müllers Hervorhebung.10 Von Müller, Nietzsches Vorfahren 1898, S. 403.

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eigener Polenlegende. Unter der Überschrift „Studien aller Art / zu / „diefröhliche Wissenschaft.“ / (la gaya scienza)“ (KSA 9.681) taucht dieses religiös-politische Motiv in einem nachgelassenen Notat auf:

Man hat mich gelehrt, die Herkunft meines Blutes und Namens auf polnische Edel-leute zurückzuführen, welche Niëtzky hießen und etwa vor hundert Jahren ihre Hei-mat und ihren Adel aufgaben, unerträglichen religiösen Bedrückungen endlich wei-chend: es waren nämlich Protestanten. (Nachlass 1882, 21[2], KSA 9.681)

Im Folgenden wird Nietzsches Polenlegende vor dem Hintergrund der deut-schen und polnischen Geschichte analysiert, um auf diese Weise den ‚polni-schen‘ Vorfahr näher zu identifizieren und um zugleich zwischen historischerWahrheit und Dichtung zu unterscheiden. Nur eines der drei konstitutiven Ele-mente (polnisch, adlig, protestantisch) in dieser Legende kann der historischenKritik standhalten. Wie Hans von Müller herausfand, gibt es einen protestanti-schen Vorfahren, „Häusler Christoph Nitzsche, Bürger und Fleischhauer“, ge-boren 1662 in Burkau in der Oberlausitz als Sohn von Matthes Nitzsche.11 VonMüller fand auch die Eintragung von dessen gleichnamigem Sohn ChristophNitzsche im Bibraer Kirchenbuch aus dem Jahre 1709 und im Kirchenbuch vonSondershausen anlässlich seiner zweiten Heirat 1717 mit Margaretha ElisabethSchönermarckin. Letztgenanntes Kirchenbuch erwähnt: „16. Novemb. zu Bie-bra copuliret: Herr Christoph Nietzsch, ein Wittber. Juris Practicus und Nota-rius Publicus Caesareus, wie auch Königl. Pohlnischer und Chur- auch Hoch-fürstl. Sächs. Weißenfelsischer wohlbestallter Accise-Inspector zu Biebra.“12

Das Problem seiner Auswanderung und seines sozialen Aufstiegs als Sohn einesOberlausitzer Häuslers, eines Landarbeiters ohne Grundbesitz, wirft die Frageauf, welche adlige oder bürgerliche Instanz sein Studium wohl gefördert hat. Wiehat Christoph Nitzsche sich zu ‚Juris Practicus und Notarius Publicus Caesareus‘emporarbeiten können? Dieses Problem erkannte von Müller in seiner Studie,die ein ‚Schulbeispiel für angehende Genealogen‘ sein möchte, nicht. Aufgrunddes Dokuments aus Sondershausen, das von Müller entdeckt, doch unbegreif-licherweise nicht weiter verifiziert hat, kann es als ein Problem der deutschenUniversitätsgeschichte dargestellt und gelöst werden. Dies erlaubt es, einerseitsChristoph Nitzsches Geburtsort und sein Geburtsjahr, sein Universitätsstu-dium, seine Auswanderungsroute sowie seine amtliche Laufbahn in Thüringenzu rekonstruieren und andererseits Hans von Müllers und Max Oehlers13 Ge-nealogien zu korrigieren und zu vervollständigen.

11 Von Müller, Nietzsches Vorfahren 2002, S. 270, 274.12 Von Müller, Nietzsches Vorfahren 2002, S. 271.13 Max Oehler, Nietzsches Ahnentafel, Weimar o. J. [1939]. Oehler nahm – allerdings ohne Quel-

lenangabe – als ältesten deutschen Vorfahren „Hans Nitzsche, Richter (Obervorsteher) in Bur-kau um 1620/30, erwähnt 1649“ an, wodurch er die polnische Legende stillschweigend berich-tigte. In der Beilage ‚Friedrich Nietzsches Vorfahren (Auswahl)‘ zu Hauke Reich, Nietzsche-

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Bereits im November 1707, bei seiner ersten Heirat mit der Tochter des„Amtsschössers Johann Dietrich Büttner“14 aus Eckartsberga, erwähnte Chris-toph Nitzsche dieselben juristischen Titel – allerdings ohne seine Universität zubenennen. Bei seiner zweiten Heirat im November 1717 mit „Margaretha Eli-sabeth Schönermarckin, Herrn Ludwig Heinrich Schönermarck, Hochfürstl.Schwartzburg, wohlbestallten Hofbuchdruckers alhier Eheleibliche[r] Tochter“,erwähnt das Kirchenbuch von Sondershausen: „ein Wittber. Juris Practicus undNotarius Publicus Caesareus“.15 Dass auch sein Sohn aus seiner ersten Ehe,Gotthelf Engelbert Nietzsche (Bibra 1714 – Bibra 1804), dasselbe Amt aus-üben wird, deutet auf ein gleiches Curriculum hin. Studierte er ebenfalls an derWittenberger Universität? Erkundigungen beim Archiv der Universität Halle-Wittenberg ergaben jedoch, dass weder Vater noch Sohn jemals an dieser Uni-versität immatrikuliert wurden.16 Dieses Element aus dem Trauregister von Son-dershausen beruht also auf einer Irreführung. Dem Grund für die Täuschunggehen wir später nach. Allerdings enthält die Wittenberger Matrikel wohl einen„Christianus [Nitzsche] Weitzschena Misnensis 19. 9. 1687, Mag. phil. 15. 10.1687“.17 Für die Rekonstruktion der Biographie des Juristen Christoph Nitz-sche muss eine andere Quelle gesucht werden. Dadurch, dass im KurfürstentumSachsen „die Amtsleute des 18. Jhs. durchgängig an einer Universität, meistensLeipzig oder Wittenberg, Jura studiert“18 hatten, ergibt sich Leipzig als Alterna-tive. Die Leipziger Matrikel enthält sowohl „Christ. Andr. Nitzsche WeitzschenaMisn. dp. 16 gr i S 1699 M 8“19 als auch seinen Sohn „Gotthelf Engelbert Nietz-sche, Biebera Thür. i W 1735.“20 „Weitzschena“ als Geburtsort von ChristophAndreas Nitzsche deutet auf Weitzschen südlich von Meißen im PfarrkirchortTaubenheim,21 nicht auf Burkau bei Bischofswerda, wo sein Vater Christoph

Zeitgenossenlexikon, Basel 2004, hat der Autor diese älteren Generationen in Burkau unkritischübernommen.

14 Von Müller, Nietzsches Vorfahren 2002, S. 270.15 Von Müller, Nietzsches Vorfahren 2002, S. 271.16 Regina Haasenbruch, Archiv Universität Halle-Wittenberg, Brief vom 22. Mai 2003 an den Ver-

fasser.17 Fritz Juntke, Album Academiae Vitebergensis. Jüngere Reihe. Teil 2 (1660–1710), Halle 1952,

S. 245, Ortsregister, S. 577.18 Karlheinz Blaschke, Zur Behördenkunde der kursächsischen Lokalverwaltung, in: Archivar und

Historiker. Studien zur Archiv- und Geschichtswissenschaft. Zum 65. Geburtstag von HeinrichOtto Meisner, herausgegeben von der Staatlichen Archivverwaltung, Berlin 1956, S. 343–363,S. 350.

19 Georg Erler, Die jüngere Matrikel der Universität Leipzig 1559–1809 als Personen- und Orts-register bearbeitet und durch Nachträge aus den Promotionslisten ergänzt, Leipzig 1909, Bd. II,S. 314.

20 Erler, Die jüngere Matrikel der Universität Leipzig 1559–1809, Bd. III, S. 285.21 Siehe ‚Ortsschlüssel‘ auf der Übersichtskarte zum ‚Pfarrsprengel des Amtsgebietes um 1547‘,

in: Heinz Pannach, Das Amt Meissen vom Anfang des 14. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts.Studien zur Sozialstruktur, Verfassung und Verwaltung, Berlin 1960.

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Nitzsche lebte. Von Müllers Nachforschungen bestätigen Bibra als Geburtsortseines Sohnes. Christoph Andreas Nitzsche studierte nicht in Wittenberg, son-dern in Leipzig, und der Student „Christ. Nitzsche Weitzschenen. Misn. dp. 16gr. i S 1677 M 306, 16 gr. i W 1683 M 127“,22 der in dieser alphabetisch angeord-neten Matrikelherausgabe gerade vor Christoph Andreas steht, ist mit „Christia-nus [Nitzsche] Weitzschena Misnensis 19. 9. 1687, Mag. phil. 15. 10. 1687“23 inder Wittenberger Matrikel identisch. Er ist im selben Ort wie Christoph Andreasgeboren und war schon zweimal an der Leipziger Universität immatrikuliert, be-vor er in Wittenberg seinen Magister in Philosophie machte, am 15. Oktober1687, genau 157 Jahre vor der Geburt Friedrich Nietzsches in Röcken.24 Diegleiche Schreibweise der Familiennamen und derselbe Geburtsort lassen eineVerwandtschaft zwischen Onkel (Christianus) und Neffe (Christoph Andreas)vermuten. Der Häusler Christoph wurde 1662 in Burkau geboren, der MagisterChristianus um 1660 in Weitzschen. Dies deutet darauf hin, dass die beiden Ge-schwister waren, so dass die Genealogie in diesem Punkt ergänzt werden kann.Bei seiner ersten Heirat 1707 erklärte der Jurist, er sei „Christoph Nitzschens,Bürger u. Fleischhauer in Burckau in der Oberlausitz eheleiblicher Sohn“25

und nicht der Sohn Christianus Nitzsches aus Weitzschen. Die Tatsache, dassdas Burkauer Kirchenbuch nur die Taufe des Vaters (1662) und zweier Schwes-tern (1686; 1692) erwähnt, deutet laut von Müller darauf hin, dass das BurkauerKirchenbuch unregelmäßig geführt und die Taufe des einzigen Sohnes nichtverzeichnet worden sei. Das Fehlen des Sohns in Burkau bestätigt aber Weitz-schen als Geburtsort in der Leipziger Matrikel – eine Tatsache, die der Genea-loge nicht kannte, weil er dem „Wittber.“ im Trauregister von Sondershausenblind vertraute und dieses Element in den Wittenberger Immatrikulations-büchern nicht überprüfte. Das Fehlen des Sohns im Burkauer Kirchenbuch be-deutet, dass dieser nicht dort geboren wurde. Seine Geburt in Weitzschen ließsich jedoch anhand des Kirchenbuchs nicht mehr bestätigen.26 Andererseits ent-hält die Leipziger Matrikel (1559–1809) mehr als vierzig Studenten namens„Nitzsche, Nitschius, Nitschke, Nitzschke“, doch keinen einzigen aus Burkau,was unsere These bestätigt. Die Auswanderung der armen Bauern aus der Ober-lausitz zum zentralen Meißen in Kursachsen setzte bereits vor 1700 ein.27 Der

22 Erler, Die jüngere Matrikel der Universität Leipzig 1559–1809, Bd. II, S. 314.23 Juntke, Album Academiae Vitebergensis, S. 245.24 Juntke, Album Academiae Vitebergensis, S. 245, Ortsregister, S. 577.25 Von Müller, Nietzsches Vorfahren 2002, S. 270, 272.26 Erkundigungen beim Ev.-Luth. Pfarramt der Kirchengemeinde Taubenheim ergaben, „dass sich

in den Taubenheimer Kirchenbüchern keine Eintragungen zu der gesuchten Person befinden.Allerdings sind einige Aufzeichnungen auch kaum noch lesbar“ (Christiane Großer, Verwal-tungsmitarbeiterin, Brief vom 10. Dezember 2004 an den Verfasser).

27 Horst Schlechte, Die Staatsreform in Kursachsen 1762–1763. Quellen zum KursächsischenRétablissement nach dem Siebenjährigen Kriege, Berlin 1959, S. 18 und Fn. 32.

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Häusler Christoph Nitzsche und seine Frau Anna Gröner, die Tochter einesLeinwebers aus Burkau,28 emigrierten jedoch nicht, denn 1707 erklärte derSohn, sein Vater lebe in Burkau, was darauf hinweist, dass seine Mutter bereitsgestorben war. War die Geburt des einzigen Sohnes in Weitzschen (um 1682)und seine Erziehung durch seinen unverheirateten Onkel eine Flucht vor dennoch weithin feudalen Lebensbedingungen in der Oberlausitz? Im Gegensatz zuseinem Onkel, dem Magister, hatte Christoph Andreas Nitzsche kein Interessean einer artistischen Promotion; er strebte vielmehr nach höheren Würden, ins-besondere nach den am ehesten sozialen Erfolg versprechenden juristischenGraden.

Die Tatsache, dass die Leipziger Universität seit ihrer Gründung 1409 ausvier Nationen (Meißen, Sachsen, Bayern und Polen) bestand, nach dem Vorbildder Prager Universität, aus der die deutsche Nation vertrieben wurde,29 und dieTatsache, dass die Studenten aus der Oberlausitz ab 1520 bis 1720 zur ‚NatioPoloniae‘ gehörten,30 erlaubt es, Christoph Andreas Nitzsches Geburt eindeutigin Meißen anzusiedeln und seine Herkunft aus Burkau in der Oberlausitz auszu-schließen. Bei der Immatrikulation bestimmte nicht der Wohnort, wohl aber derGeburtsort die Zuweisung an diese oder jene Nation.31 Die Tatsache, dass Chris-toph Andreas Nitzsche in diesem Register zweimal als „Weitzschena Misnensis“(M 8; M 49)32 vorkommt, deutet auf Weitzschen in Meißen als seinen Geburtsorthin, nicht auf Burkau in der Oberlausitz, denn nur im letzteren Fall hätte er zurpolnischen Nation gehört, was allerdings durch die nach modernen Maßstäbenheterogene Zusammenstellung dieser Nation nicht implizieren würde, dass erein Pole gewesen wäre. Die Leipziger Matrikel erwähnt keinen einzigen Studen-ten aus Burkau, wohl aber elf Namensvettern aus Görlitz und Bautzen in derOberlausitz oder aus Schlesien und einen „Elias Nitzschke, Lesna-Polon. S 1665,

28 Von Müller, Nietzsches Vorfahren 2002, S. 274.29 Ferdinand Seibt, Johannes Hus und der Abzug der deutschen Studenten aus Prag 1409, in:

Archiv für Kulturgeschichte 39 (1957), S. 63–80. In Prag gab es vier Nationen: die böhmische,die sächsische, die bayerische und die polnische. An der Leipziger Universität wurde die böhmi-sche Nation durch die Meißner ersetzt; die böhmischen Studenten wurden hier zur polnischenNation gezählt (Sabine Schumann, Die ‚nationes‘ an den Universitäten Prag, Leipzig und Wien,Berlin 1974, S. 102, 220).

30 Georg Erler, Die Matrikel der Universität Leipzig, Leipzig 1895, Bd. I, S. xxxvi. Ursprünglich(1411) gehörten die „Meißner, Thüringer, Osterländer und Vogtländer, überhaupt alle Untertha-nen der Wettiner Fürsten, ferner die Lausitzer und alle übrigen Angehörigen der Meißner Diö-cese zur meißnischen Nation“. Im Jahre 1520 jedoch ging die Niedere Oberlausitz von derMeißner zur polnischen Nation über. Die polnische Nation setzte sich aus allen Studenten ausSchlesien, Böhmen und Mähren, aus Groß- und Kleinpolen, Litauen, Preußen, Russland undUngarn zusammen (Erler, Die Matrikel der Universität Leipzig, Bd. I, S. xxxv).

31 Erler, Die Matrikel der Universität Leipzig, Bd. I, S. xli.32 Zu „M 8“ bei der Immatrikulation im Jahre 1699 sowie „M 49“ bei der Promotion im Jahre 1712

siehe: Georg Erler, Die jüngere Matrikel der Universität Leipzig 1559–1809, Bd. II, Leipzig1909, S. 314, bzw. Bd. III, S. 286.

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P 10“33, der einzige Nitzschke aus dem polnischen Kernland. Alle übrigen Stu-denten stammen aus Meißen. Darüber hinaus haben zwei polnische adlige Stu-denten am Anfang des siebzehnten Jahrhunderts einen Namen, der nichts mitdem sorbischen Namen Nietzsche zu tun hat, nämlich „Nisciczky de NiscziczeChristoph. generosis. et nobiliß. dns. ex familia Prawdcicz 2/3 joachimic. i W1603, P 4“ und „Nisczischky de Niszozys Pa. nob. Polon. 1 fl. i S 1605 P 22.“34

Der einzige Nitzschky in der Matrikel von Halle, der Jurastudent „Joannes Die-tericus Nitzschky, Beescoviens Meso M 9. 5. 1724. Jur.“,35 hat ebenfalls nichtsmit den Nitzsches in Weitzschen zu tun. Obwohl „Leipzig damals die deutscheHochschule des polnischen Hochadels war und er ihr vor Wittenberg den Vor-zug gab“,36 müssen wir feststellen, dass es an den vier mitteldeutschen Univer-sitäten Leipzig, Wittenberg, Halle und Jena37 im siebzehnten und achtzehntenJahrhundert keinen einzigen polnischen adligen Studenten namens Niecky oderNietzky gab.

Christoph Andreas Nitzsches Geburtsjahr kann anhand seines Immatriku-lationsjahrs erschlossen werden. Die Tatsache, dass die Mehrzahl der Studentenbei ihrer Immatrikulation 16 oder 17 Jahre alt war,38 deutet auf 1682 als un-gefähres Geburtsjahr hin, sodass er wohl vier bzw. zehn Jahre älter als seineSchwestern war. Fing Christoph Andreas sein Studium an der Meißner Fürsten-schule an, die Moritz von Sachsen 1543 zusammen mit der von Grimma undSchulpforta gründete? Dieser Kurfürst hatte an der Meißner Fürstenschuleeinige Freiplätze für Sorben gestiftet.39 Magister phil. Christianus Nitzschelehrte dort jedoch nicht.40 Wie aber konnte der Sohn eines Häuslers ein Univer-sitätsstudium anfangen? Aller Wahrscheinlichkeit nach ließ der Magister seinen

33 Erler, Die jüngere Matrikel der Universität Leipzig 1559–1809, Bd. II, S. 315. Lesna (Leszno),östlich Fraustadts und nördlich Breslaus.

34 Erler, Die jüngere Matrikel der Universität Leipzig 1559–1809, Bd. I, S. 318.35 Fritz Juntke, Matrikel der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Bd. 1 (1690–1730),

Halle 1960, S. 315. ‚Beescoviens‘ ist das nördlich von Leipzig gelegene Beeskow.36 Theodor Wotschke, Polnische Studenten in Leipzig, in: Jahrbücher für Kultur und Geschichte

der Slaven 7 (1931), S. 61–84, S. 74.37 Julius Schultz, Zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen. Studenten aus Polen an der

Universität von Jena (1548–1795), in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Jena 9(1959/1960), S. 49–75. Die Tabelle mit polnischen Studenten in Jena (S. 55) enthält nur „Gott-fried Nickischius, Fraustadt 1741, Polonus“.

38 Vergleiche das Geburts- und das Immatrikulationsjahr von vier Leipziger Juraprofessoren:Michael Heinrich Gribner (1682–1734, Im. 1699); Carl Otto Rechenberg (1689–1751, Im.1706); Johann Gottfried Bauer (1695–1765, Im. 1711); Carl Ferdinand Hommel (1722–1781,Im. 1738), nachgewiesen bei Thomas Vogtherr, Die Universität Leipzig, Leipzig 1999, S. 26. CarlOtto Rechenberg wurde schon 1711 Professor für Naturrecht und 1717 Rektor der Universität.

39 Rainer Haas, Die Lausitzer Prediger-Gesellschaft zu Leipzig (Sorabia), in: Zeitschrift für Reli-gions- und Geistesgeschichte 24 (1972), S. 45–56, hier S. 48.

40 Johann August Müller, Versuch einer vollständigern Geschichte der Chursächsischen Fürsten-und Landschule zu Meissen: aus Urkunden und glaubwürdigen Nachrichten, Bd. II, Leipzig1789, verzeichnet ihn nicht.

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Friedrich Nietzsches Ur-Urgroßvater Christoph Andreas Nitzsche (um 1682–1739) 171

Neffen zuerst an einer Lateinschule und danach an der Leipziger Universitätstudieren.

„Leipzig wurde anscheinend überhaupt vom heimischen Adel als eine nichtstandesgemäße und überdies niveaulose Bildungsstätte für armer Leute Kindgemieden.“41 Denn im 18. Jahrhundert war die Leipziger Universität geradezudie „universitas pauperum“: „Nirgends scheint die Armut unter den Studentenso verbreitet und so drückend gewesen zu sein, wie gerade in Leipzig. Man führtdiese Erscheinung auf die speziell in Sachsen verbreitete Neigung, sich geradeaus den niedrigen Schichten massenhaft zum Studium zu drängen, zurück“.42

Der Onkel und sein Neffe waren aber nicht arm; das geht aus den Matrikeln her-vor: beide bezahlten in Leipzig und Wittenberg die übliche Immatrikulations-gebühr,43 von der nur ganz arme Studenten – und Professorensöhne – befreitwaren. Im Licht unserer historischen Rekonstruktion erweist sich von MüllersThese über den Studenten, der seine arme Oberlausitzer Herkunft beim Pfar-rer in Sondershausen verborgen halten wollte und der zum Keim für die Ent-stehung der späteren romantischen Legende vom polnischen adligen Vorfahrwurde, als falsch.44

Arme Studenten gab es an der Theologischen Fakultät zuhauf, in der Juris-tischen allerdings waren sie unterrepräsentiert, ein weiteres Indiz dafür, dassChristoph Andreas nicht arm war. Die Leipziger Universität zog arme Studentenan, auch wegen der Tatsache, dass dort

eine große Anzahl von Stipendien zu vergeben war. […] Somit standen doch auchdem ärmeren Studenten des 18. Jahrhunderts manche Hilfsquellen offen, die ihm dasStudium erleichterten, dessen Dauer in der Regel nicht über drei Jahre hinausging.Nur von Leipzig wird berichtet, daß viele, die aufs Geratewohl diese Akademie besu-chen, sich durch Unterricht und Musik ernähren und ohne Zuschuß von Hause fünfoder mehrere Jahre dort verweilen.45

41 Rainer Christoph Schwinges, Pauperes an deutschen Universitäten des 15. Jahrhunderts, in:Zeitschrift für historische Forschung 8 (1981), S. 285–309, S. 301.

42 Wilhelm Bruchmüller, Der Typus des Leipziger Studenten, in: Neues Archiv für sächsische Ge-schichte und Altertumskunde 29 (1908), S. 312–341, S. 335.

43 „Ist die Gebühr von der gewöhnlichen abweichend, so wird sie besonders erwähnt, z.B. 16 ggr[Goldgroschen] oder 1 Thlr“ (Juntke, Matrikel der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg,Bd. 1, S. vi). Christoph Andreas Nitzsche bezahlte in Leipzig 16 Silbergroschen.

44 Von Müller, Nietzsches Vorfahren 2002, S. 273.45 Hans Eberhardt, Das Studententum an den mitteldeutschen Universitäten um 1790, in: Ders.,

Goethes Umwelt. Forschungen zur gesellschaftlichen Kultur Thüringens, Weimar 1951,S. 86–98, hier S. 97. Das Curriculum des Jurastudenten und Leiters des Leipziger ‚Collegiummusicum‘ Georg Philipp Telemann (1681–1767), der 1701 immatrikuliert wurde, bestätigt dies(vgl. Martin Ruhnke, Art. Telemann, Georg Philipp, in: Musik in Geschichte und Gegenwart 13(1966), Sp. 175–210, hier Sp. 178–182).

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Aus der folgenden Rekonstruktion seines Curriculums und Lebenslaufsgeht hervor, dass Christoph Andreas Nitzsche länger als die üblichen dreiJahre an der Leipziger Universität studierte und dass er nach seinem Jurastu-dium von Kursachsen nach Bibra in Thüringen in den Dienst des sächsischenKurfürsten August des Starken und polnischen Königs August II. versetztwurde.

2. Christoph Andreas Nitzsches Lüge in Sondershausen im November 1717

Das Motiv Christoph Andreas Nitzsches für seine Lüge im November 1717beim Pfarrer in Sondershausen ist noch nicht geklärt. Weshalb verschwieg erdie Leipziger Universität, an der auch sein Sohn 1735 ein Jurastudium anfan-gen würde? An dieses Problem kann auf drei Wegen herangegangen werden, diezusammen zu einem in sich schlüssigen Motiv führen. Diese Wege sind: derpolitisch-religiöse Kontext, in dem die Mystifikation dieses Juristen dem Pfarrerin Sondershausen gegenüber stattfand; dessen theologische Richtung; schließ-lich das universitäre Curriculum des Juristen. Beginnen wir mit dem Datum, andem Christoph Andreas Nitzsche seine Auskunft gab, dem 16. November 1717.War die falsche Erwähnung der Wittenberger Universität vielleicht motiviertdurch den erst kurz zuvor, am 11. Oktober, von den Jesuiten in Wien be-kannt gegebenen Übertritt des sächsischen Kronprinzen Friedrich August(1696–1763) zum Katholizismus?46

Die Bekanntgabe des Übertritts war gezielt geplant, denn die Nachrichterreichte Dresden drei Wochen vor dem 200. Jahrestag von Luthers Thesen-anschlag in Wittenberg am 31. Oktober 1517, der in Sachsen prachtvoll gefeiertwerden sollte. Die Konversion des Kronprinzen unterschied sich von der sei-nes Vaters im Jahre 1697, weil sie mit seiner Heirat mit der Schwester Karls VI.,seit 1711 gewählter Kaiser, einherging, was die dynastische Verbindung der Wet-

46 „Papst Clemens XI. erreichte von seinem Vater 1709 das Versprechen, auch ihn zum Übertrittzur katholischen Kirche zu bewegen um so leichter, als dieser die notwendige Voraussetzungschien um dem sächsischen Hause die polnische Krone zu erhalten. Zu Frankfurt, wohin er sichzum Wahlconvente 1711 begeben hatte, wurde der willenschwache Kurprinz von seiner protes-tantischen Umgebung getrennt, diese durch Jesuiten ersetzt und er in deren Begleitung auf eineReise nach Italien geschickt; zu Bologna trat er zunächst 27. November 1712 heimlich, dann,nachdem der Papst die Zustimmung des Kaisers zur Vermählung desselben mit der ErzherzoginMaria Josepha, ältester Tochter Josephs I., ausgewirkt hatte, zu Wien 11. Oct. 1717 öffentlichzur katholischen Kirche über; die Vermählung fand 20. August 1719 statt. Mit dieser Bekehrungwar die dauernde Rückkehr des albertinischen Hauses zum Katholicismus besiegelt.“ (OttoFlathe, Art. Friedrich August II., in: Allgemeine Deutsche Biographie 7 (1878), Sp. 784–786,hier Sp. 784). Der Wahlkonvent in Frankfurt im Jahre 1711 betraf die Erwählung ErzherzogKarls von Habsburg zum römisch-deutschen Kaiser.

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tiner zum Wiener Kaiserhaus besiegelte.47 Sie verursachte umso größere Aufre-gung, weil im Oktober 1710, nach der Bekanntgabe durch Papst Clemens XI.an das Kardinalskollegium und die Welt, August der Starke habe dem NuntiusHannibal Albani in Dresden auch die Konversion des Kurprinzen zugesagt,Augusts Gemahlin Eberhardine ihren zwölfjährigen Sohn in Pretzsch bei Wit-tenberg „nach dem lutherischen Ritus konfirmieren und ihm hierbei das eid-liche Versprechen abnehmen [ließ], für alle Zeiten dem Protestantismus treu zubleiben.“48 Der Übertritt löste so eine „Staatskrise aus, in der eine Landtags-,Adels- und Prälatenopposition den Wettinern mit Unterstützung ausländischerMächte (Preußen und Hannover) das Directorium des Corpus Evangelicorumentreißen wollte.“49 „Das Bekenntnis zum Luthertum erhielt nach 1697 in Sach-sen eine politisch-konfessionelle Funktion in den Auseinandersetzungenzwischen Landesherrn und Ständen und damit eine gegenüber anderen luthe-rischen Territorien besondere Bekräftigung.“50 Griff Christoph Andreas Nitz-sche, zu einem Zeitpunkt, da die ganz Sachsen in Aufruhr versetzende Konver-sion des Kronprinzen ihren Höhepunkt erreichte, auf die alte Rivalität zwischenden beiden sächsischen Landesuniversitäten zurück und nannte er deshalbfälschlicherweise Wittenberg, um so der lutherischen Orthodoxie seine Treuezu bekennen?51

Die religiöse Gesinnung des 1717 in Sondershausen ansässigen Pfarrers ver-stärkt unsere Vermutung. Dr. Georg Friedrich Meinhardt (1651–1718) warorthodoxer Gesinnung, wie aus seinem Lebenslauf hervorgeht: „1675 Mag.,1677 Adjunkt der Philosophie Wittenberg, 1681 Hofmeister der Grafen zu Son-dershausen, 1683 bis zu seinem Tode Superintendent und Consistorialis in Son-dershausen“.52 Er war in Sondershausen der dritte Nachfolger Caspar Löschers(Werdau 1636 – Wittenberg 1718),53 der dort zwischen 1668 und 1677 Superin-

47 Karl Czok, August der Starke. Sein Verhältnis zum Absolutismus und zum sächsischen Adel(Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Phil.-hist. Klasse,Bd. 133, Heft 3), Berlin 1991, S. 14f.

48 Johannes Ziekursch, August der Starke und die katholische Kirche in den Jahren 1697–1720, in:Zeitschrift für Kirchengeschichte 24 (1903), S. 86–135, S. 135.

49 Czok, August der Starke, S. 49.50 Günther Wartenberg, Art. Sachsen II, in: Theologische Realenzyklopädie 29 (1998), S. 558–580,

S. 571.51 Nach der Leipziger Teilung (1485) gehörte die 1502 zur Ausbildung von Juristen für die Verwal-

tung gegründete Universität Wittenberg zur ernestinischen Linie, die Universität Leipzig (1409)in der Markgrafschaft Meißen zur albertinischen Dynastie (vgl. Karlheinz Blaschke, Art. Mei-ßen, in: Lexikon des Mittelalters 6 (1993), Sp. 477). Wittenberg verstand sich als „Hüterin der ca-thedra Lutheri und Bewahrerin der reinen Lehre“ (Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrtenUnterrichts, Bd. I, Leipzig 1919, S. 555).

52 Bernhard Möller, Thüringer Pfarrerbuch. Bd. 2. Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen, Neu-stadt an der Aisch 1997, S. 60, 270.

53 Ihr Vorfahr Jodokus Löscher war „Luthers Schüler und Hausgenosse“ (Georg Müller, ValentinLöscher, in: Realencyklopädie für Protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 11, Leip-

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tendent und seit 1687 Professor der Theologie und Generalsuperintendent inWittenberg war und aus einer bekannten, bis Martin Luther zurückreichendenPfarrersfamilie stammte.54 Sein Sohn Valentin Ernst Löscher (1673–1749) warder extremste Vertreter der lutherischen Orthodoxie und spielte in den Wirrennach der Konversion des Kronprinzen die Hauptrolle.55 Als Theologieprofessorauf Luthers Katheder in Wittenberg (1707–1709) und als Superintendent amDresdener Oberkonsistorium bekämpfte er ein halbes Jahrhundert lang alle dis-sidenten religiösen Bewegungen in Kursachsen, sowohl den Pietismus Spenersund Franckes als auch die Katholiken.56

August dem Starken waren die Hände gebunden, gegenüber der Orthodoxie, beson-ders Löscher, durchzugreifen. Durch seine Konversion im Glauben vom Volkegetrennt, sah er sich an die von ihm gegebenen Religionsversicherungen gebunden.Da er sich ebenfalls als polnischer König auf sein Stammland stützen musste, war erbestrebt, sowohl die kirchlichen Kreise als auch die Stände nicht zu verärgern.57

Im Oktober 1717 „forderte Löscher den Kurprinzen brieflich auf, zum Glaubender Väter zurückzukehren, und ließ sich auch von den Warnungen des Königsnicht beeindrucken.“58 Vor diesem Hintergrund ist es wahrscheinlich, dass Su-perintendent Meinhardt, als Nachfolger Caspar Löschers in Sondershausen, die-selbe orthodoxe Linie vertrat. Ebenfalls im Jahre 1717 wurde Carl Otto Rechen-berg (1689–1751), Philipp Jakob Speners Enkel und Schüler ChristianThomasius’,59 Rektor der Leipziger Universität. Rechenberg war 1711 dort zumProfessor für Naturrecht ernannt worden, nicht von der Juristischen Fakultät,sondern durch das Machtwort Augusts des Starken, „denn der König sah esals ein der studirenden Jugend sehr nützliches Werk an, daß das ius naturale inöffentlichen Lectionibus auf Universitäten tractiret werde und dieses fand somitauch in Leipzig eine Stätte, nachdem schon alle norddeutschen Universitätenvorangegangen waren.“60 Witterte Superintendent Meinhardt bei ChristophAndreas Nitzsche Sympathien für Rechenbergs antitheologische, vom Kurfür-

zig 1902, S. 594). Siehe auch: Martin Greschat, Valentin Ernst Löscher, in: Gestalten der Kir-chengeschichte, Bd. 7, Orthodoxie und Pietismus, Stuttgart 1994, S. 287–300, S. 287.

54 Möller, Thüringer Pfarrerbuch, Bd. 2, S. 60, 256.55 Müller, Valentin Löscher, S. 593–598.56 Agatha Kobuch, Zensur und Aufklärung. Ideologische Strömungen und politische Meinungen

zur Zeit der sächsisch-polnischen Union (1697–1763), Weimar 1988, S. 92–95.57 Kobuch, Zensur und Aufklärung, S. 93.58 Karl Czok, August der Starke und Kursachsen, München 1988, S. 204.59 Gerd Kleinheyer / Jan Schröder, Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten. Zweite, neubearbei-

tete und erweiterte Aufl., Heidelberg 1983, S. 292.60 Emil Friedberg, Die Leipziger Juristenfakultät, Leipzig 1909, S. 78. Carl Otto Rechenberg

(1689–1751) hielt 1712 im Namen der Universität die Festrede anlässlich des Besuchs von ZarPeter dem Großen (Vogtherr, Die Universität Leipzig, S. 22). August der Starke verdankte dieWiedereroberung der polnischen Krone dem Sieg des Zaren gegen Karl XII. bei Poltawa imJahre 1709.

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sten unterstützte Rechtsdoktrin oder Sympathien für den Pietismus Speners, deran der 1694 gegründeten Universität Halle, Wittenbergs anderer Rivalin, festenFuß gefasst hatte?61 1717 war Gotthelf Engelbert, der Sohn aus der ersten EheChristoph Andreas Nitzsches, drei Jahre alt, und Gotthelf ist wohl ein pietisti-scher Vorname.62 Die Tatsache, dass sein Onkel Christianus Nitzsche 1678 nichtin Leipzig, sondern in Wittenberg zum Magister der Philosophie promoviertwurde, konnte der Jurist bei seiner Irreführung als Trumpf ausspielen, dennSuperintendent Meinhardt hatte 1675 die theologische Doktorwürde ebenfallsin Wittenberg erlangt.

Christoph Andreas Nitzsches Curriculum an der Leipziger Universität er-laubt es, seine Mystifikation ganz aufzudecken. Im dritten Teil von Erlers Aus-gabe, der die Jahre 1709–1809 umfasst, wird er noch einmal erwähnt: „Christ.Andr. Weitzschena Misn. prom. i W 1712, M 49“.63 Bei seiner ersten Heirat 1707nannte er zwei juristische Titel: „Tit. Herr Christoph Nitzsche, N.P.C. und Jur.Practicus“.64 Der lange Zeitraum zwischen Immatrikulation (1699) und Promo-tion (1712) war nicht ungewöhnlich,65 doch lässt er sich in diesem Fall nichtmit dem Phänomen der Kinderimmatrikulation erklären, wobei junge Burschen,ohne dass sie sich vereidigt hätten, von ihren Vätern immatrikuliert wurden. DasAnfangsjahr seines Jurastudiums war 1699; 1707 erlangte er beide Titel, kurz vorseiner ersten Heirat am 22. November. Auch hier gibt es jedoch ein Problem. Zudiesem Zeitpunkt erwähnte er schon den Titel „Notarius Publicus Caesareus“,obwohl das Examen erst 1715 an der Leipziger Universität stattfinden würde.66

Wie lassen sich beide Elemente in Einklang bringen? Christoph Andreas erwarb1707 den Titel eines Notars, nicht an der Universität, sondern vom LeipzigerStadtrat, als dieser noch dazu befugt war.67 Die von Erler nicht näher spezifi-zierte universitäre Promotion führte demnach weder zum Notarius- noch zumAdvocatus-Titel („Jur. Practicus“), denn dieser wurde 1712 nicht vergeben. Das

61 Richard L. Gawthrop, Pietism and the Making of Eighteenth-Century Prussia, Cambridge 1993,S. 61, 118, 177.

62 Adolf Bach, Die deutschen Personennamen, Berlin 1943, S. 367; Kaspar Linnartz, Unsere Fa-miliennamen, Bd. 2. Aus deutschen und fremden Vornamen im Abc erklärt, Bonn 1958, S. 67.

63 Erler, Die Matrikel der Universität Leipzig, Bd. III, S. 286.64 Von Müller, Nietzsches Vorfahren 2002, S. 270.65 Erler, Die Matrikel der Universität Leipzig, Bd. I, S. lvii. Dreizehn Jahre zwischen Immatrikula-

tion und Promotion stimmen mit den Statistiken für das achtzehnte Jahrhundert überein. (Fried-berg, Die Leipziger Juristenfakultät, S. 84f.).

66 „1711 empfing die Fakultät die Befügnis, Notare zu kreieren und von da an haben die Advoka-tenprüfungen, welche die Fakultät schon seit 1691 in Konkurrenz mit der Wittenberger vorzuneh-men hatte, eine erhöhte Bedeutung gewonnen.“ (Friedberg, Die Leipziger Juristenfakultät, S. 80;unsere Hervorhebung).

67 Friedberg, Die Leipziger Juristenfakultät, S. 80, Fn. 4: „Zahl der pro advocatura Examiniertenund der Notarii publ. Caesarei“. Beide Grade konnten nach drei oder vier Jahren Studienzeit er-worben werden (ebd., S. 81); durchgängig aber betrug die gesamte Studienzeit in Leipzig fünfJahre (Kleinheyer / Schröder, Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten, S. 292).

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jüngste Advocatus-Examen ist auf das Jahr 1707 datiert.68 Es wurde aller Wahr-scheinlichkeit nach von Christoph Andreas Nitzsche absolviert, weil wir wissen,dass er seinen Notarius-Titel, wie üblich, im selben Jahr erlangt hat: „Die meis-ten Studierenden begnügten sich mit der Advokaten- oder Notariatsprüfung,oder beiden zugleich“,69 im Einklang mit seiner Erklärung von 1707. Auch dieListe der doctores juris von 1712 enthält seinen Namen nicht,70 sodass lediglichein akademischer Grad übrig bleibt: „Baccalareus licent.“ an der Juristischen Fa-kultät.71 Dieser Grad wurde nur noch an der Leipziger Universität regelmäßigverliehen.72 Die Leipziger Jura-Studenten brachten

oft viele Jahre nach Absolvierung ihrer Studien als Advokaten, Notare oder sonst inder Praxis zu, ehe sie gewissermaßen zur Krönung des Gebäudes, vielleicht auch weilsie sich das für das Examen notwendige Geld erst erwerben mußten, den Baccalareatund den Doktorhut erwarben. Dagegen ist dann der Doktorat oft ungemein schnellauf den Baccalareat gefolgt.73

Christoph Andreas erwarb 1712 das Bakkalaureat, doch verschwieg er fünfJahre später seinen einzigen akademischen Grad, weil dieser auf Leipzig hindeu-tete, wo Rechenberg, der königstreue Professor für Naturrecht, 1717 zum Rek-tor ernannt worden war. Deshalb nannte er nur seine Titel aus dem Jahr 1707,so, als hätte er sie in Wittenberg erlangt, mit dem um 1709 erworbenen Amteines „Königlichen Pohlnischen und Chursächsischen wohlbestallten Accise-Inspectors“. Die Kombination von erlogener Universität und verschwiegenemBakkalaureustitel resultierte im – mutmaßlich mit Blick auf die Geschehnissevom 11. Oktober 1717 konstruierten – idealen Profil eines orthodox-lutheri-schen Staatsbeamten. Auch wenn man gegen diesen Befund einwendete, dassanlässlich einer Heirat nur die praktisch-juristischen oder amtlichen Titelerwähnt wurden, bliebe doch die unbestreitbare Tatsache bestehen, dass einJurist einem Pfarrer falsche Angaben über die Universität machte, an der er stu-dierte. Diese Lüge hat Hans von Müller nicht bemerkt. Dem orthodox-luthera-nischen Superintendenten Meinhardt verschwieg Christoph Andreas Nitzsche

68 Friedberg, Die Leipziger Juristenfakultät, S. 80, Fn. 4.69 Friedberg, Die Leipziger Juristenfakultät, S. 83.70 Friedberg, Die Leipziger Juristenfakultät, S. 187.71 Friedberg, Die Leipziger Juristenfakultät, S. 80.72 Vgl. Hans Marti, Dissertation und Promotion an frühneuzeitlichen Universitäten des deutschen

Sprachraums, in: Rainer A. Müller, Promotionen und Promotionswesen an deutschen Hoch-schulen der Frühmoderne, Köln 2001, S. 1–19, hier S. 15: „So wurde das Bakkalareat an vielenfrühneuzeitlichen Universitäten nicht mehr, oder nur noch selten verliehen; die Universität Leip-zig, an der sich der unterste akademische Grad bis ins 19. Jahrhundert halten konnte, stellt einenAusnahmefall dar.“

73 Friedberg, Die Leipziger Juristenfakultät, S. 85. ‚Baccalareus‘ und ‚Baccalareat‘ sind veralteteSchreibweisen der Begriffe ‚Bakkalaureus‘ und ‚Bakkalaureat‘. Noch Meyers Großes Konversa-tions-Lexikon, 6., gänzlich neubearbeitete und vermehrte Aufl., Bd. 2, Leipzig 1905, Sp. 287,führt neben „Bakkalaureus“ als ebenfalls übliche Schreibweise „Bakkalareus“ an.

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seinen Baccalaureus-Titel, der die Leipziger Universität verraten und den wah-ren Sachverhalt ans Licht gebracht hätte. Dr. Meinhardt wusste höchstwahr-scheinlich, dass dieser akademische Grad nur noch in Leipzig, nicht mehr in Wit-tenberg erlangt werden konnte. In diesem politisch-religiösen Kontext führt dasZusammenspiel von erlogener Universität und verschwiegenem akademischemGrad zum eindeutigen Motiv für die Mystifikation: eine Selbstdarstellung als or-thodox-lutherischer Staatsbeamter, zwar vom katholischen Kurfürsten bestallt,doch kein Pietist, geschweige denn ein Kryptokatholik.

Die Aufklärung dieser Mystifikation liefert das historische Fundament, umdie legendäre Flucht bzw. den Streifzug von Nietzsches angeblich adligem pol-nischen Vorfahren nach Deutschland mit dem Jurastudium und der Migrationdes sächsischen Accise-Inspectors Christoph Andreas Nitzsche von Kursach-sen nach Thüringen in Beziehung zu setzen. Zusammenfassend ergeben sichfolgenden Angaben zu seinem Lebenslauf: geboren um 1682 in Weitzschen inKursachsen als Sohn des Kleinbauers Christoph Nitzsche aus Burkau; Kind-heit, Jugend und Erziehung bei seinem Onkel Magister Christianus Nitzschein Weitzschen; Immatrikulation 1699 an der Universität Leipzig, Advocatus-sowie Notarius-Titel 1707; erste Heirat 1707 in Eckartsberga und Niederlas-sung am 30. Oktober 1709 in Bibra als Accise-Inspector; Bakkalaureat in Leip-zig 1712, zweite Heirat 1717 in Sondershausen und Tod 1739 in Bibra. DieEinbindung Christoph Andreas Nitzsches in die sächsische Beamtenschaft ge-schah, nachdem er „vor der Landesregierung als oberster Justizbehörde eineProbearbeit abgelegt und dann ein Aktuariat bei einem Amt erhalten“74 hatte,sowie durch seine erste Heirat mit Johanna Christiana Büttner, „Tochter desAmtsschössers Johann Dietrich Büttner“, denn die Büttners waren bereitszwei Generationen als ‚Amtsschösser‘ in Eckartsberga ansässig.75 So wie die„Beamten von Bautzen nach Tautenburg, von Schwarzenberg nach Stolpen,aus Thüringen nach dem Kurkreis versetzt“76 wurden, so fiel seine Versetzung1709 von Eckartsberga nach Bibra in Thüringen mit der Wiedereroberungder polnischen Krone durch August den Starken zusammen. Der adlige polni-sche Ahnherr und seine Flucht nach Deutschland aus politisch-religiösenMotiven sind ein Mythos. Die legendären „zwei oder drei Wanderjahre mitFrau und Säugling“, die Elisabeth Förster-Nietzsche fingierte, um die Legendeihres Bruders historisch zu untermauern, waren in Wirklichkeit zwei Jahrezwischen seiner ersten Heirat in Eckartsberga 1707 und seiner Niederlassung1709 in Bibra, wo am 26. Januar 1710 Christiane Friederike Nietzsche als ers-

74 Blaschke, Zur Behördenkunde der kursächsischen Lokalverwaltung, S. 350.75 „Johannes Dietericus Büttner, Eccartibergensis n., S. 1664; Dep. 10. 4. 64“, in: Reinhold

Jauernig / Marga Steiger, Die Matrikel der Universität Jena, Bd. II. 1652 bis 1723, Weimar 1977,S. 107.

76 Blaschke, Zur Behördenkunde der kursächsischen Lokalverwaltung, S. 350f.

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tes, am 26. Februar 1714 Gotthelf Engelbert Nietzsche als zweites Kind zurWelt kam.77

Die Geschichte der Besetzung Kursachsens 1706/07 durch schwedische undpolnische Armeen macht zudem deutlich, dass es absurd war, sich im Thüringi-schen Bibra einer polnischen Abstammung zu rühmen. Der schwedische Kö-nig Karl XII. betrat am 5. September 1706 sächsischen Boden in der Nähe vonBischofswerda (in dessen Umgebung Burkau liegt) und stellte seine Armee vorder Leipziger Pleißenburg auf, bis zum Altranstädter Frieden vom 24. September1706.78 Zu dieser Zeit gab es eine regelrechte Flucht von Oberlausitzer Bau-ern nach Böhmen oder Meißen, um den Kriegssteuern und Plünderungen derschwedischen Armeen, wie es sie im Dreißigjährigen Krieg gegeben hatte, zuentfliehen.79 Bevor er die sächsische Grenze überschritt, hatte Stanislaus Lesz-czinski am 1. September seine „wilde[n] Horden“, die in Leisnig westlich vonMeißen lagerten, in einem „ziemlich aufreizende[n] Manifest auf Plünderungund Brandschätzung in Sachsen vorbereitet.“80 1707 legten plündernde schwe-dische Soldaten in Bibra 39 Häuser in Schutt und Asche, wie Herzog Georg Jo-hann von Sachsen-Weißenfels gegenüber August dem Starken klagte.81 Chris-toph Andreas erwarb in einem nicht näher bestimmbaren Monat des Jahres 1707seinen Advocatus- und Notarius-Titel und heiratete im November in Eckarts-berga, nachdem alle ausländischen Truppen Sachsen verlassen hatten. Er ließsich im Oktober 1709 als Accise-Inspector in Bibra/Weißenfels nieder undkonnte sich dort im Dienst Augusts des Starken beweisen, denn am 1. September1707 hatte der Kurfürst die Generalkonsumtionsakzise generell einführen las-sen.82 Eine sächsische Chronik aus dem Jahr 1717 spricht von „jungen, nunmehrins eilffte Jahr gehenden Schweden, aus welchen man mit der Zeit etliche Regi-menter formiren und sie wieder ihre eigenen Väter zu Felder führen könnte.“83

Auch polnische Söldnerkinder wird es wohl gegeben haben, weil „besonders

77 Von Müller, Nietzsches Vorfahren 2002, S. 274. Für die Liste der zehn Kinder aus beiden Hei-raten siehe von Müller, Nietzsches Vorfahren 1898, S. 403f.

78 Hellmut Kretzschmar, Der Friedensschluss von Altranstädt 1706/07, in: Johannes Kalisch/Jozef Gierowski (Hg.), Um die polnische Krone, Berlin 1962, S. 161–183, hier S. 172.

79 Jozef Leszczynski, Die Oberlausitz in den ersten Jahren des Nordischen Krieges (1700–1709),in: Kalisch/ Gierowski (Hg.), Um die Polnische Krone, S. 70–94, hier S. 91.

80 Arno Günther, Das schwedische Heer in Sachsen 1706–1707, in: Neues Archiv für sächsischeGeschichte 25 (1904), S. 231–263, hier S. 238.

81 Günther, Das schwedische Heer in Sachsen 1706–1707, S. 246.82 Held, Der Adel und August der Starke, S. 284. Die ‚Generalkonsumtionsakzise‘ betraf eine neue

Steuer. „Damit setzte August der Starke sich naßforsch über das traditionell verbriefte Steuer-bewilligungsrecht der Stände hinweg. Die einkommenden Akzisegelder wurden nämlich nichtmehr durch das Obersteuerkollegium, sondern durch das neu berufene Generalakzisekollegiumverwaltet. Letzteres unterstand direkt dem Fürsten und war von jeglicher ständischer Kontrollebefreit.“ (ebd., S. 235)

83 Günther, Das schwedische Heer in Sachsen 1706–1707, S. 243, Anm. 1.

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auch die Polen nach dieser Richtung hin bei den sächsischen Frauen und Mäd-chen viel Entgegenkommen gefunden [hatten]“.84 Im Bibra von 1709 aber istder polnische Adel eines eingewanderten Accise-Inspectors – protestantisch hinoder her – ein absurder Anachronismus. Deshalb muss der Ursprung der pol-nischen Adelslegende erst in einer späteren Generation, nach dem allmählichenVerblassen aller Erinnerungen an die Gräuel des Krieges, gesucht werden. DieMigration der kleinen Leute und die „Bewegungsgesetze der niederen Lehm-und Thonschichten“, wie Nietzsche 1873 als Professor der klassischen Philolo-gie in Basel in einem kritischen Entwurf gegen die „Geschichte als Wissen-schaft“ schrieb (Nachlass 1873, 29[40], KSA 7.642), waren auch das Schicksalseines sächsischen Vorfahren Christoph Andreas Nitzsche gewesen.

3. Gotthelf Engelbert Nietzsche (Bibra 1714 – Bibra 1804)

Im Aphorismus 264 von Jenseits von Gut und Böse umriss Nietzsche sein genea-logisches Konzept:

Es ist aus der Seele eines Menschen nicht wegzuwischen, was seine Vorfahren amliebsten und beständigsten gethan haben: ob sie etwa emsige Sparer waren undZubehör eines Schreibtisches und Geldkastens, bescheiden und bürgerlich in ihrenBegierden, bescheiden auch in ihren Tugenden; oder ob sie an’s Befehlen von früh bisspät gewöhnt lebten, rauhen Vergnügungen hold und daneben vielleicht noch rauhe-ren Pflichten und Verantwortungen; oder ob sie endlich alte Vorrechte der Geburtund des Besitzes irgendwann einmal geopfert haben, um ganz ihrem Glauben – ihrem„Gotte“ – zu leben, als die Menschen eines unerbittlichen und zarten Gewissens, wel-ches vor jeder Vermittlung erröthet.

Er selbst vergoldete seine deutsche Genealogie durch den Adel der männlichenLinie, der in diesem für die Veröffentlichung bestimmten Text jedoch nicht ex-plizit als polnisch umschrieben wird. Dies könnte bedeuten, dass Nietzsche denhistorischen Sachverhalt kannte, ihn allerdings verwarf. Die adligen Vorrechtewerden kunstvoll mit den historischen Berufen des Theologen und des Steuer-einnehmers verwoben, aber die Aufgabe „alte[r] Vorrechte der Geburt und desBesitzes […], um ganz ihrem Glauben […] zu leben“, ist die eigentliche protes-tantisch inspirierte Polenlegende.

Hegte Nietzsches Urgroßvater Gotthelf Engelbert adelige Ambitionen? ZurBeantwortung dieser Frage ist zunächst ein Blick auf gesellschaftliche Verände-rungen, die zu seiner und seines Vaters Zeit im Gange waren, erforderlich:

84 Günther, Das schwedische Heer in Sachsen 1706–1707, S. 243.

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Der bürgerliche Schösser hatte das Erbe des adligen Amtmanns angetreten. Schonin der Mitte des 16. Jhs. zeigen die wörtlich übereinstimmenden Bestallungstexte derbeiden verschiedenen Dienstränge, daß der Schösser grundsätzlich die gleichen Auf-gaben wie der Amtmann, auch auf dem Gebiet der Justiz und der Polizei, zu erledigenhatte. Die einzige Abweichung war die, daß in der Bestallung der Amtleute ihrer Auf-sichtsbefugnis über die Schösser der unterstellten Ämter gedacht wurde.85

Nicht die Orientierung am angeblich magyarischem Uradel angehörenden, 1765von Kaiserin Maria Theresia zum Reichsgrafen geadelten Christoph Niecky,86

sondern die Geschichte von Kursachsen zur Zeit der sächsisch-polnischenUnion (1697–1763) führt zum Sitz im Leben. Nicht der polnisch-sächsischeAntagonismus, sondern der Streit zwischen Adel und Bürgertum im kursächsi-schen Beamtenapparat ist der historische Kontext, in dem in Nietzsches Fami-lie adelige Ambitionen entstehen konnten. Denn August der Starke besetzte ab1717, dem Jahr der Konversion seines Sohnes, „die Hälfte fast aller Verwaltungs-stellen mit Bürgerlichen seines Landes und schuf sich aus diesen Beamten einenzuverlässigen Neuadel.“87 Er adelte den Sohn eines Kleinbauern, Peter Hoh-mann (1663–1732), der ihm als Leipziger Kaufherr wichtige Finanzdienstegeleistet hatte, zum Edlen von Hohenthal, und dessen gleichnamiger Urenkelwurde 1772 sogar in den Reichsgrafenstand erhoben.88 Nachdem aber das abso-lutistische System wegen des Verlustes der polnischen Krone nach dem Sieben-jährigen Krieg (1756–1763) in eine Krise geraten war, schwand jede Hoffnungauf Nobilitierung. Als Enkel eines Oberlausitzer Häuslers mag Gotthelf Engel-bert Nietzsche sich am Aufstieg dieser sächsischen Familie vom Kleinbauernzum Reichsgrafen in vier Generationen orientiert haben. Auch und gerade alsjede Hoffnung auf Nobilitierung sich als eitel erwies, hielt er an der Illusion fest.Dies geht aus einer Schrift hervor, die sein jüngster Sohn, der erste Theologe derFamilie und Großvater des Philosophen, seinem alten geistesschwachen Vateranlässlich seines 50. Bibraer Amtsjubiläums widmete. Auf dem Widmungsblattdieses Hans von Müller unbekannten Traktats Ueber Vorzüge, Beschwerden und

Trost im Alter prangt Gotthelf Engelberts amtlicher Titel: „Seinem verehrungs-würdigen Vater dem hochedelgebohrnen und hochgelaehrten Herrn GotthelfEngelberdt Nietzsche Gr. Churf. Durchl. zu Sachsen hochbestallten General-Ac-cis-Inspector zu Biebra und Freyburg bey Dessen funfzigjährigen Amtsjubiläumgewidmet“.89 Christoph Andreas Nitzsches amtlicher Titel „Königl. Pohlnischer

85 Blaschke, Zur Behördenkunde der kursächsischen Lokalverwaltung, S. 350.86 Von Müller, Nietzsches Vorfahren 2002, S. 273.87 Hellmut Rössl, Größe und Tragik des christlichen Europas, Frankfurt 1955, S. 292.88 Schlechte, Die Staatsreform in Kursachsen 1762–1763, S. 16, 68f., 574.89 Friedrich August Ludwig Nietzsche, Ueber Vorzüge, Beschwerden und Trost im Alter. Auf

besondere Veranlassung zum weitern Nachdenken und zur Beruhigung für gutgesinnte Greisegeschrieben, Leipzig 1789 (siehe Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums1700–1910, Bd. 103 (1984), S. 216). Die Widmung ist vom „22. Juli 1789“ datiert, eine Woche

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und Chur- auch Hochfürstl. Sächs. Weißenfelsischer wohlbestallter Accise-In-spector“,90 der nach seinem Tod auch auf seinen Sohn überging,91 ist der höchsteTitel in der Genealogie und der Kern, aus dem sich später die polnische Legendeentwickelte, die an die väterlicherseits verwaisten Kinder der letzten Generationweitergereicht wurde. Dabei wurde das Adjektiv „Pohlnisch[ ]“ in diesem höch-sten und ältesten Titel als Andeutung der ursprünglichen Heimat ChristophAndreas Nitzsches, nicht als Adjektiv aus dem Titel seines sächsischen Kur-fürsten, der auch König von Polen war, interpretiert. Beide Elemente, das histo-risch von dem Amtstitel von Vater und Sohn herrührende ‚polnische‘ und dasvon Gotthelf Engelberts adligen Ambitionen herrührende ‚adlige‘, wurden spä-ter zum Kern der Legende über den adeligen polnischen Ahnherrn verdichtet.

nach der Erstürmung der Pariser Bastille. Die Geistesschwäche des Vaters geht aus folgendenSätze hervor: „Ihr Gedächtniß ist eben so schwach, als ihr Verstand. Es kostet ihnen allemal un-sägliche Mühe, wenn sie sich nur an die bekanntesten Dinge, und an Begebenheiten erinnernwollen, die sie doch unzähligemal in ihrem Leben gedacht und erzählt haben. Es ist, als wennalles Licht in ihrer Seele erloschen, und alle Eindrücke, alle Bilder und Vorstellungen aus dersel-ben hinweggewischt wären.“ (S. 24) In Nietzsches Bibliothek findet sich die Schrift seines Groß-vaters nicht.

90 Denselben Titel hatte Johann Sebastian Bach (1685–1750). Nachdem er seine katholischeh-Moll-Messe (BWV 232) für den neuen sächsischen Kurfürsten Friedrich August III. kom-ponierte und 1736 anlässlich von dessen Erwählung zum König von Polen als August III. dieKantate ‚Preise dein Glücke, gesegnetes Sachsen, weil Gott den Thron deines Königs erhält‘(BWV 215) schrieb, wurde er 1737 zum ‚Königlich Pohlnischen und Churfürstlich SächsischenHof-Compositeur‘ ernannt (Saskia Weidinger, August II. ‚der Starke‘ und sein Sohn August III.,in: Michael Heinemann (Hg.), Das Bach-Lexikon, Laaber 2000, S. 61f.).

91 Aus dem Widmungsblatt (1789) geht hervor, dass Gotthelf Engelbert 1739 das Amt seines Va-ters in Bibra erwarb und deshalb auch dessen Titel trug, der bis zum Ende der sächsisch-polni-schen Union 1763 fortbestand. Der Titel auf dem Widmungsblatt entspricht jedoch dem neuenpolitischen Zustand nach der sächsischen Staatsreform 1765.

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