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Friedensgutachten2007 · Michael Ashkenazi und Susan Hough..... 261 4.2. Die Herausforderungen im...

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Friedensgutachten 2007

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Friedensgutachten

2007

Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK)

Bonn International Center for Conversion (BICC)

Institut für Entwicklung und Frieden (INEF)

Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST)

Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitikan der Universität Hamburg (IFSH)

herausgegeben von

Bruno SchochAndreas Heinemann-Grüder

Jochen HipplerMarkus Weingardt

Reinhard Mutz

LIT

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Titelfoto: Evakuierungsübung der BundeswehrFoto: AP/Jörg Sarbach.

Gefördert durch die Deutsche Stiftung Friedensforschung

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8258-0429-9

c�LIT VERLAG Dr. W. Hopf Berlin 2007Auslieferung/Verlagskontakt:Fresnostr. 2 48159 MünsterTel. +49 (0)251–6203 20 Fax +49 (0)251–2319 72e-Mail: [email protected] http://www.lit-verlag.de

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . v

Stellungnahme der Herausgeber:Aktuelle Entwicklungen und Empfehlungen 1

1. Schwerpunkt: Militäreinsätze auf dem Prüfstand . . . . . . . . . 3

2. Ein neues Kernwaffenzeitalter zieht auf . . . . . . . . . . . . . . 12

3. Brennpunkt Mittlerer Osten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

4. Machtverschiebung in den asiatisch-pazifischen Raum . . . . . . 20

5. Krisenherde in Afrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

Zusammenfassungen der Einzelbeiträge 29

1. Schwerpunkt: Militäreinsätze auf dem Prüfstand 37

1.1. Der Funktions- und Legitimationswandel der Bundeswehrund das „freundliche Desinteresse“ der BundesbürgerAnna Geis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

1.2. Frieden durch Intervention? Eine kritisch-kursorische BilanzReinhard Mutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

1.3. Der deutsche Beitrag zum Wiederaufbau Afghanistans seit2001: Bundeswehreinsatz und ziviles EngagementRainer Glassner und Conrad Schetter . . . . . . . . . . . . 62

1.4. Sind militärische Interventionen ihr Geld wert? ZurNotwendigkeit und Problematik begleitender Kosten-und NutzenanalysenMichael Brzoska . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

1.5. Das Ende der nuklearen Teilhabe? Für NATO-Kernwaffenschwindet der RückhaltOliver Meier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

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INHALT

1.6. Weltbürger in Uniform oder dienstbare Kämpfer?Konsequenzen des Auftragswandels für dasSoldatenbild der BundeswehrSabine Mannitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

1.7. Bedingungen, Kriterien und Grenzen militärischerInterventionenJochen Hippler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

1.8. Konfliktprävention – eine Alternative zu Militäreinsätzen?Andreas Heinemann-Grüder . . . . . . . . . . . . . . . . 122

1.9. Wider die Aufrüstungs-Globalisierung: Plädoyer für einenachhaltige AbrüstungsinitiativeHarald Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

2. Brennpunkt Mittlerer Osten 147

2.1. Der Libanon zwischen Krieg und DauerkriseJan Hanrath . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

2.2. Irans revolutionäre Außenpolitik: Realität oder Rhetorik?Verschiebungen in der inneren MachtbalanceSemiramis Akbari . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

2.3. Im Schatten des Irakkrieges: Saudi-Arabien zwischeninnenpolitischer Unsicherheit und schwierigen NachbarnGuido Steinberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

2.4. Kein Bürgerkrieg in Palästina: Chance zum Neueinstieg inden FriedensprozessMargret Johannsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

2.5. Eine Wende in der US-Irakpolitik? Die „neue Strategie“der Bush-AdministrationJochen Hippler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

3. Machtverschiebung in den asiatisch-pazifischen Raum –Risiken oder Chancen für die institutionelle Kooperation? 205

3.1. Regionale Vernetzung und rivalisierende Mächte imasiatisch-pazifischen RaumHans-Joachim Giessmann . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

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INHALT

3.2. Nuklear- und Rüstungspolitik wichtiger Akteure imasiatisch-pazifischen RaumHans-Joachim Schmidt und Niklas Schörnig . . . . . . . . 219

3.3. Der Wirtschaftsboom in China und Indien: DasKonfliktpotenzial der UmweltfolgenVolker Teichert und Stefan Wilhelmy . . . . . . . . . . . . 232

3.4. Chinas Aufstieg und die Veränderung der globalenMachtverhältnisse – Europa als Zuschauer oder Akteur?Matthias Dembinski und Bruno Schoch . . . . . . . . . . . 245

4. Krisenherde in Afrika 259

4.1. Konflikte im Sudan – Ursachen und PrognoseMichael Ashkenazi und Susan Hough . . . . . . . . . . . . 261

4.2. Die Herausforderungen im Kongo beginnen erstWillem Jaspers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

4.3. Gewaltkonflikte und Friedensmöglichkeiten amHorn von AfrikaVolker Matthies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

Zeittafel 297zusammengestellt von Hardi Schindler

1. Vorderer Orient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2992. Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3063. Afrika südlich der Sahara . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3134. Asien und Ozeanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3165. Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3216. Internationale Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3257. Transnationaler Terrorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3278. Internationale Strafgerichtshöfe, Kriegsverbrecherprozesse . . . . 3299. Weltwirtschaft, Ökologie, Entwicklungspolitik . . . . . . . . . . 33110. Rüstung und Abrüstung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332

Anhang 335

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . 343Anschriften der Institute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

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Vorwort

Manche Themen für das Friedensgutachten liegen in der Luft und brau-chen keine ausführliche Begründung. Als wir Herausgeber uns im Herbst2006 entschlossen, die sprunghaft angestiegenen Bundeswehreinsätze in ei-nem Schwerpunkt kritisch zu erörtern, hatten wir allenfalls eine Ahnung da-von, wie aktuell wir damit im Sommer 2007 sein würden. Inzwischen kommtdie in Öffentlichkeit, Politik und Wissenschaft lange versäumte Diskussionallmählich in Gang. Zuerst legte die Friedens-Warte (1/2007) ein Themenheft„Friedensmissionen auf dem Prüfstand“ vor. Dann widmete die InternationalePolitik fast ihr ganzes Mai-Heft den „Auslandseinsätzen“. In dessen Editorialwird Christoph Bertram, der ehemalige Direktor der Stiftung Wissenschaft undPolitik, mit den Worten zitiert: „Vor einiger Zeit rief mich ein deutscher Ma-jor aus Afghanistan an. ‚Wir sitzen hier mit tausend Mann in Mazar-e-Sharif‘,sagte er, ‚und wissen eigentlich nicht, warum wir hier sind. Können Sie nichtmal kommen und uns das erklären?‘ “ (IP 5/2007, S. 1)

Diese Anekdote beschreibt treffend die wachsenden Irritationen in derBundeswehr – und in der politischen Öffentlichkeit. Davon zeugt auch diejüngste Ausgabe der Zeitschrift des Reservistenverbandes. Sie diagnostiziertknapp: „Die Auslandseinsätze in der politischen Krise“ und fragt unverblümt:„Macht das noch Sinn?“ Chefredakteur Marco Seliger geißelt eine „allseitsgepflegte Sprachlosigkeit in der Politik dieses Landes bei der Definition vonSinn und Zweck der Missionen“ und bescheinigt der politischen Elite, sie schi-cke zwar die Bundeswehr in alle Welt, sei aber weder willens noch imstan-de, glaubwürdig zu vermitteln, wozu. „Eine ordentliche Begründung dafür ha-ben die Soldaten nur selten im Gepäck, höchstens politische Allgemeinplätze.Doch wer nicht weiß und versteht, mehr noch: nicht anerkennt, wofür er fernder Heimat sein Leben und seine Gesundheit riskiert, der kann im Einsatzlandnicht glaubwürdig deutsche Interessen vertreten. ( . . . ) Keine Partei will derBevölkerung eine ehrliche Debatte über das internationale Militärengagementzumuten – weder über die Ziele noch über die Risiken.“ (Loyal – Magazin fürSicherheitspolitik 5/2007, S. 1)

Solche Worte aus den Reihen der Bundeswehr verdeutlichen, dass die The-matik nicht nur höchst aktuell, sondern zugleich so drängend ist, dass dieDiskussion darüber keinen weiteren Aufschub mehr duldet. Dazu liefert der

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VORWORT

Schwerpunkt des diesjährigen Friedensgutachtens fundierte Beiträge. Er um-fasst mit insgesamt neun Einzelanalysen fast die Hälfte des gesamten Friedens-gutachtens. Das entspricht unserer Intention einer stärkeren inhaltlichen Fo-kussierung als in den vergangenen Jahren. Neben dem Schwerpunkt haben wiruns mit Bedacht auf die herausragenden Konflikte in Nah- und Mittelost so-wie in Afrika konzentriert, außerdem thematisieren wir die wirtschaftliche undpolitische Machtverlagerung von der atlantischen in die pazifisch-asiatischeRegion und fragen nach ihren Folgen.

Diese Konzentration erlaubt eine gründliche Betrachtung einzelner The-menfelder, geht aber zu Lasten der Bandbreite behandelter Themen. Es wäreillusorisch und anmaßend, in jedem Friedensgutachten sämtliche relevantenAspekte von Frieden und Konflikt behandeln zu wollen. Deshalb ist die Be-schränkung in der Breite zugunsten der Tiefe ein konsequenter Schritt.

Zu dieser konzeptionellen Umstellung kommt die äußere Neugestaltung.Schmalerer Satzspiegel und breiterer Durchschuss sollen das Erscheinungs-bild des Friedensgutachtens ästhetisch verbessern und zugleich verändertenLesegewohnheiten gerecht werden.

Mit diesen Veränderungen hoffen wir, Qualität, Gehalt und politischen Ge-brauchswert des Friedensgutachtens weiter zu verbessern. Sie sind möglichgeworden durch die großzügige Unterstützung der Deutschen Stiftung Frie-densforschung; ihr gebührt unser Dank.

Verändert hat sich auch der Kreis der Herausgeber. Ulrich Ratsch hat denStab an Markus Weingardt (FEST) weitergereicht; an der Stelle von CorinnaHauswedell betreut nun Andreas Heinemann-Grüder (BICC) das Friedensgut-achten. Corinna Hauswedell und Ulrich Ratsch sei an dieser Stelle für ihrelangjährige Arbeit herzlich gedankt.

Die Einzelanalysen des Gutachtens wurden Anfang April 2007 abge-schlossen, die Stellungnahme der Herausgeber Mitte Mai. Die Gesamtredakti-on des Friedensgutachtens 2007 lag turnusgemäß bei der Hessischen StiftungFriedens- und Konfliktforschung in Frankfurt. Viel zum Gelingen beigetragenhaben für den LIT Verlag Frank Weber, in der HSFK Rabea Haß als wissen-schaftliche Hilfskraft sowie Timo Huber in einem Praktikum. Ihnen ist ebensozu danken wie Cornelia Heß, die mit Erfahrung und Nervenstärke half, dieTücken der Textverarbeitung und der abermals veränderten Rechtschreibungzu meistern.

Frankfurt a. M., Bonn, Duisburg, Heidelberg und Hamburg14. Juni 2007

Die Herausgeber

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Stellungnahme der Herausgeber:

Aktuelle Entwicklungen undEmpfehlungen

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STELLUNGNAHME

1. Schwerpunkt: Militäreinsätze auf demPrüfstand

Das vereinigte Deutschland hat in der Sicherheits- und Vertei-digungspolitik einen tiefen Wandel vollzogen. Legte die alteBundesrepublik in Abgrenzung von der Vergangenheit militä-rische Zurückhaltung an den Tag, so gehört Deutschland heutezu den größten Truppenstellern der UNO. Die Zahl militärischer „Armee im

Einsatz“Missionen ist seit 1994 sprunghaft gestiegen. Die Bundeswehrwird offiziell zu einer „Armee im Einsatz“ umstrukturiert.

Mit dem Weißbuch 2006 präsentiert die Bundesregierung et-was, was die rot-grüne Koalition in sieben Jahren nicht zustandebrachte. In ihm legt die Regierung Rechenschaft ab über Grund-sätze, Ziele und Mittel ihrer Sicherheitspolitik – ein überfälli-ges Unterfangen angesichts vieler klärungsbedürftiger Fragen.Auch Bundespräsident Horst Köhler fragte in seiner Rede zum Bundeswehr

wohin?50-jährigen Bestehen der Bundeswehr: „Die Bundeswehr wirdvon einer Selbstverteidigungsarmee umgebaut zu – was eigent-lich? Einer Armee im Einsatz? Einer Interventionsarmee?“

Wir monierten im letzten Jahr, „dass die Spanne zwischendem, was unser Militär schon darf und dem, was wir darüberwissen, zu groß geworden ist“. Leider gilt dieser Befund weiter.Das Weißbuch schließt nicht die Kluft zwischen ständig wech-selnden Einsätzen mit rasch variierendem Mandat und den in ei-ner Demokratie gebotenen eindeutigen Vorgaben. Was unter ei-ner „Armee im Einsatz“ zu verstehen ist, was diese soll und darfund was nicht, bleibt vielfach im Ungewissen. Immerhin fordertdas Weißbuch, die deutsche Öffentlichkeit müsse über die neueRolle der Bundeswehr gründlicher als bisher diskutieren. Diese zu viele Un-

gewissheitenForderung greifen wir mit unserem Schwerpunkt auf. Es kannnicht angehen, dass Bundeswehrsoldaten in aller Welt ihr Lebenriskieren, ohne genau zu wissen, wofür. Allzu oft scheint die Po-litik sie nach dem alten Motto einzusetzen: „On s‘engage et puison voit.“

Kritische Diskussion der neuen Bundeswehr unerlässlich

Wir stellen die bisherigen Bundeswehreinsätze – auf dem Bal-kan, in Afghanistan, im Kongo, Libanon und andere – auf den

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DIE HERAUSGEBER

Prüfstand. Ihre Evaluierung ist dringend geboten. Die Bundesre-publik hat unter Bundeskanzler Schröder den Irakkrieg entschie-den abgelehnt – mit guten Gründen. Gleichwohl zeugt die wach-Militär zur

Konfliktbe-arbeitung?

sende Zahl von Bundeswehreinsätzen davon, dass sich auchhierzulande der Glaube breit macht, das Militär könne ein prak-tikables und Erfolg versprechendes Instrument zur Konfliktbe-arbeitung sein. Die Entwicklung in Afghanistan belehrt einesBesseren. Gewiss ist Sicherheit vordringlich für den Wiederauf-bau, aber hearts and minds lassen sich nicht mit Militäreinsätzengewinnen.

Wir lehnen militärische Mittel nicht eo ipso ab. Um zum Er-folg zu führen, müssen sie allerdings Teil eines Gesamtkonzeptsder politischen und zivilen Stabilisierung sein. Mit Recht hat dieBundeskanzlerin auf dem NATO-Gipfel in Riga betont, sie wol-le den Bündnispartnern klarmachen, dass man in Afghanistanvor allem den zivilen Wiederaufbau stärken müsse. Was folgtedaraus?

Die bisherigen Bundeswehreinsätze leiden daran, dass siead hoc und reaktiv entschieden und begründet werden. Exter-Einsätz ad

hoc undreaktiv

ne Faktoren wie das Verhältnis zur Bündnisvormacht, die So-lidarität in der NATO oder der sogenannte CNN-Effekt gebendabei häufig den Ausschlag. Weil Entscheidungen über militä-risches Eingreifen einem Geflecht innen- und außenpolitischerEinflussfaktoren unterliegen, stimmen Gründe und Begründun-gen für Interventionen selten überein.

Wenn die Befriedung von Gewaltkonflikten in den betroffe-Prüfsteinfür Einsätze nen Gesellschaften im Zentrum steht, muss der Prüfstein von

Bundeswehreinsätzen die nachhaltige Transformation lokalerGewaltkonflikte sein, besonders der Aufbau von Regeln und In-stitutionen friedlicher Konfliktbearbeitung. An diesem Ziel istdie Implementierung eigener militärischer und ziviler Maßnah-men fortlaufend zu überprüfen – und gegebenenfalls zu korri-gieren.

Aufgaben und Wirkungen internationaler Militäreinsätze

Die Zahl der militärischen oder mit militärischer Beteiligungüber 50Beschlüsseim Bundestag

agierenden internationalen Missionen ist kaum mehr überschau-bar. Allein der Deutsche Bundestag hat seit 1994 über 50-malAuslandseinsätze der Bundeswehr beschlossen bzw. verlängert.

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STELLUNGNAHME

Dies reichte von der Abordnung einzelner Soldaten bis zur Ent-sendung größerer Truppenkontingente in Krisen- und Kriegsge-biete. Umfang, Dauer und Aufgabenprofil weisen dabei eine im-mense Spannweite auf. Um ihre Wirkungen zu bilanzieren undErfolge zu bewerten, muss man nach Fallgruppen unterscheiden.

Die meisten Einsätze sind Beobachtungs-, Überwachungs- Beobach-tung,Überwa-chung,Sicherung

und Sicherungsmissionen. Ihre Hauptfunktion besteht darin,Vereinbarungen zur Konfliktreduktion mit internationaler Mili-tärpräsenz Nachdruck zu verleihen. Meist handelt es sich umOperationen mit Zustimmung der Streitparteien. So sichertenab 1991 in Kambodscha und ab 1999 in Ost-Timor bewaffne-te Kräfte die Arbeit zeitweiliger Übergangsverwaltungen derUNO. Ab Herbst 1998 beaufsichtigte eine zivile, aber vonNATO-Truppen flankierte OSZE-Verifikationsmission im Koso-vo die Einhaltung der Selbstverpflichtung Jugoslawiens, seineMilitär- und Polizeipräsenz zu verringern. In Mazedonien sam-melte die NATO im Sommer 2001 Waffen albanischer Aufstän-discher ein. Nachträglich kann überprüft werden, ob das in den Ziel

erreichtMandaten bezeichnete Ziel erreicht wurde; für die genanntenBeispiele trifft das zu. Schwer zu beurteilen ist, ob der Erfolgauf die ausländischen Soldaten zurückzuführen ist. Das gilt et-wa für den ordnungsgemäßen Ablauf der Präsidentschaftswah-len im Kongo im letzten Jahr, von der EU mit ihrer lange um-strittenen ESVP-Mission überwacht. Und nicht immer sind dieEinsatzaufträge den realen Problemen angemessen. So könntedie Bundesmarine beispielsweise durch Patrouillen vor der li- Libanon:

gefahrloseTeilnahme

banesischen Küste Waffennachschub für die Hisbollah nur dannunterbinden, wenn Lieferungen tatsächlich den Seeweg nähmen.Davon konnte jedoch schon vor dem Einsatz keine Rede sein.Deshalb erweckt die Operation den Eindruck, ihr Ziel sei ehergefahrloses Dabeisein als praktische Konfliktbearbeitung.

Längerfristige Konsolidierungs- und Stabilisierungsmissio-nen in Nachkriegsgesellschaften bilden eine zweite Fallgruppe. Stabilisie-

rung vonNachkriegs-gesellschaf-ten

Nach Beendigung eines Krieges oder Bürgerkrieges ist nur ineinem sicheren Umfeld der Neubau staatlicher Strukturen mög-lich. Die Kürzel EUFOR, KFOR und ISAF stehen für die Bei-spiele Bosnien (1995), Kosovo (1999) und Afghanistan (2001).Die beiden Balkanmissionen haben die Minimalerwartung, ge-waltsame Auseinandersetzungen zu unterbinden, weitgehend er-

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DIE HERAUSGEBER

füllt. Dass auch nach zwölf bzw. acht Jahren kein Ende in SichtZiele mitQuasi-Protektoratennicht erreicht

ist, ist nicht ihnen anzulasten, sondern den Defiziten bei der po-litischen Konsolidierung. Die Ziele eines sich selbst tragendenFriedens und eines multiethnischen nation building ließen sichmit Quasi-Protektoraten bislang nicht erreichen.

Interventionskriege stellen die dritte und zugleich problema-tischste Gruppe militärischer Operationen dar. Der Kosovokrieg1999 verstieß gegen das Völkerrecht, wie sehr vor dem Hinter-grund der Erfahrungen mit Massakern und MassenvertreibungenInterventions-

kriege in Bosnien seither auch über seine Legitimität gestritten wird.Ein eindeutiger Verstoß gegen das Kriegsverbot der UN-Chartawar der Irakkrieg von 2003. Und von den zu seiner Rechtfer-tigung angeführten Gründen, von Anfang an fadenscheinig, istnichts übrig geblieben.

Ein weiterer Interventionsgrund wäre, Gewaltexzesse gegen-über wehrlosen Bevölkerungsgruppen zu unterbinden, deren Re-Responsibi-

lity toProtect

gierung dazu nicht willens oder fähig ist. Dies ist das Anliegender vom UN-Gipfel im September 2005 verabschiedeten inter-nationalen Schutzverantwortung, der Responsibility to Protect.Bewaffnete Eingriffe zu diesem Zweck haben bislang nicht statt-gefunden, obwohl es an Anlässen nicht mangelte. In Ruanda(1994) und Srebrenica (1995) fehlte es weniger an Kapazitätendenn am politischen Willen der Staatengemeinschaft zu einerIntervention. Ist der Tatbestand des Völkermords, massenhaftenTötens oder ethnischer Vertreibung gegeben und Hilfe für dieOpfer mobilisierbar, darf der Schutz nicht unterbleiben.

Militäreinsatz auf dem Prüfstand: Der Fall Afghanistan

Mit der zunehmenden Gewalt in Afghanistan wächst die Be-unruhigung über die dortige Entwicklung und damit auch überden Einsatz der Bundeswehr. Als der Bundestag ihn im Herbst2001 beschloss, bestand weitgehende Einigkeit. Inzwischen istdie Begründung zum Teil vergessen, zum Teil von späteren Auf-gabenstellungen abgelöst worden. So formulierte der damaligeBündnis-

solidaritätentschei-dend

Bundesaußenminister Joschka Fischer in der Bundestagsdebattevom 8. November 2001 als „Kernfrage“: „Können wir in dieserSituation, in der die Bevölkerung und die Regierung der Verei-nigten Staaten angegriffen wurden, unseren wichtigsten Bünd-nispartner, der auf diesen Angriff antwortet und sich gegen die-

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STELLUNGNAHME

sen Angriff auf klarer völkerrechtlicher Grundlage zur Wehrsetzt, allein lassen, ja oder nein? Diese Entscheidung hat diesesHaus zu treffen.“

Wie sehr der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan pri-mär eine Frage der Bündnisloyalität war, trat abermals wäh-rend des Irakkriegs zutage, als Berlin eine Beteiligung daran zuvermeiden und zugleich den Konflikt mit Washington über denIrak durch ein demonstratives Engagement in Afghanistan ein-zugrenzen suchte. In zweiter Linie sollte der Afghanistaneinsatzder Terrorismusbekämpfung dienen. Erst danach kamen Argu- Befriedung

Afghanis-tans zuletzt

mente, die sich direkt auf das Land bezogen, etwa Unterstützungder afghanischen Regierung, Stabilisierung, humanitäre Gründe,Demokratieförderung oder Frauenrechte.

Nun sind mehrschichtige Begründungen für Militäreinsät-ze die Regel und schwer zu vermeiden. Deshalb können sichunterschiedliche Interventionsziele widersprechen oder blockie-ren. Im Fall Afghanistans ist das zunehmend offenkundig, wes-halb nun der Ruf nach einem Gesamtkonzept immer lauter wird.Auch fällt auf, dass der frühere „Kernpunkt“, die Unterstützungder USA, im Konzept der Bundesregierung für Afghanistan vom12. September 2006 nicht mehr vorkommt. Stattdessen liegt derFokus nun ganz darauf, eine Destabilisierung des Landes zu ver-hindern. Der Zielkonflikt ist damit nicht aufgelöst. Noch im-mer wird die deutsche Afghanistanpolitik vorwiegend von äu-ßeren Faktoren geprägt, insbesondere vom massiven Druck aus Druck aus

der NATOder NATO, Deutschland solle zusätzliche Kräfte entsenden unddie Bundeswehr im Süden auch bei direkten Kampfhandlungeneinsetzen. Hinzu kommt die innenpolitische Scheu, eine einmaleingeschlagene Politik zu ändern und Fehler einzuräumen.

Allerdings wäre es falsch, der Bundesregierung die Schuldfür die sich verschlechternde Lage in Afghanistan zuzuweisen.Die deutsche Politik ist nur ein kleiner Bestandteil des interna-tionalen Einsatzes, der militärisch, finanziell und politisch von Militär-

schlägeschwächenWiederauf-bau

den USA dominiert wird. Rücksichtslose Praktiken des US-Militärs schwächen das politische Engagement der Afghanenfür den Wiederaufbau und dadurch auch das intendierte nation-building. Zum anderen ist fraglich, ob für die DemokratisierungAfghanistans die notwendigen Voraussetzungen bestehen. We-der auf die Taliban noch auf die Nordallianz, weder auf die Mi-

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DIE HERAUSGEBER

lizen und Warlords noch auf traditionelle tribale Strukturen lässtschlechteVorausset-zungen

sich ein demokratischer Staat gründen. Eine selbstbewusste Mit-telschicht als potenzielle gesellschaftliche Basis ist jedoch aus-gesprochen klein und schwach.

Im Wesentlichen kennzeichnen folgende Elemente die deut-sche Afghanistanpolitik: a) die Entsendung militärischer Einhei-ten aus bündnispolitischen und anderen sekundären Gründen, et-wa dem Interesse an einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat;b) das Bedürfnis, die militärische Präsenz so zu gestalten, dasswider-

sprüchlicheAfghanis-tanpolitik

sie eigene Verluste möglichst ausschließt, weshalb man Kabulund den Norden als Einsatzgebiete wählte; c) die Übernahmeder Hauptverantwortung für den Polizeiaufbau bei zugleich zugeringem personellen und finanziellen Engagement; d) das Wi-derstreben, mit der Bundeswehr von der Stabilisierungsaufgabezu Kampfeinsätzen überzugehen; e) ein entwicklungspolitischesEngagement, das sich unter anderem in den Provincial Recon-struction Teams (PRT) niederschlägt. Misslich ist, dass diesesGeflecht es erschwert, eine in sich stimmige Strategie der Kon-fliktbearbeitung – Stichwort Gesamtkonzept – für Afghanistanzu entwickeln.

Entgegen kurzlebigen Erfolgsmeldungen sind in Afgha-mehr Rück-schläge alsFortschritte

nistan mehr Rückschläge als Fortschritte zu verzeichnen. DieHauptursachen sind politisch. Der Aufbau staatlicher Macht-und Verwaltungsstrukturen kommt nur stockend voran, was dieHoffnungen auf Stabilität, Sicherheit und wirtschaftliche Ent-wicklung enttäuscht und der bewaffneten Opposition neuen Zu-lauf beschert. Die ausländischen Truppen, die eigentlich nur dieafghanische Regierung unterstützen und den Staatsaufbau absi-chern sollten, haben sich zunehmend in Kampfsituationen hin-einziehen lassen. Ihr häufig hartes Vorgehen hat große Teile derBevölkerung gegen sie aufgebracht.

Das Schicksal Afghanistans wird sich daran entscheiden, obder Aufbau stabiler staatlicher Strukturen vom Gros der Be-völkerung und der politisch organisierten Gruppen als vorteil-Staat

effizienterundgerechter

haft erfahren wird. Dem Staatsapparat müsste es gelingen, sei-ne Vorzüge gegenüber lokalen Machtstrukturen praktisch gel-tend zu machen. Diesen Prozess können ausländische Truppenunterstützen, vor allem indem sie ihm Zeitgewinn verschaffen.Wenn es nicht gelingt, gegenüber partikularistischen Akteuren

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STELLUNGNAHME

die staatlichen Strukturen durch soziale, wirtschaftliche und si-cherheitspolitische Erfolge als effizientere und gerechtere Opti-on zu etablieren, verliert ausländische Militärpräsenz ihre Ak-zeptanz. Eine Entwicklung, in der ausländische Truppen oderOrganisationen staatliche Aufgaben übernehmen würden, wäreein Zeichen des Scheiterns.

Bundestag und Bundesregierung sind aufgerufen, regelmä-ßig zu prüfen, ob die Bundeswehrpräsenz in diesem Sinne nochüber eine Grundlage verfügt. Darüber hinaus sollten sie sichdem Drängen Dritter widersetzen, die Einsatzorte und -arten der Kampf-

einsätzekontra-produktiv

Bundeswehr weiter einem Kampfeinsatz anzupassen. Die mit-telbare Beteiligung an der aktiven Bekämpfung Aufständischerdurch deutsche Fernmeldesoldaten und Aufklärungsflugzeugehalten wir für kontraproduktiv, weil die wachsende Opferzahlunter den Afghanen ihren Rückhalt für die Intervention und ihrEngagement für den Staatsaufbau weiter schwinden lässt.

Sofern sich in den nächsten Monaten keine politischenFortschritte abzeichnen und die gesellschaftliche Basis für denStaatsaufbau nicht auch in den umstrittenen Provinzen wächst,bliebe nichts anderes übrig, als die Truppen auf die relativ si- Exit-

Strategieerarbeiten

cheren Gebiete zurückzuziehen und sich auf deren Schutz zukonzentrieren. Und für den Fall einer weiteren Verschlechterungmuss eine politische Exit-Strategie erarbeitet werden.

Wider den Irrglauben von der Allzuständigkeit desMilitärs

Der Unmut über neue Entsendungen von Streitkräften ins Aus-land wächst. Die Bundeswehr darf und kann kein abrufbereitesDienstleistungsunternehmen für weltweite Krisenbewältigungsein.

Nicht erst die Große Koalition nutzt Streitkräfte als Instru-ment außenpolitischer Interessenvertretung, das Weißbuch be-kräftigt dies ausdrücklich. Darüber wird die Frage, was Soldatenleisten können und worauf sie vorbereitet sind, vernachlässigt.Die Fiktion einer Allzuständigkeit des Militärs nimmt stattdes-sen überhand, es droht die Umkehr von Regel und Ausnahme. Regel und

Ausnahmeverkehrt

Die Armee muss jedoch das staatliche Instrument für den Not-fall, nicht für den politischen Alltagsgebrauch bleiben. Völker-

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DIE HERAUSGEBER

recht und Grundgesetz machen – nicht zuletzt vor dem Hinter-Gewaltverbotmuss Normbleiben

grund der deutschen Geschichte – das Gewaltverbot als zentraleNorm geltend, von der abzuweichen nur außergewöhnliche Be-dingungen zulassen. Wir fordern daher klare Kriterien für dieZulässigkeit und Ziele künftiger Bundeswehreinsätze. Sie kön-nen dazu beitragen, die dringende Diskussion über Angemes-senheit und Notwendigkeit, Chancen und Risiken, Wirkungenund Erfolge von Auslandseinsätzen der Bundeswehr zu versach-lichen.

Einsatzkriterien für Militäreinsätze

Dass Militärinterventionen allein die beabsichtigte Stabilisie-rung, geschweige denn Staatsaufbau und nation-building, nichtbewirken können, hat Skepsis und Zweifel wachsen lassen. InBundeswehr

überfordert den meisten Fällen wird von der Bundeswehr etwas verlangt,worauf sie kaum vorbereitet ist und was jede Truppe überfor-dern muss: eine robuste Bundespolizei stellen, Aufstände be-kämpfen, illegale Kombattanten entwaffnen, Hilfskonvois be-gleiten, Kriminelle festsetzen, Drogenkuriere aufhalten, ethni-sche oder konfessionelle Konfliktparteien versöhnen oder einenneuen Staatsapparat aufbauen. Militärische Präsenz kann Zeit-gewinn verschaffen, doch muss dieser dann politisch genutztwerden. Sonst tendieren UN-Einsätze dazu, Konflikte einzufrie-ren, bloß zu verwalten und damit letztlich zu verlängern. DieSoldaten werden dabei mit uneinlösbaren Erwartungen über-frachtet. Ihre Präsenz schafft die Illusion von Konflikteinhe-Militär-

einsätze alsPolitik-ersatz

gung, wird zum Politikersatz und verleitet Politiker zur Untä-tigkeit oder zum Sprung von einer unvollendeten Interventionzur nächsten.

UN-Missionen haben in manchen Fällen dazu beigetragen,Friedensabkommen zu schließen, die Rückkehr von Flüchtlin-gen zu ermöglichen, Übergangsverwaltungen zu unterstützenund Wahlen durchzuführen. Diese Erfolge hängen indes vonFaktoren ab, die nur zum Teil durch die Interventionsmächtekontrolliert werden können – Ausmaß der Gewalt, gesellschaft-liche Fragmentierung und Interessen lokaler Akteure, örtlicheEigenkapazitäten, Umfang internationaler Hilfe sowie Organi-sationen, in deren Händen der Oberbefehl liegt. UN-Missionenkönnen den Übergang zum Frieden fördern, sofern die örtlichen

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STELLUNGNAHME

Bedingungen dies zulassen. Sie bewirken jedoch nicht viel, so-lange ein gewaltsamer Konflikt auf breiter Front anhält oder siegar – wie im Kosovo, in Mazedonien und im Sudan geschehen –von der Gewaltanwendung lokaler Akteure in die Auseinander-setzungen hineingezogen werden. Auch mit militärischen Mit-teln ist es nur begrenzt möglich, gegen den Willen der Konflikt-parteien die Gewalt zu beenden.

Militärinterventionen müssen mit dem Völkerrecht über- legitimeGründe fürGewalt-anwendung

einstimmen. Legitime Gründe sind nach Kapitel VII der UN-Charta nur eine Angriffshandlung, der Bruch oder eine Bedro-hung des Friedens. Hinzu kommt, dass die Vertragsstaaten derVölkermord-Konvention von 1948 vereinbart haben, „dass Völ-kermord, ob im Frieden oder im Krieg begangen, ein Verbrechengemäss internationalem Recht ist, zu dessen Verhütung oder Be-strafung sie sich verpflichten.“ (Art. 1) Kann die UNO diese Ver- Verfahren

für Verhin-derung vonVölkermord

antwortung nicht mehr anders als mit militärischen Maßnahmendurchsetzen, bedarf es dafür geregelter und institutionalisierterVerfahren – für die Feststellung und Beurteilung des Sachver-halts ebenso wie für die Anwendung von Zwangsgewalt.

Auch bei militärischen Interventionen sind Völkerrecht,Kriegsvölkerrecht und andere internationale Standards strengeinzuhalten. Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Mensch- Militärein-

sätze ansVölkerrechtgebunden

lichkeit und Verstöße gegen die Genfer Konventionen, insbeson-dere Übergriffe und Gewalt gegen Zivilisten sind strafrechtlichund militärrechtlich zu ahnden, und zwar ohne Ansehen der Per-son oder Bündnispartner. Denn sie sind Verbrechen und keine„Kollateralschäden“ im Kampf gegen Terroristen oder Aufstän-dische, denen sie vielmehr zusätzlichen Zulauf bescheren.

Um Verlängerungsautomatismen zu verhindern, bedarf eskontinuierlicher Analysen sowie Evaluierungen der militäri- Evaluie-

rungenschen und zivilen Operationen. Die Erreichbarkeit der friedens-politischen Ziele muss nicht nur vor der Militärintervention,sondern auch in deren Verlauf geprüft werden. Für erforderlichhalten wir deshalb begleitende Überprüfungen, ob ein Militär-einsatz seinen Zielen näher kommt und ob eine Annäherung andas Ende der Mission (Exit-Strategie) stattfindet. Und nach dem erfolglose

Einsätzerechtzeitigbeenden

Ende von Militäreinsätzen ist systematisch auszuwerten, was siebewirkt haben, und zwar durch unabhängige Organisationen, diedamit in öffentlicher Ausschreibung beauftragt werden. Nur so

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DIE HERAUSGEBER

lassen sich Konzeptionen und Strategien realistisch an veränder-te Bedingungen anpassen und Einsätze bei drohender Erfolglo-sigkeit rechtzeitig beenden.

Im Verhältnis zu Armutsbekämpfung und örtlichen Sicher-heitsdienstleistungen sind Militäreinsätze ungemein teuer. Kos-ten und Nutzen sind deshalb zu evaluieren und im Vergleichmit Alternativen zu beurteilen. Der öffentlichen Sicherheit undeigene

Sicherheits-kräftequalifi-zieren

der staatlichen Institutionenbildung in Afghanistan, in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo wäre am meisten gedient, wennörtliche Sicherheitskräfte qualifiziert sowie technisch und finan-ziell abgesichert würden. Zum Aufbau eigenstaatlicher Sicher-heitskapazitäten in den Konfliktregionen können Bundesrepu-blik, EU und UNO entschieden mehr tun und damit effektiverzum Frieden beitragen als durch manchen Militäreinsatz.

Zusammenfassend erscheint uns unabdingbar, an künftigeMilitäreinsätze mindestens die folgenden sechs Kriterien anzu-legen:

1. Rechtmäßigkeit: Sie müssen mit der UN-Charta und demGrundgesetz übereinstimmen;

2. Unterscheidung von friedenspolitischen und funktionalenGründen: macht-, einfluss- und bündnispolitische Ziele dür-Mindest-

kriterienfür Militär-einsätze

fen nicht den Ausschlag geben;3. Vorrang ziviler Alternativen: Sind alle nichtmilitärischen Al-

ternativen ausgeschöpft oder erkennbar aussichtslos?4. Politisches Gesamtkonzept, einschließlich einer Klärung der

Erfolgsbedingungen im Zielland;5. Evaluierung: Kein Auslandseinsatz ohne begleitende Eva-

luierung und nachträgliche Bilanzierung seiner Kosten undNutzen;

6. Exit-Strategie: Wann und wie ist ein Einsatz zu beenden?

2. Ein neues Kernwaffenzeitalter zieht auf

NATO bestreitet mehr als 70 Prozent der weltweitenMilitärausgaben

Die Bundesregierung beklagt im Sicherheitsweißbuch 2006 die„übermäßige Akkumulation von Rüstungsgütern“ und fürchtetnegative Auswirkungen für die Stabilität in kritischen Weltre-

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STELLUNGNAHME

gionen und mittelbar auch für Deutschland. Die Sorge ist be-gründet. Aufhorchen lassen hat die Ankündigung Chinas, seinVerteidigungsbudget in diesem Jahr um fast 18 Prozent zu stei-gern. Das stieß vor allem in den USA auf heftige Kritik und wird neues

WettrüstengefährdetStabilität

als Gefährdung der eigenen Vorherrschaft wahrgenommen. Frei-lich verzeichnet der amerikanische Militärhaushalt seit Beginnder Präsidentschaft Bush Steigerungsraten von durchschnittlich14 Prozent pro Jahr. Weltweit haben die Aufwendungen fürStreitkräfte und Rüstungen die eine Billion Dollar-Grenze über-schritten. Fast die Hälfte davon, 48 Prozent, entfallen auf dieUSA, mehr als 70 Prozent auf das westliche Bündnis insgesamt.Wird der Begriff des Westens politisch gefasst, also unter Ein-schluss Japans, Südkoreas, Australiens und Neuseelands, steigtsein Anteil auf über 77 Prozent. Die verbleibenden 166 Staatender Erde teilen sich das restliche Viertel. Diese Tendenz, zumWettrüsten der Vergangenheit nicht nur zurückzukehren, son-dern es in seiner Dynamik – ohne adäquaten Anlass – gar noch Gefahren

zu wenigbewusst

zu überbieten, ist viel gefährlicher, als den westlichen Öffent-lichkeiten bewusst ist.

Appell gegen das nukleare Wettrüsten

Im Januar 2007 richteten vier namhafte Veteranen der ameri-kanischen Politikszene – Henry Kissinger, George Shultz, Wil- dramati-

scherAppell

liam Perry und Sam Nunn – einen dramatischen Appell an ihreNation: Amerika stehe vor einem neuen Nuklearzeitalter, ge-fährlicher und kostspieliger als der Kalte Krieg. Sie empfah-len entschiedene Anstrengungen der Rüstungskontrolle als deneinzigen Weg, um der Fehlentwicklung entgegenzuwirken. Allefünf offiziellen Kernwaffenmächte missachten ihre Abrüstungs-verpflichtungen, modernisieren ihre Arsenale an Gefechtsköp-fen und Trägermitteln und untergraben so die Geschäftsgrund-lage des globalen Nichtverbreitungsregimes (Non-ProliferationTreaty). Somit tragen sie dazu bei, dass sich die Führung ex-ponierter kernwaffenfreier Staaten die Frage stellen, ob der Er- Nuklear-

mächteuntergra-ben NPT

werb eigener Atomwaffen nicht erst jenen zuverlässigen Schutzvor militärischer Bedrohung verschaffe, den die Nuklearmächtewie selbstverständlich für sich selbst in Anspruch nehmen. DerIrakkrieg hat solchen Ambitionen zusätzliche Nahrung geliefert.Der nukleare Ehrgeiz von Iran und Nordkorea, den verbliebenen

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DIE HERAUSGEBER

Mitgliedern der „Achse des Bösen“, beunruhigt die Welt. Dochauch aus Japan, Südkorea, Brasilien, Saudi-Arabien, Ägyptennukleares

Wettrüstendroht imMittlerenOsten

und den Vereinigten Arabischen Emiraten sind entsprechendeÜberlegungen laut geworden. Ein atomares Wettrüsten vor al-lem im ohnehin instabilen Mittleren Osten wäre ein Albtraum.

Chinas Antisatellitentest im Januar 2007 und Russlands ve-hementes Aufbegehren gegen die Raketenabwehrpläne der USArücken Rüstungskonflikte auch zwischen den Nuklearmächtenwieder in greifbare Nähe. Die Bereitschaft in Warschau undPrag, bis zu zehn amerikanische Abfangraketen und das zu-Raketenab-

wehr inOsteuropa

gehörige Großradar zu stationieren, gefährdet für sich genom-men nicht Russlands Sicherheit. Die vorgesehene Anlage ver-spricht nur Schutz gegen eine begrenzte Anzahl einfliegenderRaketen aus Ländern mit gering entwickelter Trägerkapazität –gemeint ist namentlich Iran. Gleichwohl ist sie Teil eines wei-ter gespannten Vorhabens. Vergleichbare Einrichtungen beste-hen bereits in Alaska und Kalifornien, weitere sind geplant. Zu-sammen sollen sie das gesamte amerikanische Staatsgebiet ab-schirmen. Den ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty) von1972, der die landesweite Raketenverteidigung verbot, hat Wa-shington 2002 vorsorglich gekündigt. Was wäre, wenn aus tech-nologischer Weiterentwicklung die Fähigkeit entstünde, auch ei-ne Großoffensive mit Langstreckenwaffen abzuwehren?

Der hermetische Raketenschirm – Ronald Reagans Visionvon einst – nimmt der Macht, die über ihn verfügt, die eigeneAngriffsrüstung nicht aus der Hand. Doch verändert sie derenstrategische Funktion. Nunmehr „risikolos“ einsetzbar, würdeeben dieser Umstand den tatsächlichen Einsatz erübrigen. DieFrieden als

Diktat desStärkeren

Nutzung als diplomatisches Druckmittel bietet die vorteilhafte-re Option: Der Staat, der das Abschreckungsgleichgewicht um-stößt und das Drohmonopol an sich bringt, könnte fortan seinenpolitischen Willen diktieren. Aus Frieden auf Gegenseitigkeitwürde Frieden zu den Bedingungen des Stärkeren.

Handlungsmöglichkeiten der Bundesregierung

Die Bundesrepublik hat sich durch den Vertrag über die Nicht-weiterverbreitung (NPT) und andere Bindungen zur atomarenVerzicht auf

„nukleareTeilhabe“

Enthaltsamkeit verpflichtet. Mehr als andere Länder ist sie da-durch berechtigt und interessiert, die Sicherheitsanliegen der

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STELLUNGNAHME

atomwaffenfreien Staaten zu vertreten. Der Verzicht auf die rund150 noch in Deutschland lagernden taktischen Kernwaffen wäreein deutliches Signal gegen die grassierende Renuklearisierung.

Um den umfassenden Abrüstungsfahrplan zu initiieren, dendie vier amerikanischen Politiker fordern, fehlt es der Bundes-regierung an politischem Gewicht. Hier sind die Atommächtein der Pflicht, die deutsche Politik kann nur werben, mahnenund drängen. Deutlicher Gehör verschaffen muss sie sich hinge-gen gemeinsam mit Nachbarn und Verbündeten, wo die eigene Raketen-

abwehr keinbilateralesProjekt

Sicherheit auf dem Spiel steht. Das Raketenabwehrprojekt istkein bilaterales Thema zwischen den USA und stationierungs-willigen europäischen Alliierten, sondern gehört durchaus in dieNATO und mehr noch in die EU.

Ebenfalls geht die militärische Nutzung des Weltraums al-le Europäer an. Die Raketenabwehr hat eine inhärente Anti-Satellitenkapazität und der chinesische ASAT-Test hat demons-triert, dass immer mehr Staaten in der Lage sind, Satelliten zu Verbot von

Anti-Satelliten-waffen

treffen. Nicht nur die militärische, auch die zivile Infrastrukturentwickelter Gesellschaften ist zunehmend auf Kommunikati-onstechnologien im All angewiesen. Nur ein vollständiges Ver-bot von Anti-Satellitenwaffen kann im Konfliktfall das Risikoder Zerstörung bannen. Verhandlungen darüber sind aber nochnicht einmal in Sicht. Sie sollten unverzüglich beginnen.

3. Brennpunkt Mittlerer Osten

Der Nahe und Mittlere Osten bleibt eine Region mit besonde-rer Konfliktdichte und -intensität. Der Libanonkrieg im Sommer2006, bewaffnete Auseinandersetzungen unter den Palästinen-sern und der weit von einer Regelung entfernte Palästinakon-flikt, Besetzung, Bürgerkrieg und Terrorismus im Irak sowie derinternationale Konflikt um das iranische Atomprogramm, die regionale

und inter-nationaleKonflikt-ursachenverzahnt

Eskalation in Afghanistan und verheerende Terroranschläge inMarokko und Algerien bestimmen das Bild. Der Weg zum Frie-den ist so schwierig, weil sich bei den meisten Konfliktursachenregionale und länderspezifische Faktoren vermischen und nebenstaatlichen und nichtstaatlichen auch zahlreiche internationaleAkteure involviert sind.

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DIE HERAUSGEBER

Desaster im Irak

Der Irak liefert das anschaulichste Beispiel für diesen Zusam-menhang. Der Staatsapparat ist geschwächt und unterwandertvon Milizen und ethnisch-konfessionellen Gruppen. Gewalt-same Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiitensowie innerhalb beider Gruppen, regionale Disparitäten undMachtkämpfe zwischen politischen, ethnischen und religiösenOrganisationen kennzeichnen die Verschärfung der Konflikte.Dem fügen Besatzung, eingesickerte arabische Dschihadistenund die regionale Konkurrenz um die Hegemonie – vor allemLage im

Irakverfahren

zwischen Iran, Saudi-Arabien, der Türkei, aber auch Syrien undanderen Ländern – zusätzliche Konfliktdimensionen hinzu. DieSituation im Irak ist inzwischen so verfahren, wie selbst dieBaker-Hamilton-Kommission diagnostiziert, dass für eine ex-terne Konfliktlösung in den nächsten Jahren wenig Erfolgsaus-sicht besteht. Die USA als mächtigster Akteur im Irak haben dieMöglichkeit zu einer konstruktiven Konfliktlösung verspielt. Siekönnen die Entwicklungen im Irak zwar behindern oder blockie-ren, aber kaum noch gestalten. Weder ein Abzug noch eine Ver-stärkung der US-Truppen würde die Gewalt im Irak beenden.Auch die an sich sinnvollen Versuche regionaler Kooperation,z.B. Irak-Konferenzen unter Einbeziehung aller Nachbarländer,sind jetzt kein Ausweg mehr aus dem Debakel. Es rächt sich,dass Washington allzu lange wähnte, auf direkte Gespräche mitSyrien und Iran verzichten zu können.

Nahostkonflikt: Ecksteine bekannt, Regelung nicht in Sicht

Die Krisen in Palästina und im Libanon bleiben durch die regio-nale Dominanz Israels miteinander verknüpft. Im Nahostkon-Besetzte

Gebiete undSiedlungenSchlüssel

flikt sind die seit 1967 besetzten Gebiete und der ständige Aus-bau israelischer Siedlungen das Schlüsselproblem. Zudem ha-ben die politischen Auseinandersetzungen zwischen Fatah undHamas nach deren Wahlsieg die palästinensischen Gebiete anden Rand eines Bürgerkrieges gebracht. Die Ecksteine für dieLösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes sind seit lan-gem bekannt und international weithin anerkannt: Die Grün-dung eines unabhängigen Palästinenserstaates, die auf der For-mel „Land für Frieden“ beruht. Die Beendigung der Besatzung

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STELLUNGNAHME

bei wechselseitiger Anerkennung der beiden Staaten und ih- Palästi-nenserstaatrer Sicherheitsbedürfnisse wäre der entscheidende Schritt. Doch

fehlt es auf israelischer Seite an Mut und politischem Willen; aufpalästinensischer Seite verhindert der Kampf um den Führungs-anspruch eine Lösung, die Disziplin und Verlässlichkeit voraus-setzt.

Da die Roadmap, die den Ausweg aus der Gewalt weist, be- internatio-naler Drucknötig

kannt ist, käme es im Nahostkonflikt vor allem darauf an, seineProtagonisten mit internationalem Druck dazu zu bringen, ihnendlich zu beschreiten. Zwar gibt es auf beiden Seiten starkeGegner eines Friedensprozesses. Doch hängen sowohl Israel alsauch die palästinensische Autonomiebehörde in hohem Maßevon internationaler Unterstützung ab, die einen von den USAund den EU-Ländern, die anderen außerdem auch von Saudi-Arabien und weiteren arabischen Staaten. Nachdem diese Israeljetzt volle diplomatische Anerkennung zugesagt haben, sofernes sich aus den besetzten Gebieten zurückzieht, böte diese Ab- Abhängig-

keitnutzen

hängigkeit einen wirksamen Hebel, um den nötigen Druck aus-zuüben. Der politische Wille dazu müsste freilich internationalerst organisiert werden. Das wiederum setzte voraus, von beidenSeiten mit demselben Nachdruck den Verzicht auf Gewalt zuverlangen. Darüber hinaus müssten alle externen Akteure auf- Bürgerkrieg

nichtschüren

hören, Fatah und Hamas gegeneinander auszuspielen, was de-ren Gewaltneigung erhöht und den Frieden mit Israel zusätzlichblockiert.

Die Bundeskanzlerin hat erklärt, die Roadmap neu belebenzu wollen. Diese setzt auf Interimsregelungen, doch fehlen ihrklare Zielvorgaben für eine dauerhafte Lösung der Streitfragen.Das Nahost-Quartett muss mit Israel und den palästinensischenAutoritäten konkrete Vorschläge für den Endstatus – Grenzver-lauf, Jerusalem, Siedlungen und Flüchtlinge – verhandeln. Undes sollte nicht länger nur zusehen, ob die Konfliktparteien ih-re Verpflichtungen erfüllen, sondern Störmanöver beider Sei-ten deutlicher als solche anprangern und sanktionieren. Schließ-lich wäre die Europäische Union gut beraten, den politischen Gespräche

mit Hamaswiederauf-nehmen

Flügel der Hamas von ihrer Liste terroristischer Organisatio-nen zu streichen. Das gäbe den erforderlichen Spielraum, dieGesprächskontakte wieder aufzunehmen, die Pragmatiker in derHamas zu stärken und die seit dem Boykott unterbrochene Un-

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DIE HERAUSGEBER

terstützung der Reformen in der Palästinensischen Autonomie-behörde fortzusetzen.

Brisante Pattsituation im Libanon

Anders als im Nahostkonflikt ist im Libanon eine Möglich-keit, die seit langem bestehende innenpolitische Krise zu lö-gesamt-

staatlicheStrukturenschwach

sen, schwer erkennbar. Das Grundproblem besteht darin, dassdie gesamtstaatlichen Strukturen schwach sind und ein Groß-teil der politischen Macht bei den politisch-konfessionellen Ge-meinschaften, ihren warlords und anderen Eliten liegt. Direk-te Möglichkeiten, das innenpolitische Machtgefüge von außenzu beeinflussen und den Staat auf Kosten der Konfessionsge-meinschaften zu stärken, sind gering. Das Patt zwischen demschiitisch-christlichen und dem sunnitisch-christlichen Macht-block lähmt die Politik im Libanon. Verstärkt wird dies durchdie Unterstützung beider Lager durch Iran und Syrien auf dereinen, Frankreich und die USA auf der anderen Seite.

Eine Verringerung der externen Einmischung schüfe Anrei-ze zu einer politischen Verständigung im Libanon, die einenAusweg aus der Blockade öffnen könnte. Die UN-Truppen wä-ren imstande ihn zu unterstützen, wenn sie nicht allein Israel vorAngriffen der Hisbollah aus dem Libanon, sondern auch den Li-Einfluss der

Hisbollahzurück-drängen

banon vor Militärschlägen aus Israel und vor dem Einfluss Syri-ens schützen würden. So ließe sich möglicherweise die innenpo-litische Bedeutung der Hisbollah zurückdrängen, die maßgeb-lich darauf basiert, dass sie das Land gegen Israel verteidigenkann. Dagegen erscheint eine gewaltsame Entwaffnung der His-bollah wenig aussichtsreich und ist gegenwärtig auch mit derGefahr verbunden, im Libanon einen neuen Bürgerkrieg auszu-lösen.

Der Atomkonflikt mit Iran

Jeder Versuch, den Atomkonflikt mit Iran einseitig militärischentscheiden zu wollen, verstieße gegen das völkerrechtlicheKrieg gegen

Iran wärefatal

Kriegsverbot, würde zudem den Großteil der iranischen Bevöl-kerung um Präsident Ahmadinejad scharen und die gesamte Re-gion vollends destabilisieren; von der Frage ganz abgesehen, obsich die iranischen Atomanlagen auf diese Weise ausschalten

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STELLUNGNAHME

lassen. Vor dem Hintergrund der amerikanisch-iranischen Ge-schichte seit 1953 sowie der Einkreisung Irans durch US-Militärund durch Atomwaffen Dritter in der Region – US-Kriegsschiffeim Persischen Golf, Israel, Pakistan, aber auch Indien, Russ-land und China in mittelbarer Nachbarschaft – führen militä-rische Drohungen gegen Teheran dazu, dass sich seine Positionweiter verhärtet. Die Vorstellung der Neokonservativen in denUSA, missliebige autoritäre Regime mit Gewalt abzulösen unddadurch eine Demokratisierung von außen initiieren zu können,hat sich bereits im Irak als kontraproduktiv erwiesen.

Iran besteht auf seinem nach dem Atomwaffensperrver-trag verbrieften Recht auf friedliche Nutzung der Atomener- Recht auf

friedlicheNutzung

gie. Zweifel, dass Teheran nicht doch militärische Ziele ver-folgt und nach erfolgreichem Ausbau der Urananreicherung denAtomwaffensperrvertrag kündigt, gründen auf einer Reihe ira-nischer Vertragsverletzungen in der Vergangenheit. Die Hoff-nung, durch politischen Druck, wirtschaftliche Anreize, Sank-tionen oder militärische Drohungen Iran zu bewegen, die Uran-anreicherung auszusetzen, hat sich als trügerisch erwiesen. Des-halb sollte der Verhandlungsrahmen in mehrere Richtungen er-weitert werden. Zum einen sollte mit der Regierung in Teheran Sicherheits-

garantienüber Sicherheitsgarantien für Iran verhandelt werden. Zum an-deren sollten konkrete Schritte in Richtung einer nuklearwaffen-freien Zone angeboten werden. Schließlich sollten Möglichkei- Multilate-

ralisierungder Anrei-cherung

ten einer Multilateralisierung der iranischen Urananreicherungausgelotet werden. Diese Vorschläge setzen darauf, dass die in-nenpolitische Stellung Präsident Ahmadinejads im Lande nichtunangefochten ist und Teile der Elite die weitere Isolierung desLandes verhindern möchten. Es ist nicht auszuschließen, dassauch mit diesen Schritten ein Verhandlungsprozess, ob offizielloder über backchannels geführt, scheitert. Aber nur auf der bis-herigen Position zu beharren und die internationale Isolierungdes Landes zu verschärfen, ohne die legitimen Interessen Iranszu berücksichtigen, das wird die Aussichten, seine atomare Auf-rüstung zu verhindern, eher verschlechtern als befördern.

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DIE HERAUSGEBER

4. Machtverschiebung in denasiatisch-pazifischen Raum

Zahlreiche Länder in der asiatisch-pazifischen Region schreibenAufstiegChinas undIndiens

Wachstumsraten, von denen Europa nur träumen kann. Der ra-pide wirtschaftliche Aufstieg Chinas und Indiens mit ihren rund40 Prozent der Weltbevölkerung bewirkt eine tektonische Ver-schiebung der Weltordnung. China war 2006 der größte Expor-teur in die EU. Mit seinem präzedenzlosen Modernisierungs-tempo gilt es als künftiger Machtrivale der USA. Langsam trittins europäische Bewusstsein, dass die Zeiten kaum angefochte-ner Hegemonie des Westens zu Ende sind.

Wirtschaftswachstum überboten vom Wettrüsten

Die beeindruckenden Zahlen des Wirtschaftsaufschwungs inder asiatisch-pazifischen Region werden nur übertroffen vomWachstum im Rüstungsbereich. Chinas Verteidigungsetat für2007 liegt offiziellen Angaben zufolge bei knapp 45 Mrd. USD,westliche Experten schätzen ihn auf mindestens das Doppel-te. Japan blieb 2006 mit einem Militärbudget von gut 41 Mrd.USD knapp unter dem von der Verfassung vorgeschriebenenMaximum von einem Prozent seines Bruttosozialprodukts, be-Japan hebt

Rüstungs-beschrän-kungenauf

absichtigt aber, die nach dem Zweiten Weltkrieg festgelegtenRüstungs- und Militärbeschränkungen weitgehend aufzuheben.Indiens Verteidigungsbudget betrug 2005 23 Mrd. USD. Zu be-rücksichtigen sind indes auch der amerikanisch-indische Mili-tärpakt vom Juni 2005 und das im Juli 2006 geschlossene, vomKongress noch nicht ratifizierte Abkommen mit den USA, dasAtomab-

kommenmit Indien

Indiens Status als Nuklearmacht besiegelt. Das könnte die ohne-hin konfliktreichen Beziehungen mit Pakistan, ebenfalls Nukle-armacht, verschärfen. Angeheizt wurde das nukleare Wettrüstenzudem durch die Atomtests Nordkoreas im letzten Jahr, die inSüdkorea und Japan Diskussionen über eine eigene atomare Be-waffnung entfacht haben.

Im Westen stößt die militärische Modernisierung ChinasMilitärischeModernisie-rungChinas

auf Argwohn. Das chinesische Antisezessionsgesetz vom März2006 war begleitet von Säbelrasseln gegen taiwanesische Un-abhängigkeitsbestrebungen. Hinzu kommt die Ankündigung,

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STELLUNGNAHME

moderne russische Kampfflugzeuge einzuführen und ein eige-nes Kampfflugzeug, neue Landungsschiffe, Atom-U-Boote und Anti-Satelliten-

waffe mahntzu Verbot vonWeltraum-rüstung

Flugzeugträger zu bauen. Nachdem sein jahrelanges Drängenauf ein Verbot von Weltraumwaffen von Washington ignoriertwurde, testete China im Januar 2007 ohne Ankündigung eineAnti-Satellitenwaffe. Das wird von vielen als militärische Pro-vokation betrachtet. Provozieren sollte dies unserer Auffassungnach jedoch rasche Verhandlungen über ein Verbot von Welt-raumrüstung.

Nicht nur Gefahren, auch Chancen

Mit dem Bedeutungszuwachs der asiatisch-pazifischen Regiongehen auch Risiken kaum gehemmter Macht- und Großmacht-konflikte, der Allianzenbildung und des klassischen Sicherheits-dilemmas einher. Gleichwohl halten wir Prognosen, die im Auf- program-

mierterKrieg?

stieg Chinas einen unausweichlichen Hegemoniekonflikt, gareinen programmierten Krieg sehen wollen, für Panikmache. DasBild Chinas, das seinen Machtzuwachs rücksichtslos in mili-tärische Macht ummünzt, um die bestehende Mächteordnungumzukrempeln, ist ein Zerrbild. Die neue Führung in Beijingstrengt sich sichtlich an, Ängste der Nachbarn durch bessereBeziehungen zu beschwichtigen. Selbst in Japan, dessen unein-sichtige Haltung zur Vergangenheit in China immer wieder Steindes Anstoßes ist, schlug Ministerpräsident Wen Jiaobao neue chinesisch-

japanischeBeziehungenverbessert

Töne an, als er Japan für seine technologische Hilfe bei ChinasModernisierung dankte. Hinsichtlich Taiwans, fraglos eine Soll-bruchstelle der sicherheitspolitischen Architektur in Ostasien,spricht alles dafür, dass Beijing zwar mit martialischer Rhetorikvon Sezessionsbestrebungen abschrecken will, doch den Statusquo akzeptiert, solange keine akute Abspaltungsgefahr besteht.Immerhin ist Taiwan der größte Investor auf dem chinesischenFestland.

Das aufstrebende China nutzt aktiv neue Foren und Orga-nisationen zum Multilateralismus und zur regionalen Koope-ration. Zwar reicht die internationale Institutionenbildung im internationale

Kooperationwächst

asiatisch-pazifischen Raum längst nicht an die europäische In-tegration heran, auch fehlt ihm bisher jene rüstungskontrollpo-litische Komponente, die nötig wäre, um Vertrauen zu schaffenund die Rüstungsdynamik zu zähmen. Gleichwohl wächst die

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DIE HERAUSGEBER

internationale Kooperation schneller, als man in Europa meistwahrnimmt. Auf Initiative der ASEAN wurde 2004 der EastAsian Summit eingerichtet, der konkrete Schritte zu einer Frei-handelszone und Prinzipien für eine regionale Sicherheitsge-meinschaft vereinbart hat. Die von China, Russland und denmittelasiatischen Republiken gebildete Shanghai CooperationOrganisation intendiert, Sicherheitsinteressen und Grenzfragenebenso wie Terrorismusbekämpfung und Energieversorgung ge-meinsam zu gestalten. Schließlich gingen die Sechs-Mächte-Gespräche aus einer Initiative Chinas hervor. Ihr Ziel, die Beile-Atom-

konflikt mitNordkorea

gung des Atomkonflikts mit Pjöngjang, könnte die Lage im ge-teilten Korea entspannen, die Proliferation eindämmen und eineUrsache für das regionale Wettrüsten beseitigen. Kurzum: Ural-te Ängste vor der „gelben Gefahr“ dürfen nicht verdecken, dassChina neuerdings auch auf soft power setzt. Diplomatie, Handelund internationale Kooperation sind die Mittel, mit denen es sei-nen Einfluss zu mehren sucht, nicht primär militärische Stärke.

Angesichts des Aufstiegs der asiatisch-pazifischen Regionwird Europa nur mit großen Anstrengungen seinen Rang be-haupten können. Diese Entwicklung birgt aber auch Chancen.Neben der einzig verbliebenen Supermacht entstehen neue ge-wichtige Kooperationspartner für multilaterale Ordnungskon-China als

Kooperations-partner fürGlobalGovernance

zepte, was es zu nutzen gilt. Die EU sollte aktiver als bisherversuchen, China in die multilateralen Regelwerke von GlobalGovernance einzubeziehen. Und sie sollte ihre Dialogstrategiefür Demokratie und Menschenrechte beharrlich fortsetzen. Daseinzige Druckmittel, das die EU gegenüber China hat, ist dieVerweigerung internationaler Legitimität. Auch muss sie klarDemokratie

und Men-schenrechte

machen, dass ihre Ein-China-Politik nicht als Rechtfertigungfür Gewalt gegen die Demokratie in Taiwan missbraucht wer-den darf.

Konfliktpotenziale der Umweltzerstörung

Der Asienboom wird die weltweite Konkurrenz um Rohstof-fe, Energieträger und andere knappe Ressourcen vorantreiben.Umso wichtiger werden internationale Regelwerke. DasselbeAsienboom

verschärftKlimawandel

gilt auch für Schattenseiten des Asienbooms: seine immensenökologischen Schäden in diesen Ländern, den globalen Aus-stoß an Treibhausgasen sowie den weltweiten Temperaturan-

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STELLUNGNAHME

stieg. Ein umweltpolitisches Umsteuern in China und Indien istüberaus dringlich. Doch „schmutzige“ Produktionsabläufe ausden USA und Europa nach Asien zu verlagern und so die eige-nen Umweltstandards zu verbessern, um dann mit dem Fingerauf Asien zu zeigen, ist wohlfeil. Dass sich die reichen Indus-trieländer auf ambitionierte Emissionsreduktionen verständigen,ist Voraussetzung dafür, dass auch Schwellenländer schrittwei-se Reduktionen festschreiben. Erhebliche Schäden wird durchden Klimawandel das klimatisch ohnehin benachteiligte Afrika Afrika als

Verlierererleiden. Gewaltsame Verteilungskonflikte und umweltbedingteEmigration in die reichen Länder werden zunehmen, wenn ernicht rasch verlangsamt wird.

5. Krisenherde in Afrika

Unter den vielfältigen Konflikten in Afrika beschäftigen vor al-lem der Krieg in Sudan/Darfur und die Situation im Kongo diedeutsche Politik und Öffentlichkeit. Die äthiopische Militärin-tervention Ende 2006 lenkte auch Aufmerksamkeit auf das Hornvon Afrika.

Das Morden in Darfur muss beendet werden

In Darfur sterben noch immer Tausende von Zivilisten durchdie von der sudanesischen Regierung unterstützten Dschand- 200.000

Tote,2,5 MillionenVertriebene

schawid (Reitermilizen). Geschürt wird die Eskalation aber auchvon Rebellengruppen, die aus dem Tschad Hilfe erhalten. Schät-zungsweise 200.000 Tote und 2,5 Millionen Flüchtlinge sindbisher zu beklagen. Die nur 7.000 Mann starke Peacekeeping-Truppe der Afrikanischen Union (African Union Mission in Su-dan, AMIS) ist mit der Aufgabe überfordert, die Bevölkerungzu schützen. Zudem erschwert China mit seiner Veto-Politik imSicherheitsrat ein effizienteres Eingreifen der UNO. Es will sei- AMIS

überfordertne wirtschaftlichen und strategischen Interessen in der Regionnicht gefährden. Den Darfur-Konflikt betrachtet es trotz grenz-überschreitender Kämpfe und verheerender Auswirkungen fürdie Bevölkerung als innersudanesische Angelegenheit und pochtauf die Respektierung der staatlichen Souveränität.

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DIE HERAUSGEBER

Ein Stopp des schleichenden Völkermords in Darfur ist drin-gend geboten. UN-Enthüllungen im April 2007, dass die su-danesische Armee in Militärmaschinen, die als Flugzeuge derUNO getarnt waren, Waffen und schweres Gerät nach Darfurtransportiert hatte, ließen keinen Zweifel mehr an der Verstri-Schutztrup-

pe auf-stocken

ckung der Zentralregierung in das Morden der Dschandscha-wid. Kurz darauf stimmte Khartum dem Vorschlag der UNOzu, die AMIS-Truppe mit rund 3.000 Soldaten zu verstärken.Doch selbst wenn die sudanesische Regierung dieses Mal ihreZusage einhalten sollte, ist auf wirksame Hilfe nur zu hoffen,wenn die Schutztruppe rasch weiter aufgestockt wird – im No-vember 2006 war bereits eine Gesamtstärke von 20.000 Mannbeschlossen worden – und wenn Khartum seiner Verpflichtungnachkommt, die ungehinderte Versorgung der FlüchtlingslagerSchutz der

Bevölke-rung sicher-stellen

mit Nahrungsmitteln und Medikamenten sicherzustellen. Solan-ge die Hilfsmaßnahmen in Darfur halbherzig ausfallen, bleibtdie Warnung, nie wieder dürfe sich so etwas wie in Ruanda wie-derholen, ein Lippenbekenntnis.

Doch kann der Schutz der Bevölkerung nur ein Minimalzielsein. Daneben gilt es, ein Konzept für die Zukunft der Regi-on und der Flüchtlinge zu entwickeln. Nur bei dauerhafter Be-endigung der Gewalt können strukturelle Hilfen zur Sicherungmehr

deutschesEngage-ment inAfrika

der Lebensgrundlagen der Bevölkerung greifen. Bundespräsi-dent Horst Köhler engagiert sich besonders für Afrika; die Bun-desregierung hat es zu einem Schwerpunkt ihres G 8-Vorsitzeserklärt. Sie kann in dieser Funktion darauf hinwirken, den Druckauf Sudan und Tschad zu erhöhen und das internationale Enga-gement für Darfur zu intensivieren. Sie sollte versuchen, Chinadavon zu überzeugen, in der UNO seine Blockade-Politik zu re-vidieren.

Kongo: die Sicherung von Wahlen reicht nicht aus

Erstmals seit 1965 fanden 2006 in der Demokratischen RepublikKongo freie Wahlen statt. Über 17.000 UN- und 2.000 EUFOR-Soldaten überwachten die Wahlen, die im Großen und Gan-Wahlüber-

wachungerfolgreich,Kongounbefriedet

zen friedlich verliefen. Die Bundesrepublik war mit 780 Solda-ten beteiligt, deren Mandat sich darauf beschränkte, bewaffneteAuseinandersetzungen in der Hauptstadt Kinshasa während derWahlen zu verhindern, also inhaltlich, geographisch und zeit-

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STELLUNGNAHME

lich äußerst begrenzt war. Gemessen an diesem Auftrag war derBundeswehreinsatz erfolgreich. Zu einer dauerhaften Stabilisie-rung und Befriedung des Kongo leistete er keinen Beitrag.

Der Machtkampf zwischen Wahlsieger Kabila und seinemWidersacher Bemba ist aber keineswegs ausgestanden, und imOsten des Landes ist die Lage nach wie vor unsicher und ge-waltträchtig. Die Regierung Kabila muss zu einem entschlosse-nen Kampf gegen Korruption und zur Etablierung transparenterpolitischer, justizieller und ökonomischer Strukturen gedrängtund dabei unterstützt werden. Die illegale und unkontrollierteAusbeutung wertvoller Rohstoffe fördert Korruption und Patro-nage, nährt die Fortführung lokaler Gewaltkonflikte und bringtden Staat um Einnahmen, die er dringend benötigt, etwa zurEntlohnung der unterbezahlten und daher unzuverlässigen Si- Kriegs-

ökonomieeindämmen,Profiteurebelangen

cherheitskräfte. Doch greift es zu kurz, nur die Kriegsökonomieim Kongo anzuprangern. Solange westliche Unternehmen pro-blemlos und ungestraft vom illegalen Bergbau im Kongo profi-tieren, bleiben Forderungen nach Good Governance und letzt-lich auch Bundeswehreinsätze zur Wahlbeobachtung im Sym-bolischen stecken.

Horn von Afrika

Trotz Hunderttausenden von Flüchtlingen und Tausenden vonToten wurden die Konflikte am Horn von Afrika hierzulande im Wind-

schattenderAufmerk-samkeit

ebenso wenig wahrgenommen wie der dortige Einsatz der Deut-schen Marine seit 2001. Nach der gescheiterten UN-Mission inSomalia blieb das Land nach 1995 weitgehend sich selbst über-lassen; frühzeitige konstruktive Einflussnahme und Unterstüt-zung moderater Kräfte – eine Präventionspolitik also – wurdeversäumt. Äthiopien übernahm es, von den USA unterstützt, mitmassivem Druck und militärischem Eingreifen eine Übergangs-regierung zu etablieren, die von ihm abhängig ist und kaumRückhalt in der Bevölkerung hat. Die Schwäche dieser Über-gangsregierung stärkte die oppositionelle Union islamischer Ge-richte (UIC). Obschon sie auch gemäßigte, kooperationsberei-te Gruppierungen umfasst, wurde die Organisation leichtfer-tig über den undifferenzierten Kamm des Islamismus gescho-ren, dem erweiterten Umfeld von al-Qaida zugerechnet und inden „Kampf gegen den internationalen Terrorismus“ einbezo-

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DIE HERAUSGEBER

gen. Statt eine Verständigung der politischen Kräfte in Soma-lia zu fördern, leistete diese Politik des Westens, allen vorander USA, der Polarisierung und Gewalteskalation Vorschub undVermittlung

in Somalia verschlechterte die Voraussetzungen für konstruktive Verhand-lungen. Umso konsequenter muss sich die Staatengemeinschaftin Somalia und in der ganzen Region um Vermittlung bemühen.Ohne die Bildung einer repräsentativen und starken Regierungund ohne die Etablierung verlässlicher staatlich-administrativerStrukturen wird es weder eine Befriedung in Somalia geben,noch sich der Konflikt mit Äthiopien lösen lassen. Und ohne einGesamt-

konzept fürBefriedungerforderlich

weiterreichendes Konzept und rasche Umsetzungserfolge wirdauch die afrikanische Friedenstruppe AMISOM (African UnionMission in Somalia) in Somalia keinen Frieden schaffen können.Statt das gesamte Land des Terrorismus zu verdächtigen, gilt es,gemäßigte religiöse Kräfte zu unterstützen, beispielsweise die inder UIC stark vertretenen Clangruppen der Hawiye. HumanitäreHilfe muss mit der Unterbindung von Waffenlieferungen ein-hergehen. In der „Somalia-Kontaktgruppe“ sind alle wichtigeninternationalen Akteure vereint. Deutschland könnte hier dankseiner guten Beziehungen zu den Staaten am Horn von Afrikaeinen fruchtbaren Beitrag leisten.

Allzu lange hat sich der Westen wenig um das nachkolonialeAfrika geschert. Seit sich dort das vom Rohstoffhunger getrie-bene China einmischt, beginnt sich das zu ändern. Auf dem ver-gessenen Kontinent finden sich nicht nur zahlreiche failed states,sondern auch viele mit Gewalt ausgetragene Konflikte. Es istdeshalb abzusehen, dass mit weiteren Anfragen von UNO undKriterien

für „Armeeim Einsatz“

EU zu rechnen ist, sich an Friedensmissionen zu beteiligen. Diedeutsche Politik muss sich genau überlegen, ob, wie und wozues die „Armee im Einsatz“ nach Afrika schicken will. Die skiz-zierten Kriterien dürften hier schon bald auf die Probe gestelltwerden.

Bruno SchochAndreas Heinemann-GrüderJochen HipplerMarkus WeingardtReinhard Mutz

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Einzelanalysen

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Zusammenfassungen der Einzelbeiträge1.1. Der Funktions- und Legitimationswandel der Bundeswehr und

das „freundliche Desinteresse“ der Bundesbürger (Anna Geis)Die deutsche Sicherheitspolitik hat seit der Wiedervereinigung einen fundamenta-len Wandel vollzogen. Die Beteiligung Deutschlands an internationalen Militärein-sätzen wurde schrittweise ausgedehnt und die Bundeswehr parallel dazu von derLandesverteidigungs- in eine Interventionsarmee umgebaut. Dieser Politikwandel er-zeugte jedoch bisher keine große sicherheitspolitische Debatte. Die Bürgerinnen undBürger verfolgen ihn nicht einmal sonderlich aufmerksam, vielmehr muss ihnen eineArt wohlwollendes Desinteresse unterstellt werden. Diese den Einsatzrealitäten nach-hinkende Bewusstseinsbildung begünstigt eine Politik, welche die Entscheidungs-grundlagen für Militäreinsätze stärker an Bündnisinteressen und internationale Macht-ansprüche bindet als an die jeweils neu zu stellende Frage, wie viel Militär heute „be-nötigt“ wird und was genau dieses in internationalen Krisen zu leisten imstande ist.

1.2. Frieden durch Intervention? Eine kritisch-kursorische Bilanz(Reinhard Mutz)

Die Namen Irak, Bosnien, Somalia, Kosovo, Afghanistan und noch einmal Irak ste-hen exemplarisch für die seit dem Ende der Ost-West-Konfrontation anhaltende Aus-einandersetzung um das Für und Wider militärischen Eingreifens in zwischen- oderinnerstaatliche Konflikte. Zugleich vermittelten sie der deutschen Diskussion überden Funktions- und Auftragswandel der Bundeswehr wesentliche Impulse. WelcheWirkungen haben die Interventionen gezeitigt? Ergeben sich generalisierbare Folge-rungen? Trotz partieller Erfolge, z.B. die Revision gewaltsamer Landnahme oder dieMilderung humanitärer Notlagen, fallen die Resultate an der friedenspolitischen Ellegemessen ernüchternd aus: In drei der betrachteten Länder herrscht Krieg oder Bür-gerkrieg, aus zwei Territorien wurden langwährende Protektorate. Von einem stabilenFrieden sind alle fünf weit entfernt.

1.3. Der deutsche Beitrag zum Wiederaufbau Afghanistans seit 2001:Bundeswehreinsatz und ziviles Engagement (Rainer Glassnerund Conrad Schetter)

Aufgrund der schlechten Sicherheitslage droht der Wiederaufbau Afghanistans zuscheitern. Das deutsche Engagement hat eine militärische und eine zivile Kompo-nente. Der Bundeswehreinsatz in Afghanistan ist zunehmend umstritten: Während dieöffentliche Zustimmung dafür hierzulande abnimmt, fordern die NATO-Partner, dieBundeswehr müsse sich an den Kämpfen im Süden beteiligen. Der von Deutschlandgeleitete Polizeiaufbau geriet in die Kritik, da er hinter den Erwartungen zurückblieb;massive Investitionen der USA haben Deutschland zum Zaungast degradiert. Auchzwangen politische und militärische Überlegungen dazu, die regionale und themati-sche Schwerpunktsetzung der Entwicklungszusammenarbeit mehrfach zu verändern.Das alles trägt dazu bei, dass die proaktive Rolle, die Deutschland anfangs beim Wie-deraufbau Afghanistans spielte, zunehmend einer reaktiven Politik weicht.

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ZUSAMMENFASSUNGEN

1.4. Sind militärische Interventionen ihr Geld wert? ZurNotwendigkeit und Problematik begleitender Kosten-und Nutzenanalysen (Michael Brzoska)

Militärische Auslandseinsätze sind teuer. Ist das Geld gut investiert? Wie viel Aus-landseinsätze kosten, ist schwierig abzuschätzen; genaue offizielle Zahlen gibt es nurin Ausnahmefällen. Unterschiedliche Verfahren der Kostenberechnung sind denkbarund könnten wichtige Einsichten liefern. Die Frage nach den Nutzen wird selten an-ders als nach weit gefassten politischen Maßstäben beantwortet. So wichtig diese sind– auch für die Entsendung von Soldaten sollten exakte Erfolgskontrollen durchgeführtwerden, wie sie etwa im Bereich der Entwicklungspolitik selbstverständlich sind. Eswird immer schwierig sein zu beurteilen, ob militärische Missionen für Frieden undStabilität generell die finanziellen Aufwendungen lohnen. Deshalb sollten Kostenkal-kulationen und Nutzenschätzungen in die Entscheidung über Auslandseinsätze einbe-zogen werden, ohne sie zu dominieren.

1.5. Das Ende der nuklearen Teilhabe? Für NATO-Kernwaffenschwindet der Rückhalt (Oliver Meier)

Als Relikt des Kalten Krieges lagern noch immer rund 480 amerikanische Atomwaf-fen in sechs europäischen Ländern. Im Rahmen der nuklearen Teilhabe könnten Pilo-ten aus fünf NATO-Nichtkernwaffenstaaten, darunter Deutschland, im Ernstfall US-Kernwaffen einsetzen. Der Druck auf die NATO wächst, ihre Nuklearwaffendoktrinund -politik zu ändern. Die anstehende Überarbeitung der NATO-Strategie, drängen-de Entscheidungen über die Beschaffung neuer Trägersysteme sowie mangelnde Fort-schritte bei der Kontrolle taktischer Atomwaffen lassen eine Anpassung der Atomwaf-fenpolitik der Allianz wahrscheinlicher werden. Der Abzug amerikanischer Kernwaf-fen aus Europa und die Denuklearisierung der NATO-Strategie wäre die angemesseneEntscheidung und ein Beitrag zur Stärkung des nuklearen Nichtverbreitungsregimes.In Deutschland gibt es hierfür bereits eine breite politische Mehrheit.

1.6. Weltbürger in Uniform oder dienstbare Kämpfer? Konsequenzendes Auftragswandels für das Soldatenbild der Bundeswehr(Sabine Mannitz)

Die Transformation der Bundeswehr zur Einsatzarmee wirft Fragen nach der Legi-timation und den Kriterien der Einsatzentscheidungen auf. Die neuartigen Militär-einsätze haben zudem Konsequenzen für das Rollenverständnis der Soldaten und dieFührungsphilosophie der Bundeswehr. In Abgrenzung von der Vorstellung des unpoli-tischen Soldaten hat die Bundesrepublik versucht, mit dem Leitbild vom Staatsbürgerin Uniform, der den Normen der Inneren Führung unterworfen ist, die Streitkräfte andemokratische Grundsätze und eine defensive Sicherheitspolitik zu binden. Die zu-nehmende Beteiligung an internationalen Kriseneinsätzen bringt jedoch dieses Kon-zept der zivilen Einhegung des Militärischen unter Druck. Der damit einhergehendeWandel des Soldatenbildes könnte darauf hinauslaufen, die einst ambitionierten An-sprüche einer von demokratischen Werten durchdrungenen Armee zu suspendieren.

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ZUSAMMENFASSUNGEN

1.7. Bedingungen, Kriterien und Grenzen militärischer Interventionen(Jochen Hippler)

Einsätze der Bundeswehr in aller Welt haben rapide zugenommen, mit ständig wech-selnden Begründungen. Das weckt Skepsis quer durch die politischen Parteien. Kri-tiker monieren die personelle Überforderung der Truppe und die Haushaltsbelastung,zudem drängen sie auf klare Einsatzkriterien. Zu dem erforderlichen Kriterienkataloggehören nicht nur Übereinstimmung mit dem Völkerrecht und Multilateralismus, son-dern auch operationalisierbare Ziele für jeden Einsatz und ein politisches Gesamtkon-zept, dem die militärischen Instrumente dienend untergeordnet sind. Es muss auswei-sen, auf welche Sektoren der Gesellschaft sich der Wiederaufbau staatlicher Struktu-ren als Kern des Nation-Building stützt. Notwendig sind zudem ein belastbarer innen-politischer Konsens, eine durchdachte Exit-Strategie und die regelmäßige Evaluierungdurch unabhängige Gutachter.

1.8. Konfliktprävention – eine Alternative zu Militäreinsätzen?(Andreas Heinemann-Grüder)

Prävention beinhaltet die Erwartung, dass durch rechtzeitiges Eingreifen Handlungs-anreize von Gewaltakteuren transformiert bzw. gewaltsames Konfliktverhalten be-straft, Menschenleben geschont und hohe Kosten einer späteren Militärinterventionund des Wiederaufbaus vermieden werden könnten. Prävention ist als eine Form kol-lektiven Handelns extrem voraussetzungsreich; sie erfordert u.a. eine gemeinsameWahrnehmung von Risiken und Konflikten, grenzüberschreitende Zusammenarbeitsowie die Bereitschaft zur frühzeitigen und zugleich dauerhaften Bereitstellung vonRessourcen für Konfliktprävention. Um den Präventionsbegriff nicht zu entleeren,sollte er auf die Vorbeugung bzw. Eindämmung massiver und organisierter zwischen-und innerstaatlicher Gewalt fokussiert werden, wobei glaubwürdige Eindämmungauch völkerrechtlich mandatierte Militärinterventionen einschließen kann.

1.9. Wider die Aufrüstungs-Globalisierung: Plädoyer für einenachhaltige Abrüstungsinitiative (Harald Müller)

Rüstungskontrolle und Abrüstung stabilisieren die zwischenstaatlichen Beziehungenund dienen der Kriegsverhütung. Beides ist in der gegenwärtigen Phase des inter-nationalen Machtübergangs von großer Dringlichkeit. Umso fataler ist es, dass in denletzten Jahren die bestehenden rüstungskontrollpolitischenAbkommen unter dem Vor-wand, sie verkörperten ein Relikt des Kalten Krieges, Stück um Stück demontiert wur-den. Die Hauptverantwortung dafür trägt die Regierung Bush. Am gefährlichsten istdabei die Erosion des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages. Sie gründet nicht nur inden Vertragsverstößen Nordkoreas und Irans, sondern ebenso in der Weigerung derAtommächte, ihren Abrüstungsverpflichtungen nachzukommen. Stattdessen sind wirin die erste Phase eines neuen Rüstungswettlaufs eingetreten. Es bedarf energischerAnstrengungen, dieser riskanten Entwicklung entgegenzuwirken.

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ZUSAMMENFASSUNGEN

2.1. Der Libanon zwischen Krieg und Dauerkrise (Jan Hanrath)

Der Krieg Israels gegen die Hisbollah im Sommer 2006 führte zu beträchtlichen Zer-störungen der Infrastruktur und zu Flüchtlingsströmen im Libanon und verdeutlichteden Einfluss regionaler Konfliktfaktoren. Darüber hinaus trug er zu einer Eskalationder innenpolitischen Krise bei. Spätestens seit der Ermordung des ehemaligen Minis-terpräsidenten Hariri hatte sich eine Spaltung entlang konfessioneller Linien in einprowestliches und ein prosyrisches Lager vertieft. Besonders deutlich wird dies anden Positionen zur Errichtung eines internationalen Tribunals zur Klärung des Hariri-Mordes. Während die Regierung Siniora weiterhin vom Westen unterstützt wird, neh-men die Proteste der Opposition zu, die eine Neuverteilung der Macht fordern. Diesteigenden Spannungen nähren die Befürchtung, dass der Libanon in alte Muster in-terkonfessioneller Gewalt zurückfallen könnte.

2.2. Irans revolutionäre Außenpolitik: Realität oder Rhetorik?Verschiebungen in der inneren Machtbalance (Semiramis Akbari)

Der politische Druck auf die Islamische Republik Iran hat seit dem Wahlsieg MahmudAhmadinejads im Juni 2005 enorm zugenommen. Die US-Regierung hat die militä-rische Drohkulisse verstärkt, Nachbarstaaten und der Westen nehmen Irans Nuklear-ambitionen als Bedrohung für den internationalen Frieden wahr. Ahmadinejads Dro-hungen gegenüber Israel haben die westliche Haltung im Atomstreit verhärtet. Derschiitische Gottesstaat präsentiert sich als selbstbewusster Akteur im Mittleren Os-ten, seine regionalen Machtansprüche sind Washington ein Dorn im Auge. Die Bush-Administration wirft der iranischen Führungselite vor, radikal-schiitische Milizen zuunterstützen. Die veränderte Außenpolitik ist eine Folge innenpolitischer Machtverän-derungen in Iran. Gerade sie deuten aber auch darauf hin, dass für eine diplomatischeLösung der Konflikte mit Teheran durchaus noch Chancen bestehen.

2.3. Im Schatten des Irakkrieges: Saudi-Arabien zwischeninnenpolitischer Unsicherheit und schwierigen Nachbarn(Guido Steinberg)

Der Sturz Saddam Husseins hat das mühsam aufrechterhaltene Kräftegleichgewichtin der Golfregion zerstört. Saudi-Arabiens mächtigster Konkurrent, Iran, ist seit demIrakkrieg gestärkt und erhebt offen den Anspruch auf eine regionale Führungsrolle.Um sich vor Iran zu schützen, baut Riad vor allem auf sein Bündnis mit den USA.Gleichzeitig haben der Bürgerkrieg im Irak und die seit 2005 immer offenere irani-sche Einflussnahme auf die irakische Politik Riad veranlasst, seine regionalpolitischeZurückhaltung aufzugeben. Gemeinsam mit Ägypten und Jordanien versucht es, IransEinfluss in den palästinensischen Gebieten, im Libanon und im Irak einzudämmen.Eine neue Konfliktlinie zwischen einem iranisch dominierten Block (Iran, Syrien undHisbollah) auf der einen und einem Bündnis proamerikanischer Staaten unter der Füh-rung Saudi-Arabiens auf der anderen Seite könnte sich künftig verfestigen.

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ZUSAMMENFASSUNGEN

2.4. Kein Bürgerkrieg in Palästina: Chance zum Neueinstieg in denFriedensprozess (Margret Johannsen)

Diplomatisch isoliert und finanziell stranguliert gelang es der seit März 2006 regie-renden Hamas nicht, für Ordnung und Sicherheit in den palästinensischen Gebietenzu sorgen. Stattdessen trieben bewaffnete Auseinandersetzungen die Palästinenser anden Rand eines Bürgerkrieges. Der Westen trug dazu bei, indem er sich dem israeli-schen Boykott der palästinensischen Regierung anschloss und diejenigen in der Fatah-Bewegung, die sich mit der Wahlniederlage ihrer „Staatspartei“ nicht abfinden konn-ten, ermutigte, auf ein Scheitern der gewählten Regierung zu setzen. Mit der Bildungeiner Regierung der nationalen Einheit im März 2007 eröffnet sich die Möglichkeit,dass die Sanktionen schrittweise aufgehoben werden, die Palästinenser ihr Haus inOrdnung bringen und Israel sich einem politikfähigen Partner gegenübersieht, dem esVerhandlungen nicht länger verweigern kann.

2.5. Eine Wende in der US-Irakpolitik? Die „neue Strategie“ derBush-Administration (Jochen Hippler)

Der demonstrative Optimismus der Bush-Administration in der Irakpolitik weichtlangsam dem Versuch der Schadensbegrenzung. Die Glaubwürdigkeit des Präsiden-ten ist angeschlagen. Der Irakkrieg hat eine stabile Diktatur in einen failing state mitinternen Gewaltkonflikten verwandelt. Der US-Regierung ist schrittweise bewusst ge-worden, dass sie über keine Erfolg versprechende Lösung verfügt. Alle derzeit dis-kutierten Optionen, Truppenabzug oder -verstärkung, regionale Zusammenarbeit oderTeilung des Irak versprechen keine Befriedung. Die „neue Strategie“ besteht im Grun-de nur aus zusätzlichen Soldaten, um die Truppen in Bagdad zu verstärken. Inkompe-tenz, ideologische Scheuklappen und militärische Arroganz haben die USA im Irak ineine paradoxe Situation gebracht: Sie sind der mächtigste Akteur, aber zu gestaltenderPolitik nicht mehr in der Lage.

3.1. Regionale Vernetzung und rivalisierende Mächte imasiatisch-pazifischen Raum (Hans-Joachim Giessmann)

Ist multilaterale Regimebildung zu gegenseitigem Vorteil möglich, wenn regionaleMächte um die Vorherrschaft streiten? Nirgendwo sonst stellt sich diese Frage sobrennend wie in Ostasien, da hier die USA, China, Japan und – mit Einschränkun-gen – Russland miteinander um Einfluss konkurrieren und lange Zeit die Aussichtauf eine regionale Sicherheitsordnung skeptisch beurteilt werden musste. Die Staatender ASEAN-Gruppe haben jedoch seit einiger Zeit ihre frühere außen- und sicher-heitspolitische Passivität aufgegeben, die Initiative zur Regimebildung im asiatisch-pazifischen Raum übernommen und dadurch die großen Mächte vor die Wahl gestellt,entweder Teil dieser Kooperation zu werden oder Gefahr zu laufen, sich selbst zu iso-lieren. Mit der Hegemonie der „Schwachen“ bieten sich erstmals reale Chancen fürdie Schaffung einer Sicherheitsgemeinschaft in Ostasien.

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ZUSAMMENFASSUNGEN

3.2. Nuklear- und Rüstungspolitik wichtiger Akteure im asiatisch-pazifischen Raum (Hans-Joachim Schmidt und Niklas Schörnig)

Asien hat sich zu einem Hot Spot hoher Wachstumsraten im Rüstungsbereich entwi-ckelt, was mancherlei Ängste weckt. Genauer besehen zeigen die Rüstungsdynamikenin Asien indes, dass sie keiner einheitlichen Logik folgen. Für das Rüstungsverhaltenzentraler Akteure in Nordostasien, Süd- und Südostasien sind ganz unterschiedlicheFaktoren ausschlaggebend. Während besonders in Nordost- und Südasien überregio-nale Faktoren wie die Auseinandersetzung mit der aufstrebenden Macht China einewichtige Rolle spielen, sind die treibenden Kräfte in Südostasien regionaler oder garinnenpolitischer Natur. So ist nicht selten das Streben nach modernen Waffen vonPrestigegründen motiviert. Aus friedenspolitischer Sicht sind die Entwicklungen alsunterschiedlich problematisch zu werten, doch sind die Möglichkeiten europäischerBeeinflussung begrenzt.

3.3. Der Wirtschaftsboom in China und Indien: Das Konfliktpotenzialder Umweltfolgen (Volker Teichert und Stefan Wilhelmy)

Das anhaltende Wirtschaftswachstum in China und Indien verändert die internatio-nale Machtkonstellation grundlegend. Die Strategie nachholender Entwicklung führtzudem in beiden Ländern zu gravierenden Umweltschäden, die erhebliche interneKonfliktpotenziale zur Folge haben. International ergeben sich Konflikte aus der zu-nehmenden Konkurrenz um die globale Umwelt- und Ressourcennutzung. Besondersbeim Ausstoß von Treibhausgasen muss in den nächsten ein bis zwei Jahrzehnten eineglobale Trendumkehr erreicht werden, um die schlimmsten Folgen des Klimawandelszu vermeiden, die hauptsächlich die ärmeren Länder in Asien, Afrika und Lateiname-rika treffen werden. Ambitionierte Emissionsreduktionen der Industrieländer sind dieVoraussetzung dafür, dass auch für Schwellen- und Entwicklungsländer schrittweiseund differenzierte Reduktionen durchgesetzt werden können.

3.4. Chinas Aufstieg und die Veränderung der globalenMachtverhältnisse – Europa als Zuschauer oder Akteur?(Matthias Dembinski und Bruno Schoch)

Chinas Aufstieg verheißt im Westen Chancen, erscheint aber auch bedrohlich. Andersals die USA, die Chinas Integration in die internationalen Institutionen mit militä-rischer Rückversicherung kombinieren, setzt die EU ganz auf die Chancen. Sie be-zeichnet China als „strategischen Partner“ für eine multilaterale Weltordnung. Zwarsind militärische Risiken nicht auszuschließen, doch überrascht, wie erfolgreich Chi-na neuerdings Soft Power einsetzt und sich für internationale Kooperation engagiert.Ohne eigene sicherheitspolitische Ambitionen in Asien bleibt die EU dort auf ihreBündnismacht angewiesen und muss auf deren Sicherheitsbedürfnisse Rücksicht neh-men. Gleichwohl sollte sie die chinesische Führung an deren eigenem Maßstab vom„friedlichen Aufstieg“ messen und in manchen Fragen (Waffenembargo, Dialog, Rüs-tungskontrolle, Menschenrechte, Taiwan) mehr eigenes Profil entwickeln.

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ZUSAMMENFASSUNGEN

4.1. Konflikte im Sudan – Ursachen und Prognose (MichaelAshkenazi und Susan Hough)

Seit seiner Unabhängigkeit im Jahre 1956 leidet der Sudan fast ununterbrochen aninneren Konflikten. Von 1983 bis 2005 befand sich der Südsudan im Bürgerkrieg undseit 2003 ist Darfur zur Arena einer gewaltsamen Rebellion gegen die arabisch domi-nierte Regierung in Khartoum geworden. In seiner gegenwärtigen Gestalt erfüllt derSudan kaum elementare Staatsfunktionen. Er zeigt die traurigen Folgen von religiösaufgeladenen Gruppenkonflikten. Zudem sind Nachbarstaaten wie der Tschad, Äthio-pien und Uganda direkt und indirekt in das Konfliktgeschehen einbezogen. Darüberhinaus ist der Sudan ein Beispiel für das weitgehende Unvermögen internationalerOrganisationen, darunter der Afrikanischen Union, den Vereinten Nationen, aber auchder EU und der NATO, der Konflikteskalation Einhalt zu gebieten.

4.2. Die Herausforderungen im Kongo beginnen erst (Willem Jaspers)

Am 16.Dezember 2006 wurde Joseph Kabila als demokratisch gewählter Präsidentder Demokratischen Republik Kongo (DRK) eingesetzt. Dies war ohne Zweifel dervorläufige Höhepunkt eines Übergangsprozesses, der im Dezember 2002 begonnenhatte. Um die Wahlen herum gab es viel Aufmerksamkeit für den Kongo, insbesonderefür die Entsendung von 2.000 europäischen Soldaten – überwiegend aus Deutschlandund Frankreich – als Teil der EUFOR-Mission. Das internationale Interesse an derDRK hat mittlerweile wieder abgenommen, obwohl der eigentliche Übergangspro-zess erst jetzt beginnt. Drei Probleme könnten ihn destabilisieren und erneut Gewalthervorrufen: Der erbärmliche Zustand der Armee, die höchst unzureichende Reformdes Sicherheitssektors sowie der dringende Reformbedarf im Bergbau als einzigemwirtschaftlichen Sektor mit einem auf mittlere Sicht enormen Entwicklungspotenzial.

4.3. Gewaltkonflikte und Friedensmöglichkeiten am Horn von Afrika(Volker Matthies)

Das Horn von Afrika gilt als eine der kriegsträchtigsten Regionen der Weltpolitik.Die Länder Äthiopien, Eritrea, Dschibuti und Somalia leiden unter zwischen- und in-nerstaatlichen Konflikten. Der Machtzuwachs islamischer Gruppen in Somalia lenktdie Aufmerksamkeit des Westens auf die unsichere Lage dieses Landes. Besonders inden Vereinigten Staaten kam die Angst vor der „Talibanisierung“ Somalias und einem„zweiten Afghanistan“ am Horn von Afrika auf. Externe Friedensbemühungen schei-terten an den Interessengegensätzen in Somalia und an der gesellschaftlichen Machtder Union of Islamic Courts. Zwar vertrieb Äthiopien mit einer MilitärinterventionEnde 2006 die islamistischen Milizen aus Mogadischu, doch gelang keine anhaltendeStabilisierung in Zentral- und Südsomalia. Ansätze und Möglichkeiten internationalerund innerer Konfliktbearbeitung müssen besser genutzt werden.

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Kapitel 1:

Militäreinsätze auf dem Prüfstand

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1.1. Der Funktions- und Legitimationswandel derBundeswehr und das „freundliche Desinteresse“der Bundesbürger

Anna Geis

Das Fehlen der breiten sicherheitspolitischen Debatte

Im Kernbereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik hat das wiederver-einigte Deutschland einen tief greifenden Wandel vollzogen. Die wegen ihrerNS-Vergangenheit einst militärisch zurückhaltende alte Bundesrepublik, derenBevölkerung häufig ein anti-militaristischer Grundkonsens bescheinigt wurde,gehört heute zu den größten Truppenstellern der UNO. Parallel zu einer stei-genden Interventionstätigkeit wird die Bundeswehr zu einer „Armee im Ein-satz“ umstrukturiert. Größere öffentliche Erregung über diesen bedeutsamenPolitikwandel ist indes nicht zu verzeichnen. So hat auch BundespräsidentHorst Köhler 2005 in einer bemerkenswerten Rede zum 50-jährigen Beste-hen der Bundeswehr das „freundliche Desinteresse“ der Bundesbürger/innengegenüber ihren Streitkräften beklagt. Er forderte seinerzeit eine breite ge-sellschaftliche Debatte über die Außen-, Sicherheits- und VerteidigungspolitikDeutschlands insgesamt. „Die Bundeswehr hat mit ihren Auslandseinsätzen inkurzer Zeit eine sehr weite Strecke zurückgelegt; aber ist das öffentliche Be-wusstsein hinterhergekommen? Ich habe da meine Zweifel. Mich macht nach-denklich: Die Bundeswehr wird von einer Selbstverteidigungsarmee umgebautzu – was eigentlich? Einer Armee im Einsatz? Einer Interventionsarmee? DerDeutsche Bundestag stimmt mehr als vierzig Mal dem Einsatz bewaffneterStreitkräfte im Ausland zu; aber die Deutschen wirken von all dem kaum be-rührt oder gar beeindruckt.“1

Das Fehlen einer breiten öffentlichen Diskussion über die Einsätze, dieRolle und die Zukunft der Bundeswehr wird im zweiten Jahrzehnt nach derWiedervereinigung auch von Fachpolitikern, Wissenschaftlern und Journa-listen vielfach moniert. Die einzelnen Motive, warum eine solche Debatteeingeklagt wird, mögen unterschiedlich sein, langfristiges Ziel einer solchenSelbstverständigung sollte jedoch eine klarere Orientierung über die Zukunftder Auslandseinsätze sein. Denn insbesondere im Vorfeld der Kongo-Mission2006 entstand in der deutschen Öffentlichkeit der Eindruck, die Bundesregie-

1 Rede von Bundespräsident Köhler bei der Kommandeurtagung der Bundeswehr in Bonn am10.10.2005.

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rung stolpere regelrecht von einem Einsatz in den nächsten, ohne die tatsächli-che Notwendigkeit einer deutschen Beteiligung jeweils hinreichend zu prüfen.

Das Aufgabenspektrum der Armee hat sich seit 1990 von der Landesvertei-digung zu weltweiten Einsätzen der Friedenssicherung und Krisenpräventionverschoben. Dieser Funktionswandel ist insofern mit einem Legitimationswan-del verknüpft, als sich auch das Spektrum der politischen Begründungsmusterfür die Einsätze erweiterte. Standen bei den ersten Auslandseinsätzen vorwie-gend humanitäre Aspekte im Vordergrund, so traten mit dem Afghanistan-Einsatz Terrorbekämpfung und Durchsetzung von internationaler Sicherheitund Stabilität hinzu. Schließlich brachte Verteidigungsminister Franz JosefJung den ebenso klassischen wie zunächst inhaltsleeren Begriff von Deutsch-lands Interessen wieder ins Gespräch, der kurz nach der Wiedervereinigungbereits die außenpolitische Fachdebatte umgetrieben hatte und in den Verteidi-gungspolitischen Richtlinien von 1992 und im Weißbuch von 1994 eine Rollespielte (vgl. Friedensgutachten 1998, Beitrag 4.1.). Angesichts der zunehmen-den Kritik an der wachsenden Beteiligung Deutschlands an internationalen Mi-litäreinsätzen verkündete Jung im Frühjahr 2006, dass die Bundesregierungjeweils genau überprüfen solle, ob eine Beteiligung an einem international an-visierten Militäreinsatz im Interesse Deutschlands liege. Das neue Weißbuchals Standortbestimmung der deutschen Sicherheitspolitik sollte in dieser Fra-ge nicht nur mehr Klarheit schaffen, sondern auch die innerstaatliche Debatteanstoßen.

Kaum hatte Jung dies verlautbart, geriet die Weißbuch-Debatte aufgrunddes Kongo-Einsatzes und des Libanon-Einsatzes der Bundeswehr wieder inden Hintergrund. Bezüglich des Kongo gab es zahlreiche kritische Stimmenaus den Parteien und der Bundeswehr selbst wegen der möglichen Risikendieses Einsatzes in Afrika; zudem sprachen sich die Bundesbürger/innen inUmfragen mehrheitlich gegen eine deutsche Beteiligung aus. Hinsichtlich desLibanon wurde erörtert, ob historisch begründete Sensibilität nicht verbiete,deutsche Soldaten in unmittelbarer Nähe zu Israel einzusetzen. Da die israeli-sche Regierung jedoch selbst um die Unterstützung der Bundeswehr gebetenhatte, ebbte der Streit darüber schnell ab. Dennoch konstatierten Zeitungskom-mentare vielfach, dass eine solche deutsche Beteiligung in diesem Gebiet vorJahren noch undenkbar gewesen sei. Fast schon verwundert wurde registriert,wie in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren der Einsatz deutscher Soldatin-nen und Soldaten Schritt für Schritt in immer neue faktische wie symbolischeDimensionen vorstößt.

Letztlich war es aber weder der Kongo- noch der Libanon-Einsatz, derseit Herbst 2006 im öffentlichen Blickpunkt stand, sondern der seit Jahren

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andauernde Afghanistan-Einsatz. Just an dem Tag, als das Kabinett das neueWeißbuch verabschiedet hatte und dieses in einer Pressekonferenz prominentpräsentiert werden sollte (am 25. Oktober 2006), kamen die „Skandal-Fotos“von deutschen Soldaten, die in Afghanistan mit Totenschädeln posierten, indie Presse. Über die tagelange, letztlich jedoch nur kurzfristige Erregung überdiese Fotos geriet das Weißbuch nahezu in Vergessenheit.

Dieser Beitrag reflektiert vor dem Hintergrund einer erhöhten Interventi-onstätigkeit Deutschlands die Gründe für den Funktions- und Legitimations-wandel der Bundeswehr und fragt nach den Ursachen des beklagten Desinter-esses der Bürger/innen.

Funktionswandel: Die Bundeswehr als Armee imweltweiten Einsatz

Der Bundestag hat bis heute weit mehr als fünfzig Mal Beschlüsse über Aus-landseinsätze der Bundeswehr gefasst; viele Entscheidungen davon betreffenallerdings Mandatsverlängerungen, die in der Regel für ein Jahr gewährt wer-den. Seit zwei Jahren werden diese Entscheidungen formell auf Basis einesParlamentsbeteiligungsgesetzes getroffen, da das Bundesverfassungsgericht1994 in seinem out-of-area-Urteil die Bundesregierung verpflichtet hatte, füreinen Einsatz bewaffneter Streitkräfte die vorherige konstitutive Zustimmungdes Bundestags einzuholen (Parlamentsvorbehalt). Die meisten der bisherigenAuslandseinsätze der Bundeswehr beruhten auf teils robusten Mandaten zurinnergesellschaftlichen Friedenssicherung und Stabilisierung; an Kampfein-sätzen im engeren Sinne hat sich die Bundeswehr mit Tornados im Kosovound mit Bodentruppen (Kommando Spezialkräfte, KSK) in Afghanistan betei-ligt.

Seit 1992 wurden mehr als 200.000 Soldatinnen und Soldaten ins Aus-land entsandt. Derzeit befinden sich rund 7.800 Personen auf drei Kontinenten,teils in UN-geführten Blauhelm-Missionen, teils in von der UNO mandatiertenEU- bzw. NATO-Einsätzen. Die größten Anteile der Bundeswehr-Kontingentesind derzeit in der ISAF (Afghanistan/Usbekistan; 2.990 Personen), in KFOR(Kosovo; 2.520 Personen), in UNIFIL (Libanon; 1.005 Personen), in EUFOR(Bosnien-Herzegowina; 940 Personen) und in der Operation Enduring Free-dom (Horn von Afrika; 265 Personen) eingesetzt. An den weiteren Missionenbeteiligt sich die Bundeswehr mit geringfügigen Kräften (Operation Active En-

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deavour Mittelmeer; UNMIS Sudan; UNOMIG Georgien; UNMEE Äthiopienund Eritrea; UNAMA Afghanistan). 2

Diese Auslandseinsätze sind nach Interpretation der Bundesverfassungs-richter grundgesetzkonform. Das Urteil von 1994 erlaubte Einsätze jenseitsdes NATO-Gebiets im Rahmen von kollektiven Sicherheitssystemen. Aus frie-denspolitischer Sicht ist kritisch daran zu erinnern, dass die Richter dazu nichtnur die UNO zählten, sondern seltsamerweise auch die NATO, obwohl diesedoch ein System kollektiver Verteidigung ist. Dies gab der Bundesregierungeinen erhöhten Spielraum bei der allmählichen Ausweitung der Einsatztätig-keit. Schritt für Schritt wurde in den 1990er Jahren die Öffentlichkeit an ei-ne Ausdehnung der Aufgaben der Bundeswehr gewöhnt. Es ist bemerkens-wert, dass ausgerechnet die rot-grüne Bundesregierung am meisten zu dieserEntwicklung beitrug: zwei Parteien, die in der jüngeren Vergangenheit allemMilitärischen doch mehr (Grünen) oder weniger (SPD) distanziert bis ableh-nend gegenüber standen. Der damalige Kanzler Gerhard Schröder sprach imOktober 2001 selbst von der „Enttabuisierung des Militärischen“, die eine dergroßen Erfolge seiner Regierungszeit darstelle.3 Die klare Ablehnung des Irak-Krieges 2003 durch die Bundesregierung steht dieser Entwicklung nicht unbe-dingt entgegen. Die Begründungen v.a. der USA für diesen Krieg wurden inDeutschland vielfach skeptisch gesehen, da die akute Bedrohung durch denIrak nicht zweifelsfrei belegt schien. Schröder bekannte sich seinerzeit in sei-nen Reden zur internationalen Verantwortung der Deutschen, wollte sich abernicht an einem „Abenteuer“ beteiligen.

Der hier skizzierte äußere Funktionswandel der Bundeswehr hat enormeFolgen auch für das Innere der Streitkräfte, d.h. für ihre Organisation undStruktur. Damit die Bundeswehr ihrem völlig neuen Aufgabenspektrum ge-recht werden kann, befindet sie sich seit Jahren in einem sogenannten Trans-formationsprozess. Gemäß der 2003 vorgestellten „Konzeption und Weiterent-wicklung der Bundeswehr“ wird das Militär eindeutig in Richtung Auslands-einsatzfähigkeit umstrukturiert. Bis 2010 soll sein Umfang auf rund 250.000Personen sinken und aus den drei Kategorien Eingreifkräfte (35.000 Personen),Stabilisierungskräfte (70.000 Personen) und Unterstützungskräfte (147.500Personen) bestehen. Entscheidend ist bei dem neuen internationalen Aufga-benspektrum, dass die Bundeswehr nur in enger Kooperation mit den Partner-staaten in EU und NATO agiert, was nicht nur die umfassende Modernisierung

2 www.bundeswehr.de > Einsätze > Einsatzzahlen (Stand 7.2.2007).3 Interview Bundeskanzler Schröder mit der ZEIT vom 18.10.2001. Siehe dazu auch Frie-

densgutachten 2002, Beitrag 2.5.

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der deutschen Streitkräfte erfordert, sondern auch die Harmonisierung mit de-nen der Partnerländer.

Die militärische Kooperation und Integration in EU und NATO haben sichim Lichte der Erfahrungen des Kosovo-Krieges und der Terroranschläge vom11. September 2001 erheblich fortentwickelt: So hat der Integrationsprozessim Bereich der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik inzwischeneine neue Qualität erreicht. Im Rahmen der im Dezember 1999 beschlossenenHeadline Goals sollen schnell verlegbare militärische Einsatzkräfte der EUgeschaffen werden, die jeweils lage- und auftragsabhängig zusammengestelltwerden. Der deutsche Beitrag zum Headline Goal setzt sich aus rund 30.000Soldaten, 90 Kampfflugzeugen und 15 Schiffen zusammen. Damit die EU inZukunft militärisch schneller und flexibler reagieren kann, hat sie 2004 zu-dem die Schaffung von 13 sogenannten Battle Groups beschlossen. Aber auchdie NATO hat sich 2002 auf die Schaffung einer Schnellen Eingreiftruppe ge-einigt, die 25.000 Soldatinnen und Soldaten umfasst (davon 6.600 Deutsche)und hauptsächlich für Kampfeinsätze und zur Terrorbekämpfung zur Verfü-gung stehen soll (vgl. Friedensgutachten 2006, Beitrag 5.3.).

Im Prinzip musste eine Umstrukturierung der auf Landesverteidigung ein-gestellten Streitkräfte schon kurz nach der Wiedervereinigung beginnen, danicht nur die Nationale Volksarmee abgewickelt, sondern gemäß Zwei-plus-Vier-Vertrag auch die Personalstärke der Bundeswehr stark reduziert werdenmusste. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992 und das Weißbuchvon 1994 begründeten bereits die Ausdehnung von Deutschlands Sicherheits-interessen und legten so den Grundstein für Veränderungen. Zwei Hauptaspek-te standen zu jener Zeit im Vordergrund: Führung/Kontrolle und Struktur derStreitkräfte. Seit Mitte der 1990er Jahre wurde die damalige Differenzierungund Umstrukturierung in Krisenreaktionskräfte, Hauptverteidigungskräfte unddie Militärische Grundorganisation vorangetrieben, seit 1996 zudem das Kom-mando Spezialkräfte aufgebaut. Im Zuge dessen wurde die Personalstärke derBundeswehr weiter verringert und die Wehrpflichtzeit verkürzt.

1998 kündigte die neu ins Amt gewählte rot-grüne Bundesregierung an,die Transformation der Bundeswehr „entschlossener“ anzugehen als die CDU-FDP-Regierung. Die Umstrukturierung sollte nach Auskunft von Verteidi-gungsminister Rudolf Scharping ein „neues Fähigkeitsprofil“ der Streitkräfteermöglichen, die durch Neuorientierung und Optimierung „bündnis- und eu-ropafähig“ werden sollten. Im Rahmen der letztlich sehr begrenzten Vorhabenvon Minister Scharping wurde als konstitutiver Auftrag der Bundeswehr nochimmer die Landesverteidigung genannt, zu der andere Aufgaben wie Konflikt-verhütung und Krisenbewältigung hinzutraten. Erst Verteidigungsminister Pe-

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ter Struck hat seit dem Jahr 2002 den Umbau der Streitkräfte zur „Armee imEinsatz“ tatsächlich intensiver betrieben. Als äußerer Impuls sind hier die Ter-roranschläge vom 11. September 2001 zu nennen, die den von den USA aus-gerufenen „Krieg gegen den Terror“ auslösten. Dieser beeinflusste nicht nurdie Sicherheitsstrategien von NATO und EU, sondern resultierte auch in neu-en Militäreinsätzen, wie jenem in Afghanistan. Die VerteidigungspolitischenRichtlinien vom Mai 2003 sind das Schlüsseldokument der Transformations-politik unter Struck. Sie räumten erstmals den „neuen Sicherheitsrisiken“, dienicht mehr in der Landesverteidigung gegen einen konventionellen Angriff be-stehen, Priorität ein. Gleichzeitig haben sie den Begriff der „Verteidigung“ biszur Unkenntlichkeit gedehnt, da eine Änderung des Grundgesetz-Artikels 87avon der Bundesregierung nicht beabsichtigt war und dieser Anschein von Kon-tinuität der „neuen Einsatzrealität“ der Bundeswehr größere Legitimität verlei-hen sollte.

Im Gegensatz zu der politischen Rhetorik einer tief greifenden Reformder Bundeswehr kritisieren viele – auch aus der Friedens- und Konfliktfor-schung –, dass der Umbau der Streitkräfte keineswegs weit genug gehe unddie Effizienzprobleme der Bundeswehr damit nicht gelöst würden (vgl. Frie-densgutachten 2005, Beitrag 3.5.). Zwischen den ambitionierten sicherheits-politischen Zielsetzungen der Bundesregierung und den dafür aufgewendetenMitteln im Verteidigungshaushalt (stagnierend bei etwa 1,5 Prozent des Brut-toinlandsproduktes) bestehe eine zu große Diskrepanz. Die Investitionsquotesei im Vergleich zu den Personalkosten zu gering und insgesamt die Bürokratiezu groß. Zudem sei die von den beiden Volksparteien mehrheitlich geforderteBeibehaltung der Wehrpflicht mit dem spezialisierten und professionalisiertenAnforderungsprofil der stark verkleinerten „Armee im Einsatz“ nicht mehr inÜbereinstimmung zu bringen.

Bezeichnenderweise beziehen sich viele öffentliche Äußerungen zur „Re-form“ der Bundeswehr v.a. auf Effizienz- und Effektivitätsfragen der Streit-kräfte, seltener dagegen auf deren demokratische Kontrolle oder zivile Einhe-gung. Diese einseitige Betonung bestimmter funktionaler Gesichtspunkte desMilitärs ist vermutlich nicht nur einem breiteren politisch-sozialen Reform-Zeitgeist der letzten Jahre geschuldet, der Leistung, Kostensenkung und Effizi-enz betont, sondern sie spiegelt auch den oben angesprochenen Gewöhnungs-effekt an Militäreinsätze. Überlegt wird eher, wie man die (NATO-)Truppeneinsatzfähiger macht, anstatt die Grundsatzfragen zu erörtern, wie viel Militärman heute benötigt und was dieses überhaupt leisten kann in den internationa-len Krisen unserer Gegenwart.

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Legitimationswandel: Gründe für die Ausdehnung derAuslandseinsätze

Wie lässt sich die skizzierte erhöhte militärische Interventionsbereitschaft deswiedervereinigten Deutschlands erklären? Eine Reihe gleichsam äußerer – dieauch andere Staaten betreffen – wie innerer Gründe sind im Folgenden zu nen-nen, wobei zwischen Ursachen und Legitimationsgründen zu unterscheidenist: Die öffentlich geltend gemachten Begründungen für Interventionen müs-sen nicht mit den Ursachen in eins fallen, vorgebrachte Legitimationen könnenvielmehr die wahren Ursachen verschleiern. Das eine vom anderen trennscharfzu scheiden ist bei weitem nicht so einfach, wie häufig unterstellt wird.

Zunächst ist festzuhalten, dass westlichen Staaten nach dem Ende des Kal-ten Krieges internationale Gewaltanwendung insgesamt weniger risikoreicherscheint, da sie hiermit keine globale Eskalationsgefahr mehr verknüpfen. InVerbindung mit Prozessen der Globalisierung begünstigte dies eine Entwick-lung, die neue Legitimationsgrundlagen für Interventionen schuf: die Erweite-rung des Sicherheitsverständnisses, wie es sich z.B. im strategischen Konzeptder NATO von 1999 niedergeschlagen hat. In der Zeit des Kalten Krieges be-zog sich Sicherheit primär auf den Schutz vor militärischen Angriffen auf daseigene Land. Heute wird nicht so sehr das Militär, sondern die Instabilität an-derer Länder als Quelle von Sicherheitsbedrohungen gesehen. Phänomene wieStaatszerfall, innerstaatliche Gewalt oder Terrorismus, die teils bereits vor demweltpolitischen Umbruch 1989/90 existierten, werden in einen neuen interpre-tatorischen Gesamtzusammenhang einer umfassenden Sicherheitsproblematikgestellt. Die Wahrnehmung von Problemen änderte sich allmählich, sodasswestliche Staaten zur Legitimation ihrer Interventionen auf einen entgrenz-ten Interessensbegriff rekurrierten: Die eigene Sicherheit stehe nun potenziellüberall auf der Welt auf dem Spiel. Durch erhöhte Medienbeobachtung undNGO-Aktivitäten werden den westlichen Öffentlichkeiten entsprechende Kri-sen ins Bewusstsein gerückt – wann und wo man jedoch interveniert, bleibtrelativ selektiv. Zu betonen ist aber, dass es die Weltdeutungen und die Hand-lungen (auch im Rahmen der UNO) der ressourcenreichsten OECD-Staatensind, die wesentlich für den Funktionswandel des Militärischen in der interna-tionalen Politik seit 1990 verantwortlich sind.

Dieser Funktionswandel wirkt sich auch auf das Bild des Krieges aus.Während der jüngste Irak-Krieg in der Öffentlichkeit als Krieg wahrgenom-men wurde, stimmen zahlreiche Einsätze von Militär international nicht mehrmit dem konventionellen Begriff und Bild von Krieg überein. Das medialvermittelte Bild des Krieges wandelt sich durch die Tatsache, dass Militär-

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und Polizeiaufgaben bei zahlreichen internationalen Missionen ineinander flie-ßen. Es gibt neuere Einsatzformen mit jeweils unterschiedlichen adminis-trativen, quasi-polizeilichen, infrastrukturellen und politischen Komponenten.Dass Soldaten auch internationale Polizeiaufgaben übernehmen und in denMedien häufig als freundliche Ordnungshüter dargestellt werden, kann bei derBevölkerung der Entsendestaaten auch größeres Verständnis für die Legitimi-tät des Engagements erzeugen. Wird aber eher die zivil-ordnungserhaltendeSeite der Einsätze wahrgenommen und nicht das Töten und Verletzen, drohenkriegerische Handlungen und auch die Gefahr für Leib und Leben von Solda-ten verharmlost zu werden (vgl. Beitrag 1.6.).

Während die genannten Gründe einen allgemeineren internationalenNormwandel im Hinblick auf Gewaltanwendung beschreiben, gibt es für diedeutsche Sicherheitspolitik zusätzlich spezifische Gründe für die „Enttabui-sierung des Militärischen“: Deutschlands Außenpolitik ist wesentlich von dermultilateralen Einbindung des Landes in EU, NATO und UNO geprägt. Hierbesteht im wiedervereinigten Deutschland eine große Kontinuität zur Selbst-einbindungspolitik der alten Bundesrepublik. Allerdings sah sich deutsche Au-ßenpolitik nach der Vereinigung neuen Erwartungen der Partner und Verbün-deten gegenüber. Der Status voller Souveränität bedeutete nicht nur Entschei-dungsfreiheit, sondern auch neue Entscheidungszwänge. Als einer der ökono-misch mächtigsten Staaten der Welt, zumal in geostrategisch wichtiger Lageinmitten des zusammenwachsenden Europas, sollte das souveräne Deutsch-land nunmehr seinen, über finanzielle Unterstützung hinausgehenden, Anteilfür die Bearbeitung von regionalen wie globalen Sicherheitsproblemen leis-ten. Daraus erwuchs das nicht mehr hinterfragte Argument deutscher Politi-ker, Deutschland müsse sich international als verlässlicher und verantwortli-cher Partner zeigen. Das heißt, es müsse zur Stärkung der UNO beitragen auchdurch militärische Unterstützung, und es müsse seinen Freunden und Partnernin EU und NATO seine Bündnissolidarität durch aktive Beteiligung an Mili-täraktionen erweisen.

Die tiefe Integration der Bundeswehr in multinationale Truppen bringt soauch eine gewisse Verpflichtung mit sich, an Einsätzen, die von Partnerstaatengewollt sind, schon aus bündnistaktischen Gründen teilzunehmen – auch wenndie Bundesbürger/innen die unmittelbare Betroffenheit des eigenen Landesnicht ganz einsehen (wie offenbar beim Kongo-Einsatz). Allerdings ist Bünd-nisverpflichtung noch nicht als Automatismus zu verstehen, wie die Ableh-nung des Irak-Kriegs durch die Bundesregierung zeigte. Wie Kanzler Schröderseinerzeit betonte, gebe es für jeden Einsatz eine hohe moralische und politi-

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sche Begründungspflicht. Daher habe man sich in der Vergangenheit sowohlfür als auch gegen einzelne Einsätze entschieden.4

An anderer Stelle begründete der Kanzler diese Entscheidungsfreiheit aberauch mit dem „normalen“ Recht eines souveränen Landes: Die Bundesregie-rung bestimme in eigener Verantwortung, was sie international zu leisten be-reit sei. Wer seine internationalen Pflichten so erfülle wie Deutschland, derhabe auch das Recht, Nein zu sagen, wenn er einen internationalen Einsatz fürnicht sinnvoll halte.5 Dies verweist auf eine andauernde Spannung zwischendem Wunsch der Bundesregierungen, Deutschland als ökonomisch und poli-tisch gewichtige Mittelmacht „souverän“ auftreten zu lassen, gleichzeitig aberden Schulterschluss mit den Partnern zu wollen. Trotz der offiziellen Rhetorikhaben sich die letzten Bundesregierungen mit Nein-Sagen eher schwer getan.Vielmehr haben sie ihr Selbstbewusstsein teilweise mit dem schnellen Anbie-ten eigener Truppen zum Ausdruck gebracht.

Die erhöhte Einsatzbereitschaft der Bundeswehr ist auch auf dieses ge-wachsene Selbstbewusstsein der Deutschen zurückzuführen. Durch Übernah-me militärischer Verantwortung im Rahmen internationaler Bündnisse, Insti-tutionen und Organisationen soll signalisiert werden, dass die einstige For-mel „ökonomischer Riese, politischer Zwerg“ nicht mehr dem Rollen- undInteressenverständnis des wiedervereinigten Deutschland entspricht. Dass dieBundesregierung nach wie vor (trotz der in den letzten Jahren gescheitertenReforminitiativen) nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat strebt, un-terstreicht diesen Machtanspruch. Hinter der oft zügigen Entsprechung inter-nationaler Anfragen nach Truppen steht eine unausgesprochene internationaleSpielregel, dass nur politisch mitsprechen könne, wer sich auch militärischengagiere. Das heißt, dass sich Deutschland jeweils nicht nur aus konfliktbe-zogenen – z.B. humanitären – Gründen engagiert, sondern zugleich aus macht-politischen Gründen, die in der öffentlichen Rhetorik zumeist dezent kaschiertwerden. Die Bundeswehr erfüllt dabei für die internationale Rolle Deutsch-lands eine teils substanzielle Funktion, z.B. auf dem Balkan oder in Afghanis-tan, teils, bei kleinen, kurzfristigeren Beteiligungen, stellt sie jedoch ein ehersymbolisches Instrument deutscher Außenpolitik dar.

4 Rede von Bundeskanzler Schröder zur Eröffnung der Bundesakademie für Sicherheitspoli-tik in Berlin, 19.3.2004.

5 Bundeskanzler Schröder in der Haushaltsdebatte vom 8.9.2004 im Deutschen Bundestag.

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Das „freundliche Desinteresse“ der Bundesbürger/innen

Die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik hat sich in den letztenzehn bis fünfzehn Jahren stark verändert, die Folgen des Politikwechselsvom Verteidigungs- zum Interventionsauftrag werden zunehmend von Politi-ker/innen reflektiert. Es mehren sich seit der Kongo-Mission sogar Anzeicheneiner gewissen Interventionsmüdigkeit: Eine Überlastung der Bundeswehrwird deutlicher beklagt, die zunehmende Gefährlichkeit einer Afghanistan-Mission mit ungewissem Ende wird diskutiert, die Bundestagsparteien bemü-hen sich u.a. um Kriterienkataloge. Warum trifft dies aber auf ein nur geringesInteresse der Bürgerinnen und Bürger? Warum findet die eingangs angespro-chene breite Debatte darüber nicht statt? Sie wäre wünschenswert, weil in De-mokratien eine Selbstverständigung über politische Weichenstellungen oderFolgenabschätzungen stattfinden sollte, und weil der Einsatz von Militär nichtnur aus historischen Gründen eine äußerst sensible und heikle Option von Au-ßenpolitik darstellt.

Das Desinteresse der Bürger/innen dürfte sich aus einer ganzen Reihevon Gründen speisen: Erstens ist mit den Jahren ein Gewöhnungseffekt ein-getreten, da die Aufgaben der Bundeswehr schrittweise ausgedehnt wurden.Zweitens ist das verbreitete Bild von deutschen Soldatinnen und Soldaten imAuslandseinsatz das der zivilen Aufbauhelfer und Friedenssicherer. BerichtenBildmedien überhaupt über die Bundeswehr im Einsatz, vermitteln sie in derRegel genau dieses freundliche Gesicht des Militärs. Der tief greifende Wan-del der Sicherheits- und Verteidigungspolitik erscheint so vielen als eine ArtSozialarbeit in Uniform. Es ist kaum verwunderlich, dass insbesondere diedeutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg und am Krieg gegen die Taliban nochdie meiste Aufmerksamkeit erlangte, waren beides doch Kampfeinsätze. Auchdie Debatte Anfang 2007 über den Tornado-Einsatz im Süden Afghanistansund die Notwendigkeit eines neuen parlamentarischen Mandats deutet auf die-sen Zusammenhang zwischen wahrgenommener Gefährlichkeit und erhöhtemöffentlichen Interesse hin.

Drittens fehlt Wissen über die Auslandseinsätze, was öffentliches Desin-teresse begünstigen kann: Es ist prinzipiell schwierig, unabhängige Forschungin Krisengebieten durchzuführen, und auch Journalisten sind zum Teil auf dieInformationen des Militärs oder der Regierungen angewiesen. Umfragen zu-folge fühlen sich viele Bürger/innen über die Auslandseinsätze schlecht in-formiert; ihr Wissen ist gering, sie unterstützen gleichwohl mehrheitlich dieeinzelnen Einsätze der Bundeswehr. Zudem finden Landesverteidigung, hu-

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manitäre Maßnahmen und friedenserhaltende Missionen in der Regel mehrZustimmung als friedensschaffende Maßnahmen.6

Viertens sind relativ wenige Bürger/innen selbst von den Auslandseinsät-zen betroffen, und das neue Aufgabenspektrum rückt die Streitkräfte im Ein-satz in weite geographische Ferne. Die Problematik internationaler Militär-einsätze wird weniger direkt erfahren als etwa Auswirkungen von innenpoliti-schen Reformen wie der Gesundheits- oder Steuerreform. Auch wenn deutschePolitiker/innen behaupten, bei den Auslandseinsätzen gehe es um nichts we-niger als die Verteidigung des eigenen Landes oder die nationalen InteressenDeutschlands, berührt dies nur wenige in ihren eigenen Lebenserfahrungen.Anders war dies zu Zeiten des Kalten Krieges, als eine allgemeine Furcht voreinem Angriff auf das eigene Territorium existierte.

Fünftens lockern sich über die kontinuierliche Verringerung der Wehr-pflichtigenzahl und Wehrpflichtzeit die Verbindungen zwischen Gesellschaftund Streitkräften. Mag die zunehmende Verkleinerung und Professionalisie-rung der Streitkräfte aus Effizienzgründen, d.h. funktionalen militärischenGründen, für eine Interventionsarmee geboten sein, so impliziert dies auch eineschleichende Ausgliederung aus dem Wahrnehmungsumfeld der Bürger/innen.

So wünschenswert eine große öffentliche sicherheitspolitische Debattewäre, die seit Jahren viele fordern, so unwahrscheinlich ist sie vor diesemHintergrund. Mehr als punktuelle Debatten über Einzelereignisse wie die„Totenschädel-Fotos“ oder den Tornado-Einsatz sind daher kaum zu erwar-ten. Interesse lässt sich Bürgerinnen und Bürgern nicht verordnen. Und großeDebatten lassen sich aufgrund von Strukturmerkmalen der politischen Öffent-lichkeit nur begrenzt strategisch einleiten und über längere Zeit aufrechterhal-ten.

Aus friedenspolitischer Sicht darf dieses Ausbleiben einer großen Debattejedoch nicht zu einem weiteren Gewöhnungseffekt der Gesellschaft an immerneue Einsätze führen. Eine bessere Orientierung über Sinn, Zweck und Nutzender Auslandseinsätze bleibt ein grundsätzliches Desiderat gerechter und nach-haltiger Friedenspolitik von Demokratien. Eine solche Orientierung kann auchüber kleinere Schritte erreicht werden. Erste Anknüpfungspunkte hierzu könn-ten beispielsweise neuere Überlegungen der Parteien darstellen, Kriterienka-taloge oder Kommissionen zu nutzen, um die Entscheidungsgrundlagen bei

6 Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr (SOWI): Bevölkerungsumfrage 2005.Repräsentative Befragung zum sicherheits- und verteidigungspolitischen Meinungsbild inDeutschland. Ergebnisbericht, Strausberg 2005, S. 28-34, und Sabine Collmer: DeutscheSicherheits- und Verteidigungspolitik im Spiegel der Öffentlichen Meinung, in: Sebasti-an Harnisch/Christos Katsioulis/Marco Overhaus (Hrsg.): Deutsche Sicherheitspolitik. EineBilanz der Regierung Schröder, Baden-Baden 2004, S. 209-211.

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Auslandseinsätzen transparenter zu machen bzw. laufende Einsätze zu evalu-ieren (vgl. auch die Beiträge 1.4. und 1.7.). Die von den Grünen angekündigteEinsetzung einer Kommission zur Bewertung von Verlauf und Ergebnissen derAuslandseinsätze könnte bei entsprechender „Inszenierung“ eine intensivereöffentliche Debatte anstoßen.

Ohnehin ist eine öffentlich zugängliche, d.h. nicht nur innerhalb der Bun-deswehr und der Exekutive zirkulierende, Evaluierung der laufenden und ab-geschlossenen Einsätze überfällig, um die Angemessenheit militärischer Mit-tel einschätzen und belastbare Exit-Strategien entwickeln zu können – da dieEinsätze nur mit anderen Staaten gemeinsam durchgeführt werden und dahermultiple Interessen involviert sind, wäre hier gewiss einiges an Widerstand undKonfliktpotenzial zu erwarten. Nichtsdestotrotz sind selbstkritische Bestands-aufnahmen unumgänglich.

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1.2. Frieden durch Intervention? Eine kritisch-kursorische Bilanz

Reinhard Mutz

Auf die Frage, ob Frieden durch Intervention herbeigeführt werden kann, in-dem externe Akteure mit militärischen Mitteln einen Krieg beenden oder ver-hüten, muss die Antwort lauten: im Prinzip ja. Historische Indizien lassen sichfinden, wenngleich in nicht gerade üppiger Zahl. Was unter Anlass und Verlaufeiner erfolgreichen Intervention zu verstehen wäre, illustriert das folgende Sze-nario exemplarisch: Zwei politische Einheiten, A und B, liegen im Streit mit-einander. A wähnt sich schwächer als B und verbündet sich, um den Nachteilwettzumachen, mit einem Dritten: C. So gestärkt schreiten A und C gemein-sam zur Tat, überfallen B, erobern sein Territorium und nehmen es in Besitz. Inseiner Bedrängnis ruft B das übergeordnete Gemeinwesen zur Hilfe: D. Die-ses entsendet eine kopfstarke Streitmacht, die das besetzte Gebiet umstellt undvollständig einschließt. Die Eindringlinge erkennen die Aussichtslosigkeit ih-rer Lage, sie ziehen sich zurück. Die Streitsache zwischen A und B kommt vorGericht, wird durch Schiedsspruch geschlichtet und friedlich beigelegt.

Ein glücklicher Ausgang. Eine idyllische Geschichte? Ein authentischerFall! Die Handelnden waren:A – das Amt Zug (in der Schweiz), bzw. die Landgemeinden des Amtsbezirks,B – die Stadt Zug,C – der Kanton Schwyz,D – die alte Schweizer Eidgenossenschaft.

Es handelt sich um den sogenannten Zuger Banner- und Siegelstreit.1 Lei-der ist der Fall nicht mehr ganz frischen Datums, er spielt im Jahr 1404. Gleich-wohl vermittelt er wichtige Aufschlüsse. Zum einen belegt er, dass sich dieEntschärfung und Bereinigung eines gewaltträchtigen Konflikts, noch ehe erOpfer an Menschenleben gekostet hat, durch das Eingreifen Außenstehendernicht nur vorstellen lässt, sondern in prinzipiell wiederholbarer Weise stattge-funden hat. Zum anderen verdeutlicht er idealtypisch, welche Merkmale ge-geben sein müssen, damit eine Intervention nicht nur als erfolgsfähig, son-dern auch als gerechtfertigt angesehen werden kann. Es sind dies Merkmale,die das Einschreiten als Vorgehensweise eines Systems kollektiver Sicherheit

1 Jean Jacques Plattner: Die Eidgenössische Intervention bis 1848, Leipzig 1926, S. 8ff.

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REINHARD MUTZ

kennzeichnen,2 drei an der Zahl: Erstens ist der Aggressor durch die Verbin-dung von Rechtsbruch und Gewaltakt eindeutig identifiziert, zweitens existierteine Institution, die berechtigt bzw. verpflichtet ist einzuschreiten, drittens ver-fügt diese Institution neben der rechtlichen Befugnis auch über die politischeBereitschaft und die materielle Befähigung zum wirksamen Handeln. Mögli-cherweise sind internationale Interventionen der jüngsten Vergangenheit weni-ger überzeugend ausgefallen, weil es an einem oder mehreren dieser Merkmalegefehlt hat. Ebenso wenig ist auszuschließen, dass am Schauplatz der Interven-tion selbst grundlegende Voraussetzungen für den Erfolg eines militärischenEingreifens nicht gegeben waren.

Was macht eine Intervention zu einem friedensgerichteten und friedens-bewirkenden Vorhaben? Darauf bleibt der internationale Sprachgebrauch –die Terminologie der Vereinten Nationen ausdrücklich eingeschlossen – dieAuskunft schuldig. In Programmdokumenten der Weltorganisation hat sichseit Ende der Ost-West-Konfrontation ein ganzer Kanon unterschiedlicherInterventionsmuster ausdifferenziert.3 Zu deren Bezeichnung dienen durch-gängig Komposita mit peace als Präfix: peacekeeping, -support, -building,-consolidation, -enforcement. Soweit nicht bereits der Wortsinn erkennen lässt,an welche spezifische Art des Vorgehens jeweils gedacht ist, erläutern es diegenannten Schriften. Worin jedoch der Zielzustand besteht, der bewahrt (odergefestigt oder erzwungen) werden soll, bleibt vollständig offen. Frieden fun-giert als reine Worthülse, die der inhaltlichen Bestimmung erst noch bedarf.4

Dem Versuch, den friedenspolitischen Ertrag der Interventionspraxis inden zurückliegenden anderthalb Jahrzehnten zu bilanzieren, müsste folglichaußer der Entwicklung valider Messverfahren (vgl. Beitrag 1.4.) die friedens-theoretische Reflexion vorangehen. Davon wird aus Platzgründen abgesehen.Der Hinweis möge genügen, dass schon die Begriffsbildung mit dem Wort-stamm „Frieden“ im Zentrum an die Mehrzahl der hier zu betrachtenden In-terventionen anspruchsvollere Maßstäbe anzulegen nötigt als an gewöhnlichemilitärische Einsätze. In den amerikanischen Streitkräften ist für bewaffneteInterventionen geringerer Intensität derzeit die neutrale Sammelbezeichnung

2 Unter diesem Vorzeichen analysiert den Fall Sabine Jaberg: Systeme kollektiver Sicherheitin und für Europa in Theorie, Praxis und Entwurf, Baden-Baden 1998, S. 329.

3 Von der „Agenda für den Frieden“ (17.7.1992) des damaligen UN-GeneralsekretärsBoutros-Ghali bis zum Bericht der „Hochrangigen Gruppe für Bedrohungen, Herausfor-derungen und Wandel“ (1.12.2004).

4 Vgl. Anne Betts Fetherston: Putting the Peace Back into Peacekeeping: Theory Must InformPractice, in: International Peacekeeping 1/1994, S. 3ff.

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FRIEDEN DURCH INTERVENTION?

Military Operations other than War (MOOTW) gebräuchlich.5 Für sie hättennicht dieselben Maßstäbe zu gelten wie für Operationen, die den Anspruch derFriedensförderung ausdrücklich im Namen tragen.

Irak 19916

Die internationale Diskussion über angemessene Formen und Mittel der Frie-denssicherung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts begann mit dem zwei-ten Golfkrieg. Er ist eines der Beispiele einer im technischen Sinne gelunge-nen Intervention. Über den Anlass gehen die Meinungen kaum auseinander.Der Staat, der einen anderen Staat okkupiert und annektiert, wie der Irak Sad-dam Husseins im Sommer 1990 seinen Nachbarn Kuwait, begeht einen schwe-ren Bruch des Völkerrechts. Dem Aggressor seine Kriegsbeute unbehelligt zuüberlassen, hätte die internationale Gemeinschaft für das Unrecht mitverant-wortlich gemacht. Eine andere Frage ist, ob sich billigen lässt, völkerrechts-widriger Gewalt ein beliebiges Vielfaches an Gegengewalt entgegenzusetzen.Gemessen am Verhältnis von Kampfdauer, Mitteleinsatz und Schadensumfangwar desert storm die massivste Kriegshandlung des vergangenen Jahrhunderts.Sie wurde gegen ein Land exekutiert, das mit seiner Abhängigkeit von einemeinzigen Exportgut – Erdöl – und seiner gleichermaßen hohen Abhängigkeitvon Importen an Lebensmitteln günstige Voraussetzungen für die Wirksam-keit nichtmilitärischer Sanktionsmittel bot. Dass dieses Instrumentarium aus-geschöpft war, ehe der Entschluss zum Krieg fiel, kann kaum behauptet wer-den.

Schaden erlitt die politische Glaubwürdigkeit westlicher Interventionsbe-reitschaft noch aus einem weiteren Grund. Militärische Besetzung, gewaltsa-me Landnahme und territoriale Expansion waren in dieser Region kein Einzel-fall. An entschiedenen Verurteilungen der Übergriffe durch den Sicherheitsratder Vereinten Nationen mangelte es gleichfalls nicht. Dennoch hat nie eineRegierung ernsthaft vorgeschlagen, z.B. die Marokkaner aus der Westsaharaherauszubomben oder die Syrer aus dem Libanon oder die Israelis aus derWestbank. Man frage nach dem Unterschied zwischen der Westsahara, demLibanon, der Westbank einerseits und Kuwait andererseits und erhält einenHinweis auf mögliche Motive des Handelns nach zweierlei Maß.

5 Jochen Hippler: Counterinsurgency and Political Control – US Military Strategies Regard-ing Regional Conflicts, INEF-Report 81/2006, S. 26ff.

6 Vgl. Friedensgutachten 1991, Beiträge 1.6., 1.7.

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Bosnien 1992-19957

Mit dem Zerfall der staatlichen Autorität im früheren Jugoslawien ging diePolitisierung ethnischer und religiöser Identitäten und die Mobilisierung kol-lektiver Gewalt gegen benachbarte Bevölkerungsgruppen einher. Den Unab-hängigkeitskämpfen Sloweniens und Kroatiens, die 10.000 Todesopfer forder-ten, folgte von 1992 bis 1995 der Aufteilungs- und Aneignungskrieg in derTeilrepublik Bosnien-Herzegowina zwischen moslemischen, kroatischen undserbischen Bosniern. Er kostete über 200.000 Menschen das Leben und triebmehr als zwei Millionen Angehörige aller drei Volksgruppen in die Flucht.

Ein regionaler Kriegsherd mitten in Europa mit dem Risiko der Auswei-tung zum Flächenbrand musste in den europäischen Hauptstädten die Alarm-glocken läuten lassen. Der Versuch, das Feuer durch eine bewaffnete Inter-vention auszutreten, ist dennoch unterblieben. Einer der Gründe war die Un-klarheit, gegen welche Streitpartei wie vorzugehen sei, um welches politischeZiel durchzusetzen. Die klassische Forderung an einen Aggressor ist die Wie-derherstellung des Status quo ante. Der Status quo ante auf dem Balkan warder jugoslawische Bundesstaat. Für den Erhalt des multinationalen Bosnien-Herzegowinas Krieg zu führen, nachdem man dem Zusammenbruch des multi-nationalen Jugoslawiens gerade Beihilfe geleistet hatte, wäre ein zweifelhafterInterventionsgrund gewesen.

Neben dem Einschreiten zur Beendigung eines Krieges erlangte die soge-nannte humanitäre Intervention wachsende Aufmerksamkeit. In Jugoslawienwaren Einsatzaufträge für Eingreifstreitkräfte vorstellbar, die nicht die aktiveBekämpfung einer der kriegführenden Seiten bezweckt, sondern sich auf Hil-feleistung für zivile Kriegsopfer beschränkt hätten. Die Entsetzung belagerterOrtschaften und die Versorgung der verbliebenen Bevölkerung, die Auflösungvon Lagern, in denen Zivilpersonen gefangen gehalten werden und die Will-kür ihrer Bewacher erleiden, die Einrichtung und Sicherung von Schutzzonenfür Flüchtlinge sind Beispiele solcher Hilfsmissionen unterhalb der Schwel-le aktiven militärischen Vorgehens. Sie sind es aber wohl nur in der Theorie.Sie werden augenblicklich zu Kampfhandlungen, sobald sich ihnen, womit zurechnen gewesen wäre, bewaffneter Widerstand entgegenstellt. Diesen Wider-stand überwinden zu können, wäre ein in die Einsatzplanung einzubeziehendesErfordernis gewesen, was den Bedarf an Kampfkraft entsprechend erhöht hät-te. Eine zusätzliche Kriegspartei träte auf den Plan. Ob das zur Abkürzung desKrieges und zur Verminderung seiner Opfer beigetragen hätte, ist ungewiss.

7 Vgl. Friedensgutachten 1992, Beitrag 3.1.; 1993, Beiträge 2.1., 2.2.; 1994, Beitrag 3.1.;1995, Beitrag 1.1.; 1996, Beiträge 1.5., 1.6.; 1997, Beitrag 4.2.; 2005, Beitrag 3.4.

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FRIEDEN DURCH INTERVENTION?

In den Gremien der NATO sind wiederholt Szenarien dieser Art entwickelt,durchgerechnet und verworfen worden.

Verallgemeinert besagt das bosnische Beispiel, dass sich ein militäri-scher Mittelgebrauch nicht schon durch das Ziel rechtfertigt, das er verfolgt,wenn nicht auch gewährleistet ist, dass er es erreicht. Der Einsatz mussrechtfertigungs- und erfolgsfähig sein. Gewalt, die Kriegsleid mindern soll, esjedoch vermehrt oder verlängert, würde ihre öffentliche Unterstützung raschwieder verlieren. Inwieweit konkrete Aktivitäten den beiden Bedingungen ge-nügen, ist nur an realen Gegebenheiten zu beurteilen. In Bosnien-Herzegowinabefürwortete die Mehrzahl der Entscheidungsträger kriegsbeeinflussende Ope-rationen zu Lande, wie begrenzter Zielsetzung auch immer, mangels Erfolgs-aussicht und Verhältnismäßigkeit nicht.

Somalia 19938

Wie Jugoslawien für Europa, so verkörperte Somalia für Afrika einen in Gren-zen repräsentativen Konflikttyp. Erschöpfung und Auszehrung durch langeJahre des Bürgerkriegs, den Ost und West mit Waffen gespeist hatten, Massenvon Flüchtlingen und Vertriebenen, Zerstörung der agraren Subsistenzbasis,Zusammenbruch ziviler Infrastruktur prägten ein Lagebild, das sich in wei-teren schwarzafrikanischen Staaten vorfand. Der bewaffnete Schutz der Ver-sorgungstransporte in die Hungergebiete Somalias wurde zum Probelauf ei-ner neuen Interventionsform, des „robusten“ peacekeeping. Tatsächlich habendas amerikanische Unternehmen restore hope und die UN-Mission UNOSOM(United Nations Operation in Somalia) die Verteilung der internationalen Le-bensmittelhilfe sicherstellen können. Das Massensterben in den Sammellagernfür Flüchtlinge nahm ein Ende. Dieses Nahziel war nach annähernd drei Mo-naten erreicht. Von da an hätte die Mission entweder eingestellt oder mit einemveränderten, militärisch lösbaren Auftrag versehen oder durch ein breites ent-wicklungspolitisches Wiederaufbauprogramm abgelöst werden müssen.

Stattdessen verbiss sich die amerikanische Rangertruppe in einen Sonder-krieg gegen die Milizen des General Aidid. Bilder massakrierter US-Soldatenbrachten die Heimatfront ins Wanken. Dem hastigen Abzug des Spezialver-bandes aus Somalia folgte ein nationales UN-Kontingent nach dem ande-ren, darunter das der Bundeswehr, die in dem Wüstenflecken Belet Huen mit1.700 Soldaten ihren bis dahin kostspieligsten Auslandseinsatz bestritt. Dielänger währende Befriedung des Landes konnte nicht erreicht werden, die UN-

8 Vgl. Friedensgutachten 1994, Beitrag 4.2.; 1997, Beitrag 2.4.

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Mission gilt als gescheitert. Die Somalier blieben wieder sich selbst und ihrenundurchsichtigen Fehden überlassen (vgl. Beitrag 4.3.).

Kosovo 19999

An der Kosovokrise von 1998 frappiert am meisten die ungebremste Eska-lationsdynamik. Nur ein Jahr dauerte der Umschlag eines ethnischen Kon-flikts in den Bürgerkrieg und die Ausweitung zum zwischenstaatlichen Krieg.Was anderen Bevölkerungsgruppen des ehemaligen Jugoslawiens schon ge-lungen war, der Ausbruch aus der Vorherrschaft Belgrads, suchten die Kosovo-Albaner erst noch zu erringen. Der gewaltlose Widerstand unter dem Provinz-präsidenten Rugova hatte das Ziel nicht näher gebracht. In Gestalt der Unter-grundarmee UCK erschien nun ein neuer Spieler auf der Bildfläche. Er warvon anderer Mentalität und Statur. Sein Guerillakampf rief die nicht minderrücksichtslose Gegenwehr der serbischen Staatsmacht auf den Plan. Einmalmehr offenbarte sich das Unvermögen Europas, mit einer Stimme zu sprechenund wirksam zu handeln. Nach den endlosen Schlappen beim politischen Kri-senmanagement in Slowenien, Kroatien und Bosnien stand ein leistungsfähi-ger Mechanismus zur Regelung sicherheitssensibler Konflikte auf dem eigenenKontinent noch immer nicht zur Verfügung.

Stattdessen grassierte ein unkoordinierter Vermittlungstourismus. Emissä-re aus allen Himmelsrichtungen sprachen mal bei dieser, mal bei jener Bürger-kriegspartei vor. Wessen Mandat und welchen Direktiven sie folgten, blieb un-klar. Die ordnende Hand wurde nirgends sichtbar. Keine Hauptstadt von Rang,die auf die eigene Krisendiplomatie verzichten mochte. Je mehr Unterhänd-ler am Werk waren, desto leichter fiel es den Kriegsherren, sie gegeneinanderauszuspielen. Das größte Geschick bewies dabei die Führung der albanischenAufständischen. Sie zeigte den Kameras der verstörten Weltöffentlichkeit diePhysiognomie der notleidenden Bevölkerung. Ganze Dorfgemeinschaften hat-ten sich zeitweise in die Unwegsamkeit der Berge zurückgezogen. Das Wortvon der „humanitären Katastrophe“ ging um, der nur mit einer „humanitä-ren Intervention“ zu begegnen sei. Auf 230.000 Kosovaren aller ethnischenGruppen bezifferte das Auswärtige Amt in Berlin die Zahl der Binnenflüchtlin-ge kurz vor Beginn der NATO-Luftoffensive. Zum Vergleich: Im israelischenSommerkrieg des zurückliegenden Jahres gegen den Libanon waren es eineMillion Menschen, die ihre Wohnorte Hals über Kopf verließen, um dem Dau-

9 Vgl. Friedensgutachten 1998, Beitrag 1.2.; 1999, Beiträge 1.3., 1.5.; 2000, Beiträge 1.2.,1.3., 1.4.; 2005, Beitrag 1.6.; 2006, Beitrag 3.4.

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FRIEDEN DURCH INTERVENTION?

erbeschuss aus der Luft, zu Land und von See zu entkommen, und Hunderttau-sende auf israelischer Seite, die vor den Katjuschas der Hisbollah flohen. Voneiner humanitären Katastrophe sprach in diesem Fall niemand. Auch die Rhe-torik der humanitären Intervention zum Schutz ziviler Opfer vor unmäßigemWaffengebrauch war wieder aus der Übung gekommen.

Allein der NATO kann im Kosovokonflikt eine von Anfang an zielstre-bige, in sich schlüssige Krisenreaktionsplanung bescheinigt werden. Ihr lagdie einer Militärallianz gemäße Prämisse zugrunde: Der Gegner ist zu iden-tifizieren, sein Handlungsspielraum einzuschränken, sein Widerstandsvermö-gen zu neutralisieren und erforderlichenfalls zu brechen. Unter dieser Vorgabeentstanden frühzeitig Operationspläne von der Durchsetzung eines Flugver-bots über Angriffe aus der Luft bis zum Einsatz von Bodentruppen. Manöverwurden in Nachbarländern abgehalten, schweres Kampfgerät auf nahe gelege-nen Stützpunkten zusammengezogen und ein Invasionskorps nach Makedoni-en verlegt. Schließlich ergingen zwei ultimative Mobilisierungsbefehle. Keinerdieser Schritte zur Errichtung der militärischen Drohkulisse bezweckte, der in-ternationalen Politik den benötigten Rückhalt zu schaffen, um einer Verhand-lungslösung den Boden zu bereiten. Ausschließliches Ziel war die Einschüch-terung einer der beiden Streitseiten. Die UCK blieb von Aufforderungen, ih-rerseits einen Beitrag zur Deeskalation des Konflikts zu leisten, unbehelligt.

Friedliche und normale Lebensbedingungen für alle Einwohner des Koso-vo sowie die sichere und ungehinderte Rückkehr aller Flüchtlinge in die um-kämpfte Provinz, so markierten im April 1999, mitten im Krieg, die Staats-und Regierungschefs des westlichen Bündnisses die politischen Ziele, die siemittels militärischer Intervention durchzusetzen versprachen. Acht Jahre spä-ter steht fest, dass daraus so bald nichts wird. Eingetreten ist eine Umkehr derGewaltverhältnisse. Hatten im alten Jugoslawien die Kosovo-Albaner das Losdes entrechteten und unterdrückten Bevölkerungsteils zu tragen, so erleidendie im Kosovo verbliebenen Minderheiten heute dasselbe Schicksal. DiesenMissstand zu beheben, war der Sinn des Leitsatzes „Standards vor Status“, un-ter den die internationale Protektoratsverwaltung der Balkanprovinz ihre Ar-beit stellte. Vor der abschließenden Klärung der Rechtsstellung des Kosovosollten grundlegende Voraussetzungen – Rechtsgleichheit, Rechtssicherheit,Flüchtlingsrückkehr, Freizügigkeit – gewährleistet sein. Mit der Aufnahme derinzwischen weit gediehenen Verfassungsverhandlungen rückte die internatio-nale Gemeinschaft von dieser Vorbedingung ab. Die Begründung spricht fürsich: Die Statusfrage noch länger in der Schwebe zu lassen, werde die Lagenicht bessern, sondern nur weiter verschlechtern.

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Afghanistan seit 200110

Auslösender Faktor der amerikanischen Intervention in Afghanistan war dieEntschlossenheit der Regierung, auf die Massenverbrechen des 11. September2001 auch nach außen machtvoll zu reagieren. Der ad hoc ausgerufene Krieggegen den Terrorismus bedurfte des ansichtigen Gegners. Da keinem staatli-chen Befehlsgeber die Anschläge von New York und Washington zuzuschrei-ben waren, fiel die Wahl auf den mutmaßlichen Sponsor in Kabul. Nicht, dassdie dort herrschenden Taliban ein unbeschriebenes Blatt gewesen wären. ZweiAufforderungen des UN-Sicherheitsrats, die Unterstützung der terroristischerAktivitäten überführten al-Qaida einzustellen, hatten sie in den Wind geschla-gen. Nun brachten Luftangriffe und Bodenoperationen amerikanischer Streit-kräfte an der Seite der in die Defensive gedrängten Nordallianz die rascheWende im afghanischen Bürgerkrieg. Zwei Monate später fiel mit Kandaharder letzte wichtige Stützpunkt der Islamisten. In Kabul übernahm die Interims-regierung unter Hamid Karzai die Amtsgeschäfte. Der Regimewechsel warvollzogen.

Um die neue afghanische Autorität zu unterstützen, den Vereinten Natio-nen und zivilen nichtstaatlichen Organisationen bei der humanitären Hilfe fürdie Bevölkerung ein sicheres Umfeld zu schaffen, mandatierte der Sicherheits-rat in New York die International Security Assistance Force (ISAF), räumlichzunächst beschränkt auf die Hauptstadt und personell auf 5.000 Soldaten. ImAugust 2003 ging das ISAF-Kommando auf die NATO über. Es folgte dieAusweitung des Einsatzgebiets in den Norden (Oktober 2003) und Westen desLandes (September 2005). Die Personalstärke wurde erhöht, der Auftrag bliebunverändert. Daneben operierten als Teil des sogenannten Krieges gegen denTerrorismus nach eigenen Regeln und ohne UN-Mandat in den paschtunischenProvinzen Süd- und Ostafghanistans weiterhin die amerikanisch geführten Ko-alitionstruppen Enduring Freedom. Mit der Ausdehnung der Zuständigkeit vonISAF auch auf diese Landesteile im Juli bzw. September 2006 änderte sich füreinige Tausend amerikanische, britische und kanadische Soldaten das Unter-stellungsverhältnis. Ansonsten tun sie dasselbe, was sie auch vorher taten: Sieführen Gefechte mit Aufständischen, nun aber als NATO-Soldaten.

Der Etikettenwechsel gleicht einem Coup. Nicht die dem Sicherungsauf-trag für den zivilen Wiederaufbau verpflichtete Schutztruppe hat die robustenKampfverbände abgelöst, es ist umgekehrt: ISAF tritt in die Fußstapfen derAntiterrorkrieger. Der amerikanische General, der jetzt das ISAF-Kommando

10 Vgl. Friedensgutachten 2001, Beitrag 3.1.; 2002, Beiträge 2.3., 3.2.; 2003, Beitrag 2.4.;2005, Beitrag 1.4.; 2006, Beitrag 3.3. sowie 2007, Beitrag 1.3.

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FRIEDEN DURCH INTERVENTION?

führt, ist der ehemalige Befehlshaber von Enduring Freedom. Statt Fortschrittebei der Befriedung des Landes durch politische und wirtschaftliche Entwick-lung vermelden die Nachrichten als Dauerthema seither die permanente Ver-schlechterung der Sicherheitslage. Gegenüber 2005 haben sich 2006 die An-griffe auf Einrichtungen der afghanischen Regierung und ausländisches Mili-tär verdreifacht, die Selbstmordanschläge versechsfacht. Über Wochen kames zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Dazu gehören Luftschläge undKommandoaktionen gegen wirkliche oder vermeintliche Widerstandsnestermit häufig mehr zivilen als paramilitärischen Opfern. Dazu gehören Razzien inder aus dem Irak bekannten Manier: Jedes Dorf, jeder Hof, jedes Haus werdendurchkämmt. Alles was männlich ist und über achtzehn, gilt bis zum Beweisdes Gegenteils als Feind. Warum die schon besiegten und anfangs in der Bevöl-kerung gründlich diskreditierten Taliban plötzlich wieder erstarkt sind, könntedie falsche Frage sein. Wichtiger wäre herauszufinden, warum ihr Rückhalt inder Bevölkerung beständig wächst.

Irak seit 200311

Der amerikanischen Irak-Invasion vom Frühjahr 2003 ging über ein Jahr langdie zielstrebige politische und propagandistische Vorbereitung voraus. Siesetzte im Januar 2002 mit der Stigmatisierung des Irak, Irans und Nordko-reas zur „Achse des Bösen“ ein. Der Vorwurf an die gebrandmarkten Staatenlautete, durch den Besitz von oder das Streben nach Massenvernichtungswaf-fen die Sicherheit der Vereinigten Staaten zu bedrohen. Im September ergingeine neue nationale Sicherheitsdoktrin. Sie subsumiert „antizipatorische“ Mi-litäraktionen unter das Prinzip der Selbstverteidigung. Im Folgemonat gab derKongress in Washington grünes Licht zum Irakkrieg. Zwei Drittel der Abge-ordneten und drei Viertel der Senatoren stimmten zu. Nur im Sicherheitsratder Vereinten Nationen verweigerte die Mehrheit der Mitglieder – anders als1990 – die erwünschte Kriegsermächtigung. So geriet der Feldzug zum Akt pu-rer Willkür. Keiner der Vorwände hielt der nachträglichen Überprüfung stand.Weder fanden sich vor Ort Massenvernichtungswaffen noch stichhaltige Bele-ge für die behauptete Komplizenschaft des Saddam-Regimes mit dem Terror-netzwerk al-Qaida. Regierungen, die gegen den Willen ihrer Bevölkerungendie Kriegskoalition unterstützt hatten, mussten sich darauf herausreden, fahr-lässig oder böswillig getäuscht worden zu sein.

11 Vgl. Friedensgutachten 2003, Beiträge 2.1., 2.2.; 2004, Beitrag 2.2.; 2005, Beitrag 1.1.;2006, Beitrag 3.1. sowie 2007, Beitrag 2.5.

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Übertroffen wird die mangelnde Legalität und Legitimität der Interventionnur noch vom Mangel an Erfolg. Im fünften Jahr der Besetzung ist das Land amGolf weder freier noch demokratischer und schon gar nicht friedlicher. Hinterihm liegen Jahrzehnte der Diktatur, drei Kriege innerhalb einer Generation undzwölf Jahre ökonomischer Strangulierung durch ein rigides Sanktionsregime.Vor ihm liegt eine Zukunft ohne erkennbare Aussicht auf Besserung. Wirt-schaftliche Existenznot und dauernde Gefahr für Leib und Leben bestimmen inweiten Teilen des Landes den Alltag der Menschen. Blutige Kämpfe, Anschlä-ge und Überfälle sind an der Tagesordnung, kaum dass sich die Gewaltformennoch auseinander halten lassen: Wo endet der bewaffnete Widerstand aus demInneren der Gesellschaft, wo beginnt der importierte Terror? Beiderlei Gewaltmuss als unmittelbare Kriegsfolge gelten – vor März 2003 fand sie im Irak we-der statt noch ging sie von ihm aus. Ihre Opfer sind dieselben Iraker, zu derenBefreiung aus despotischer Unterdrückung der Krieg angeblich unvermeidbarwar.

Folgerungen

Die sechs skizzierten Beispiele stellen prominente Fälle dar, an denen sich seitEnde der Ost-West-Konfrontation das Für und Wider militärischer Interventio-nen entzündete. In der Reihe nimmt der bosnische Bürgerkrieg insofern eineSonderstellung ein, als nicht die punktuellen Luftangriffe der NATO, sondernim Gegenteil der Verzicht auf die umfassende kriegsentscheidende Interventi-on Kritiker in großer Zahl auf den Plan rief. Die Bundesrepublik war an vierder Szenarien mit eigenen Truppenteilen beteiligt, die beiden Irak-Invasionenhat sie finanziell bzw. logistisch unterstützt und durch Verlegung militärischenPersonals und Geräts an die Peripherie der Krisenregion zumindest flankiert.Jeder der sechs Fälle vermittelte der anhaltenden Debatte über den Funktions-und Auftragswandel der Bundeswehr nachdrückliche Impulse (vgl. Beiträge1.1. und 1.6.).

Über die friedenspolitischen Resultate verbietet bereits der Augenscheinjegliche Illusion. In drei der betrachteten Länder – Irak, Afghanistan, So-malia – herrscht Krieg oder Bürgerkrieg. Aus zwei Territorien – Bosnien-Herzegowina und Kosovo – wurden langwährende internationale Protektorate.Keine Frage, Frieden sieht anders aus.

Allerdings ist ein differenzierendes Urteil darüber nötig, was intervenie-rendes Militär bewirken kann und was es prinzipiell nicht zu leisten vermag.Es kann weder Konflikte lösen noch Frieden schaffen. Das sind kurz greifendeEuphemismen. Durchaus lassen sich Konflikte gewaltsam unterdrücken, z.B.

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FRIEDEN DURCH INTERVENTION?

indem eine Konfliktpartei militärisch entmachtet wird. Handelt es sich um denidentifizierten Aggressor, wird das Vorgehen breite Billigung finden, nur stehtdie Konfliktlösung dann immer noch aus. Nicht anders verhält es sich mit Inter-ventionen, die Dritte vornehmen, um beide Streitseiten zur Kriegsbeendigungzu veranlassen. Zwar muss Kriegsbeendigung dem politischen Friedensschlussvorausgehen, den Frieden jedoch, der mehr ist als die Abwesenheit von Krieg,kann kein Intervent erzeugen. Dazu bedarf es des Willens und Handelns derKontrahenten. Folglich ist es ein begrenzter, unter Umständen aber ausschlag-gebender Beitrag zur Einleitung eines Friedensprozesses, wenn durch mili-tärischen Zwang, sei er ausgeübt oder nur angedroht, organisierte kollektiveGewaltsamkeit zum Erliegen kommt. Ob daraus Frieden entsteht, hängt vonvielen zusätzlichen Bedingungen ab. Der gesicherte Gewaltausschluss ist nureine, in aller Regel jedoch notwendige Voraussetzung. Um sie herbeizuführen,kann die militärische Intervention die Ultima Ratio sein.

In der Gegenüberstellung der zeitnahen Fallbeispiele mit dem eingangs be-schriebenen Musterfall einer erfolgreichen historischen Intervention überragtein Unterschied alle übrigen: Sowohl die intervenierenden Mächte als auch dieInterventionsgründe sind unvergleichbar. Um Streitschlichtung, Konfliktbeile-gung oder Friedenssicherung geht es bei der Mehrzahl gegenwärtiger Anlässefür Auslandseinsätze von Streitkräften nur nachrangig. Für die militärischenVormächte von heute hat die Ablösung des nuklearen Abschreckungssystemsdie Risiken des Waffengebrauchs drastisch gesenkt. Eine universale Instanz,die stark genug wäre, zwischenstaatliche Gewaltanwendung auf friedensver-trägliche Ziele zu beschränken, besteht jedoch nicht. Mithin verwundert nicht,wenn Regierungen die ihnen verfügbaren Machtmittel solchen Zwecken vor-behalten, von denen sie sich den größten Eigennutzen versprechen. Davonmacht auch die deutsche Politik keine grundsätzliche Ausnahme.

Seitdem sich der Auftrag der Bundeswehr nicht mehr von selbst versteht,wird er kontrovers diskutiert. Mit der aktuellen Variante wartet das jüngste Si-cherheitsweißbuch auf. Danach sollen deutsche Soldaten in erster Linie wederäußere Gefahren abwenden noch das Land verteidigen, weder den Frieden derWelt schützen noch überhaupt einer spezifisch sicherheitspolitischen Aufgabenachkommen. An der Spitze ihres Auftragskatalogs steht als qualitativ neueZielmarkierung nun die Gewährleistung der außenpolitischen Handlungsfä-higkeit Deutschlands.12 Von diesem Bezugspunkt aus verschiebt sich notge-drungen das Koordinatensystem der Entscheidungsbildung im Einzelfall. DerSinngehalt eines konkreten Streitkräfteeinsatzes tritt zurück. An Bedeutung

12 BMVg: Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundes-wehr, Berlin 2006, S. 13 und S. 70.

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gewinnen Bestimmungsfaktoren wie nationale Einflussmehrung und demons-trierte Entschlusskraft, Allianzkohäsion und internationales Prestige. Waffen-macht schließt als gleichrangiges Mittel auswärtiger Interessenvertretung zumzivilen Instrumentarium der Außenpolitik auf.

Tatsächlich hat diese Sichtweise, die der alten Bundesrepublik fremd war,eine viel längere Vorgeschichte. Schon im Epochenjahr 1989 beschied der zu-ständige Ressortminister der Bundesregierung Zweifler, ob die Existenz derBundeswehr nach dem Fortfall der militärischen Bedrohung durch einen äuße-ren Gegner noch bruchlos begründet werden könne, mit der Auskunft: „Streit-kräfte brauchen keine besondere Begründung. Ein souveräner Staat hat ei-ne Armee oder er ist keiner.“13 Nach Jahren tastender Annäherung an einevermeintliche internationale Normalität, nach der Gewöhnung der Öffentlich-keit an deutsche Soldaten auf immer neuen und immer ferneren Krisen- undKriegsschauplätzen bei bescheidener Erfolgsbilanz scheint sich die demokra-tische Mediengesellschaft mit etatistischen Gemeinplätzen als Ersatzargumen-ten nicht mehr zufrieden zu geben. Das fallweise Warum und Wofür einer Aus-landsentsendung der Bundeswehr rückt wieder in das Zentrum der Debatte.Dort gehört es hin.

13 In einer internen Gesprächsrunde mit geladenen sicherheitspolitischen Multiplikatoren.

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1.3. Der deutsche Beitrag zum WiederaufbauAfghanistans seit 2001: Bundeswehreinsatzund ziviles Engagement

Rainer Glassner und Conrad Schetter

Ohne Zweifel nimmt Afghanistan seit den Verhandlungen auf dem Peters-berg (vgl. Friedensgutachten 2006, Beitrag 3.3.) für die deutsche Außen-,Verteidigungs- und Entwicklungspolitik eine außerordentliche Bedeutung ein.Dass der Stellenwert des Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan höher istals bei den vorangegangenen in Somalia oder auf dem Balkan, liegt vor alleman den deutschen Ambitionen auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat.Als Voraussetzung hierfür gilt die Übernahme von größerer sicherheitspoliti-scher Verantwortung.

Die politische Bedeutung Afghanistans geht mit großer Aufmerksamkeit inder deutschen Öffentlichkeit einher. Zudem schufen die ständige Präsenz vonbis zu 3.000 Bundeswehrsoldaten und Hunderten Entwicklungshelfern sowieReisen von Diplomaten, Politikern und Wissenschaftlern nach Afghanistan fürdie deutschen Medien eine kritische Masse, weshalb die Berichterstattung denEinsatz mit Interesse verfolgt. So ist das deutsche Engagement in Afghanistaneng an die deutsche Innenpolitik gekoppelt.

Es sind primär zwei Argumentationen, die den deutschen Einsatz in Af-ghanistan rechtfertigen: Zum einen werden humanitäre Gründe angeführt, dieim Falle Afghanistans – einem der ärmsten Länder der Welt – offensichtlichsind. Gerade symbolhafte Projekte wie der Bau von Schulen und Krankenhäu-sern sind wichtig, um dieses Argument zu untermauern. Zum anderen wird dieislamistische Bedrohung betont: „Ein Wiederaufleben der Taliban käme einerNiederlage in der internationalen Auseinandersetzung mit dem gewaltbereitenradikalen Islamismus gleich.“1 So verlegte der damalige Verteidigungsminis-ter Peter Struck mit seiner Formulierung, Deutschland müsse „am Hindukuschverteidigt werden“, die Landesverteidigung in die afghanischen Berge. Diesebeiden Argumente sind für ein Verständnis des deutschen Afghanistaneinsat-zes grundlegend. Bilder von Projekten, die die Lebensverhältnisse von Frauenverbessern sollen oder deutsche Soldaten als Wiederaufbauhelfer zeigen, die-nen der Vermittlung des Afghanistanengagements in Deutschland.

1 Deutsche Bundesregierung: Afghanistan-Konzept der Bundesregierung vom 12. September2006, S. 3.

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RAINER GLASSNER UND CONRAD SCHETTER

Obgleich das Petersberger Abkommen, das die Einführung einer Verfas-sung sowie Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vorsah, erfolgreich abge-schlossen wurde, fällt es der Bundesregierung immer schwerer, das Engage-ment in Afghanistan zu verteidigen. Das Wiedererstarken der Taliban und diesich intensivierenden Kämpfe lassen Zweifel an der internationalen Interven-tion aufkommen: Von 2005 auf 2006 stieg die Zahl der Selbstmordanschlägevon 21 auf 139, nahmen Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern von 783auf 1.677 zu und verdreifachte sich die Anzahl direkter Angriffe auf interna-tionale Streitkräfte von 1.558 auf 4.552. Das US-Militär verzeichnete 98 Tote,die übrigen internationalen Truppen weitere 93. Seit Herbst 2006 erhöhten dieNATO-Partner den Druck auf Deutschland, sich auch an den Kampfeinsätzengegen die Taliban in Südafghanistan zu beteiligen. Bei einer Umfrage im März2007 sprachen sich jedoch 57 Prozent der Bundesbürger für ein Ende des deut-schen Militäreinsatzes in Afghanistan aus.2

Aufgrund dieser Entwicklungen meidet die Bundesregierung in der Öffent-lichkeit zunehmend das Thema Afghanistan: Stand das Land noch vor fünfJahren für eine selbstbewusste und friedenspolitisch aktive Außenpolitik derBundesregierung, so ist es gegenwärtig eher Symbol für das Scheitern einesanspruchsvollen Wiederaufbauprojektes und für die sukzessive Einbindung inKampfeinsätze.

Zwischen Stabilisierung und Demokratisierung

Mit dem Sturz des Taliban-Regimes begann umgehend der Wiederaufbau, andem sich neben den Vereinten Nationen mehr als 60 Staaten und alle großen in-ternationalen Organisationen (EU, Weltbank, Internationaler Währungsfonds,Asiatische Entwicklungsbank etc.) beteiligten. Die USA sind der maßgebli-che Akteur der Intervention in Afghanistan, da sie zum einen die militärischeOperation Enduring Freedom anführen und den Großteil der internationalenSoldaten aufbieten, zum anderen seit 2001 eine Summe von 5,2 Mrd. USD fürNot- und Entwicklungshilfe sowie den Aufbau der Regierung bereitstellten.Im gleichen Zeitraum belief sich der Beitrag der Europäischen Union und derEU-Staaten auf insgesamt 3,1 Mrd. Euro. Nach den USA, Japan und Groß-britannien rangiert Deutschland auf dem vierten Platz der bilateralen Geberund wird bis 2010 über eine Milliarde Euro für Afghanistan bereitgestellt ha-ben. Daneben entsendet es seit 2006 bis zu 3.000 Soldaten und ist damit nach

2 Carlo Ingelfinger: „Mehrheit der Deutschen für Truppenabzug“ in: Spiegel Online, 17.3.2007.

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den USA und Großbritannien (mit 24.000 und 5.800 Soldaten) der drittgrößteTruppensteller in Afghanistan. Trotzdem macht das deutsche Engagement nureinen Bruchteil des amerikanischen aus, weshalb die Bundesrepublik in Af-ghanistan lediglich eine Juniorrolle einnimmt. Anfang 2007 sagten die USAweitere 10,6 Mrd. USD zu, von denen zwei Milliarden in den Wiederaufbauund 8,6 Mrd. USD in den afghanischen Sicherheitssektor fließen sollen.

Außer dem Petersberger Abkommen, das sich auf den politischen Prozessfokussierte, gab es keine weitere Strategie für den Wiederaufbau Afghanistans.Zwar veröffentlichten Entwicklungsorganisationen und später auch die afgha-nische Regierung zahllose Papiere über erstrebenswerte Entwicklungen undeinigten sich auf Zielvorgaben (Securing Afghanistan’s Future, AfghanistanCompact). Doch eine Konzeption, wie, in welcher Reihenfolge und mit wel-chen Prioritäten die kurz- und mittelfristigen Ziele zu erreichen seien, wurdenicht entwickelt. Auch von deutscher Seite fehlen bis heute ausgereifte Kon-zepte oder Strategien für das Vorgehen in Afghanistan, obwohl die Bundes-regierung 2003 und 2006 Strategiepapiere vorlegte. Während das erste Papiersich primär mit dem Wiederaufbauteam in Kundus befasst, gibt das zweiteeinen Überblick über das gesamte Portfolio der deutschen Afghanistanpolitik.Zentral hierin ist die Aussage, dass sich Deutschland in das internationale En-gagement einordne und an dem bisherigen Vorgehen – trotz der verschärftenLage im Süden des Landes – festhalte.

Die wesentliche Schwierigkeit in der Strategieentwicklung bestand darin,mitunter gegenläufige Ansätze zu einem kohärenten Vorgehen zu verknüpfen– so etwa den Kampf gegen die Taliban und al-Qaida, die Stabilisierung Af-ghanistans, den Aufbau eines funktionierenden Staatsapparats und die Etablie-rung einer Gesellschaftsordnung, die internationalen Normen und Werten ent-spricht. Der Kontrast zwischen Stabilisierung und Modernisierung überschat-tete den gesamten politischen Prozess. So kooptierte die afghanische Regie-rung immer wieder Kriegsfürsten und band sie politisch ein, um ihren Wi-derstand nicht zu provozieren. Auch unter den Teilnehmern der EmergencyLoya Jirga (2002) und der Constitutional Loya Jirga (2002) befanden sichviele Kriegsfürsten, Drogenbarone und andere Kriminelle. Schließlich sind inder afghanischen Regierung und Verwaltung, besonders unter den Provinz-und Distriktgouverneuren, eine hohe Anzahl von Kriegsfürsten. Die ständigeSchwächung demokratischer Prinzipien zugunsten der Stabilisierung bedingtjedoch, dass gerade die kleine, prinzipiell aufgeschlossene Elite des Landesvom politischen Prozess enttäuscht ist. So verkam der Begriff Demokratie imafghanischen Wortgebrauch zu einer inhaltslosen Hülse.

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Viele Afghanen verstanden – vor dem Hintergrund der Aktivitäten vonNichtregierungsorganisationen (NGOs) in den 1990er Jahren – unter Wie-deraufbau vor allem Nothilfe und den Aufbau einer physischen Infrastruktur.Die Intervention aber war davon geprägt, möglichst schnell westliche Normenund Werte, die mit Begriffen wie Zivilgesellschaft, Demokratie, Geschlechter-gleichheit, Good Governance umschrieben werden können, zu etablieren. Die-ser Ansatz führte bei vielen Afghanen nicht nur zu einer Frustration über un-erfüllte Erwartungen, sondern auch zu einer Abwehrhaltung, da sie die Miss-achtung herrschender Werte und die Unterwanderung lokaler Macht- und Ent-scheidungsstrukturen fürchteten.

Die internationale Gemeinschaft benötigte zudem ein bis zwei Jahre, umder komplexen Problemlage in Afghanistan gewahr zu werden: Die Drogen-ökonomie, die starke Verhaftung der Gesellschaft in Klientel- und Korrup-tionsstrukturen, die schwache Rolle des Staats, das Fehlen einer Zivilgesell-schaft, die starke Rolle islamischer Legitimität und natürlich das Wiedererstar-ken der Taliban – all das wurde den intervenierenden Kräften nur allmählichbewusst. Dies führte dazu, dass sie keine klaren Prioritäten setzten und Wieder-aufbaumaßnahmen mit zahlreichen Widersprüchen erfolgten: So konnten bei-spielsweise 2002 kaum Bewerber für Polizei- und Militärausbildung gefundenwerden, da die USA in Operation Enduring Freedom zu weit besseren Kon-ditionen rund 50.000 Milizionäre unter Waffen hielten. Auch opponierten dieUSA lange Zeit gegen eine Ausdehnung der International Security AssistanceForce (ISAF) über die Grenzen Kabuls hinaus, da sie Interessenkonflikte mitder Terrorbekämpfung befürchteten.

Bereits im Frühjahr 2002 kristallisierte sich zudem die Schwierigkeit her-aus, den Wiederaufbau auf internationaler Ebene zu koordinieren. ObgleichKonsultativ- und Arbeitsgruppen gegründet wurden, verfolgten viele Einzel-staaten (vor allem die USA) Eigeninteressen. Zudem sprachen sich die weitüber 1.000 internationalen NGOs, die direkt nach dem Fall der Taliban nachAfghanistan strömten, bewusst gegen eine Koordinierung aus, um ihre Unab-hängigkeit zu bewahren. Die afghanische Regierung zeigte sich darüber hinausals zu schwach, um koordinierend tätig zu werden.

Neben der Einbindung Deutschlands in das internationale Konzert lohntauch ein Blick auf die interne Koordinierung der deutschen Politik. So sindmit dem Bundesministerium für Verteidigung (BMVg), dem Auswärtigen Amt(AA), dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung (BMZ) und dem Bundesministerium des Inneren (BMI) gleich vierMinisterien in Afghanistan aktiv. Die Kosten für den Einsatz der Bundeswehrbelaufen sich auf 450 Millionen Euro jährlich. Dem gegenüber standen bis-

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her jährlich 80 Millionen Euro, für 2007 erstmals 100 Millionen Euro, für denzivilen Aufbau inklusive Polizeiaufbau.

Die Afghanistanpolitik avancierte seit 2002 immer wieder zum Zankap-fel zwischen BMZ und AA, was u.a. durch persönliche Animositäten ver-stärkt wurde. Während das BMZ seine weitaus größere Erfahrung bei der Pro-jektdurchführung geltend machen konnte, war das zuständige Referat im AApersonell zwei- bis dreimal stärker besetzt als das im BMZ. Zu Spannungenzwischen beiden Ministerien kam es besonders bei der Etablierung der Wie-deraufbauteams in Kundus, da das BMZ Bedenken gegen eine Einordnung inein zivil-militärisches Gesamtkonzept artikulierte. Auch versuchten NGOs undDurchführungsorganisationen bei der Suche nach Geldgebern, die Ministeriengegeneinander auszuspielen.

Die deutsche Diplomatie

Den Erfolg der ersten Petersberger Konferenz feierte die Bundesrepublik imDezember 2002 mit einer zweiten Veranstaltung auf dem Petersberg, die ehersymbolischen Charakter besaß. Es verdeutlicht den Stellenwert Afghanistansfür die deutsche Außenpolitik, dass Berlin Ausrichter der Geberkonferenz imMärz 2004 und der Koordinierungskonferenz im Januar 2007 war. Auch inAfghanistan war Deutschland schnell diplomatisch präsent: Da die deutscheBotschaft seit 1989 geschlossen war, wurde Anfang Dezember 2001 zunächstein deutsches Verbindungsbüro eröffnet und im Januar 2002 wieder ein deut-scher Botschafter offiziell akkreditiert. Diplomatische Außenstellen wurden inKundus (seit 2003), Herat (2003-2005) und Faizabad (seit 2004) eingerichtet.In internationalen Gremien nahm Deutschland eine gewichtige Rolle ein. Sowar der Diplomat Klaus-Peter Klaiber von Dezember 2001 bis Juni 2002 EU-Beauftragter für Afghanistan und mit Tom Königs wurde im Februar 2006 einDeutscher UN-Sondergesandter für das Land.

Für deutsche Politiker wurde Afghanistan ein wichtiges Reiseziel: Ne-ben dem damaligen Bundeskanzler Schröder besuchten mehrere Minister(u.a. Joschka Fischer, Peter Struck, Heidemarie Wieczorek-Zeul, Franz Jo-sef Jung) das Land mehrfach. Zudem reisten Bundestagsabgeordnete (u.a.Delegationen der Ausschüsse für Menschenrechte und Verteidigung) regel-mäßig nach Afghanistan. Im Gegenzug kamen Präsident Hamid Karzai undseine Kabinettsmitglieder vielfach zu Staatsbesuchen und Konferenzen nachDeutschland. Auch die politischen Stiftungen bemühten sich, schnell in Af-ghanistan Fuß zu fassen. Die Friedrich-Ebert-Stiftung eröffnete 2002 ein Bü-ro, Konrad-Adenauer-Stiftung und Heinrich-Böll-Stiftung folgten. Die Hanns-

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Seidel-Stiftung führt bis heute über ihr Büro in Islamabad Projekte in Afgha-nistan durch.

Schwierig nachzuweisen ist, inwiefern der deutsche Exilhintergrund af-ghanischer Minister eine Rolle bei ihrer Ernennung spielt. Für Afghanen ist esselbstverständlich, dass die Minister auf Wunsch der betreffenden Länder er-nannt werden. Jedenfalls befinden sich seit 2001 kontinuierlich Afghanen, diein Deutschland gelebt hatten, in Ministerposten: Amin Farhang betätigte sichals Minister für Wiederaufbau (2001-2004) sowie als Wirtschafts- (2004-2006)und Handelsminister (seit 2006). Azam Dadfar war von 2004 bis 2006 Ministerfür Flüchtlingsangelegenheiten und ist seit 2006 Hochschulminister. RanginDadfar Spanta wurde 2006 Außenminister. Diese Prominenz von „Deutsch-Afghanen“ – die stärkste Gruppe nach den US-Afghanen – in der afghani-schen Regierung kann aber auch daher rühren, dass die afghanische Diasporain Deutschland mit ca. 60.000 Angehörigen die größte in Europa ist.

Militärischer Einsatz

In Afghanistan finden zwei unterschiedliche und in ihrer Wirkung konträreinternationale Militäreinsätze statt: die mittlerweile von der NATO geführteISAF mit dem Ziel, die afghanische Regierung bei der Schaffung von Sicher-heit zu unterstützen, und Operation Enduring Freedom, die den „Kampf gegenden Terror“ führt (vgl. Friedensgutachten 2006, Beitrag 3.3.). Die deutscheBeteiligung an der Operation Enduring Freedom blieb innerhalb Afghanistansmit bis zu 100 Mann des Kommandos Spezialkräfte zahlenmäßig gering. Sosah Deutschland seine Rolle eher darin, den Frieden zu sichern und sich imISAF-Einsatz zu engagieren; dieser war zunächst auf Kabul beschränkt. Hierhatte Deutschland von Februar bis August 2003 gemeinsam mit den Nieder-landen das Kommando. Erst das aufgrund der bundesdeutschen Ablehnung desIrakkrieges angespannte transatlantische Verhältnis führte dazu, dass Deutsch-land – bei Ausdehnung des ISAF-Mandats – bereit war, Bundeswehrsoldatenin die Provinzen zu entsenden. Viele Beobachter sehen daher in der Statio-nierung der Bundeswehrsoldaten in Kundus primär eine politische Beflissen-heitsgeste (vgl. Friedensgutachten 2006, Beitrag 5.4. sowie Friedensgutachten2004, Beitrag 5.1.). Nachdem der UN-Sicherheitsrat im Oktober 2003 die Aus-weitung des ISAF-Mandats über Kabul hinaus beschlossen hatte, schuf derBundestag die Voraussetzungen für ein Regionales Wiederaufbauteam (PRT– Provincial Reconstruction Team) unter ISAF-Mandat in Kundus. Es folgte2004 das PRT in Faizabad. Mit der Ausdehnung des ISAF-Mandats auf ganzAfghanistan übernahm Deutschland im Sommer 2006 die Leitungsfunktion

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über den Bereich „Nordafghanistan“ mit dem operativen Zentrum in Mazar-i-Scharif. Im Gegenzug wurde das deutsche Kontingent in Kabul stark verrin-gert.

Es existiert eine Vielzahl von PRT-Modellen, die sich in Größe, Zusam-mensetzung und Vorgehen unterscheiden. Alle verfolgen jedoch die Ziele, dieZentralregierung in den Provinzen zu stärken, den zivilen Wiederaufbau zu för-dern, Informationen zu gewinnen und Sicherheit herzustellen. In der Wahrneh-mung der deutschen Öffentlichkeit werden die PRTs als militärische Einheitenverstanden, auch wenn das der Konzeption widerspricht, denn neben dem Mili-tär sind auch das BMI, das AA und das BMZ in den deutschen PRTs vertreten.Ressortübergreifend und integriert sollen sie in enger Abstimmung die genann-ten Ziele verfolgen. In Berlin und vor Ort steht die Arbeit der PRTs jedochvor vielen Problemen: So behindern die getrennten Haushalte der Ressorts dieKooperation, Konkurrenz- und Profilierungsdenken erschweren die Arbeit. InAfghanistan gelingt es bislang nicht, die militärischen und entwicklungspo-litischen Zielsetzungen tatsächlich miteinander zu vereinbaren: So weckt dieBundeswehr durch wiederholte Bedarfsanalysen, die das Ziel verfolgen, Infor-mationen über die zivile Lage zu gewinnen, unrealistische Erwartungen in derBevölkerung. In den Augen der Bundeswehr dienen Entwicklungsprojekte vorallem dazu, hearts and minds der Bevölkerung zu gewinnen. Das konterkariertdie Projekte der Entwicklungszusammenarbeit (EZ), die auf Partizipation undNachhaltigkeit Wert legt. Darüber hinaus führt der häufige Wechsel der Bun-deswehrsoldaten immer wieder zu Neu- und Umdefinierungen von Strategien,Strukturen und Kommandoketten.

Das Vorgehen der Bundeswehr ist durch einen geringen Aktionsradius undstrenge Auflagen in Bezug auf Selbstschutz geprägt. Das nehmen andere Na-tionen als zögerlich und übervorsichtig wahr – zumal der Raum Kundus alsvergleichsweise sicher gilt. Diese zögerliche Haltung belegt ein Zitat des da-maligen Verteidigungsministers Peter Struck: Er sei „froh, dass wir nicht ineine Region gehen, in der man jeden Tag mit Anschlägen auf die Bundeswehr-angehörigen rechnen muss“.3 Der politische Auftrag der Bundeswehr sieht dieUnterstützung der afghanischen Regierungsstellen vor; die Bundeswehr selbststellt dementsprechend nicht proaktiv Sicherheit her, sondern assistiert auf An-frage. Gleichzeitig binden Selbstschutz und Logistik einen Großteil der einge-setzten Kräfte und verursachen hohe Kosten. Dass der Selbstschutz der Solda-

3 Rede des Bundesministers der Verteidigung, Dr. Peter Struck, zur Fortsetzung und Erwei-terung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internatio-nalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan vor dem Deutschen Bundestag am24. Oktober 2003, Plenarprotokoll 15/70.

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ten oberstes Einsatzgebot ist, verdeutlichten die Ausschreitungen in Faizabadim September 2004, als eine aufgebrachte Menge internationale und afgha-nische Mitarbeiter von NGOs angriff und die Bundeswehr nicht intervenierte(vgl. Friedensgutachten 2005, Beitrag 1.4.). Trotz aller berechtigten Kritik andiesem passiven Verhalten muss man bedenken, dass die Soldaten zu weniggeschult sind, mit gewaltsamen Ausschreitungen umzugehen. Daher befürch-tet die Bundeswehr, ihr Einschreiten in derartigen Situationen beinhalte einunkalkulierbares Risiko der Gewalteskalation.

Auch die Reaktion auf den ersten in Kundus verübten Selbstmordanschlagim Sommer 2006 verdeutlicht die defensive Haltung der deutschen Politik.So wies das BMVg an, nur noch in gepanzerten Fahrzeugen das Camp zuverlassen. Diese Entscheidung kritisierten selbst Kommandeure der PRTs, dasie die eigene Bewegungsfreiheit und Kontaktmöglichkeit mit der Bevölkerungso sehr einschränke, dass eine Auftragserfüllung kaum mehr zu gewährleistensei.

Das internationale militärische Engagement veränderte sich im Som-mer 2006, als Südafghanistan unter ISAF-Mandat gestellt wurde. Seit Ok-tober 2006 ist ISAF für ganz Afghanistan mit 35.500 Soldaten zustän-dig, während Operation Enduring Freedom nur noch ca. 12.000 Mann um-fasst. Aufgrund der sich intensivierenden Kampfhandlungen in Südafghanis-tan mit hohen Verlusten (Kanada 45, Großbritannien 52) der dort stationier-ten NATO-Partner fordern diese ein stärkeres Engagement Deutschlands inSüdafghanistan. Im Herbst 2006 forderten amerikanische Politiker, deutscheSoldaten müssten, „das Töten lernen“.4 Die Verlegung von sechs Tornado-Aufklärungsflugzeugen zur Unterstützung der ISAF im umkämpften Südaf-ghanistan stellt eine neue militärische Dimension für den deutschen Einsatzdar, wird weitere Forderungen aber nicht dauerhaft abwenden können.

Polizeiaufbau zwischen Qualität und Quantität

Der Aufbau der Polizei erscheint in der öffentlichen Wahrnehmung als einNebenschauplatz des deutschen Engagements in Afghanistan. Tatsächlich istder Polizeiaufbau ebenso wie der Aufbau eines funktionierenden Justizsystemsund einer einsatzfähigen Nationalarmee Kernstück des internationalen Enga-gements.

Die Bundesrepublik übernahm die Koordination für den Polizeiaufbau. Zu-ständig ist das BMI. Das deutsche Engagement konzentriert sich auf die Aus-

4 „Nato-Partner wütend über deutsche Kampf-Hemmungen“, in: Spiegel Online, 16.11.2006.

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bildung des Leitungspersonals. Doch weder die bereitgestellten finanziellennoch personellen Mittel reichten aus, um den gesamten Polizeiapparat Afgha-nistans – der einmal 62.000 Mann umfassen soll – in angemessener Qualitätund Quantität kurzfristig aufzubauen. Für 2002/2003 stellte die Bundesregie-rung 33 Millionen Euro zur Verfügung, bis 2007 waren weitere 48 MillionenEuro (12 Millionen Euro pro Jahr) eingeplant. Dieses Geld wird für die Aus-bildung und Ausstattung der Polizei (Gebäude, Fahrzeuge, dienstliches Gerät)verwendet. 42 deutsche Polizeibeamte sind in Kabul, Kundus, Herat und Fai-zabad tätig. Seit 2002 wurden 4.200 Polizisten ausgebildet und weitere 12.700für begrenzte Aufgaben geschult. Welchen Stellenwert Deutschland dennochder Koordinierung des Polizeiaufbaus beimisst, wird daraus ersichtlich, dasses im Herbst 2003 einen Koordinator im Rang eines Botschafters entsandte.

Den Ansatz, sich auf das Führungspersonal der Polizei zu konzentrierenund über Multiplikatoren langfristig neue Strukturen zu schaffen, kritisier-ten andere Staaten, insbesondere die USA. Um die Ausbildung der Polizei zubeschleunigen, errichteten die USA seit 2003 neben einem zentralen Ausbil-dungszentrum in Kabul sieben weitere regionale Ausbildungszentren, in denenPolizisten zwei- bis achtwöchige Kurse durchlaufen. Die private Sicherheits-firma DynCorp wurde mit der Ausbildung der niedrigen Ränge betraut. 600US-Berater waren mit dem Aufbau der Polizei beschäftigt. Die USA stelltenallein 2006 1,6 Milliarden US-Dollar bereit und degradierten damit die Bun-desrepublik in dem Bereich, in dem sie die Hauptverantwortung trägt, zumZaungast. In einer weiteren Reaktion auf den schleppenden Polizeiaufbau undauf die sich verschlechternde Sicherheitslage ging die afghanische Regierungdazu über, Milizen zur Hilfspolizei zu ernennen (Afghan National AuxiliaryPolice).

Der Polizeiaufbau befindet sich in einem Dilemma: Beim amerikanischenModell steht zu befürchten, dass die in Schnellkursen ausgebildeten Polizistennichts weiter als – nun staatlich legitimierte – Wegelagerer sind. Zu diesemBild trägt bei, dass bereits viele Kriegsfürsten und Milizen, die nicht geradedas Vertrauen der Bevölkerung genießen, in den staatlichen Sicherheitssektorintegriert wurden. Schreitet die Ausbildung aber, wie im deutschen Modellunvermeidlich, zu langsam voran, bleibt der Staat handlungsunfähig. Derzeitwird überlegt, den Polizeiaufbau in eine Mission im Rahmen der EuropäischenSicherheits- und Verteidigungspolitik einzubinden und somit die Koordinie-rung und Zusammenarbeit – auch in Hinblick auf die Justizreform – inner-halb der internationalen Gemeinschaft zu stärken. Zudem sollen Besoldungund Dienstgrade reformiert werden.

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Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan

Im Unterschied zu anderen Ländern war die deutsche Entwicklungszusam-menarbeit (EZ) recht schnell in Afghanistan aktiv. Bereits im Dezember 2001schickte das BMZ eine erste Fact Finding Mission. Sie konnten aufgrund einesbereits in den 1970er Jahren geschlossenen und während des Krieges ruhen-den Vertrags mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau schon 2002 erste Infra-strukturmaßnahmen finanzieren und unter vereinfachten Auflagen durchfüh-ren. In der ersten Phase bewilligte das BMZ Projekte aus unterschiedlichenEntwicklungsbereichen. 2003 einigte sich die Bundesregierung mit dem af-ghanischen Partner auf die Schwerpunkte städtische Trinkwasserversorgung,Energieversorgung sowie Wirtschafts- und Beschäftigungsförderung. Deutsch-land verfolgt die Querschnittsaufgaben, die Situation der Frau zu verbessernund Good Governance zu fördern. Die Festsetzung dieser Schwerpunkte warmitunter problematisch, da die Förderung kleinerer Projekte (etwa in den Sek-toren Bildung und Gesundheit) mit einem Mal wegbrach. Erst später wurde dieGrundbildung wieder zum Schwerpunkt der Bundesregierung. Zusätzlich soll-te die EZ räumlich konzentriert werden. Als Standort wurde zunächst Heratausgewählt. Doch führte der Beschluss, ein Wiederaufbauteam nach Kunduszu entsenden, dazu, dass sich die EZ seit November 2003 maßgeblich auf denNordosten des Landes konzentriert. 2006 waren in Kundus mehr als 50 inter-nationale und nationale Experten für deutsche Durchführungsorganisationenund NGOs tätig. Das BMZ finanzierte in der Region Projekte im Umfang von42 Millionen Euro. Neben Not- und Übergangshilfe lag der Schwerpunkt aufarbeitsintensiven Rehabilitierungsmaßnahmen: In Kundus wurden 14 Kilome-ter Straße gebaut, außerdem wurde mit der Errichtung eines Trinkwasserver-sorgungssystems begonnen. Im Rahmen der Lehreraus- und -fortbildung wur-den ca. 7.000 Lehrerinnen und Lehrer in den Provinzen Kundus, Takhar undBadakhshan geschult. Als Deutschland im Herbst 2004 das PRT in Faizabadübernahm, musste die EZ auch in diese Region nachziehen. In beiden Ortensetzte das BMZ einen eigenen Repräsentanten ein.

Aufgrund veränderter diplomatischer und militärischer Prioritätensetzun-gen musste die EZ in Afghanistan fast jährlich neu angepasst werden, wodurchsie zunehmend in eine reaktive Rolle gedrängt wurde. Zudem gab es viel Kri-tik an der thematischen Schwerpunktsetzung: Die EZ konzentriere sich eherauf infrastrukturbezogene Themen und spare konfliktbezogene (Disarmament,Demobilisation und Reintegration) oder „weiche“ Themen (Gesundheit, Bil-dung) weitgehend aus. Doch ist diese Kritik nicht ganz gerechtfertigt. So führtetwa die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) in Badakhshan

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und Nangarhar ein Alternative Livelihood Programme gegen den Drogenanbaudurch.

Wachsender Druck aus der NATO kurz vor ihrem Gipfel in Riga im De-zember 2006 veranlasste die Bundesregierung, von der GTZ für eine MillionEuro eine 4,5 Kilometer lange Straße in der südafghanischen Provinz Kanda-har bauen zu lassen. Es kann kaum bezweifelt werden, dass diesem Projekteher diplomatische und militärische als entwicklungspolitische Überlegungenzugrunde lagen.

Deutschlands zukünftiges Engagement

Aufgrund divergierender Interessen und Zielsetzungen der internationalen Ak-teure fehlt bislang eine kohärente, für alle Akteure bindende Strategie für Af-ghanistan. Die Gewichtung von Stabilisierungs- und Transformationsmaßnah-men ist nicht gelöst, was das Nebeneinander sich ausschließender Prozesseverursacht, wie die Ausbildung der Polizei und der Aufbau der Armee ver-deutlichten. Ausdruck dieser Problematik ist auch, dass internationale Akteurebevorzugt über eine Verbesserung der Koordinierung, aber nicht über inhaltli-che Zielsetzungen sprechen.

Der Beitrag Deutschlands zum Wiederaufbau Afghanistans war von An-fang an bedeutend, wenn auch ungleich schwächer als der der USA. Die Bun-desrepublik sah sich vor allem in der Rolle derjenigen, die Stabilität und Frie-den nach Afghanistan bringt. Die Jagd auf Terroristen überließ man anderen.Daher kreist gegenwärtig die Diskussion vermehrt um die Frage, wie verhin-dert werden kann, dass deutsche Soldaten in den umkämpften Süden verlegtwerden. Die Bundesregierung versucht, mit den Erfolgen des deutschen Enga-gements zu punkten. Diese sind jedoch in vielen Bereichen umstritten: Der vonDeutschland koordinierte Polizeiaufbau ist nicht mehr als ein Tropfen auf denheißen Stein; die Behauptung, dass die relative Ruhe in Nordafghanistan aufdas außerordentliche zivil-militärische Engagement Deutschlands zurückzu-führen ist, bleibt zu überprüfen. Bislang sind Evaluierungen des PRT-Ansatzespolitisch nicht gewünscht.

Deutschland befindet sich im Hinblick auf Afghanistan gegenwärtig in ei-nem Dilemma. Auf der einen Seite versucht es, ein militärisches Engagementin Südafghanistan zu vermeiden, auf der anderen Seite steht es in der NATOunter Druck. Der ehemalige britische NATO-Generalsekretär Lord Carringtonwarnte bereits, der Einsatz in Afghanistan könne für das Militärbündnis die

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„Totenglocke läuten“.5 Es ist in der Tat fraglich, ob ein Bündnis funktionierenkann, wenn manche Partner in Afghanistan bombardieren und kämpfen, wäh-rend andere unter relativ sicheren Konditionen Aufbauarbeit leisten. Aufgrunddieses Dilemmas muss die deutsche Afghanistanpolitik, die noch vor fünf Jah-ren stark gestaltete, gegenwärtig als reaktiv bezeichnet werden. Sie wird zu-nehmend davon bestimmt, so unbeschadet wie möglich aus dem Afghanistan-Abenteuer herauszukommen.

5 „Afghan mission ‚could end Nato‘“, Guardian vom 7.1.2007, www.onlinenews.com.pk/details.php?id=107007 (Zugriff: 27.3.2007).

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1.4. Sind militärische Interventionen ihr Geld wert?Zur Notwendigkeit und Problematik begleitenderKosten- und Nutzenanalysen

Michael Brzoska

Die Bemühungen der internationalen Staatengemeinschaft, massive Men-schenrechtsverletzungen zu verhindern, Kriege zu beenden und zur Konsoli-dierung von Nachkriegsgesellschaften beizutragen, haben seit dem Ende desKalten Krieges deutlich zugenommen. Ein Element dieser Bemühungen sindmilitärische Einsätze im Ausland, deren Zahl und Umfang drastisch gestiegensind. Dieser Trend ist für Deutschland besonders ausgeprägt. 1992 wurdenerstmals deutsche Soldaten in einen Auslandseinsatz geschickt, in den letz-ten Jahren waren es im Schnitt mehr als 20.000 pro Jahr, die einen solchenDienst aufnahmen. Innerhalb von 15 Jahren ist die Bundeswehr von einer fastausschließlich territorialen Verteidigungsarmee zu einer „Armee im Einsatz“geworden, wie es im Weißbuch 2006 heißt.

Dieser Umbruch hat eine finanzielle Seite. Die Mittel, die vom Steuer-zahler für Auslandseinsätze aufgebracht werden, sind hoch. Aber wie hoch?Dem Bundestag werden zwar detaillierte Zahlen vorgelegt, aber ihr Aussa-gegehalt ist begrenzt. Eine regelmäßige Information der Öffentlichkeit überdie Kosten von Auslandseinsätzen findet nicht statt. Evaluierungen von Aus-landseinsätzen, eine systematische Erfassung von Kosten und Einschätzungder Nutzen – unter Einschluss möglicherweise kostengünstigerer Alternativen– sind zumindest öffentlich nicht zugänglich. Damit fehlt der Diskussion umdie Einsätze deutscher Soldaten eine wichtige Dimension. Systematische Ge-genüberstellungen von Kosten und Nutzen von Auslandseinsätzen sollten vorder Entscheidungsfindung wie auch bei der nachträglichen Auswertung vorge-nommen werden. Allerdings können Kosten und Nutzen nicht das dominanteKriterium der Beurteilung sein. Dafür steht die Nutzenbewertung solcher Ein-sätze methodisch auf zu schwachen Beinen.

Um einen Eindruck der Größenordnung der Kosten vermitteln zu können,werden hier zunächst die unterschiedlichen Angaben zu diesen Kosten ver-glichen und die Schwierigkeiten der Ermittlung von Wirkungen und Nutzensowie einige Überlegungen zu einem Vergleich mit anderen Politikinstrumen-ten dargestellt. Der Beitrag schließt mit einer Reihe von Empfehlungen, derenGrundtenor die Forderung nach einer systematischeren Erfassung von Kostenund Einschätzung von Nutzen ist. Der Fokus liegt auf den deutschen Einsätzen.

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Zum Vergleich werden auch andere Fälle herangezogen, insbesondere Zahlenaus den USA. Die Ausgaben für Auslandseinsätze sind dort transparenter alsin anderen Ländern, einschließlich Deutschlands.

Kosten von Auslandseinsätzen

Deutsche und US-amerikanische Angaben – ein Vergleich

Insgesamt sind der Bundeswehr nach eigenen Angaben zwischen 1992 bis ein-schließlich 2005 9,5 Milliarden Euro an zusätzlichen Kosten für internationaleEinsätze entstanden.1 Diese wie auch andere offizielle Zahlen zu den Kostenvon Auslandseinsätzen müssen allerdings mit Vorsicht interpretiert werden.Es ist nicht immer klar, was sie enthalten und welche Aufwendungen sich inihnen widerspiegeln. Sie lassen sich nicht aus dem wichtigsten Zahlenwerkfür öffentliche Ausgaben, dem Haushaltsplan, erschließen oder ergänzen. ImHaushaltsplan werden zwar über viele Seiten Investitionen, Betriebs- und Per-sonalausgaben im Detail aufgelistet, aber Hinweise darauf, wofür das Geldausgegeben wird, finden sich nicht.

Die deutschen Angaben über die Kosten von Auslandseinsätzen liegen,rechnet man sie auf die Einsatzgröße um, weit unter denen, die die US-Regierung angibt. Beispiel Afghanistan: Die Bundeswehr beziffert ihre Kos-ten für den ISAF-Einsatz von im Schnitt ca. 3.000 Soldatinnen und Soldatenim Jahre 2005 auf rund 380 Millionen Euro. Das sind, umgerechnet auf deneinzelnen Soldaten, ca. 126.000 Euro. Die US-amerikanische Regierung gibtihre Kosten für den Enduring-Freedom-Einsatz in Afghanistan und darüberhinaus mit ca. 50.000 Soldaten im Finanzjahr 2005 mit 18,1 Milliarden US-Dollar oder 280.000 Euro pro Mann und Frau in Uniform an. Deutsche Sol-daten sind auch in anderen Einsätzen, folgt man den offiziellen Zahlen, relativkostengünstig zu stationieren. So lagen die Kosten für SFOR und KFOR imJahre 2005 bei 408 Millionen Euro, oder 87.000 Euro pro Soldat. Die US-amerikanischen Zahlen für Soldaten im Auslandseinsatz liegen regelmäßigweit darüber: Im Irak errechnet sich aus den Gesamtkosten von ca. 88 Milli-arden US-Dollar im Finanzjahr 2005 ein Durchschnitt von etwa 540.000 Europro Soldat.

Was sind die Gründe für diese Divergenzen? Ein Unterschied liegt bei denPersonalkosten. Die für die deutschen Soldaten ausgewiesenen Personalkos-ten sind deutlich geringer als die Kosten, die für US-Soldaten angegeben wer-

1 Antwort auf eine kleine Anfrage der Abgeordneten Hoff und anderer, Deutscher Bundestag,Drucksache 16/2321 vom 28.7.2006.

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den. Wiederum das Beispiel Afghanistan: Von den deutschen Gesamtkostenfür ISAF waren 18 Prozent Personalausgaben oder ca. 33.000 Euro pro Soldatund Jahr. Das heißt nun nicht, dass ein deutscher Soldat oder eine deutscheSoldatin mit dieser Summe auskommen müsste. Sie deckt lediglich die zu-sätzlichen Kosten für die Auslandsstationierung ab – jeder Soldat und jedeSoldatin erhielt 2005 im Schnitt 92,03 Euro pro Tag Auslandsverwendungs-zulage. Das „normale“ Salär der Soldatinnen und Soldaten während des Aus-landseinsatzes ist im regulären Haushalt des Bundesverteidigungsministeriumseingestellt, nicht bei den Auslandseinsätzen. Die Personalkosten, die sich fürUS-amerikanische Soldaten errechnen, liegen bei 55.000 Euro und umfassendie gesamten direkten Personalkosten.

Den größten Unterschied zwischen den deutschen und den US-amerika-nischen Zahlen für Afghanistan machen aber nicht die Personal-, sondern dieVerwaltungskosten aus. Ihr Anteil liegt beim deutschen Einsatz bei 28 Prozent,beim US-amerikanischen aber bei fast 50 Prozent. In den US-amerikanischenZahlen sind hierin auch Kosten für Verbrauchsmaterial sowie für Sozial- undGesundheitsvorsorge mit eingeschlossen. Erstere müssen bei den deutschenEinsätzen geringer sein – warum ist allerdings aus den vorliegenden Informa-tionen nicht nachvollziehbar –, letztere fallen „sowieso“ an und sind deshalbnicht Teil der zusätzlichen Kosten.

Gering ist der Unterschied zwischen den deutschen und den US-ameri-kanischen Angaben interessanterweise bei den Investitionen für Bauten unddie Erhaltung oder Beschaffung von Wehrmaterial. Deren Anteil liegt bei dendeutschen Ausgaben bei 54 Prozent, und damit auch in absoluten Zahlen proSoldat hoch. Im US-amerikanischen Zahlenwerk wird ein Anteil von 24 Pro-zent der Erhaltungs- und Neuinvestitionen an den gesamten Ausgaben der Aus-landseinsätze angegeben. Allerdings wird in einschlägigen Berichten, etwa desCongressional Research Service, darauf hingewiesen, dass die offiziellen US-amerikanischen Zahlen die Beschaffungskosten erheblich unterschätzen. Ent-halten seien nur die tatsächlichen Beschaffungen, nicht aber die Kosten, dieentstünden, würde alles benutzte oder zerstörte Material ersetzt. Würde so bi-lanziert, lägen die Kosten erheblich höher.2 Daraus ergibt sich seit Jahren, trotzeines Militärhaushalts von über 500 Milliarden US-Dollar, eine ständig wach-sende Beschaffungslücke der US-amerikanischen Streitkräfte.

Der Vergleich der deutschen und der US-amerikanischen Zahlen machtauf zwei Unterschiede aufmerksam. Zum einen enthalten die deutschen Zah-len nur diejenigen Ausgaben, die aufgrund eines konkreten Auslandseinsatzes

2 Amy Belasco: The Cost of Iraq, Afghanistan, and Other Global War on Terror OperationsSince 9/11, CRS, Washington, April 24, 2006.

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entstanden und nicht angefallen wären, wenn die Streitkräfte in Deutschlandgeblieben wären. Die US-amerikanischen Angaben hingegen spiegeln die Ein-satzkosten der Auslandsmissionen, d.h. die Personal-, Verwaltungs- und Be-triebskosten, die durch die Soldaten in Afghanistan, dem Irak und anderenLändern verursacht wurden. Die deutschen Zahlen gehen also davon aus, dassdie Soldaten ohnehin da sind, während hinter den US-amerikanischen Zahlendie Vorstellung steht, dass ohne den Auslandseinsatz die Streitkräfte die ent-sandten Soldaten nicht benötigt hätten.

Der zweite Unterschied lässt sich angesichts der schlechten Datenlage nurals Vermutung formulieren. Der detaillierte Vergleich einzelner Kostenkatego-rien legt die Annahme nahe, dass in den deutschen Zahlen nicht alle zusätz-lichen Kosten durch Auslandseinsätze enthalten sind. Das gilt insbesondere fürdie Verwaltungsausgaben, zu denen auch die Betriebsausgaben gehören. Prak-tisch dürfte es hier häufig schwierig sein, zwischen „normalen“ und speziellfür einen Auslandseinsatz anfallenden Aufgaben zu unterscheiden. Aber wennder Vergleich mit den US-amerikanischen Zahlen Aussagekraft hat, dürftendiese Kosten in den vorliegenden Berichten zu niedrig geschätzt sein.

Welche Kosten sind relevant?

Für die Schätzung der Größenordnung von Auslandseinsätzen ist der konzep-tionelle Unterschied zwischen zusätzlichen und gesamten Einsatzkosten wich-tiger als mögliche Probleme der richtigen Abgrenzung einzelner Kostenkate-gorien. Ist die in Deutschland mit Zahlen unterfütterte Betrachtungsweise oderdie in den USA ausgewiesene die richtige? Oder bedarf es noch anderer Kon-zepte?

Für beide Betrachtungsweisen lassen sich Argumente finden. Die Zusatz-kosten-Kalkulation erfasst die finanziellen Folgen einer politischen Entschei-dung über einen spezifischen Auslandseinsatz. Die Mitglieder des Bundestagesetwa erhalten damit wichtige Informationen, wenn sie über einen konkretenEinsatz entscheiden sollen: Sind sie für den Einsatz, ist ein bestimmtes Fi-nanzvolumen aufzuwenden; sind sie dagegen, kann das Geld gespart werden.Die reguläre Vergütung, die Verpflegung und Unterkunft für die Soldaten, aberauch die reguläre Verwaltung und die „normale“ Abnutzung von Waffensys-temen müssen aus dieser Summe nicht gedeckt werden, denn alles das wäreohnehin zu zahlen gewesen.

Diese Betrachtung ist aber über den Einzelfall hinaus irreführend. Wenndie Bundeswehr zunehmend zu einer „Armee im Einsatz“ geworden ist undAuslandseinsätze die Regel und nicht mehr die seltene Ausnahme sind, er-

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gibt das US-amerikanische Konzept der Kostenkalkulation deutlich mehr Sinn.Für die längerfristige Betrachtung ist der Ausweis nur der zusätzlichen Kostennicht ausreichend, denn ohne die „ohnehin anfallenden“ Kosten für Sold, Be-trieb und Investitionen wären die Soldaten und Soldatinnen im Ausland nichteinsetzbar.

Auch die US-amerikanischen Zahlen weisen aber nicht aus, was es kos-tet, eine „Armee im Einsatz“ zu unterhalten. Diese Kosten liegen erheblichhöher. Denn um Soldaten in einen Einsatz schicken zu können, müssen sieausgebildet werden. Später wird man ihnen nach einem Auslandseinsatz ei-ne Ruhephase in der Heimat oder zumindest außerhalb eines Einsatzgebietsgönnen müssen, was Geld kostet. Darüber hinaus wird eine „Armee im Ein-satz“ Soldatinnen und Soldaten „vorhalten“ müssen, um sie im Fall eines Falleszum Einsatz bringen zu können. Die Bundeswehr hat für diesen Vorhalt Zah-len festgelegt: 35.000 Soldatinnen und Soldaten als Eingreifkräfte, 70.000 alsStabilisierungskräfte. Auch die Beschaffungsplanung ist zunehmend auf Aus-landseinsätze ausgerichtet, wie das Beispiel der A-400M Transportflugzeugeveranschaulicht. Diese Beschaffung ist keinem bestimmten Auslandseinsatzzurechenbar, und vermutlich werden auch, wenn sie denn erst einmal fliegen,nie alle Flugzeuge gleichzeitig so zum Einsatz kommen, dass man ihre Kostendiesen Aufträgen zurechnen kann. Dennoch: Ohne die Grundsatzentscheidungfür Auslandseinsätze würden vermutlich weit weniger als die geplanten 60 A-400M beschafft werden. Ökonomisch gesehen sind diese zusätzlichen Kosten,die sich nicht unmittelbar aus einem konkreten Einsatz ergeben, ihn aber erstmöglich machen, Gemeinkosten.

Diese drei unterschiedlichen Betrachtungsweisen – Zusatzkosten, Einsatz-kosten und Vollkosten – und ihre Implikationen lassen sich an einem Beispielaus der Geschäftswelt verdeutlichen. Ein Lufttransportunternehmen kann dieKosten eines Fluges unterschiedlich kalkulieren. Die Firma kann nur die Kos-ten berechnen, die unmittelbar durch den Flug entstehen, also das Flugbenzin,die Abnutzung des Flugzeugs und etwaige Überstundenzuschläge für das Per-sonal. Das entspräche dem Konzept der Zusatzkosten der Auslandseinsätzeder Bundeswehr. Das kann ein Unternehmen im Einzelfall machen, aber wirt-schaftlich überleben kann es so nicht. Denn das reguläre Gehalt des Personalsist nicht abgedeckt. Keine Firma, die Geld verdienen will, wird deshalb einenFlug nur zu den Zusatzkosten anbieten. Sie wird zumindest die Einsatzkostenverlangen, mit denen die Gehälter des Personals und andere Kosten, die mitdem Flug in Zusammenhang stehen, abgedeckt sind. Auch das ist noch zu we-nig. Denn der Firma werden auch Verwaltungs- und andere Kosten entstehen,die nichts mit einzelnen Flügen zu tun haben, sondern für das Unternehmen

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insgesamt anfallen. Diese Gemeinkosten müssen auch gedeckt werden; in derRegel geschieht dies durch anteilige Umlage auf die Flüge.

Das Beispiel zeigt, dass hinter unterschiedlichen Kostenkonzepten unter-schiedliche Vorstellungen über die Bedeutung einzelner Aktionen für den Ge-samtzusammenhang stehen. Eine einmalige Aktion kann über die Einnahmeder Zusatzkosten finanziert werden. Geschieht dies aber öfter, fährt das Un-ternehmen Verluste ein. Eine Firma, deren Zweck der Verkauf von Flügen ist,kann mittelfristig nur überleben, wenn sie den Kunden gegenüber die Gemein-kosten durchsetzen kann.

Für militärische Auslandseinsätze gilt analog dazu, dass die Berechnungvon Zusatzkosten dann sinnvoll ist, wenn Auslandseinsätze als gelegentlicheEreignisse angesehen werden. Werden sie häufiger, sollten zumindest die Ein-satzkosten ermittelt werden. Sind Auslandseinsätze der Hauptzweck der Streit-kräfte, sollten auch die Gemeinkosten umgelegt werden.

Die Bundeswehr wird häufig im Ausland eingesetzt, Auslandseinsätze sindein wesentliches, wenn auch nicht das alleinige Element ihrer Daseinsbegrün-dung geworden. Deshalb sollten nicht nur die Zusatzkosten, sondern auchdie Einsatzkosten nach US-amerikanischem Vorbild ermittelt und ausgewiesenwerden. Wer darüber hinaus ganze Teile der Bundeswehr als „Armee im Ein-satz“ sieht, muss konsequenterweise auch für die Einrechnung von Gemein-kosten, etwa für Grundausbildung und Beschaffung, eintreten.

Damit würde transparenter, dass der Bundeswehr nicht nur zusätzlicheKosten durch Auslandseinsätze entstehen, sondern auch dadurch, dass sieKräfte für solche Einsätze vorhält. Ohne diese nicht an einen konkreten Einsatzgebundene Bereitstellung würden manche Kosten nicht anfallen, insbesonderekönnte die Bundeswehr insgesamt kleiner sein. Für die Parlamentarier und dieÖffentlichkeit wäre dadurch klarer, welche Kosten eine Armee im Einsatz unddie tatsächliche Durchführung von Auslandseinsätzen mit sich bringen.

Diese Zahlen werden nicht ganz einfach zu ermitteln sein, aber angesichtsder politischen Bedeutung der Frage und der finanziellen Größenordnungen,um die es geht, ist der Aufwand gerechtfertigt. Hier kann nur eine sehr grobeSchätzung der Größenordnungen abgegeben werden. Orientiert man sich anden US-amerikanischen Zahlen, so belaufen sich die Einsatzkosten der deut-schen Auslandseinsätze auf mindestens das Doppelte der Zusatzkosten. DieVollkosten, unter Einschluss der Gemeinkosten etwa aus den Ruhephasen derSoldatinnen und Soldaten oder dem Vorhalten von Truppen für den eventuellenAuslandseinsatz, lassen sich nur andeuten. Bei einer angenommenen Zahl vonetwa 60.000 Soldatinnen und Soldaten, die sich entweder gegenwärtig im Aus-landseinsatz befinden, gerade zurückgekehrt sind, in einen solchen geschickt

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werden können oder eine Ausbildung für Auslandseinsätze durchlaufen, ergä-be sich daraus ein Anteil von knapp einem Viertel der Verteidigungsausgaben– ein Betrag von etwa sechs Milliarden Euro pro Jahr. Werden alle Einsatz-und Stabilisierungskräfte in diese Kategorien gestellt, läge die Summe bei ca.zehn Milliarden Euro pro Jahr.

Nicht-fiskalische Kosten

Bisher war nur die Rede vom Verteidigungshaushalt. Auch außerhalb diesesHaushalts entstehen aber Kosten. Die Höhe solcher Folgekosten, die nicht un-mittelbar aus dem Verteidigungshaushalt abzudecken sind, lässt sich schwerabschätzen. Für Deutschland liegen gegenwärtig keine Untersuchungen vor,die dies auch nur im Ansatz versuchen. Das ist für die USA auch nicht vielanders, die vorliegenden Schätzungen zum Irak-Krieg etwa arbeiten mit ge-wagten Annahmen. Eine solche Schätzung wurde zum Beispiel von Linda Bil-mes und Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz vorgelegt.3 WesentlicheElemente der Kostenschätzung von Bilmes und Stiglitz über die Ausgaben ausdem Militärhaushalt hinaus sind vor allem die Kosten der Versorgung von Hin-terbliebenen gefallener Soldaten und von Invaliden – zunehmend durch psy-chische Erkrankungen –, Kosten für den Arbeitsmarkt durch den Abzug vonSoldaten mit Fachausbildung sowie volkswirtschaftliche Folgekosten durcheine unterstellte Erhöhung der Ölpreise. Bilmes und Stiglitz kommen zu ei-ner Schätzung der volkswirtschaftlichen Kosten des Irak-Krieges, die drei bissechsmal höher liegt als die fiskalisch ausgewiesenen Kosten. Dies dürfte fürdie Bundeswehr keine relevante Größenordnung darstellen. Trotzdem lohnenauch in dieser Hinsicht Informationssammlungen durch das Verteidigungsmi-nisterium, die gegenwärtig zumindest nicht öffentlich verfügbar sind, um zueiner umfassenden Kostenschätzung von Auslandseinsätzen zu gelangen.

Wirkungen und Nutzen

Wenn Klarheit über die Abgrenzung der relevanten Ausgaben für Auslands-einsätze besteht, lassen sich Kosten vergleichsweise leicht erfassen, weil siemeistens mit Zahlungsvorgängen verbunden sind. Hingegen ist die Quantifi-zierung von Wirkungen und Nutzen von Auslandseinsätzen nur in Grenzenmöglich, weil diese in der Regel nicht mit Geldströmen verbunden sind, son-

3 Linda Bilmes/Joseph Stiglitz: The Economic Costs of the Iraq War, New York, Ja-nuary 2006, www2.gsb.columbia.edu/faculty/jstiglitz/cost_of_war_in_iraq.pdf (Zugriff:23.3.2007).

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dern mit der Rettung von Menschenleben und dem Aufbau friedlicher Gesell-schaften. Selbst da, wo es um Geld geht, etwa bei der Frage wirtschaftlicherEntwicklung in Ländern, in denen interveniert wird, bestehen erhebliche Zu-rechnungsprobleme.

Trotzdem sollten nicht nur die Kosten, sondern auch die Nutzen von Aus-landseinsätzen systematisch erfasst werden. Dabei kann die Quantifizierungnicht im Vordergrund stehen, sondern nur für einige Nutzenkategorien alsHilfsmittel dienen. Für die meisten der Nutzen macht nur die plausible undfundierte qualitative Einschätzung Sinn. Dabei sollten verschiedene Kategori-en von Nutzen unterschieden werden, die sich aus den jeweils für den Ein-zelfall zu definierenden Zielen eines Auslandseinsatzes ergeben, also etwadie Rettung von Menschenleben, die Stabilisierung eines Friedensabkommensoder die Unterstützung des Aufbaus einer dauerhaft friedlichen Gesellschaft.

Für die Analyse der Nutzen von Auslandseinsätzen wird es von zentralerBedeutung sein, ob die Einsätze die erwünschten Ergebnisse erzielt haben.In einem zweiten Schritt muss dann untersucht werden, ob ein Einsatz auch„Nebenwirkungen“ gehabt hat, die ebenfalls für die Einschätzung des Netto-Nutzens erfasst werden müssen.

Die Einschätzung von Wirkungen und Nutzen von Auslandseinsätzen istproblematisch und in Teilen subjektiv, wie die nächsten Abschnitte exempla-risch darlegen. Allerdings sind die unterschiedlichen Einschätzungen oft ab-weichenden Erfolgskriterien und Messmethoden zuzuschreiben, deren umfas-sende Darstellung und Vergleich eine durchaus differenzierte Einschätzung er-lauben.

Deutsche Auslandseinsätze – erfolgreich?

Die Frage, ob deutsche Auslandseinsätze positive Wirkungen gehabt haben,wird sehr unterschiedlich beantwortet. Nur in einem Fall, in Somalia 1993,sind deutsche Truppen abgezogen, weil ein Krieg nicht beendet werden konnte.Im Kosovo wurde 1999 mit der Begründung, schwere Menschenrechtsverlet-zungen beenden zu wollen, zunächst ein Krieg begonnen, später mit Hilfe vonSoldaten ein brüchiger Frieden zwischen serbischen und albanischen Kosova-ren gesichert. In Afghanistan kamen deutsche Soldaten erst in größerer Zahlins Land, nachdem die Nordallianz im Verbund mit den USA den Krieg gegendie Taliban gewonnen hatte. Es lässt sich darüber streiten, ob die Stationierungausländischer Soldaten in den Jahren nach der Vertreibung der Taliban demFrieden im Land mehr geholfen oder geschadet hat. Ein Abzug zum jetzigenZeitpunkt dürfte das Land jedoch noch tiefer in einen Bürgerkrieg führen. In

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Bosnien-Herzegowina waren die ausländischen Soldaten für die Stabilisierungnach dem Abkommen von Dayton wohl unverzichtbar; ob sie es immer nochsind oder neuerdings nicht mehr, ist Spekulation. Im Kongo-Einsatz 2006 istdas vorgegebene Ziel der Absicherung der Wahlen erreicht worden, aber un-klar bleibt, ob die Wahlen nicht auch ohne deutsche Soldaten friedlich verlau-fen wären.

Monate und Jahre ohne Krieg sind eine positive Wirkung an sich. Dar-über hinaus ist die Abwesenheit oder zumindest Verminderung von kollektiverGewalt eine wichtige, wenn auch keinesfalls hinreichende Voraussetzung fürlangfristige Friedenskonsolidierung und wirtschaftlichen Aufschwung. Abersind diese Erfolge, selbst wenn sie parallel zu Auslandseinsätzen erfolgen,diesen auch zuzuschreiben? Selten ist Krisenprävention und Friedenskonso-lidierung nur eine militärische Angelegenheit. Im Gegenteil: Es werden auchin erheblichem Umfang zivile Instrumente eingesetzt, von der Unterstützungvon Versöhnungsarbeit bis zum Wiederaufbau zerstörter Infrastruktur. Wel-chen Beitrag die zivile und welchen die militärische Seite geleistet hat, ist nichtnur schwierig zu ermitteln, der Versuch einer solchen Aufteilung ist darüberhinaus sogar unsinnig, wenn, wie etwa die Bundesregierung argumentiert, ge-rade die angemessene Verbindung ziviler und militärischer Maßnahmen zumErfolg führt.

Quantifizierung von wirtschaftlichen Nutzen

Viele Nutzen sind immateriell – aber einige lassen sich kalkulieren. Dazu zäh-len vorrangig die positiven wirtschaftlichen Wirkungen der Beendigung einesBürgerkrieges. Hierzu liegen eine Reihe neuerer Versuche vor. Paul Collierund seine Mitarbeiterin Anke Hoeffler etwa haben die durchschnittlichen Kos-ten eines Bürgerkrieges einschließlich seiner wirtschaftlichen Folgekosten aufeine Durchschnittssumme von 64 Milliarden US-Doller geschätzt.4 Für jedenMonat, um den ein Auslandseinsatz einen Bürgerkrieg verkürzt, errechnen sieeinen durchschnittlichen Nutzen von ca. 600 Millionen Euro, vorrangig für diebetroffenen Länder – über regionale und globale Stabilität sowie vermehrteNachfrage nach Gütern, aber auch darüber hinaus. Natürlich sind diese Berech-nungen problematisch, weil in ihnen „heroische“ Annahmen über den Lauf derDinge ohne Auslandseinsätze und die Wirkungen von militärischen Maßnah-men auf Kriegseinhegung und Friedenskonsolidierung stecken, aber sie liefern

4 Paul Collier/Anke Hoeffler: The Challenge of Reducing the Global Incidence of Civil War,Centre for the Study of African Economies, Department of Economics, Oxford Univer-sity, Sept. 2004, www.copenhagenconsensus.com/Files/Filer/CC/Papers/Conflicts_230404.pdf (Zugriff: 23.3.2007).

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Anhaltspunkte für die Größenordnungen, um die es geht. Außerdem weisen sieauf Methoden hin, mit denen wirtschaftliche Nutzen geschätzt werden können.

Kostenvergleiche alternativer Maßnahmen

Auch wenn die absoluten Nutzen die Kosten von Auslandseinsätzen deutscherSoldaten überstiegen, wären sie trotzdem möglicherweise nicht die beste Ver-wendung knapper Ressourcen. Andere Instrumente könnten effizienter sein,insbesondere der stärkere Einsatz ziviler Mittel, etwa zum Aufbau von In-frastruktur oder die Unterstützung ziviler Friedenskräfte. Die Unterfinanzie-rung von zivilen Maßnahmen zur Konsolidierung von Nachkriegsgesellschaf-ten ist immer wieder beklagt worden. Ein besonders interessantes Beispiel da-für lieferte der NATO-Gipfel in Riga im November 2006. Einhellig waren dieStaats- und Regierungschefs der Meinung, der Hauptgrund für die sich ver-schlechternde Lage in Afghanistan seien die Defizite im zivilen Wiederauf-bau. Obwohl mehr Geld kein Patentrezept ist, fällt doch auf, dass in den meis-ten Nachkriegsländern mit ausländischer Truppenpräsenz die Aufwendungenfür die militärische Seite der ausländischen Präsenz die der Kosten für zivi-le Maßnahmen deutlich übersteigen. So waren die deutschen Aufwendungenfür zivile Maßnahmen in den drei Ländern mit den größten deutschen Trup-penkontingenten deutlich geringer als die für die Auslandseinsätze. Die zivileHilfe Deutschlands für Afghanistan betrug in den letzten Jahren etwa 80 Mil-lionen Euro jährlich. Hinzu kamen indirekte Beiträge über internationale Orga-nisationen in erheblicher Größenordnung. Die deutsche Hilfe für das Kosovound Bosnien-Herzegowina lag ebenfalls bei jeweils deutlich unter 100 Millio-nen. Die Mischung der Aufwendungen für militärische und zivile Maßnahmensollte natürlich in der Theorie immer so gewählt werden, dass das bestmögli-che Ergebnis erzielt wird. In der Praxis ist das allerdings schwierig, weil derbeste Weg zur Erreichung eines Ziels umstritten ist. Umso wichtiger ist derVersuch, für den militärischen wie zivilen Bereich ähnliche Kostenrechnungenund Nutzenschätzungen durchzuführen. Auch das wird letztlich eine politischeEntscheidung nicht ersetzen, sie aber auf eine solidere Grundlage stellen.

Auch eine andere Art von Kostenrechnung zeigt, dass Kostenvergleicheimmer politisch bewertet werden müssen. Deutsche Truppen sind zwar we-niger kostenträchtig als US-amerikanische, aber teurer als die vieler ande-rer Staaten, insbesondere aus Entwicklungsländern. UN-Einsätze sind deshalbdeutlich billiger als deutsche Einsätze. Die UN zahlen pro Soldat etwas mehrals 1.000 US-Dollar pro Jahr, wozu Verwaltungs-, Logistik- und andere Kostenin ähnlicher Größenordnung hinzukommen. Die sehr unterschiedlichen Kostenfür Soldaten aus verschiedenen Ländern haben zum gegenwärtigen regiona-

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len Ungleichgewicht bei UN-Missionen beigetragen. Die Masse der Truppenkommt aus armen asiatischen und afrikanischen Staaten, das Geld ganz über-wiegend aus den reichen Industrieländern. Diese Form globaler Arbeitsteilunghat unter Kostengesichtspunkten durchaus Attraktivität. Sie ist aber politischbedenklich. Im Kern führt sie zu einer Kommerzialisierung des Einsatzes vonTruppen, die von armen Staaten gestellt und von reichen Staaten bezahlt wer-den.

Schlussfolgerungen

Die für Deutschland öffentlich vorliegenden Informationen über die Kostenvon Auslandseinsätzen sind lückenhaft und spiegeln nur einen Teil der relevan-ten Kosten wider. Soweit ersichtlich, haben sich die Abgeordneten des Deut-schen Bundestages bisher mit einer Berichtspraxis zufrieden gegeben, die auchsie nicht umfassend informiert. Ihre britischen Kollegen haben wiederholt ihrUnbehagen mit der ähnlich unbefriedigenden Berichtspraxis ihrer Regierungzu Protokoll gegeben und in der Folge deutlich bessere Informationen erhal-ten.5 Für das Bundesverteidigungsministerium und die Bundeswehr würde dieumfassende Vorlage von Zahlen über Zusatz-, Einsatz- und Vollkosten vonAuslandseinsätzen erheblichen Arbeitsaufwand mit sich bringen. Angesichtsder Summen öffentlicher Mittel, um die es hier geht, sollte dies aber kein aus-schlaggebendes Argument sein. Es ist jedenfalls nicht einzusehen, warum invielen Bereichen der öffentlichen Verwaltung mit Hochdruck Kostentranspa-renz eingeführt wird, für Auslandseinsätze dies aber nicht möglich sein sollte.

Die Wirkungen und Netto-Nutzen von Auslandseinsätzen sind schwerereinzuschätzen. In Teilbereichen kann quantifiziert werden, wozu einige An-sätze aus der Forschung vorliegen. In anderen Bereichen kann der Nutzen,bis zu welchem Grad vorgegebene Ziele erreicht werden, zumindest qualitativbewertet werden. Zwar wird die Einschätzung der Nutzen immer subjektiveElemente enthalten, aber schon der Versuch einer systematischen Analyse hät-te den Vorteil, dass die bisher meist diffuse und wenig greifbare Debatte überden Sinn und Unsinn von Auslandseinsätzen klarere Maßstäbe erhielte. Manwürde sich weiter streiten müssen, aber es gäbe mehr Gemeinsamkeit über dieGegenstände der politischen Auseinandersetzung. Liegt ein Fall länger zurück,sind Kostenrechnungen und Nutzeneinschätzungen in der Regel einfacher. Zu-mindest dann sollten systematische Evaluierungen durchgeführt werden, wiesie in vielen anderen Politikbereichen eine Selbstverständlichkeit sind.

5 House of Commons, Defence Committee, Costs of Peace-keeping in Iraq and Afghanistan:Winter Supplementary Estimate, 2006-07, 5 December 2006, www.publications.parliament.uk/pa/cm200607/cmselect/cmdfence/129/129.pdf (Zugriff: 23.3.2007).

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1.5. Das Ende der nuklearen Teilhabe? FürNATO-Kernwaffen schwindet der Rückhalt

Oliver Meier

Noch immer lagern in Europa vermutlich rund 480 amerikanische Kernwaf-fen.1 180 dieser Atombomben vom Typ B61 sind für den Einsatz durch Flug-zeuge fünf europäischer Nichtkernwaffenstaaten (Belgien, Deutschland, Itali-en, Niederlande und Türkei) vorgesehen. Im Rahmen dieser nuklearen Teilha-be der NATO, die auch die Teilnahme von Nichtkernwaffenstaaten an Konsul-tationen im Rahmen der Nuklearen Planungsgruppe vorsieht, sind in Deutsch-land wahrscheinlich rund 130 US-Atomwaffen auf der amerikanischen AirBase Ramstein und 20 auf dem deutschen Fliegerhorst Büchel stationiert. Luft-waffenpiloten des Jagdbombergeschwaders 33 in Büchel könnten im Ernstfallbis zu 60 US-Atombomben mit Tornado-Kampfbombern ins Ziel bringen. Füreinen solchen Einsatz wäre ein Beschluss der NATO sowie die Freigabe derWaffen durch den amerikanischen Präsidenten erforderlich. Neben den in Eu-ropa stationierten luftgestützten US-Atomwaffen könnte die NATO zudem aufseegestützte britische Trident-Raketen sowie auf amerikanische Atomwaffenzurückgreifen.

Während des Kalten Krieges wollte die Bundesrepublik durch die nuklea-re Teilhabe verhindern, dass sich die USA nuklear von Europa abkoppeln, undandererseits darauf hinwirken, dass die nukleare Einsatzschwelle nicht zu weitabgesenkt wird. Unter welchen Umständen der Einsatz von Kernwaffen durchdie NATO heute denkbar wäre und welchen Zweck die der Allianz zugeordne-ten Waffen 17 Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts noch erfüllen kön-nen, ist allerdings umstritten. Eine offene Diskussion über die politischen, mi-litärischen und technischen Grundlagen der künftigen NATO-Nukleardoktrinwird zunehmend notwendig.

Schon die rot-grüne Bundesregierung hatte sich zaghaft bemüht, die NATOzu einer Revision ihrer Atomwaffenpolitik zu animieren. Diese Anstrengungenwaren jedoch erfolglos geblieben. Der damalige Bundesaußenminister Josch-ka Fischer verbrannte sich mit einem schlecht vorbereiteten Vorstoß für einenNATO-Verzicht auf den Ersteinsatz von Kernwaffen zu Beginn seiner Amts-

1 Die hier genannten Zahlen beruhen auf Hans M. Kristensen: U.S. Nuclear Weapons in Euro-pe: A Review of Post-Cold War Policy, Force Levels, and War Planning, Washington, D.C.:Natural Resources Defense Council, February 2005, www.nrdc.org/nuclear/euro/euro.pdf(Zugriff: 26.3.2007).

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NUKLEARE TEILHABE

zeit 1998 die Finger und ließ daraufhin das Thema ruhen. Verteidigungsminis-ter Peter Struck berichtete im Juni 2005 bei einem Treffen mit seinen NATO-Amtskollegen über deutsche Sorgen, die NATO könnte durch ihr Festhalten ander atomaren Abschreckung Nichtverbreitungsbemühungen unterhöhlen. Die-se Initiativen markierten den Anfangs- und Endpunkt rot-grüner Bemühungenum eine Änderung der NATO-Nukleardoktrin.

Unter der großen Koalition ist erneut Bewegung in die deutsche Diskussionüber die Rolle von Atomwaffen gekommen. Die Regierungsparteien streitensich über die künftige Beteiligung an der nuklearen Abschreckung der NATO.Im Parlament gibt es eine breite Mehrheit für einen Ausstieg Deutschlandsaus der Atomwaffenpolitik der Allianz. Ein Auslöser war die Diskussion umdas am 25. Oktober 2006 von der Bundesregierung verabschiedete Weißbuchzur Sicherheitspolitik Deutschlands. Darin verteidigt die Regierung Deutsch-lands Unterstützung für die nukleare Teilhabe und stellt fest, dass für die „über-schaubare Zukunft [ . . . ] eine glaubhafte Abschreckungsfähigkeit [der NATO]neben konventioneller weiterhin auch nuklearer Mittel“ bedarf. Deutschlandmüsse bei der nuklearen Teilhabe einen Beitrag leisten, weil „die glaubwürdi-ge Demonstration von Bündnissolidarität und faire Lastenteilung“ dies erfor-derten. Diese Formulierung – eine Paraphrasierung der entsprechenden NATO-Sprachregelung aus dem Strategischen Konzept von 1999 – bildet den kleins-ten gemeinsamen Nenner zwischen dem SPD-geführten Auswärtigen Amt unddem CDU-geführten Verteidigungsministerium.

Ein erster Entwurf des Weißbuchs, der Anfang 2006 im kleinen Kreis imVerteidigungsministerium erstellt worden war, befürwortete dagegen noch ei-ne Ausweitung der nuklearen Abschreckung der NATO gegenüber solchenNuklearwaffenstaaten, bei denen man „trotz möglicherweise fundamentalis-tischer Ideologie ein Interesse an Selbsterhaltung voraussetzen“ könne. „[D]ieStationierung von verbündeten Nuklearstreitkräften auf deutschem Boden, dieBeteiligung an Konsultationen, Planung sowie die Bereitstellung von Träger-mitteln“ sei notwendig, um auch künftig die deutsche Teilhabe an den nuklea-ren Aufgaben der Allianz zu sichern, so der Entwurf.2 Diese Passagen wurdenauf Drängen des Auswärtigen Amts gestrichen, unter anderem, weil man be-fürchtete, dass sie politisch verbindliche Zusagen der Kernwaffenstaaten rela-tivierten, Staaten ohne Atomwaffen nicht atomar zu bedrohen.

2 Der Entwurf des Weißbuchs vom April 2006 findet sich unter www.geopowers.com/Machte/Deutschland/doc_ger/vorl._WB_2006.pdf (Zugriff: 26.3.2007).

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Die Diskussion über eine neue Nukleardoktrin

Die offizielle Position der NATO ist, dass keine Notwendigkeit zur Überarbei-tung der derzeit gültigen Nuklearwaffendoktrin besteht, unter anderem weilseit Anfang der 1990er Jahre bereits 90 Prozent der in Europa stationiertenUS-Waffen abgezogen worden sind. Tatsächlich aber rumort es hinter den Ku-lissen der Allianz. Richtig wohl fühlt man sich aber weder im internationalenSekretariat der NATO selbst, noch in den Administrationen vieler Mitglied-staaten mit dem mittlerweile fast zehn Jahre alten Strategischen Konzept. Dortwird die gegenwärtige Zweckbestimmung der nuklearen Teilhabe, sie solle„Risiken jeglicher Aggression unkalkulierbar und unannehmbar“ machen, an-gesichts des Wandels seit dem 11. September 2001 für unzureichend und zuunpräzise gehalten.

Einige in der NATO hatten gehofft, dass bereits der Riga-Gipfel im No-vember 2006 eine Überarbeitung des Strategischen Konzepts in Auftrag gebenwürde. Aber zu einem solchen Schritt fehlte noch der politische Mut, sehr zumBedauern von NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer und von Bundes-kanzlerin Angela Merkel, die dafür eintreten, dass die Mitgliedstaaten bis 2009– dem 60. Geburtstag der NATO und zehn Jahre nach der Verabschiedung desderzeit gültigen Strategischen Konzepts – ein neues Grundsatzdokument erar-beiten. Dann wird die Allianz an einer Neufestlegung der Rolle von Nuklear-streitkräften kaum vorbeikommen.

Eine Debatte über Sinn und Zweck der nuklearen Abschreckung ist bis-her vor allem deswegen nicht geführt worden, weil zwischen den 26 Mit-gliedern gegenwärtig kein Konsens darüber herstellbar wäre, wie eine neueNukleardoktrin aussehen sollte. Während die drei NATO-AtomwaffenstaatenFrankreich, Großbritannien und USA ihre Atomwaffen aufwerten, drängen ei-nige Nichtkernwaffenstaaten auf Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung undwollen die Bedeutung von Kernwaffen reduzieren, um politische Nichtverbrei-tungsbemühungen nicht zu gefährden.

Nukleare Mitbestimmung und Proliferation

Auch heute noch besteht in einigen Nichtatomwaffenstaaten die Hoffnung,über die nukleare Teilhabe Einfluss auf die Doktrinen der verbündeten Atom-waffenstaaten nehmen und im Ernstfall über einen Kernwaffeneinsatz mit-entscheiden zu können. Bernd Siebert, sicherheitspolitischer Sprecher derCDU/CSU-Fraktion, betonte in einem Interview, dass „die Beteiligung an dernuklearen Teilhabe auch die politische Mitsprache beim Einsatz bzw. Nichtein-

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satz nuklearer Waffen“ für Deutschland sichert.3 Tatsächlich sind aber Frank-reich, Großbritannien und die Vereinigten Staaten nicht bereit, ihre Nuklear-doktrinen in der NATO zur Diskussion zu stellen. Dabei betrachten viele nicht-nukleare Verbündete mit Sorge, dass die Kernwaffenstaaten ihren Nuklear-waffenarsenalen neue Aufgaben zuweisen und diese auch zur Bekämpfungder Verbreitung von biologischen, chemischen und atomaren Waffen einset-zen wollen.

So begründete jüngst die britische Regierung die Entscheidung, ihre vierTrident Atom-U-Boote zu modernisieren und für die nächsten 30-50 Jahreeinsatzbereit zu halten, mit einer möglichen Bedrohung britischer Interessendurch alte oder neue Atomwaffenstaaten und durch Regime, die Nuklearterro-risten unterstützen. Solche Staaten dürften nicht in der Lage sein, Großbritan-nien oder die internationale Gemeinschaft von Maßnahmen zur Wahrung derregionalen und internationalen Sicherheit abzuhalten.

Frankreich, dessen Atomwaffen nicht zum NATO-Nuklearwaffendisposi-tiv gehören, hat Anfang 2006 die Aufgaben der Force de Frappe ausgeweitet.Präsident Jacques Chirac rechtfertigte umfassende Modernisierungsprogram-me unter anderem mit dem Ziel, die politische Führung solcher Staaten abzu-schrecken, die französische Interessen gefährden, über Massenvernichtungs-waffen verfügen oder Terroristen unterstützen.

Die Vereinigten Staaten haben die radikalsten Vorstellungen hinsichtlichder Rolle von Atomwaffen. Sie drängen vehement auf eine entsprechendeAnpassung der NATO-Nukleardoktrin. Washington will verstärkt sogenann-te Schurkenstaaten, die über Massenvernichtungswaffen verfügen, nuklear ab-schrecken und hätte dafür gern die Unterstützung der Verbündeten. Ein imMärz 2005 bekannt gewordener Entwurf für eine neue amerikanische Nuklear-doktrin (Doctrine for Joint Nuclear Operations) rückte die US-Nuklearwaffenin den Kontext des amerikanischen Präemptionsansatzes.4 Mehr als 30 Staatensowie Terrorgruppen, die den Besitz von Massenvernichtungswaffen anstrebenoder bereits über solche verfügen, sollten nach dem Dokument durch ameri-kanische Atomwaffen bedroht, abgeschreckt und möglicherweise entwaffnetwerden. Die Bush-Administration zog den Entwurf der Joint Doctrine nachProtesten aus dem In- und Ausland Anfang 2006 zwar zurück, die in ihr an-gelegten Ziele bleiben aber relevant. Sie spiegeln eine grundsätzliche Neu-orientierung der amerikanischen Nuklearwaffenpolitik wider, die bereits in der

3 Zitiert in Oliver Meier: An End to U.S. Tactical Nuclear Weapons in Europe?, in: ArmsControl Today 36(2006): 6, S. 38.

4 Joint Chiefs of Staff: Doctrine for Joint Nuclear Operations, Joint Pub 3-12, 15 March 2005,www.nukestrat.com/us/jcs/JCS_JP3-12_05draft.pdf (Zugriff: 26.3.2007).

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Nuclear Posture Review von 2002 und der Quadrennial Defense Review von2001 angelegt war.

Die in Washington angedachte „Konventionalisierung der Kernwaffen unddie Integration der taktischen Kernwaffen in ein operatives Gesamtdisposi-tiv für Interventionen widersprechen eindeutig dem Prozess der Herabstufung(de-emphasis) der Kernwaffen, die seit 1991 erklärte NATO-Politik und auchdas ursprüngliche Versprechen der Bush-Regierung war“.5 Es besteht die Ge-fahr, dass die NATO als global agierende Militärallianz operativ in die ame-rikanische Atomwaffenpolitik verwickelt wird. Der Entwurf beschreibt sogardie Option, dass der NATO zugeordnete Atomwaffen eingesetzt werden könn-ten, um alliierte Truppen in Out-of-area-Einsätzen zu beschützen, und zwarmöglicherweise, ohne dass hierfür im Rahmen der NATO ein Beschluss her-beigeführt wird. Dem Argument, dass die NATO-Nichtkernwaffenstaaten überdie nukleare Teilhabe die Umstände eines Kernwaffeneinsatzes mitbestimmenkönnen, wird so der Boden entzogen.

In Berlin löste der Entwurf der amerikanischen Nukleardoktrin im Septem-ber 2005 nach einer Reihe von Presseveröffentlichungen parteiübergreifendEntsetzen aus. Dabei stand die Befürchtung im Vordergrund, dass die im Do-kument angelegte Aufwertung von Kernwaffen die Proliferation anheizt undBemühungen erschwert, die Krise um das iranische Atomprogramm friedlichzu lösen. „Die Schlussfolgerung ist doch klar,“ so Gernot Erler, damals stell-vertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, „wer aufAtomwaffen verzichtet, setzt sein Land schutzlos den Drohungen der USAaus.“ Christian Schmidt, der damalige verteidigungspolitische Sprecher derCDU/CSU-Fraktion, mahnte: „Die Gefahr ist da, dass die Nuklearschwelle einStück gesenkt wird.“6 Grüne wie FDP forderten, die neue US-Strategie in derNATO zur Sprache zu bringen.

Neue Atombomber?

Eine Entscheidung über die Zukunft der nuklearen Teilhabe ist auch nötig,weil mittelfristig deren materielle Basis wegzubrechen droht. In den kommen-den Jahren werden viele europäische Kampfbomber außer Dienst gestellt, diebisher technisch für den Einsatz von Atombomben ausgerüstet waren. An derEntscheidung über die Beschaffung neuer, atomwaffentauglicher Trägersyste-

5 Harald Müller/Stefanie Sohnius: Die neue amerikanische Nuklearstrategie: Ein gefährlicherIrrweg, in: Friedensgutachten 2006, S. 214.

6 Beide zitiert nach „US-Planungen für Atom-Erstschlag abgelehnt“, in: ddp vom 13.9.2005.

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me wird sich zeigen, wie stark die politische Unterstützung für die nukleareTeilhabe in den partizipierenden Staaten tatsächlich ist.

In Deutschland und Italien sollen demnächst nuklearwaffenfähige Torna-do-Kampfflugzeuge ausgemustert werden, in Belgien, den Niederlanden undder Türkei Jagdbomber vom Typ F-16. Deutschland will den Tornado durchden Eurofighter ersetzen. Die Bundesregierung hat mehrfach betont, dass nichtgeplant ist und auch keine Vorkehrungen dafür getroffen werden, den Eurofigh-ter für einen Einsatz mit Nuklearwaffen zu befähigen.

Unklar ist, wie lange die atomwaffentaugliche Variante des Tornados imEinsatz gehalten werden kann. Das Jagdbombergeschwader 33 in Büchel wirdvoraussichtlich zwischen 2012 und 2015 auf den Eurofighter umstellen. Aller-dings werden auch danach in anderen deutschen Geschwadern atomwaffenfä-hige Tornados im Dienst bleiben. Eine Antwort der Bundesregierung auf eineKleine Anfrage der Fraktion der Linken im Bundestag brachte ans Licht, dassauch nach 2020, dem eigentlichen Zeitpunkt der endgültigen Ausmusterungdes Tornados, einige Flugzeuge weiter im Dienst bleiben sollen, um Deutsch-lands Rolle in der nuklearen Teilhabe zu sichern.7 Ein Datum für die endgül-tige Ausmusterung des Tornados nennt das Verteidigungsministerium nicht;offenbar will es eine Entscheidung über ein nuklearwaffentaugliches Träger-system für die Luftwaffe so lange hinauszögern, bis die politische Entschei-dung über eine neue NATO-Nuklearstrategie gefallen ist.

Dabei wächst der parlamentarische Druck für einen deutschen Ausstiegaus der nuklearen Abschreckung der NATO. Von den im Bundestag vertrete-nen Parteien befürwortet nur noch die CDU/CSU Deutschlands langfristigeMitwirkung an der nuklearen Teilhabe durch Bereitstellung von Trägersys-temen und die Stationierung von amerikanischen Kernwaffen auf deutschemBoden. FDP, Grüne und Die Linke wollen, dass Deutschland atomwaffenfreiwird. Wichtiger noch ist der Schwenk der SPD. In der Vergangenheit stelltedie SPD die nukleare Teilhabe nicht in Frage, jetzt sieht sie die Ausmuste-rung des Tornados als Gelegenheit, auch die auf deutschem Boden lagerndenAtomwaffen loszuwerden. Ein im Mai 2006 von der Arbeitsgruppe Sicher-heit veröffentlichtes Positionspapier zum neuen Weißbuch stellt klar, dass dieSPD „nicht bereit [ist], neue Trägersysteme bereitzustellen“. Mit der Ausmus-terung des Tornados endet „die taktisch-nukleare Teilhabe Deutschlands“, sodie Festlegung der SPD-Mitglieder im Verteidigungsausschuss. 8

7 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Norman Paech,Alexander Ulrich, Paul Schäfer (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LIN-KE, BT-Drs. 16/568 vom 8.2.2006.

8 SPD-Bundestagsfraktion: Position der Arbeitsgruppe Sicherheitsfragen zum Entwurf desWeißbuches des Bundesministers der Verteidigung, 16.5.2006, www.rainer-arnold.de/pdf/

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Auch andere an der nuklearen Teilhabe mitwirkende NATO-Staaten ha-ben über die Beschaffung von atomwaffentauglichen Trägersystemen für ver-alternde Flugzeuge noch nicht abschließend entschieden. Belgien und die Nie-derlande wollen ihre F-16 durch den neuen Joint Strike Fighter ersetzen. Einefür den Nuklearwaffeneinsatz taugliche Fassung dieses Flugzeugs wird wohlfrühestens 2015 verfügbar sein, sechs Jahre nach dem Beginn der Außerdienst-stellung jener F-16, die gegenwärtig die Mitwirkung an der nuklearen Teilhabesicherstellen. Italien ist noch durch einen Beschluss der konservativen Regie-rung unter Silvio Berlusconi gebunden, sowohl den Eurofighter als auch denJoint Strike Fighter zu beschaffen. Innerhalb der Mitte-Links-Regierung unterRomano Prodi gibt es aber Bestrebungen, aus dem Joint Strike Fighter auszu-steigen. Dann würde Italien, wie Deutschland, mittelfristig über kein nuklear-waffenfähiges Trägersystem verfügen. Die Türkei hat noch nicht entschieden,ob sie Eurofighter oder Joint Strike Fighter beschaffen will. Angesichts die-ser unklaren Planungsgrundlage fürchtet man im Brüsseler NATO-Sekretariatum die Glaubwürdigkeit des Abschreckungsdispositivs der Allianz insgesamt,konnte die betroffenen NATO-Mitglieder aber bisher nicht zu einer verbindli-chen Festlegung auf die rechtzeitige Beschaffung neuer Trägermittel bewegen.

Rüstungskontrolle und taktische Atomwaffen

Das Festhalten der Allianz an der nuklearen Abschreckung ist ein Hindernisauf dem Weg zu einer umfassenden Vereinbarung über taktische Atomwaffenmit Russland. Dabei herrscht in der NATO Einigkeit, dass die vielen Tausendin Russland lagernden taktischen Atomwaffen eine akute Bedrohung darstel-len. Denn diese Waffen sind ein ideales Ziel für Nuklearterroristen. Sie sindvergleichsweise leicht zu transportieren, oft schlecht gesichert, und viele derBomben wären ohne größeren Aufwand einsetzbar.

Auf beiden Seiten aber verhindert längst überholtes Denken in nuklearenGleichgewichtskategorien den Einstieg in einen Dialog über die Reduzierungund Abschaffung taktischer Atomwaffen in Europa. Zwar haben George H.W.Bush und Boris Jelzin Anfang der 1990er Jahre eine Reihe von Maßnahmenzur Abrüstung und besseren Sicherung taktischer Atomwaffen ergriffen. DieNATO selbst hat Ende 2000 betont, mit Russland über die Kontrolle taktischerAtomwaffen sprechen zu wollen. Bisher aber scheiterten westliche Bemühun-gen, mehr über Stationierungsorte von Russlands Atomwaffen zu erfahren unddiese Bestände sicherer zu verwahren, an der russischen Geheimhaltungspo-

Positionspapier%20AGS%20WB%2020060516.pdf (Zugriff: 26.3.2007).

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litik. Moskau hat mehrfach klargestellt, dass ein Abrücken der NATO vomPrinzip der Vorwärtsstationierung eine Vorbedingung für die Aufnahme vonGesprächen über Atomwaffen mit kurzer Reichweite sei. „Wir sind erst dannbereit, Gespräche über taktische Atomwaffen zu beginnen, wenn alle Staaten,die über diese Waffen verfügen, sie auf ihrem eigenen Territorium lagern“,fasste der damalige russische Verteidigungsminister Sergej Iwanow im Juni2005 die russische Position zusammen.9

Umgekehrt lehnen viele in der NATO einseitige Vorleistungen ab und se-hen die eigenen Atomwaffen vor allem als bargaining chip gegenüber demeinstigen Gegner. NATO-Atomwaffen werden zudem als „Rückversicherung“für den Fall eines Wiederauflebens des Ost-West-Konflikts in neuer Formangesehen. Das zunehmend selbstbewusste und teils antiwestliche AuftretenMoskaus trägt sicherlich dazu bei, dass die in Europa verbleibenden US-Atomwaffen auch wieder als „Platzhalter“ gesehen werden, um die Basis füreinen möglichen Wiederaufwuchs nuklearer Fähigkeiten zu schaffen, solltedas NATO-Territorium direkt aus dem Osten bedroht werden. Moskaus Dro-hungen, den INF-Vertrag über die Abrüstung von Mittelstreckenwaffen aufzu-kündigen, leisten diesem Denken Vorschub.

Ein Abzug der taktischen Atomwaffen aus Europa und ein Ende der nu-klearen Teilhabe würden zudem das globale Nichtverbreitungsregime stärken.Die Praxis der NATO, auch Nichtatomwaffenstaaten in den Einsatz von Kern-waffen mit einzubeziehen und diese Waffen im Kriegsfall auch der Verfü-gungsgewalt solcher Staaten zu überlassen, ist immer wieder vor allem vonneutralen und nichtpaktgebundenen Mitgliedern des Nuklearen Nichtverbrei-tungsvertrags (NVV) kritisiert worden, weil dies ihrer Meinung nach demGeist des NVV widerspricht. Auf der Überprüfungskonferenz des NVV imJahr 2000 haben die Atomwaffenstaaten zwar die Bedeutung weiterer Abrüs-tungsmaßnahmen bei den taktischen Atomwaffen im Prinzip anerkannt, siehaben seitdem aber nichts unternommen, um zu Fortschritten zu kommen. Pro-blematisch ist auch, dass sich innerhalb des NVV durch die nukleare Teilhabeneben den durch den Vertrag anerkannten Kernwaffenstaaten und den Nicht-kernwaffenstaaten eine dritte Kategorie von Mitgliedern herausgebildet hat,die zwar selbst in Friedenszeiten nicht über Kernwaffen verfügt, im Fall ei-nes Angriffs aber auf solche Kapazitäten zurückgreifen könnte. Umkehrt wür-de ein Abzug der US-Atomwaffen aus Europa die wichtige Norm etablieren,dass Kernwaffen nicht auf dem Territorium eines Nichtatomwaffenstaates ge-lagert oder stationiert werden. Die nukleare Teilhabe schwächt zudem diplo-

9 Steve Gutterman, Ivanov Talks of Retaliation If Weapons Put in Space, Associated Press,7.6.2005 (eigene Übersetzung).

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matische Bemühungen, andere Staaten wie Iran von einer Aufgabe der nuklea-ren Option zu überzeugen. Aus Teherans Sicht mag es verlogen einscheinen,dass Deutschland es sich unter dem nuklearen Schutzschirm der USA bequemmacht, zusammen mit den Atomwaffenstaaten Frankreich und Großbritannien,aber Iran nukleare Enthaltsamkeit predigt.

Vor diesem Hintergrund wurde die Berliner Debatte über die nukleare Teil-habe im Vorfeld der Überprüfungskonferenz des NVV im Mai 2005 besonderslebhaft geführt. Auslöser war ein FDP-Bundestagsantrag, der die Bundesregie-rung aufforderte „zur Stärkung der Glaubwürdigkeit des Nichtverbreitungsre-gimes und als Zeichen dafür, dass auch die Abrüstungsverpflichtung der Nu-klearwaffenstaaten als integraler Bestandteil des NVV ernst genommen undnachdrücklich verfolgt wird, bei den amerikanischen Verbündeten darauf zudrängen, dass die bis heute in Deutschland stationierten taktischen Nuklear-waffen der USA abgezogen werden“.10 Dieser Antrag traf den Nerv der rot-grünen Bundesregierung, auch weil Außenminister Joschka Fischer, der denFDP-Antrag „eine vernünftige Initiative“11 nannte, die nukleare Abrüstung alswichtiges Thema sah. Unter Bezugnahme auf die Diskussion in der Heimatforderte Fischer einen schrittweisen Ansatz, um substrategische Waffen „zu re-duzieren – bis hin zu ihrer vollständigen Abschaffung“. In einem ersten Schrittsollten die von den USA und Russland Anfang der 1990er Jahre verkündetenunilateralen Maßnahmen zur Kontrolle taktischer Waffen umgesetzt werden.Auf der Grundlage weiterer Transparenzmaßnahmen sollten diese Initiativendann formalisiert und ihre Einhaltung überprüft werden.12

Unter der Großen Koalition sorgt sich der Bundestag weiter über die Aus-wirkungen der nuklearen Teilhabe auf das nukleare Nichtverbreitungsregime.Ein vor dem NATO-Gipfel in Riga verabschiedeter gemeinsamer Antrag vonSPD und CDU/CSU fordert die Bundesregierung auf, „neue Initiativen zurRüstungskontrolle“ zu ergreifen und stellt fest, dass in diesem Zusammenhang„neue Impulse zur Reduzierung substrategischer Nuklearwaffen in Europa sei-tens der NATO sinnvoll“ seien und „einen wichtigen Impuls zur Stärkung desinternationalen Nichtverbreitungsregimes geben“ würden.13

10 Glaubwürdigkeit des nuklearen Nichtverbreitungsregimes stärken – US-Nuklearwaffenaus Deutschland abziehen, Antrag der FDP-Bundestagsfraktion, BT-Drs. 15/5257 vom13.4.2005.

11 Fischer begrüßt Forderung nach Beseitigung von US-Atomwaffen, in: afp vom 2.5.2005.12 Rede von Bundesaußenminister Fischer auf der 7. Überprüfungskonferenz zum Nuklea-

ren Nichtverbreitungsvertrag, New York, 2.5.2005, www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Infoservice/Presse/Reden/Archiv/2005/050502-DerNukleareNichtverbreitungsvertrag.html(Zugriff: 26.3.2007).

13 Die NATO vor dem Gipfel in Riga vom 28. bis 29.11.2006, Antrag der Bundestagsfraktio-nen der CDU/CSU und der SPD, BT-Drs. 16/3296 vom 8.11.2006.

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Ein Abzug der amerikanischen Atomwaffen aus Europa würde von einerMehrheit der Bevölkerung unterstützt: Rund 70 Prozent der Bevölkerung inden fünf Stationierungsstaaten befürworten ein atomwaffenfreies Europa.14

Politische Optionen

Bisher schieben NATO-Offizielle die Verantwortung für die Eröffnung einerDebatte über die Anpassung der nuklearen Teilhabe wie einen transatlanti-schen Schwarzen Peter zwischen Europa und den Vereinigten Staaten hin undher. So antwortete der damalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeldin einem Interview im Oktober 2005 auf die Frage, warum immer noch ameri-kanische Atomwaffen auf deutschem Boden lagerten: „Ich denke, das überlas-se ich den Deutschen und der NATO. Einige Länder in Europa haben damalsdiese Entscheidung gefällt. Das lag in ihrem Interesse, und auch heute giltdie Entscheidung noch. Also sollte man annehmen, dass es weiterhin in ihremInteresse liegt.“15 Die amerikanische Air Force zumindest ist seit langem füreine Rückführung der US-Atomwaffen aus Europa, um Kosten zu sparen undihre hier gebundenen Kapazitäten anderweitig einsetzen zu können. Europäerverweisen hingegen auf das vermeintliche Interesse der USA an einer fortge-setzten Stationierung von Atomwaffen in Europa.

Angesichts der anstehenden Überarbeitung des Strategischen Kon-zepts der NATO, der notwendigen Entscheidung über neue Trägersystemeund der rüstungskontrollpolitischen Vorteile einer Anpassung der NATO-Atomwaffenpolitik, scheint die Frage immer weniger zu sein, ob die Allianzihre Atomwaffenpolitik ändert, sondern nur noch wann und wie dies geschieht.Aus friedenspolitischer Sicht bietet diese Debatte Gelegenheit, die nukleareAbschreckung der NATO grundsätzlich in Frage zu stellen. Ein Abzug deramerikanischen Atomwaffen aus Europa und die Beendigung der nuklearenTeilhabe würde die Glaubwürdigkeit westlicher Nichtverbreitungsbemühun-gen erhöhen, den Wandel der Allianz nach dem Ende des Ost-West-Konfliktsuntermauern und die Chancen vergrößern, die Abrüstung taktischer Atomwaf-fen umfassend zu regeln.

14 Daten nach einer von Greenpeace im Mai 2006 in Auftrag gegebenen Umfrage in Bel-gien, Deutschland, Großbritannien, Italien, den Niederlanden und der Türkei. StrategicCommunications: Nuclear Weapons in Europe: Survey Results in Six European Coun-tries, Vancouver, 25.5.2006, www.greenpeace.org/raw/content/international/press/reports/nuclear-weapons-in-europe-survey.pdf (Zugriff: 26.3.2007).

15 SPIEGEL-Gespräch mit Donald Rumsfeld: „Wir werden die Dinge richten“ vom31.10.2005.

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Drei Modelle einer künftigen NATO-Atomwaffenpolitik werden disku-tiert. Aus Sicht mancher in der NATO ist eine Fortführung der gegenwärtigenPraxis das kleinere Übel verglichen mit einem Aufbrechen tiefgreifender Mei-nungsdifferenzen zwischen den Verbündeten über die nukleare Abschreckung,die sich hinter den Formelkompromissen des Strategischen Konzepts verber-gen. Für diese Status quo-Befürworter sichert die unveränderte Fortschreibungder NATO-Nukleardoktrin und die Beibehaltung der nuklearen Teilhabe zu-mindest kurzfristig die Zukunft des Nuklearwaffendispositivs der Allianz. Sieverweisen zudem darauf, dass die gegenwärtige Atomwaffendoktrin so un-scharf ist, dass sie die meisten möglichen Einsatzszenarien abdeckt und dieAbschreckung dadurch sogar stärkt, weil sie mögliche Aggressoren über dieUmstände einer möglichen nuklearen Vergeltung im Unklaren lässt.

Mittelfristig ist eine „Weiter-so“-Politik allerdings kaum durchzuhalten.Die Forderung der SPD, die Ausmusterung des Waffensystems Tornado mitdem Ende der deutschen Mitwirkung an der nuklearen Teilhabe zu verbinden,ist ein Indiz, dass die Diskussion über die Beschaffung neuer nuklearwaffenfä-higer Trägersysteme im Ergebnis den Ausstieg eines oder mehrerer Staaten ausder nuklearen Teilhabe nach sich ziehen könnte. Ein solcher Schritt Deutsch-lands oder eines anderen wichtigen NATO-Mitglieds könnte aber mangels öf-fentlicher Unterstützung für die nukleare Abschreckung insgesamt einen Do-minoeffekt auch in anderen NATO-Staaten auslösen.

Andere in der NATO fordern daher eine Reform der nuklearen Teilhabe,um diese auf eine festere Basis zu stellen. Denkbar ist, die gegenwärtige Sta-tionierungspraxis durch ein anderes Modell zu ersetzen. Oder die VereinigtenStaaten könnten ihre in Europa stationierten Atomwaffen abziehen, die NATOaber das System der nuklearen Teilhabe, inklusive der Konsultationsmecha-nismen und Infrastruktur beibehalten. Ein solcher Abzug könnte als Abrüs-tungsmaßnahme verkauft werden, ohne militärische Fähigkeiten einzuschrän-ken. Denn luftgestützte US-Atomwaffen lassen sich in Krisenzeiten schnellwieder nach Europa verlegen.

Kritiker befürchten allerdings, dass ein solcher Re-Stationierungsbe-schluss in Krisenzeiten wegen seines Eskalationscharakters nur schwer her-beizuführen wäre. Sie verweisen zudem darauf, dass ein Abzug der Waffen al-lein das Problem der Beschaffung neuer Trägermittel nicht notwendigerweiselöst, denn die partizipierenden Staaten müssten eventuell weiterhin nuklear-waffenfähige Flugzeuge einsatzbereit halten. Unklar ist ferner, ob ein solchervirtueller Abzug als Vorleistung für einen rüstungskontrollpolitischen Dialogmit Russland ausreicht.

Schließlich könnte sich die NATO dazu durchringen, die nukleare Teilha-

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be ganz zu beenden und alle amerikanischen Kernwaffen aus Europa abzu-ziehen. Dies wäre eine Demonstration des proklamierten Wandels der Allianzvom Bündnis gegen die Bedrohung aus dem Osten zum globalen Instrumentdes Krisenmanagements und der Konfliktvorsorge. Die Abrüstung taktischerAtomwaffen würde signalisieren, dass Nuklearwaffen in der Sicherheitspolitikwestlicher Staaten tatsächlich an Bedeutung verloren haben. Der Suche nacheiner diplomatischen Lösung im Konflikt mit Iran und Nordkorea kann diesnur gut tun. Diesen Zusammenhang erkennen selbst einflussreiche konserva-tive amerikanische Strategen mittlerweile an.16 Schließlich würde ein solcherAbzug es Russland schwerer machen, sich Gesprächen über die eigenen takti-schen Atomwaffen zu verweigern.

Noch scheint allerdings der politische Mut zu fehlen, für die Vision einesBündnisses einzutreten, das nicht nur die nukleare Teilhabe aufgibt, sondernauf die Androhung des Einsatzes von Kernwaffen insgesamt verzichtet. Ei-ne atomwaffenfreie NATO wäre ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu eineratomwaffenfreien Welt und ein Zeichen gegen die weltweit zu beobachten-de Aufwertung von Nuklearwaffen. Durch eine Initiative zum Abzug der US-Atomwaffen aus Europa könnte Deutschland demonstrieren, dass Anstrengun-gen zur Verminderung der Rolle von Kernwaffen in der internationalen Politikernst gemeint sind.

16 Siehe George P. Shultz/William J. Perry/Henry A. Kissinger/Sam Nunn: A World Free ofNuclear Weapons, in: Wall Street Journal vom 4.1.2007.

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1.6. Weltbürger in Uniform oder dienstbare Kämpfer?Konsequenzen des Auftragswandels für dasSoldatenbild der Bundeswehr

Sabine Mannitz

Als 2006 bekannt wurde, dass Bundeswehrsoldaten in Afghanistan respektlo-se Spiele mit aufgefundenen Totengebeinen veranstaltet hatten, flackerte kurzeine Debatte um Leitbilder und Ausbildungsstandards auf. Mehr als die kollek-tive Selbstvergewisserung, dass ein Tabu gebrochen worden sei und derartigePeinlichkeiten sich nicht wiederholen dürften, ist von der Fotoaffäre nicht ge-blieben. Dabei verändert der Umbau der Bundeswehr von der Abschreckungs-armee des Kalten Krieges zu einer global einsatzfähigen Truppe das Soldaten-bild derart, dass gesteigerte Aufmerksamkeit angebracht wäre.

Der Auftragswandel wirft Fragen nach Legitimation und Kriterien der po-litischen Einsatzentscheidungen auf und verlangt die kritische Beobachtungdemokratischer Kontrollmechanismen (vgl. die Beiträge 1.1. und 1.7.). Au-ßerdem hat es Konsequenzen für Führungsphilosophie und Rollenverständnisder Streitkräfte, wenn sie nicht mehr nur der Landes- und Bündnisverteidi-gung dienen, sondern für ein breites Einsatzspektrum außer Landes herange-zogen werden. Die Bundeswehr leistet internationale Katastrophenhilfe, ist inAntiterroreinsätzen wie Enduring Freedom am Horn von Afrika und ActiveEndeavour im Mittelmeer aktiv, in Stabilisierungsmissionen wie der ISAF inAfghanistan, oder sie sichert demokratische Wahlen wie 2006 im Kongo. Mitdem Staatsbürger in Uniform, dessen Ernstfall-Szenario sich in der Verteidi-gung des eigenen Landes und dessen Allianz erschöpfte, haben diese Einsätzenur noch wenig gemein. Dass bisher keine Wehrpflichtigen zu den deutschenAuslandseinsätzen abgestellt wurden, sondern ausschließlich freiwillig Län-gerdienende und Berufssoldaten, spiegelt die Spannung zwischen dem einsti-gen Wehrkonzept mit seiner defensiven Begründungslogik und den veränder-ten Umständen gegenwärtiger Einsätze wider.

Für die Verankerung der Bundeswehr in der deutschen Nachkriegsdemo-kratie waren das Bild des Bürgersoldaten und das Ethos der Inneren Führungzentral. Beide sollten dem Risiko entgegenwirken, dass die Streitkräfte sichdem demokratischen System entfremden und als entmündigte Befehlsempfän-ger verfassungsfeindlichen Zwecken dienen könnten. Das Gefüge der auf dieseWeise – dem Ideal nach – in die Gesellschaft integrierten, zivilisierten Armeegerät durch die Auslandseinsätze unter Druck. Der Beitrag beleuchtet diese

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Entwicklung. Dazu werden zunächst die Grundzüge des bundesdeutschen In-tegrationsmodells erläutert, ehe die Gefahr einer Suspendierung seiner ambi-tionierten Ansprüche skizziert wird.

Die alte Bundeswehr: Konstruktion einer zivilen Armee

Das theoretische Programm der Inneren Führung, das Wolf Graf von Baudis-sin seit 1951 entwarf, wurde im Zuge der westdeutschen Wiederbewaffnungzum offiziellen Leitkonzept der Bundeswehr. Es war nie unumstritten, entwi-ckelte sich nach und nach aber zur Zentralen Dienstvorschrift, einem prak-tischen Organisationsprinzip und einer differenzierten Führungsphilosophie.Dabei war es erklärtermaßen der Historie geschuldet, dass die generelle Her-ausforderung, demokratische Prinzipien und militärische Funktionen in einebelastbare Balance zu bringen, hierzulande auf besonders skrupulöse Weiseangegangen wurde. Für die Bundesrepublik war die staatliche Neugründungals Bruch mit dem NS-Regime die zentrale Legitimationsbasis, die gerade fürdie militärische Neuaufstellung bedeutsam war. Die Streitkräfte waren zwei-felsfrei auf das demokratische Projekt zu verpflichten. Es galt, sich vom Bilddes Soldaten als schierem Werkzeug der Staatsführung zu distanzieren – underst recht von den Angehörigen der Wehrmacht, die sich bis zur eigenen Straf-täterschaft an einem verbrecherischen Krieg beteiligt hatten. Baudissin undseine Nachfolger stellten daher sehr weitgehende Überlegungen an, wie dieIntegration der Streitkräfte in die Demokratie durch Schaffung strukturellerund ideeller Bedingungen zu verwirklichen sei.

War schon die Wiederbewaffnung kontrovers, musste, nachdem sie 1955beschlossen war, sichergestellt werden, dass die neuen Streitkräfte das politi-sche System stabilisieren und seiner Verteidigung dienen würden. Die Tradi-tionswürdigkeit der Wehrmacht wurde ausdrücklich verneint. Vergangenheits-politisch knüpfte man im zuständigen Amt Blank stattdessen an die aufgeklär-ten preußischen Militärreformer an, die den Bürgersoldaten favorisiert hatten.Zu Vorbildern soldatischer Ehrenhaftigkeit wurden überdies die Widerständi-gen vom 20. Juli 1944 erklärt, die sich nicht durch unbeirrtes Festhalten amgeleisteten Eid, sondern in dessen Bruch als gewissenhaft erwiesen hatten.All das lässt im Militärpolitischen das Charakteristische des bundesdeutschenSelbstverständnisses erkennen, Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Repu-blik zu ziehen und sich mit den Opfern der NS-Herrschaft zu solidarisieren.Dem Gedanken von 1945 als Zäsur folgend, sollte die Bundeswehr als Neu-gründung verstanden werden.

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Das Paradox, der neuen Armee ein Soldatenbild ex negativo ins Stamm-buch zu schreiben, schuf ein „Traditionsdilemma“1: Was Vorbilder anging,war die demonstrative Neuschöpfung mit bestenfalls vordemokratischen Iko-nen ausgestattet. Zudem entsprach die Würdigung der Hitler-Attentäter nichtder Realität. Noch 1960 lag der Anteil der Unteroffiziere, die auch der Wehr-macht und zum Teil der Reichswehr angehört hatten, bei 46 Prozent, und dieüberwiegende Zahl der Weltkriegs-Veteranen, die in der Bundeswehr Aufnah-me fanden, waren keine Widerständler, sondern betrachteten sich im Rück-blick als Soldaten bona fide, deren Idealismus missbraucht worden war. Mitdieser Deutung wurde die Möglichkeit einer legitimen, unter Umständen not-wendigen Befehlsverweigerung von vielen als dysfunktional und überflüssig(ab)gewertet, da die neue Armee ja im freiheitlichen Rechtsstaat stehe. Sowurde der ursprünglich als „Inneres Gefüge“ bezeichnete Entwurf von seinenGegnern mit Polemik überzogen und z.B. als lässliches „Inneres Gewürge“verspottet. 2

Im Kontext derartiger Auseinandersetzungen ist die ambitionierte Kon-struktion der Bundeswehr als einer Armee innerlich geführter Bürgersoldatenzu verstehen, die durch institutionelle Vorkehrungen und sozialisierende Maß-nahmen mit der liberalen Demokratie verbunden werden sollte. Das Programmwar nie bloß die anvisierte Unternehmenskultur einer Großorganisation, son-dern meinte ein mehrdimensionales Konzept zur Zivilisierung der Streitkräfte.Diese wiederum sollten in eine Gesellschaft ausstrahlen, die zu Baudissins Zeitnoch „in großer Distanz zur Demokratie“ stand.3 Dass solche Anliegen lang-wierige Prozesse beinhalten und viele Maßnahmen erst mittelfristig wirksamwürden, war unstrittig.

Strukturelle Elemente der Inneren Führung

Generell gilt für die Integration der Streitkräfte wie für jedes Teilsystem der de-mokratischen Gesellschaft das Ziel, durch Strukturen und Konsens eine funk-tionierende Bindung herzustellen. Es geht hierbei um materielle Abhängig-keiten, institutionelle Regelungen und geteilte Handlungsorientierungen. MitBlick auf das Militär als Organisation, der die kollektiven Gewaltmittel an-vertraut sind, stellt die Notwendigkeit, dieses Ziel zu erreichen, ein besondersvitales Interesse dar. Verhältnismäßig einfach ist es, materielle Abhängigkeiten

1 Klaus Naumann: Negative Tradition und doppelter Blick, in: Andreas Prüfert (Hrsg.): Bun-deswehr und Tradition, Baden-Baden 2000, S. 52.

2 Martin Kutz: Innere Führung in der Bundeswehr: Auf andere Streitkräfte übertragbar?,SOW kontrovers 1/2004, S. 9.

3 Ebd., S. 8.

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und Vorkehrungen der Aufsicht so zu schaffen, dass die demokratische Kon-trolle und das Entscheidungsprimat der Politik gewährleistet sind; zumindestnach erfolgter Demobilisierung.

Institutionelle Momente zur demokratischen Integration der Bundeswehrfinden sich in Wehrverfassung und Rekrutierungsprinzip. Sie bestehen zu-nächst in der verfassungsmäßigen Regelung politischer Kompetenzen in Ein-satzentscheidungen und Fragen der personellen, Finanz- und Ausrüstungsaus-stattung. Bereits auf dieser Ebene zeigt sich, dass die historischen Vorbehaltegegen ein mögliches militaristisches Subsystem weitreichende Vorkehrungenveranlasst haben: Die verfassungsmäßigen Mitsprachebefugnisse des Bundes-tags sind im internationalen Vergleich stark ausgebaut; die Bundeswehr ist Par-lamentsarmee, und Einsätze im Innern schließt das Grundgesetz zu Friedens-zeiten aus. Der Zustimmungsvorbehalt der Abgeordneten zu Entscheidungen,wann und wo die Bundeswehr eingesetzt wird, welches Gerät sie anschafftund welche Personenstärke sie hat, hat das Primat des Politischen institutio-nell gestärkt: Alleingängen und rechtlich problematischen Entscheidungen derExekutive sollten Steine in den Weg gelegt werden. Zwar gab es in den letztenJahren Versuche von Regierungsseite, das Reglement aufzuweichen, bislangaber ohne Erfolg. Im Umkehrschluss heißt der Fortbestand starker Parlaments-rechte freilich nicht, dass jede Einsatzentscheidung unbedenklich ist, weil sieden Bundestag passiert hat, wie die Zustimmung zur Beteiligung am immerhinvölkerrechtswidrigen Kosovo-Krieg der NATO gezeigt hat.

Die zweite strukturelle Komponente des bundesdeutschen Wehrkonzeptsbetrifft die Rekrutierung: Dem stehenden Heer von Berufssoldaten, das dieMasse für einen „Staat im Staate“ bilden könnte, wurde eine Absage erteilt.Stattdessen führte man die allgemeine Wehrpflicht ein, weil das Konzept desBürgersoldaten eine Identität von Armee und Bürgerschaft herstellt und damitreziproke Verantwortlichkeiten zwischen den Streitkräften und der zivilen Ge-sellschaft zu stiften verspricht. Begründet wurde die Wehrpflicht außerdem mitder grundgesetzlichen Zweckbestimmung der Landesverteidigung. Aus die-ser Verteidigungsarmee ließ die atomare Bedrohung des Kalten Krieges prak-tisch von Beginn an eine Abschreckungsarmee werden, die schon versagt habe,wenn es überhaupt zum Einsatz komme; in Baudissins Worten sollte der Bun-deswehrsoldat ohnehin keiner zur Kriegführung sein, sondern „Soldat für denFrieden“, das neue Militär ein „kongruenter Teil“ der demokratischen Gesamt-ordnung.4

4 Wolf Graf von Baudissin: Soldat für den Frieden, München 1969, S. 122.

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Ideelle Elemente der Inneren Führung

Schwieriger als die Unterwerfung des Militärs unter institutionelle Regeln zi-viler Kontrolle ist die Integration mittels geteilter Handlungsorientierungen.Der Kern des Problems liegt darin, dass die funktional notwendige hierar-chische Ordnung des Militärs und die Legitimierung der Gewaltanwendungbis zum gezielten Töten demokratischen Grundsätzen fundamental widerspre-chen. Gelegentlich wurden die moderne Demokratie und das Militär daher alsinkompatible Lebenswelten eingestuft, die eigene alltagsweltliche Orientie-rungen ausbilden; das Militär geriet als „Gegenkultur“5 in den Blick. In denletzten Jahren wurde diese These mit dem Begriff civil-military gap erneuertund so kontrovers bewertet wie in der Vorläuferdebatte zur Inkompatibilität vorJahrzehnten. Es bleibt das zentrale Dilemma des demokratischen Integrations-anliegens: Um als Militär einsatzfähig zu sein, müssen Soldaten die Grenzender Zivilität überschreiten (können). Bei aller funktional nötigen Diskrepanzder Handlungslogiken muss aber sichergestellt sein, dass die Streitkräfte In-strument des politischen Systems bleiben und ihm loyal dienen.

Die Bundesrepublik wählte auch zu diesem Zweck eine überaus voraus-setzungsvolle Variante: Das Konzept der Inneren Führung leitet aus dem Men-schenbild der Aufklärung und den Grundsätzen der Demokratie den vernunft-begabten, politisch und menschlich gleichberechtigten Soldaten ab, der ers-tens sein Handeln an ethische Grundsätze bindet und zweitens nicht nur denPflichtenkodex der Befehlserfüllung kennt, sondern sich seiner demokrati-schen Rechte bewusst ist. Als „Staatsbürger in Uniform“ haben Soldaten bür-gerliche Grundrechte, das Recht auf freie Meinungsäußerung und möglichstweitgehende Mitbestimmung im Dienstalltag ebenso wie das Recht auf denSchutz ihrer Unversehrtheit. Der zivile Konfliktaustrag muss politisch alsoPriorität haben, und der Souverän soll seine Truppen nicht unnötig Risiken aus-setzen. Zwar enthält die Verfassung das Bekenntnis zur Völkerrechtsbindung;wenn Parlament und Regierung ihre Entscheidungen gefällt haben, könnenSoldaten sich dennoch in militärstrategisch irrationale Abenteuer entsandt se-hen, die aus Sicht der unmittelbar Betroffenen den Einsatz von Leben und Ge-sundheit nicht rechtfertigen. Bundeswehrangehörige haben das Recht, solcheEinwände geltend zu machen und zivilrechtlich prüfen zu lassen; die Militär-gerichtsbarkeit wurde in Deutschland abgeschafft. Von seinem Recht auf Be-fehlsverweigerung hat z.B. Anfang 2007 ein Bundeswehrsoldat in Reaktionauf die Tornado-Einsätze in Afghanistan Gebrauch gemacht.

5 Wolfgang Vogt (Hrsg.): Militär als Gegenkultur?, Opladen 1986.

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Das Prinzip der Inneren Führung flankiert den Gedanken des Bürgers inUniform somit nicht allein rechtsethisch, sondern wirkt sich konkret gestalte-risch aus. Dass bundesdeutsche Soldaten gegen Kadavergehorsam durch äu-ßerliche Rechte und verinnerlichte Werte gewappnet sein sollen, setzt auf ko-operative Führung und Entscheidungsfähigkeit als Mehrwert, der militärischeEffizienz nicht behindere, sondern erhöhe. Damit schließt sich der Denkkreiszum Widerstand vom 20. Juli: Das Befehlsverweigerungsrecht im Gewissens-konflikt ist Teil des bundesdeutschen Wehrrechts. Um aber zu gewährleisten,dass Soldatinnen und Soldaten die nötige Urteilskraft ausbilden und ihre Rech-te verantwortlich wahrnehmen können, braucht es im Militär auch staatsbür-gerliche Bildung.

Das intendierte Selbstverständnis der Armee von verantwortungsvollen,vernunftbegabten und gewissenhaften Soldaten, die sich der Gefahr eigenerInstrumentalisierung bewusst sind, menschenrechtliche Grundsätze vertreten,sich ans Völkerrecht gebunden sehen und auf dieser Basis Einsatzbefehle kri-tisch prüfen und sie gegebenenfalls verweigern, zielt indes auch in die andereRichtung: Das Primat der Politik soll dem unautorisierten Agieren des Mili-tärs vorbeugen. Die Truppen müssen von der Bürgerschaft aber auch in dieLage versetzt werden, ihren Aufgaben im Sinne des gleichen Werts menschli-chen Lebens nachzukommen. Angemessene Ausstattung ist dafür ebenso Be-dingung wie Legalität und Legitimität der Vorgaben. Das Befehlsverweige-rungsrecht zielt insgesamt auf reflexive Wirkungen: Bundeswehrsoldaten sindzivilen Kontrollinstanzen unterworfen. Im Gegenzug unterziehen sie auch for-mal rechtliche Einsatzbefehle nach Maßgabe der Inneren Führung autonomenPrüfungen.

Die Bundeswehr bis 1989: Öffentlicher Dienst, der kämpfen lernt,um es nie zu müssen

Waren Innere Führung und das angestrebte Profil der zivilen Armee bei Grün-dung der Bundeswehr noch keineswegs Konsens, so wurde die im Laufe derZeit erreichte Qualität an demokratischer Integration beim 50jährigen Jubilä-um der Bundeswehr allenthalben für beachtlich erklärt, die Innere Führung alserfolgreiches Instrument gewürdigt. Zwar entsprach die Realität nie ganz dermilitärreformerischen Rhetorik – und wie der Coesfelder Folterskandal zeigt,gilt das weiterhin. Selbst kritische Beobachter erkennen jedoch an, dass „einneues deutsches Militär entstanden [ist], in dem Zivilität, Internationalität und

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demokratische Konformität Beachtung finden.“6 Es ist der Bundeswehr in an-deren Worten gelungen, eine eigene Tradition zu begründen.

Allerdings hatte die Aufgabe fast 40 Jahre lang allein Abschreckung gehei-ßen. Zwar wurde an den Waffensystemen ausgebildet; Ziel war jedoch, es niezum Kampfeinsatz kommen zu lassen. Die Zivilisierung der Streitkräfte fuß-te zu Zeiten der alten Bundesrepublik auch darauf, dass „der Ernstfall“ nichteintreten durfte; die hehren Normen des Soldatenbildes standen nie auf demPrüfstand. Flankiert von beamtenrechtlichen Versorgungsregelungen, stellteder Bundeswehrsoldat einen eingeschränkt einsatzfähigen Soldatentyp dar.

Nun gehört die Abschreckungsdoktrin der Vergangenheit an. Seit den1990er Jahren befindet sich die Bundeswehr in einer Folge von Transforma-tionsprozessen, die mit der Eingliederung der Nationalen Volksarmee begannund von der Aufgabe abgelöst wurde, sich als „Armee im Einsatz“ neu erfin-den zu müssen. Welche Konsequenzen hat das für Soldatenbild und die InnereFührung?

Die Transformation der Bundeswehr zur mobilenEinsatzarmee

Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts hat Deutschland sich als wieder sou-veränes Land militärisch an zahlreichen Kriseneinsätzen in aller Welt betei-ligt und damit einen deutlichen Bruch zum vorherigen Konzept der Abschre-ckungsarmee vollzogen, deren Legitimation sich aus der territorialen Verteidi-gung ableitete. Die Frage der nötigen Mandatierung von Bundeswehreinsätzenaußer Landes war zunächst denn auch strittig. Das Bundesverfassungsgerichturteilte 1994, dass sich der Verteidigungsauftrag auf Einsätze außer Landesund der Territorien von Bündnispartnern ausdehnen lasse; Missionen seien imRahmen kollektiver Sicherheitssysteme verfassungsrechtlich gedeckt. Als sol-che stufte das Gericht UNO, WEU und NATO ein!

Die Verteidigungspolitischen Richtlinien 2003 und das Weißbuch 2006folgten dem und haben sich einen weiten Sicherheits- und Verteidigungsbe-griff zu eigen gemacht. Das saloppe Wort des seinerzeitigen Ministers Struckvon der Landesverteidigung am Hindukush findet sich darin sinngemäß wie-der: So plausibel territoriale Verteidigung einst gewesen sei, so wenig taugedie Orientierung daran für die sicherheitspolitischen Herausforderungen derGegenwart, die sich „geografisch nicht mehr eingrenzen“ ließen. Heute falleall das ins Ressort der Verteidigung, was „zur Wahrung unserer Sicherheit“

6 Detlef Bald: Militärreform und Grundgesetz, APuZ 21/2005, S. 25.

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beitrage, „wo immer diese gefährdet“ sei.7 Obwohl dies nach Einsatzkriterienverlangt, damit sowohl Bürger in Uniform als auch demokratisch verantwort-liche Zivilisten wissen, worauf sie sich mit Militäraktionen einlassen und wasden Uniformierten zuzumuten ist, steht diese Klärung bislang aus. Dennochwurde und wird die Bundeswehr durch Verkleinerung, Umstrukturierung undteilweise Professionalisierung umgebaut zur global einsatzfähigen Armee, sowie es den Modularisierungsplänen von NATO und EU entspricht (vgl. dieBeiträge 1.7. und 1.1.).

Ein Zeichen der Umgestaltung ist der Wandel der Personalstruktur: Zwarist die Wehrpflicht nicht ausgesetzt; die Zahl länger dienender Zeit- und Be-rufssoldaten wurde in der Bundeswehr aber sukzessive erhöht, sodass der An-teil der Wehrpflichtigen seit Jahren unter 50 Prozent liegt und nur noch jederdritte deutsche Mann mit seiner Einberufung rechnen muss. Fachleute spre-chen von einer „Pseudo-Wehrpflichtigenarmee“8 . Da die Wehrform ein Ele-ment der Streitkräfte-Einhegung ausmacht, ist diese Veränderung bedeutsam.Das seit 1955 entwickelte Integrationsmodell von Wehrpflicht und InnererFührung ist durch den Wandel der Bundeswehr zur „Armee im Einsatz“ her-ausgefordert. So ist fraglich, ob multinationale Truppen und ihre komplexenAufträge mit dem militärischen Selbstverständnis vereinbar sind, das sich ein-mal aus der reziproken Verantwortung von ziviler Gesellschaft und den Streit-kräften zu ihrer Verteidigung ergeben hat: „Der deutsche Staatsbürger in Zivilund der deutsche Soldat als Staatsbürger in Uniform sitzen [ . . . ] nicht mehrim gleichen Boot“, verlautbart das Zentrum Innere Führung.9

Die Verteidigungspolitischen Richtlinien 2003 und das Weißbuch 2006 se-hen für die Bundeswehr ein breites Spektrum möglicher Einsätze vor, ohneverlässliche Kriterien für die Wahl militärischer Mittel zu nennen. Wie sollendann einzelne Soldatinnen und Soldaten ihr Urteil über die Rechtmäßigkeitvon Einsatz und Befehl fällen? Der Wehrbeauftragte gewann 2006 den Ein-druck, dass sich vielen Bundeswehrangehörigen der Sinn der Kongo-Missionnicht erschloss und sie als Indiz einer problematischen außenpolitischen Ent-grenzung betrachtet wurde. Neben der Gefahr eines Vertrauensverlusts in diepolitische Führung ziehen willkürlich anmutende Einsätze auch Probleme derPraxis nach sich: Allzu unterschiedliche Missionen und deren spezifische An-forderungen machen die Ausbildung immer schwieriger. Der Einsatz selbstgibt das Trainingsprofil vor, das der demokratischen Kontrolle damit ein Stück

7 Verteidigungspolitische Richtlinien, Berlin 2003, Zi. 5.8 Karl Haltiner: Westeuropas Massenheere am Ende?, in: Ders./Andreas Kühner (Hrsg.):

Wehrpflicht und Miliz – Ende einer Epoche?, Baden-Baden 1999, S. 23.9 Zentrum Innere Führung: Innere Führung 1999, Koblenz 2000, S. 5.

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weit entgleitet. Der Wandel des politischen Auftrags und seine Unwägbarkei-ten gefährden somit nicht nur die Stimmung in der Truppe. Es verändert mi-litärische Rollenkonzepte und die zivil-militärischen Verhältnisse insgesamt,wenn die Streitkräfte international mehr und mehr als ordnungspolitische In-strumente fungieren und andere Mittel der Außenpolitik womöglich ersetzen.Wiesendahl pointiert, die Bundeswehr werde durch die neuen Aufgaben ausder „Vergesellschaftung“ heraus in die „Verstaatlichung“ katapultiert.10

Wandel des Soldatenbildes

Das Weißbuch 2006 konzediert, die Auslandseinsätze hätten das Berufsbilddes Soldaten verändert und zu einem „erweiterten Verständnis militärischenDenkens und Handelns geführt“; zunehmend seien politische, humanitäre,wirtschaftliche und kulturelle Aspekte zu berücksichtigen.11 Klingt das ver-traut nach dem zivilen Credo der Inneren Führung, das deutsche Soldaten nun-mehr als verantwortungsvolle Weltbürger in Uniform entwirft, stellt eine an-dere Passage klar: In der neuen Bundeswehr seien Soldatinnen und SoldatenHelfer, Schützer und Vermittler „neben ihrer Funktion als Kämpfer“12; dieseBegrifflichkeit wurde zu Zeiten der bundesdeutschen Verteidigungsarmee tun-lichst gemieden.

Studien zum Wandel des soldatischen Selbstverständnisses in der Bundes-wehr zeigen seit den 1990er Jahren eine mit den diversen Einsätzen einherge-hende Pluralisierung des Soldatenbildes. Dem Facettenreichtum heutiger Ein-sätze entsprechend, bilden Vorstellungen einen Pol, die in Richtung weitererZivilisierung gehen und der Präsenz im Ausland Sinn geben, indem sie Solda-ten als internationale „Konfliktmanager“ oder „Ordnungshüter“13 einer Weltin-nenpolitik entwerfen. Im diametralen Gegensatz dazu vertreten mehr und mehrv.a. jüngere Soldaten ein handwerkliches Berufsbild wie das des US-Militärs,das im Rahmen der Freiwilligenarmee den funktionalen Experten militärischerGewalt betont und von anspruchsvolleren Normen der Kritikfähigkeit zuguns-ten instrumenteller Effizienzmaximierung absieht. Während manche, tenden-ziell ältere Bundeswehrangehörige den „mentalen Totalumbau“14 zur globalenEinsatzfähigkeit, die Dehnung militärischer Aufgaben und die wachsende Ent-fernung vom Bild des Bürgersoldaten nicht gutheißen, tritt der Nachwuchs seit

10 Elmar Wiesendahl: Neue Bundeswehr und überholte Innere Führung, WIFIS Aktuell 28-29/2002, S. 37.

11 Weißbuch, Berlin 2006, S. 98.12 Ebd., S. 80.13 Anja Seiffert: Soldat der Zukunft, Berlin 2005, S. 71.14 Loyal 12/2006, S. 12.

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Mitte der 1990er mit überwiegender Akzeptanz der Auslandseinsätze in dieTruppe ein. Die Einsätze selbst forcieren wiederum ein Effizienzkalkül, dasdem Berufsbild vom pragmatischen und politisch abstinenten „Einsatzprofi“entspricht, der die Beurteilung von Legitimität und Angemessenheit aus sei-nem Professionalitätsverständnis ausklammert.15

Auch wenn dieses Konzept innerhalb der Bundeswehr weder einheitlichnoch unangefochten ist, sondern Kontroversen dazu bestehen, inwieweit dieInnere Führung weiterhin relevant sei bzw. für das neue Aufgabenspektrumsogar wiederbelebt werden müsse, wird die Forderung nach dem Kämpfer alsdem eigentlichen Soldaten zusehends offensiv erhoben: Der „derbere Solda-tentyp“ sei gefragt in Gefilden, in denen andere Gesetze gälten als UN-Charta,Genfer Konvention oder Innere Führung.16 Generalinspekteur Naumann mahn-te im „Signal von Leipzig“ 1992, Bundeswehrsoldaten müsse bewusst werden,„dass der Soldat in letzter Konsequenz ein Kämpfer ist“. Zur gleichen Zeit be-obachtete das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr im Offiziers-korps „eine deutliche Identitäts- und Berufskrise – hervorgerufen durch dasneue Einsatzspektrum“ und die Infragestellung des bundesdeutschen Solda-tenbildes.17

Was aber spricht gegen Soldaten als dienstbare Kämpfer? Eine Trendwen-de zur rein funktionalen Konzeption militärischer Expertise unterliefe das Mo-dell der Identifikation und geteilten Verantwortung in Verteidigungsfragen, dasbis 1990 bewusst hoch gehalten wurde: Der Korpsgeist vermeintlich unpoli-tischer Soldaten stärkt erfahrungsgemäß eher die antidemokratischen Kräfte.Vor einer Vernachlässigung der Wirkung von Militäreinsätzen in aller Welt aufdie soldatischen Rollenkonzepte ist daher zu warnen. Der einstige Komman-deur des Zentrums Innere Führung, General a.D. Ulrich Hundt, sah soldati-sche Leitbilder als Spiegel der „Auseinandersetzung über Sinn und Zweck,Struktur und Funktion von Streitkräften in der Demokratie“18. Entwickelt sichin der Bundeswehr der unpolitische Kämpfer zum Ideal, dann zur Zeit aberwohl weniger als Ausdruck einer Martialisierung des gesellschaftlichen Dis-kurses denn als Zeichen von Indifferenz (vgl. Beitrag 1.1.). Desinteresse lässtdie Angehörigen der Streitkräfte mit der Bedeutungsfrage und den Rollenkon-flikten ihrer zivilen vis-à-vis soldatischen Identitäten allein und riskiert diepolitisch-moralische Rückkoppelung der Armee an die demokratische Gesell-schaft. Hinzu kommt, dass auch der Nutzen des soldatischen Kämpfers relativ

15 Anja Seiffert, a.a.O., S. 296.16 J. Ahrendt/S. Westphal 1993, zit. n. Ruth Seifert: Die Neukonstruktion des Bundeswehrsol-

daten, Wissenschaft & Frieden 14, 4/1996, S. 16.17 APuZ 21/2005, S. 13.18 Ulrich Hundt: Das Bild vom modernen Soldaten, Loyal 9/1992, S. 5.

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ist. Viele Einsätze fordern durchaus eher zivile Kompetenzen des „Verhand-lungssoldaten“19 , wie er den Normen der Inneren Führung entspricht. Auchauf UN-Ebene wird für den guardian soldier als Soldat der Zukunft plädiert,unabhängig von der Rekrutierungsform.20

Neue Bundeswehr und alte Risiken: Kämpfen oder nicht –die Sinnfrage bleibt

Finden identitätsprägende – und aufgrund der Einsätzrealität psychisch oftbelastende – Erfahrungen und Diskurse der Soldaten keine Aufmerksamkeit,wird die demokratische Integration unterlaufen. Die politische Debatte zum le-gitimen Spektrum und den Risiken verschiedener Militäreinsätze besteht erstin Ansätzen. Sie müsste die veränderten Anforderungsprofile und Leitbilderim demokratischen Prozess bestimmen. Nach Eindruck einer Reihe von Be-obachtern scheint die Distanz zwischen Bundeswehr und ziviler Gesellschaftgewachsen, möglicherweise auch, weil immer weniger Bürger mittels Wehr-pflicht in Kontakt mit den Streitkräften treten. Besonders frappierend ist dabeidie Verdrängung evidenter Schattenseiten.

Faktische Konsequenzen der veränderten Auftragslage sind Soldatenver-wundung und -tod: Seit 1992 sind nach Aussage des Verteidigungsministers64 deutsche Soldaten im Einsatz ums Leben gekommen.21 Eine transparenteInformation zur Totenstatistik gibt es aber ebenso wenig wie die nötige An-passung von Vokabular, Verwendungs- und Versorgungsrecht: „Verwundete“oder „Versehrte“ kennt man offiziell nicht, bloß den „Unfall“ im Einsatz. Auchohne emphatisch aufgeladenen Moralismus, der darin prompt eine „Schande“erkennen will, 22 überrascht doch, wie wenig Tod und Verwundung in den me-dialen und politischen Diskursen zu Militäreinsätzen präsent sind. Wenn deut-sche Soldaten, die in Kabul einem Anschlag zum Opfer fallen, dort sind, weildie Mehrheit der Bundestagsabgeordneten ihre Entsendung für gerechtfertigthielt, wie kann ihr Tod dann tabu sein? Wofür also büßen Bundeswehrsoldatenin Kabul gegebenenfalls körperliche Unversehrtheit oder gar ihr Leben ein?Den Deutschen sollte bewusst sein, dass auch friedenssichernde Militäreinsät-ze Verwundete und Tote fordern können, denn der Souverän ist seiner Armeeeine belastbare Begründung dafür schuldig, sie solchen Risiken auszusetzen.

19 Ruth Seifert, a.a.O., S. 19.20 UNIDIR Research Paper 36/1995, S. 101.21 Franz Josef Jung: Ehrenmal: Wir sind es unseren toten Soldaten schuldig. Rede des Minis-

ters vom 4.9.2006, www.bmvg.de.22 Hans-Ulrich Jörges: Unsere versteckten Toten, Stern 3/2007, S. 50.

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SOLDATENBILD IM WANDEL

Die von Soldaten erwartete Bereitschaft, sich für eine größere Sache zuopfern, entspricht weder dem Individualisierungsschub der Spätmoderne nochdem Zeitgeist, und dieser gesellschaftliche Wertewandel beschert heute allenDemokratien Rekrutierungs- und Militäreinsatzprobleme: In Ländern mit Frei-willigenarmeen sind massive soziale Schieflagen zu beobachten. MilitärischeKarrieren sind dort vor allem für wirtschaftlich Schwache, gering Qualifizierteund benachteiligte Minderheiten attraktiv. Das Bildungsniveau ist durch Zu-wachs an Freiwilligen auch in der Bundeswehr gesunken. In Ländern, dieWehrpflichtigenarmeen unterhalten, genügen hingegen die Grundausbildungs-standards den Aufgabenstellungen multinationaler Militärmissionen nicht; dieLegitimationsmöglichkeiten für Auslandseinsätze von Wehrpflichtigen sindohnedies begrenzt. Viele Demokratien stellen daher auf Freiwilligenarmeenmit vordergründig effizienteren Profis um, deren Aufgaben rein instrumentellbestimmt sind. Eine Alternative wäre die strikte Beschränkung auf Militär-missionen, in denen dieser politisch unkritische Kämpfertyp ebenso unange-bracht ist wie sonstige Abstriche von den Normen der Inneren Führung. Dasmuss kein Festhalten an der Wehrpflicht bedeuten. Das ehrgeizige Anspruchs-niveau des bundesdeutschen Soldatenbilds galt immer und erst recht auch fürdie Berufs- und Zeitsoldaten der Bundeswehr. Warum sollte es nicht für diedemokratische Integration einer Freiwilligenarmee taugen, wenn diese aus-schließlich mit Bindung an UN-Charta und Genfer Konvention in internatio-nale Kriseninterventionen entsandt wird? Um die Transformation der Bundes-wehr in den Rahmen einer „Militärpolitik als Friedenshandeln“23 zu stellen, istnicht die Suspendierung, sondern die Aktualisierung des militärreformerischenProgramms erforderlich.

Unabhängig von der Rekrutierungsfrage bleibt zu bestimmen, was das Ri-siko out of area lohnen soll: Nach einer Lesart werden ISAF-Soldaten in Af-ghanistan zur Zielscheibe, weil sie für die globale Durchsetzung der Werteder Aufklärung stehen, die einige Bündnispartner auch kriegerisch zu ver-wirklichen suchen. Nach einer anderen Lesart verteidigen sie deutsche Inter-essen, und keineswegs allein ideelle. Das „Wofür“ ist demokratisch zu klä-ren: Wenn entschieden ist, unter welchen Umständen wir Militäreinsatze fürgerechtfertigt halten, wird man sehen, ob künftig Weltbürger in Uniform ge-fragt sind oder dienstbare Kämpfer. Werden deutsche Soldaten künftig rein aufdie Kampffunktion hin entworfen, sollte man sich freilich der Illusion entledi-gen, ein zivil eingehegtes Militär zu unterhalten, das dem Normenkodex vonMenschen- und Völkerrecht vorrangig Beachtung schenkt.

23 Detlef Bald, a.a.O., S. 26.

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1.7. Bedingungen, Kriterien und Grenzen militärischerInterventionen

Jochen Hippler

Seit dem Ende des Kalten Krieges wird die Bundeswehr am Boden, zu Wasserund in der Luft zunehmend außerhalb des NATO-Gebietes eingesetzt. Die-se Einsätze erfolgten in unterschiedlichsten Regionen und politischen Zusam-menhängen und zu sehr verschiedenen Zwecken, die von humanitärer Hilfe-leistung über Peace-Keeping bis hin zu Kampfeinsätzen reichten. Von einerStreitkraft zur Abschreckung und potenziell zur Landesverteidigung wurde dieBundeswehr zu einer „Armee im Einsatz“ umgebaut, die heute weltweit ein-gesetzt wird.

In diesem Beitrag geht es nur um Einsatzformen der Bundeswehr im Aus-land, die eine Androhung oder Anwendung militärischer Gewalt implizieren.Rein humanitäre Hilfe etwa durch Lieferung von Zelten oder Nahrungsmittelnoder die bloße Beobachtung eines Waffenstillstandes werden hier nicht thema-tisiert, da dies den Interventionsbegriff überdehnen würde.

Parallel zur Zunahme der Auslandseinsätze verschoben sich deren Begrün-dungen von eher altruistischen zu stärker interessengeleiteten Diskursen, wäh-rend zugleich die Einsatzformen immer „robuster“ wurden: 1995 gab es durchAufklärungstornados in Bosnien den ersten Kampfeinsatz, 1999 gegen Serbiendie erste Anwendung direkter bewaffneter Gewalt.

Hinter den offiziellen Interventionsbegründungen verbargen sich von An-fang an auch Interessen, die wenig oder nichts mit den jeweiligen Regional-konflikten zu tun hatten: Bündnistaktische Erwägungen im Rahmen der NATOoder gegenüber Washington, die Herstellung militärischer Kooperationsfähig-keit im Rahmen der gemeinsamen Europäischen Sicherheitspolitik, die De-monstration außen- und sicherheitspolitischer „Handlungsfähigkeit“ oder dieAbsicht, das Projekt eines deutschen Sitzes im UN-Sicherheitsrat zu fördern,spielten eine bedeutende Rolle bei der Entscheidung über militärische Aus-landseinsätze, auch wenn solche Gründe meist diskreter behandelt wurden alshumanitäre Argumente.

Aufgrund des immer weiter wachsenden Gesamtumfangs der Bundeswehr-einsätze, der durch ihre steigende Zahl und die unerwartet lange Dauer dermeisten Einsätze (Balkan, Afghanistan) verursacht wird, und wegen wachsen-der Zweifel an ihrem Erfolg, lässt sich in letzter Zeit eine zunehmende Skepsis

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KRITERIEN FÜR MILITÄREINSÄTZE

gegenüber zusätzlichen Verpflichtungen, der Ausweitung bestehender oder so-gar der Sinnhaftigkeit laufender Einsätze beobachten.

Der Bundestagsabgeordnete Winfried Nachtwei (Grüne) fasst diese Ver-schiebung der politischen Diskussion folgendermaßen zusammen: „Seit 2003wächst die Ernüchterung im Hinblick auf Dauer, Wirksamkeit und Perspek-tiven von Auslandseinsätzen. [ . . . ] Inzwischen besteht der Eindruck einer re-gelrechten Inflation von Auslandseinsätzen und wachsender Überforderung: inder Öffentlichkeit; in der Politik, die inzwischen mehrere Großkrisen gleich-zeitig [ . . . ] im komplizierten multilateralen Verbund bewältigen muss; un-ter Soldaten, wo sich angesichts ausbleibender Fortschritte in KrisenregionenEinsatzfrust ausbreitet. [ . . . ] Der bisherige vermeintliche sicherheitspolitischeKonsens bröckelt immer schneller.“1

Die Ausgangspunkte des Umdenkens liegen in der Gefahr einer personel-len Überforderung der Truppe, zudem in den Folgen für den Bundeshaushalt(so auch Bundesverteidigungsminister Jung, CDU, in seiner Rede zum Vertei-digungshaushalt im September 2006) und schließlich auch im Eindruck, dassdie Militäreinsätze bisher nicht immer die gewünschten Ergebnisse zeitigten.Dies führt parteiübergreifend zu:

– wachsender Zurückhaltung bezüglich neuer Zusagen;– erkennbarem Widerwillen, bestehende Einsätze stärker in Richtung Kampf-

einsätze zu verschieben (Afghanistan: etwa durch Verlegung von Truppenin den Süden oder durch Unterstellung unter US-Kommando);

– zunehmenden Forderungen, dass militärische Auslandseinsätze nur noch beieinem tragfähigen „Gesamtkonzept“ unternommen werden dürften; und

– breitem Nachdenken über Kriterien, die zukünftigen Einsatzentscheidungenzugrunde liegen sollten.

Das angesprochene Umdenken ist weder abgeschlossen, noch ist sicher,ob es fortgesetzt oder zu grundlegenden neuen Ansätzen der Militär- und Si-cherheitspolitik führen wird. Es erbrachte bisher nur eine gewisse Vorsicht derEntscheidungsträger, aber noch keinen belastbaren neuen Konsens oder politi-sches Umsteuern. Deshalb sind gegenwärtig weder weitere Einsätze noch eineveränderte Rolle der Bundeswehr ausgeschlossen, dürften aber wohl einen hö-heren Druck durch USA, NATO, EU oder andere wichtige Akteure erfordernals in der Vergangenheit.

1 Winfried Nachtwei, Thesen und Kriterien zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr, Februar2007; und derselbe: Kriterien für Auslandseinsätze der Bundeswehr im Rahmen des Frie-densauftrages des Grundgesetzes, o.J.; www.nachtwei.de/index.php/articles/471 (Zugriff:30.3.2007).

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JOCHEN HIPPLER

Die aktuelle Diskussion erfolgt vor allem auf zwei miteinander verbun-denen politischen Ebenen: Erstens geht es um Kriterien zum Beschluss vonMilitäreinsätzen und zweitens um ein dafür notwendiges politisches Gesamt-konzept, wie es bereits vom SPD-Parteitag 2003 gefordert wurde.2

Die Notwendigkeit von Kriterien

Die Entwicklung von Entscheidungskriterien für militärische Interventionenmuss sehr unterschiedliche Fragen klären, die von den rechtlichen Vorausset-zungen über ihre Notwendigkeit bis zur Konzeption und Umsetzungsmöglich-keit reichen.

Eine Reihe dieser Fragen werden in letzter Zeit quer durch das politi-sche Spektrum vom Grünen-Abgeordneten Winfried Nachtwei über den CDU-Abgeordneten Andreas Schockenhoff3 bis hin zur CSU-Landesgruppe im Bun-destag diskutiert. 4 Die FDP und die PDS haben dabei besonders kritische Posi-tionen eingenommen. Eher indirekt und mit Blick auf die Folgen militärischerInterventionen für die Entwicklungspolitik haben auch die kirchlichen Hilfs-werke Misereor, Brot für die Welt und der Evangelische EntwicklungsdienstStellung bezogen.5 Dabei fällt auf, dass ungeachtet der parteipolitischen Zuge-hörigkeit zunehmend betont wird, dass Militäreinsätze weder selbstverständ-lich noch prinzipiell erstrebenswert sind. In den Worten eines Beschlusses derCSU-Landesgruppe von Anfang 2007 ausgedrückt: „Der Einsatz der Bundes-wehr im Rahmen der internationalen Krisenbewältigung darf [ . . . ] keinemAutomatismus unterliegen. Die Bundeswehr kann und soll nicht die Rolle ei-nes überall präsenten Weltpolizisten übernehmen. Schon aufgrund begrenzterpersoneller, militärischer und finanzieller Ressourcen ist eine selektive Betei-ligung der Bundeswehr an internationalen Missionen unausweichlich. [ . . . ]Die Anzahl der Auslandseinsätze muss überschaubar bleiben. [ . . . ] Einsätze

2 SPD Parteivorstand, Leitantrag Internationale Politik, in: SPD Parteitag der SPD in Bo-chum – Beschlüsse, 17. bis 19. November 2003, S. 252, www.spd.de/show/1682166/2004-01-16-SPD-Beschluesse-Bochum03.pdf (Zugriff: 30.3.2007).

3 Andreas Schockenhoff: Kriterien für Auslandseinsätze der Bundeswehr – Orientierungs-maßstab für den jeweiligen Einzelfall, 11. September 2006, www.cducsu.de/section_2/subsection_3/id_1340/Meldungen.aspx (Zugriff: 30.3.2007).

4 CSU-Landesgruppe: Deutschlands Interessen und Deutschlands Verantwortung in der Welt:Leitlinien für Auslandseinsätze der Bundeswehr, Beschluss der XXXI. Klausurtagung derCSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag vom 8.-10. Januar 2007 in Wildbad Kreuth.

5 Martin Bröckelmann-Simon (Misereor), Konrad von Bonin, Monika Huber (EED), CorneliaFüllkrug-Weitzel (Brot für die Welt): Entwicklungspolitik im Windschatten militärischerInterventionen?, Aachen, Bonn, Stuttgart, 31.7.2003.

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müssen ein eindeutig definiertes, erreichbares Ziel verfolgen. [ . . . ] Der Ein-satz muss in seinen Risiken berechenbar sein und daher möglichst räumlich,zeitlich und dem Umfang nach begrenzt bleiben.“6

Solche Hinweise sollten sehr ernst genommen werden. Da militärische In-terventionen schwerwiegende ethische, rechtliche, politische und praktischeFragen aufwerfen, sollten sie nur in seltenen Ausnahmefällen erwogen undaufgrund eines seriösen Entscheidungsprozesses beschlossen werden. Dazumüssen vor Beginn ihrer Erörterung fallunabhängige Kriterien erarbeitet wer-den, die entsprechende Entscheidungen anleiten und rational organisieren hel-fen.

Völkerrecht

Ein erstes Kriterium für Interventionen muss deren völkerrechtsgemäßer Cha-rakter sein. Dies ist nicht so selbstverständlich, wie es sein sollte. So wurdekürzlich in einer Studie für die Weltbank formuliert, dass es nicht darum gehe,ob die internationale Gemeinschaft das Recht habe, militärisch zu intervenie-ren, sondern ob dies „zu vernünftigen Kosten wirksam möglich“ sei.7 Völ-kerrechtsgemäßer Charakter bedeutet, dass sie aufgrund von Kapitel VII derUN-Charta erfolgen müssen. Dies sind strenge Maßstäbe, die nicht erst durchWashington und seine „Koalition der Willigen“ im Falle des Irakkrieges miss-achtet wurden, sondern bereits beim Krieg der NATO gegen Serbien im Jahr1999. Aufgrund moralischer Extremsituationen besteht manchmal die Versu-chung, sich über die völkerrechtlichen Vorschriften hinwegzusetzen. Dies kanneinerseits dadurch geschehen, dass man eine Art „außergesetzlichen Notstand“postuliert, der über dem Völkerrecht angesiedelt sei, oder indem man das Völ-kergewohnheitsrecht bemüht, um das kodifizierte Völkerrecht auszuhebeln.Danach würden durch mehrere Präzedenzfälle, bei denen ohne Grundlage derUN-Charta militärisch interveniert wird, solche Interventionen zunehmend le-gitimiert und schließlich völkerrechtsgemäß, wenn ihnen nicht widersprochenwird. Beide Möglichkeiten werfen schwerwiegende Fragen auf. Im ersten Fallwird der Willkür mächtiger Akteure – kleine Staaten verfügen kaum über dieMöglichkeit militärischer Intervention – Tür und Tor geöffnet, da das Postulateines dem Völkerrecht übergeordneten Notstandes gerade nicht in der UNOüberprüft wird, sondern zu deren Umgehung dienen soll. Wollte man ein sol-ches Verfahren akzeptieren, stellte man den Großmächten einen Blankoscheck

6 CSU-Landesgruppe, a.a.O.7 Paul Collier u.a.: Breaking the Conflict Trap – Civil War and Development Policy; A World

Bank Policy Research Report, Oxford 2003, S. 174.

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aus, fast nach Belieben Interventionsvorwände zu formulieren. Dass diese abermit der Wahrheit allgemein und ihren tatsächlichen Interventionsgründen rechtgroßzügig umgehen, darf nicht erst seit Washingtons Manipulierung der Grün-de für den Irakkrieg – „irakische Massenvernichtungswaffen“ – als gesichertgelten. Die Nutzung des Völkergewohnheitsrechts andererseits wirft das Pro-blem auf, das „Völkerrecht durch Rechtsbruch weiterentwickeln zu wollen“.8

Mit „moralischen“ Begründungen zum Zwecke militärischer Interventiondas Völkerrecht zu brechen oder umgehen zu wollen, dient mittel- und lang-fristig keinen humanitären Zwecken, sondern entgrenzt die Möglichkeiten mi-litärischer Interventionen allgemein, schwächt das Völkerrecht als Mittel derKonfliktregelung und damit auch humanitäre Ziele. Deshalb sollte die Beach-tung des Völkerrechts eine selbstverständliche Voraussetzung sein, über Mili-tärinterventionen auch nur nachzudenken.

Gründe und Begründungen

Militärische Interventionen sind ein klassisches Mittel der Machtpolitik. Siesollten deshalb aus friedenspolitischen Gründen prinzipiell mit Misstrauen be-trachtet werden. In einigen seltenen und eng umgrenzten Fällen können sie al-lerdings ausnahmsweise als legitim und sogar geboten gelten, insbesondere beiVölkermord und ethnischen Säuberungen. Dabei bedeutet eine solche Legiti-mität nicht automatisch auch Legalität und impliziert auch nicht, dass andereKriterien überflüssig wären: Dass eine Maßnahme wünschenswert und prinzi-piell notwendig ist, bedeutet nicht, dass sie auch möglich oder gar erfolgreichsein muss. Es kann aber festgehalten werden, dass militärische Interventionennur im Fall von Völkermord oder ethnischen Säuberungen legitim sind, sofernandere Mittel der Abhilfe gescheitert oder aussichtslos sind. Solche Gründestellen eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung einer Interventi-on dar.

Ein wichtiges Problem beim Umgang mit diesem Kriterium besteht aller-dings darin (wenn wir von der Frage absehen, ob eine solche Notlage tatsäch-lich besteht oder nur behauptet wird), dass es zu unterscheiden gilt, ob etwaein Völkermord tatsächlich der Grund der Intervention ist oder nur zum An-lass genommen wird, um eine machtpolitisch intendierte Militäroperation zurechtfertigen. Im letzteren Fall würde der Völkermord nur zu anderen Zwecken

8 Lothar Brock: Weltbürger und Vigilanten. Lehren aus dem Kosovo-Krieg, HSFK-Standpunkte Nr. 2/1999, Frankfurt/M. 1999, S. 5.

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KRITERIEN FÜR MILITÄREINSÄTZE

instrumentalisiert, was die humanitäre Absicht unglaubwürdig machen und ei-ne Intervention von der humanitären Notwendigkeit wegorientieren würde.

Multilateralismus

Militärische Interventionen sollten – wenn sie notwendig und legal sind – prin-zipiell multilateral erfolgen. Bei Einsätzen im Rahmen der UNO oder vonRegionalorganisationen wie der OSZE oder der Afrikanischen Union ist diesohnehin eine Selbstverständlichkeit. Der multilaterale Charakter unterstreichtnicht nur die Legitimität einer Intervention, sondern dämpft und begrenzt auchnationale Eigeninteressen. Informelle „Koalitionen der Willigen“ oder Inter-ventionen durch Militärbündnisse – im Unterschied zu Systemen kollektiverSicherheit – sind zwar ebenfalls multilateral und möglicherweise – etwa dieNATO – militärisch effizienter, neigen aber zur Selbstmandatierung an derUNO vorbei. Sie sind selbst Partei und repräsentieren nur höchst selten dieinternationale Gemeinschaft, sondern in der Regel eine Gruppe von National-staaten. Militärische Interventionen sollten deshalb ausschließlich im Rahmenvon Systemen kollektiver Sicherheit wie der UNO oder Regionalorganisatio-nen erfolgen.

Konzeptionelle Voraussetzungen

Ein entscheidendes Kriterium für eine prinzipiell gebotene Militärinterventionmuss darin bestehen, dass sie ihr Ziel auch tatsächlich erreichen kann. „Gut ge-meint“ ist beim Umgang mit dem sensiblen Instrument militärischen Zwangsnicht gut genug. Eine konzeptionslose oder improvisierte Intervention wirdihren friedenspolitischen Zweck nicht nur leicht verfehlen, sondern darüberhinaus eine instabile und gewaltträchtige Situation weiter destabilisieren, wiesich nicht nur in Somalia und im Irak gezeigt hat.

Aus diesem Grund sind die zunehmenden Forderungen, dass Militärinter-ventionen nur mit einem seriösen Gesamtkonzept erfolgen dürfen, tatsächlichvon hoher Bedeutung. Es reicht bei weitem nicht aus, als Ziel einer Operationden Frieden, ein Ende des Völkermordes oder einen Stopp der Vertreibungenzu proklamieren und auf dieser Basis bewaffnete Truppen zu entsenden.

Erstens müssen die allgemeinen Einsatzziele in einer konkreten militä-rischen Strategie operationalisierbar sein und operationalisiert werden, wozuZiele wie Frieden, Sicherheit und Stabilität in praktikable Unterziele ausdiffe-

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renziert werden müssen, die dann mit spezifischen Taktiken und Instrumentenverknüpft werden.

Zweitens darf nicht vergessen werden, dass militärische Mittel einen Kon-flikt nur selten dauerhaft lösen können, sondern in der Regel nur Zeit ver-schaffen, um eine politische Lösung zu erreichen. Militär kann nur vorüberge-hend den Grad von Sicherheit in einem Zielland erhöhen – wenn diese Situati-on nicht zeitnah im Rahmen eines politischen Gesamtkonzeptes genutzt wird,werden auch die Fortschritte im Sicherheitsbereich nur kurzzeitig bleiben.

Deshalb setzt eine militärische Intervention eine tragfähige politische Stra-tegie voraus, in die die militärischen Mittel in dienender Funktion eingefügtwerden müssen. Anders ausgedrückt: Die militärischen Komponenten müsseneinem politischen Konzept streng untergeordnet sein, wenn sie zum überge-ordneten Ziel führen sollen.

Drittens geht es aber nicht allein darum, irgendeine Strategie zu formulie-ren, sondern eine, die im konkreten Fall auch tatsächlich funktioniert – unddas– bei verantwortbaren humanitären Kosten: Militärische Einsätze können

nicht nur humanitäre Notlagen lindern oder beseitigen, sondern auch selbsteine größere Zahl von Opfern verursachen;

– bei akzeptablem personellen und finanziellen Engagement: Da trotz allerhumanitärer Argumente solche Fragen bei Interventionsentscheidungen oftzentral sind;

– bei kalkulierbarem und vertretbarem Risiko für die Interventionstruppenund die Entsendeländer;

– bei Aufrechterhaltung der politischen Unterstützung für die Interventionin den Entsendeländern trotz dauerhaften Belastungen und zu erwartendenRückschlägen; und vor allem

– auf der Basis der gesellschaftlichen und politischen Realitäten im Zielland.Doch das überzeugendste Gesamtkonzept wird nutzlos bleiben, wenn es

entweder aufgrund innenpolitischer Bedingungen von den intervenierendenLändern nicht durchgehalten werden kann oder aber an den Gegebenheitenin der Krisenregion vorbeigeht.

Aufgaben und Ansatzpunkte eines Gesamtkonzepts

Wir lassen hier relativ einfache militärische oder militärisch-zivile Operatio-nen mit meist reinem Hilfscharakter beiseite, die in der Regel unumstrittensind und unser Thema – den Einsatz militärischer Zwangsmittel – ohnehin nur

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am Rande berühren. Im Kontext von Bürgerkriegen, Aufständen oder zerfalle-ner Staatlichkeit sind weit komplexere Aufgaben zu bewältigen. Hier bestehenhäufig konzeptionelle Zielkonflikte und Widersprüche, die nicht leicht aufzu-lösen sind: etwa zwischen der notwendigen Eigensicherung der Truppen unddem Versuch, die Sympathie der örtlichen Bevölkerung zu gewinnen; zwischendem Bemühen um Neutralität und dem Effekt einer Intervention, manche örtli-chen Gruppen zu stärken und andere zu schwächen; zwischen dem Bestreben,durch die Intervention regionale oder globale Stabilität zu fördern und denBedürfnissen der direkt betroffenen Gesellschaft; zwischen humanitären, poli-tischen und militärischen Zielen und Mitteln; und zwischen Zielen und Mittelnder verschiedenen internationalen Akteure sowie zwischen diesen und den lo-kalen – um nur einige zu nennen. Sobald vor Ort – insbesondere gewaltsame –Widerstände zu verzeichnen sind oder Opfer unter der Zivilbevölkerung eintre-ten (Stichworte wie Kollateralschäden oder Abu Ghraib), spitzen sich solcheWidersprüche noch zu. Bewaffnete Einheiten in instabile und akut oder poten-ziell von Gewalt geprägte Situationen zu entsenden, ohne zuvor ein Konzeptentwickelt zu haben, wie mit diesen und anderen Problemen umzugehen ist, istnicht zu verantworten – weder für das Zielland, noch für die eigenen Truppen.

Insgesamt ist bemerkenswert, dass die Arbeit an zivil-militärischen Ge-samtkonzepten bis heute fragmentarisch ist oder eher auf der taktischen Ebeneverbleibt, etwa in Form der Provincial Reconstruction Teams (PRT) in Af-ghanistan, wenn sie nicht sogar nur beschworen, aber faktisch ignoriert wird:Das sicherheitspolitische Weißbuch der Bundesregierung (2006) beispielswei-se schweigt sich dazu vollkommen aus und behandelt stattdessen nur Fragender bürokratischen Koordination, ohne die Kernfrage nach dem Inhalt dieser –natürlich sinnvollen – Koordination auch nur zu stellen.

Betrachten wir die militärischen Interventionen der letzten Jahre, so las-sen sich – trotz sehr schwacher Basis an ausformulierten Konzepten – dochKonzeptfragmente identifizieren, die sich überwiegend in trial-and-error-Prozessen herausbildeten, am deutlichsten sind sie auf dem Balkan und inAfghanistan erkennbar. Dabei stellt sich heraus, dass sich die meisten dieserFragmente in der Realität und auf der Ebene politischer Erklärungen um An-sätze von Nation-Building bzw. den Aufbau staatlicher Strukturen gruppieren.Sie basieren meist auf den Grundannahmen, dass (a) externe Interventen einLand nicht auf Dauer kontrollieren können oder sollen, dass (b) die Funkti-on der Kontrolle – insbesondere zur Erreichung von innergesellschaftlicherStabilität – deshalb durch einheimische Akteure gewährleistet werden muss,und dies (c) am besten durch einen funktionierenden Staatsapparat erreich-bar sei. Damit wird der Auf- oder Umbau staatlicher Strukturen zum Kern

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der Interventionsstrategie, der allerdings um weitere Aspekte ergänzt wird:(d) Es müssen die zentralen entwicklungspolitischen Herausforderungen (Ar-mutsbekämpfung, Infrastruktur, Grundbedürfnisbefriedigung, wirtschaftlicheEntwicklung, etc.) gemeistert werden, um den State-Building Prozess zu er-möglichen, (e) es sollte der gesellschaftliche Zusammenhalt auch unterschied-licher, z.B. ethnischer oder religiöser Gruppen gefördert werden, und (f) dieneue Staatlichkeit muss nicht nur funktionieren, sondern möglichst auch de-mokratisch sein und die Kriterien von good governance erfüllen. Es ließensich noch weitere Aspekte anführen, die beim Aufbau von neuer Staatlichkeitallgemein für dringlich gehalten werden, aber das ist an dieser Stelle unerheb-lich. Für uns kommt es hier auf zweierlei an: Erstens auf die Zentralität desState-Building als Kernpunkt von Nation-Building im Rahmen von komple-xen Interventionsprojekten, wodurch Stabilität, Kontrolle und potenziell ex-terne Dominanz durch Systemexport und die Abhängigkeit des neuen Staatesvon äußerer finanzieller, personeller und militärischer Unterstützung erreichtwerden mögen. Und zweitens auf die Tatsache, dass unterhalb dieser sehr all-gemeinen Strategieebene vieles ungeklärt und vage bleibt: Ist Nation-Buildingletztlich Ziel oder Mittel? Wie soll bei Widersprüchen von effektivem State-Building und dem Wunsch nach Demokratie verfahren werden? Wie kann localownership unter Bedingungen externer Dominanz oder gar Besatzung sicher-gestellt werden? Wie kann eine dauerhafte Abhängigkeit vom Ausland ver-mieden werden? Wie sind die sicherheitspolitischen Absichten der Interven-ten – Selbstschutz der Truppen, Bekämpfung von Terrorismus oder feindlicherGruppen – mit der Etablierung eines lokalen, souveränen und stabilen Staa-tes zu vereinbaren, der die Akzente vielleicht aufgrund lokaler Bedingungenanders setzen müsste oder gerne würde? Ohne Klarheit in diesen und anderenFragen und ohne ein einigermaßen geschlossenes Gesamtkonzept besteht diegroße Gefahr der wechselseitigen Blockade unterschiedlicher Politikelementeund Akteure, der Lähmung und eines instabilen oder langsam desintegrieren-den Politikergebnisses. Der Irak und Afghanistan sind warnende Beispiele desdamit verbundenen Risikos.

Bedingungen im Zielland

In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass ein sol-ches unverzichtbares politisches Gesamtkonzept nur funktionieren kann, wennes den Bedingungen im Zielland gerecht wird. Um beim Beispiel externenNation-Buildings zu bleiben: Ein Nationalstaat kann einem fremden Landnicht von außen gegen seinen Willen aufgezwungen werden. Ein solches Pro-

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jekt wäre kolonialer Natur und wenig stabil, sicher kein Weg der Friedens-förderung. Erfolgreiches und stabiles Nation-Building setzt voraus, dass einStaatsbildungsprojekt aus der eigenen Gesellschaft heraus getragen wird – wasdann von außen unterstützt werden kann.

Wer also State-Building oder Nation-Building ins Zentrum seiner Inter-ventionspolitik rückt (ob gewollt oder mangels Alternativkonzept), sollte auchangeben können, welche konkreten und organisierten Gruppen und Sektorender Bevölkerung dieses Projekt tragen. Warlords und bewaffnete Widerstands-gruppen kommen aus politischen Gründen selten in Frage, eine allgemeine,diffuse Stimmung in der Landbevölkerung reicht nicht aus. Eine selbstbewuss-te und ökonomisch gefestigte Mittelschicht ist als Trägergruppe einer (vor-zugsweise demokratischen) Staatsbildung am ehesten vorstellbar – in manchenLändern ist diese Gruppe aber extrem schwach (z.B. in Afghanistan) oder garTrägerin anti-westlicher, zum Teil islamistischer Strömungen, die die Inter-venten oft gerade von der Macht fernhalten möchten. Wer also eine Strategieder Staatsbildung in einem Drittland mit bewaffneten (und zivilen) Kräftenbetreiben möchte, sollte zumindest angeben können, auf welche Teile der Be-völkerung er sich dabei glaubt, zuverlässig stützen zu können – sonst wirddie Intervention zu einem Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Allgemeinerausgedrückt: Jede Intervention braucht als Erfolgsvoraussetzung eine stabile,tragfähige gesellschaftliche Basis im Zielland. Deren Vorhandensein ist einwichtiges Kriterium bei jeder Entscheidung über Intervention.

Exitstrategie

Zu den Interventionskriterien gehört eine geplante Exitstrategie. MilitärischeTruppen in ein fremdes Land zu entsenden ist nur zu verantworten, wenn manweiß, wie und unter welchen Umständen sie auch wieder abgezogen werdenkönnen. Dabei geht es nicht um eine Fluchtoption oder die Planung des eige-nen Scheiterns, sondern darum, angeben zu können, wie und unter welchenUmständen ein späterer Abzug durchgeführt werden kann, der weder die ei-genen Truppen gefährdet, noch die ursprünglichen Einsatzziele konterkariert,noch das Zielland zusätzlich destabilisiert. Erforderlich ist nicht ein fester Zeit-plan des Abzuges, sondern seine Konzeptionierung. Es reicht nicht aus zuformulieren, dass die Truppen „nach Erreichung des Einsatzziels“ abgezogenwerden sollen, da dies trivial und inhaltsleer ist. Militärische Interventionenentwickeln leicht eine Tendenz zur Selbstverewigung, da sie selten friktions-los verlaufen.

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Evaluierung

Schließlich sollte ein Beschluss über militärische Intervention gerade wegenderen Komplexität immer eine Verpflichtung zur begleitenden und abschlie-ßenden Evaluierung durch unabhängige Wissenschaftler bzw. Gutachter bein-halten. Wenn mit gutem Grund beispielsweise entwicklungspolitische Maß-nahmen und Programme seit langem routinemäßig evaluiert werden müssen,um Stärken und Schwächen zu identifizieren, die Konzepte und Instrumenteweiterzuentwickeln und zu optimieren sowie die Wiederholung von Fehlernzu vermeiden, so muss dies mindestens im gleichen Maße beim Einsatz mili-tärischer Mittel gelten, die in der Regel weit risikoreicher und finanzintensiversind. Es sollte also die Regel gelten, keinen Militäreinsatz zu beschließen, ohnezugleich eine begleitende und bilanzierende Evaluierung durch externe Fach-leute vorzuschreiben, die nicht allein die Effizienz und das Kosten-Nutzen-Verhältnis (vgl. Beitrag 1.4.), sondern insbesondere den Grad der Zielerrei-chung zu untersuchen hätte.

Fazit

Militärische Interventionen sind sensible Instrumente der Sicherheits-,Friedens- und Außenpolitik. Sie dürfen nicht zum normalen Instrument in-ternationaler Beziehungen werden, da sie riskant, oft fragwürdig und ohne Er-folgsgarantie sind. Sollen sie rational und verantwortbar entschieden werden,brauchen sie ein seriöses Gesamtkonzept und einen vorherigen, vom speziellenEinzelfall unabhängigen Konsens über Entscheidungskriterien. Diese solltenfolgende Elemente enthalten:

1. Interventionen sollten nur erwogen werden, wenn sie völkerrechtsgemäßsind, also aufgrund eines Beschlusses des UN-Sicherheitsrates nach Kapi-tel VII der UN-Charta erfolgen.

2. Imperial intendierte oder unter Vorwänden erfolgende Interventionen sindabzulehnen. Als legitime Interventionsgründe kommen nur schwerste hu-manitäre Notlagen wie Völkermord und größere ethnische Säuberungenin Betracht.

3. Der Einsatz militärischer Mittel sollte nur erfolgen, wenn zuvor alle ande-ren, zivilen Möglichkeiten einer Konfliktlösung ausgeschöpft wurden odernachweislich aussichtslos sind.

4. Interventionen sollten ausschließlich auf einer breiten multilateralen Ba-sis und im Rahmen eines Systems wechselseitiger kollektiver Sicherheiterfolgen.

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5. Militärisch gestützte Interventionen dürfen nur auf der Basis eines um-fassenden und belastbaren politischen Gesamtkonzeptes erfolgen, das dieallgemeinen Politikziele in akteurspezifische, operationalisierbare Unter-ziele auflöst. Dies muss politische Konfliktlösungen und entwicklungspo-litische Mittel ins Zentrum stellen. Die militärischen Instrumente sind dempolitischen Gesamtkonzept unterzuordnen.

6. Dies sollte sich in der zivilen Führung der Umsetzung eines solchen politi-schen, entwicklungspolitischen und militärischen integrierten Gesamtkon-zeptes niederschlagen, um einer Verselbständigung seiner militärischenElemente vorzubeugen.

7. Ein integriertes Gesamtkonzept muss angeben, auf welche Sektoren derGesellschaft im Zielland sich die Intervention stützen kann und welcheslokale politische Projekt es auf welche Art zu unterstützen gedenkt.

8. Eine Intervention kann nur auf der Grundlage eines belastbaren Konsensesin der deutschen Innenpolitik in Frage kommen.

9. Sie sollte nur bei Vorhandensein einer durchdachten Exitstrategie be-schlossen werden.

10. Militärische Interventionen sollten nur beschlossen werden, wenn ihrePlanung, Durchführung und ihre Wirksamkeit regelmäßig und nach Ab-schluss durch unabhängige Gutachter evaluiert wird, wie dies etwa in derEntwicklungspolitik seit langem selbstverständlich ist.

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1.8. Konfliktprävention – eine Alternative zuMilitäreinsätzen?

Andreas Heinemann-Grüder

Seit der vom damaligen UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali im Jahr1992 veröffentlichten „Agenda für den Frieden“ ist der Ruf nach Krisen-und Konfliktprävention populär. Die Rede von der Prävention nährt sich ausder Erwartung, dass Verhaltensweisen, Einstellungen und Konfliktgegenstän-de zugunsten einer Deeskalation bzw. friedlichen Konfliktbearbeitung verän-dert werden können. Durch rechtzeitiges Eingreifen könnten Handlungsanrei-ze von Gewaltakteuren transformiert bzw. gewaltsames Konfliktverhalten be-straft, Menschenleben geschont und hohe Kosten für eine spätere Militärinter-vention und den Wiederaufbau vorgebeugt werden.

Der Gedanke der Prävention geht von der Beobachtung aus, dass Gewalt-konflikte bestimmte Eskalationsstufen durchlaufen können – von einem laten-ten zu einem manifesten Konflikt, von symbolischer, sporadischer Gewalt übergewaltsamen Aufruhr, möglicherweise Terror, Bürgerkrieg und zwischenstaat-lichen Krieg bis hin zum Genozid. Eskalation steigert sich zwar nicht linear,doch massive Gewaltformen bauen auf Vorläufergewalt auf. Ein Indikator desProblems ist die Begrifflichkeit. Zivile Krisenprävention bezieht sich auf aku-te Spannungszustände, strukturelle Konfliktprävention zielt hingegen auf tieferliegende Ursachen. Welche Art von Gewalt soll jedoch verhindert werden, d.h.ab welcher Gewaltstufe kann ein Präventionsanspruch geltend gemacht wer-den? In welche Art von Konflikten soll und kann zudem unter welchen Vor-aussetzungen auch militärisch interveniert werden – wenn ein Genozid drohtoder früher? Gibt es darüber hinaus bestimmte Modi der Konfliktaustragung,Eskalationsstufen oder Gewalttypen, die sich eher eindämmen oder verhin-dern lassen? Und wie kann das, was man als konfliktrelevant annimmt, ex anteerkannt werden, und wie soll es sich in zeitnahes Handeln übersetzen? KofiAnnan konstatierte nicht zufällig im Jahre 2006 eine „inakzeptable Kluft zwi-schen Rhetorik und Wirklichkeit“ der Prävention.1

1 Report of the Secretary-General UN: Progress Report on the Prevention of Armed Conflict,New York, 18 July 2006, A/60/891.

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KONFLIKTPRÄVENTION

Reichweiten der Prävention

Prävention beschränkt sich im UN-Verständnis keineswegs auf die Phase voreinem Gewaltausbruch, sie kann den gesamten Konfliktzyklus umfassen. In ei-nem Bericht des damaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan vom Juli 2006wird zwischen primären Maßnahmen vor dem Gewaltausbruch, sekundärenSchritten zur Vorbeugung zusätzlicher und erneuter Gewalt und tertiärer Prä-vention unterschieden, die einen Rückfall und eine dauerhafte Verhärtung vonFeindseligkeiten verhindern soll. Entsprechend der Vorstellung von strukturel-len Konfliktursachen, Katalysatoren und Auslösern wird zwischen leichter undtiefer Prävention unterschieden.

Entwicklungspolitische Prävention holt noch weiter aus. Sie zielt auf struk-turelle Stabilität, womit Armutsminderung, der Abbau sozialer Ungleichheit,ein verbesserter Zugang zu Ressourcen, die Erhaltung der natürlichen Lebens-grundlagen, eine aktive Bevölkerungspolitik, die Förderung von Demokratieund Rechtsstaatlichkeit, die Reform des Sicherheitssektors und die Ermäch-tigung der Zivilgesellschaft gemeint sind. Das Development Assistance Com-mittee der OECD (DAC) definiert strukturelle Stabilität dabei so: Sie „um-fasst die unabhängigen und sich gegenseitig verstärkenden Ziele des sozialenFriedens, der Achtung der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte sowiesoziale und ökonomische Entwicklung, welche durch dynamische und reprä-sentative politische Institutionen unterstützt werden, die wiederum fähig sind,Wandel zu managen und Konflikte ohne Gewalt zu lösen.“2 Damit wird Ent-wicklungshilfe per se zur Prävention deklariert. Noch weitergehend beschriebBoutros-Ghali Prävention als „eine Aktion, die verhindern soll, dass Dispu-te zwischen Parteien entstehen, existierende Dispute zu Konflikten eskalierenund die Verbreitung von Konflikten begrenzt wird, wenn sie auftauchen.“3 Prä-vention würde so auf die Vermeidung gesellschaftlichen Lebens hinauslaufen,da es unweigerlich aus Disputen besteht.

Die wohl umfassendste Kompilation von Ideen über eine „Struktur dau-erhaften Friedens“ hat Dieter Senghaas vorgelegt. Sie basiere auf fünf Merk-malen: dichten Beziehungen von hoher wechselseitiger Relevanz, annähernderSymmetrie, vergleichbaren Strukturen bei den Partnern (Homologie), vielfäl-tigen Kreuz- und Querbeziehungen als Form der Selbstregulierung (Entropie)und gemeinsamen Institutionen.4 Ob Interdependenz und gemeinsame Insti-tutionen jedoch tatsächlich Gewalt verhindern, Symmetrie überhaupt möglich

2 OECD, DAC: Conflict, Peace and Development Cooperation on the Threshold of the 21st

Century, Paris 1998.3 B. Boutros-Ghali: An Agenda for Peace, New York 1992, Absatz 20.4 Dieter Senghaas (Hrsg.): Frieden machen, Frankfurt/Main 1997, S. 15.

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ist, homologe autoritäre Regime auch ein Garant für Frieden wären und dasumgangssprachliche Verständnis von Entropie dauerhaften Frieden gewähr-leistet, wird jedoch mehr behauptet als bewiesen. Für Senghaas ist Präventionletztlich identisch mit dem Export einer Idealvorstellung über zivilisatorischeErrungenschaften Europas. Wenn man Europa bzw. die EU zum Modell erhebt,dann wäre für die Prävention allerdings entscheidend, ob die Voraussetzungenihrer Entstehung übertragbar sind – letzteres ist jedenfalls mit Blick auf Afrikaund Südostasien höchst fraglich.

Gewalteskalation und Prävention

Die Vorstellung, dass strukturelle Konfliktursachen durch Katalysatoren, Aus-löser und äußere Anreize sich mechanisch in Gewalt übersetzen, ist unhaltbar.Die meisten Konflikte sind endemisch und haben eine nur schwer vorherseh-bare Dynamik. Gewalteskalation ist nicht strukturell überdeterminiert; extre-me Armut oder „ungerechte“ Verhältnisse ziehen nicht notwendig gewaltsa-mes Verhalten nach sich. Objektive Differenzen zwischen Gruppen sind mit-nichten ein guter Indikator: Sich sprachlich-kulturell nahestehende Gruppenkönnen auch als Zielgruppe für ethnische Gewalt ausgesucht werden. Eine ex-treme Heterogenität von Gruppen kann sogar ein Faktor für Stabilität sein,weil Fragmentierung gefördert und Kollektivhandeln eingeschränkt wird. Amehesten kann davon ausgegangen werden, dass arme Staaten mit rückläufigerWirtschaft gefährdet sind. In Ländern mit extrem niedrigen Einkommen kannder Export von einträchtigen Bodenschätzen, illegalen Drogen oder Waffen dieKonfliktrisiken ebenfalls erhöhen, weil so Einnahmen für Paramilitärs oderKriegsfürsten entstehen, Korruption gefördert und Sezession stimuliert wird,während die Abhängigkeit von externen Schocks wächst. Zeiten der Transfor-mation sind aufgrund der De-Institutionalisierung ebenfalls anfällig für maxi-malistisches und gewalttätiges Verhalten.

Gewalt folgt eigenen Rationalitäten. Um Gewalt vorzubeugen, müssen ent-weder die Gewaltziele unattraktiv gemacht, der Gewaltmodus unterbrochenoder attraktivere Modi der Zielerreichung offeriert werden. Gewalt soll meistpolitischen Wandel auslösen oder verhindern, politische Machtverteilungenändern, Ressourcen neu verteilen, die Gruppenhomogenität und das kollek-tive Selbstwertgefühl stärken und die Akteurskonfiguration abändern. ExternePräventionspolitik hat freilich die Legitimität von Zielen der Gewaltakteurenur selten hinterfragt – häufig hält man die Ziele für durchaus legitim, nur dieMittel nicht.

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KONFLIKTPRÄVENTION

Zur Vorbereitung von Gewalt gehört die soziale Konstruktion von Vor-urteilen, die Zwangshomogenisierung der eigenen Gruppe, die Vergrößerungder Unterschiede zum Aggressionsobjekt und ein Antagonismus der Massen.Die Vorbereitungsrituale von Gewalt schließen die Entindividualisierung derOpfer, die Zustimmung durch moralische Autoritäten, die „Vermassung“ derTäter und die Verbreitung von Gerüchten ein, um ein Gefühl unterschiedslo-ser Bedrohung zu erzeugen. Zur Vorbereitung von Gewalt gehört es, Opferauszuwählen, Gelegenheiten für Gewalt zu schaffen und die Teilnehmer zuorganisieren. Der Gewaltmodus bzw. die Vorbereitungsrituale sollen der Prä-ventionsrhetorik zufolge meist durch Dialog oder Empathie verändert werden.Allerdings sind Gruppenpluralismus, Multikulturalismus und eine Politik derToleranz hilflos, wenn sie nicht mit der Bestrafung von Gewalt und Gewalt-verherrlichung einhergehen – ein Aufruf zum Dialog ist für sich genommenwohlfeil.

Wenn vergleichbare strukturelle Ursachen höchst unterschiedliche Kon-fliktverläufe nach sich ziehen können, externe Akteure nur geringen Ein-fluss auf sozio-ökonomische Rahmenbedingungen, demographische und so-ziale Strukturen sowie politische Machtverhältnisse haben und konfliktauslö-senden Ereignissen ein hohes Maß an Zufälligkeit zukommt, dann müsste sichPrävention auf Konfliktkatalysatoren konzentrieren, d.h. auf jene politischenProzesse und institutionellen Rahmenbedingungen, die Gewalt als lohnend er-scheinen lassen. Gewalt kann durch Wahlkämpfe katalysiert werden, um Grup-pendifferenzen zu instrumentalisieren, Verteilungsfragen zu entscheiden oderum soziale Kontrolle durchzusetzen.

Als attraktivere Modi der Zielerreichung werden meist Demokratie,Rechtsstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit offeriert. Demokratieförderungist jedoch nicht per se konfliktmindernd. Zudem wäre zu bestimmen, welcheArt Demokratie präventionsförderlich ist. Die einen halten ein majoritäres undpräsidentielles System für vorteilhaft, weil es sich am Durchschnittswählerausrichte, extremistische Parteien geringe Chancen hätten und so eine modera-te Politik gefördert würde. Konträr dazu bevorzugen andere parlamentarischeund proportionale Systeme, weil sie inklusiver und gerechter seien, Minder-heiten nicht ausschlössen, den Terror der Mehrheit eindämmten und Kompro-missfähigkeit förderten. In Bezug auf die Konkordanzdemokratie gehen dieAuffassungen ebenfalls auseinander – deren Anhänger halten Elitenpakte, dieKooptation von Minderheitenführern, Minderheitenvetos und multidimensio-nale Parteiensysteme für konfliktregulierend. Kritiker wenden dagegen ein,dass die Institutionalisierung von Gruppenrechten zur Abgrenzung von Grup-pen, zu Ethnokratie, Klientelismus und Nepotismus führe und letztlich Gewalt

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fördere, weil Gruppenrechte auf der Homogenität der religiösen oder ethni-schen Gruppen basiere, die wiederum am ehesten durch Gewalt zu erreichensei. Kurzum, konkrete demokratische Institutionen sind in ihren Wirkungenmehrdeutig, kontextabhängig und kein Garant erfolgreicher Konfliktpräventi-on in tief gespaltenen Gesellschaften.

Dilemmata der Prävention

Kritische Rückfragen sind besonders zur wechselseitigen Abhängigkeit undVerstärkung der Ziele von Prävention gestellt worden. Können aus einem ganz-heitlichen Ansatz überhaupt politische Prioritäten abgeleitet werden? Kommtder Sicherheit, besonders dem staatlichen Gewaltmonopol, eine vorrangigeBedeutung zu? Eine Politik, die sich der Gewaltprävention verschreibt, hatnämlich zu wählen. Sicherheit und Stabilität wird im Entscheidungsfall höhereingestuft als Demokratie oder soziale Gerechtigkeit, denn sowohl eine Po-litik der Demokratisierung als auch der sozialen Gerechtigkeit ist mit hoherWahrscheinlichkeit mit politischer Instabilität, Machtverlust für bisherige Eli-ten, institutioneller Unsicherheit und Gewalt verbunden. Prävention unterstellteine Interdependenz von Frieden, Entwicklung, Demokratie und Menschen-rechten, die Widersprüche und Zielkonflikte ausblendet. Die Entspannungs-politik während des Ost-West-Konfliktes setzte auf Gewaltverhinderung, al-lerdings um den Preis einer temporären Stabilisierung des autoritären Statusquo. Gewaltvermeidung um jeden Preis kann jedoch mitnichten ein legitimesZiel von Prävention sein – es hieße, totalitäre, autoritäre, kleptokratische undsultanistische Regime gewähren zu lassen. Wenn Gewaltprävention stets dieultima ratio ist, müsste eine gewaltsame Ablösung autoritärer oder totalitärerRegime zum Tabu erklärt werden. Eine solche Entscheidung wäre in hohemMaße legitimationspflichtig.

Die Fachwelt ist gespalten über die Effekte von struktureller Präventi-on. Entwicklungshilfe, Regimeliberalisierung oder Demokratisierung könnenauch zur Konflikteskalation beitragen. Vermeintlich erfolgreiche Präventions-fälle wiederum, wie z.B. in Makedonien in den 1990er Jahren, erwiesen sichim Nachhinein als brüchig: Eine Konflikteskalation wurde bestenfalls hinaus-gezögert. Grundsätzlich ist deshalb zu fragen, ob ein gewaltsames Ereignisaufgrund dieser Maßnahme oder nicht infolge anderer Faktoren ausblieb. IstPrävention insofern überhaupt messbar? Ist möglicherweise die Stabilisierungbzw. das Einfrieren eines Konfliktes bereits die beste aller denkbaren Präven-tionsvarianten?

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Erfolg könnte, so Volker Matthies, daran gemessen werden, dass alle re-levanten Konfliktparteien eingebunden sind, diese in der Lage sind, getrof-fene Vereinbarungen durchzusetzen, möglichst viele Konfliktursachen besei-tigt werden und es nicht zum erneuten Ausbruch eines Konfliktes über den-selben Gegenstand kommt.5 Die Einbindung aller relevanten Konfliktparteiengeht freilich von einem zweckrationalen statt fundamentalistischen Akteurs-verhalten aus – eine Annahme, die sich auf Akteure wie Osama bin Laden,die Taliban, Terroristen und Selbstmordattentäter schwerlich ausdehnen lässt.Nicht Einbindung, sondern eine rechtzeitige und massive Eindämmung, ro-buste Sanktionierung und kollektive Unterminierung von Ressourcenflüssenwären in den Fällen vonnöten, wo es prinzipiell keine wechselseitige Aner-kennung als legitime Konfliktakteure gibt.

Prävention ist als eine Form kollektiven Handelns extrem voraussetzungs-reich. Sie erfordert eine geteilte Wahrnehmung der Relevanz von Risiken undKonflikten, eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit, ein geteiltes Mandatsowie die Bereitschaft zur frühzeitigen und zugleich dauerhaften Bereitstel-lung von Ressourcen für Konfliktprävention. Katastrophale Konflikt- oder Not-lagen müssten vor ihrem Eintreten absehbar sein. Unzuverlässige Konfliktpro-gnosen, Indifferenz, Fatalismus, Opportunismus, Pragmatismus und die Pro-bleme des Kollektivhandelns stehen einer kollektiven Prävention entgegen.6

Zudem lassen sich finanzielle Mittel von Gebern erst infolge eines massivenKonfliktes mobilisieren. Strukturelle Prävention ist teuer, sie erfordert Res-sourcentransfers ohne eine akute Notlage. Dem Kollektivgut „gemeinsame Si-cherheit“ steht schließlich das Bedürfnis nach individueller Kosten- und Risi-kominderung entgegen.

Early Warning und Early Action

Neben der klassischen Aufbereitung von Informationen durch Geheimdienstegibt es seit Mitte der 1990er Jahre einen Boom im Bereich der Frühwarnung.Jeder Frühwarnung liegen explizit oder implizit Hypothesen über Kausalitä-ten und Sequenzen einer Konflikteskalation zugrunde. Die meisten Modellesammeln Informationen über Konfliktursachen sowie über mobilisierende oderkatalysierende Faktoren. Die meisten Modelle leiden jedoch daran, dass sieentweder überkomplex oder additiv, ohne Kausalaussagen, auf Gewalt großen

5 Volker Matthies: Einleitung: Friedenserfahrungen und Friedensursachen, in: ders. (Hrsg.),Der gelungene Frieden. Beispiele und Bedingungen erfolgreicher friedlicher Konfliktbear-beitung, Bonn 1997, S. 19.

6 Volker Matthies: Krisenprävention, Opladen 2000, S. 26f.

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Ausmaßes fokussiert, ohne operative Relevanz oder „politisiert“ bzw. von Ei-geninteressen der Nachrichtendienste getrieben sind. Zudem steht Frühwar-nung vor einem Dilemma: Je früher gewarnt wird, umso unwahrscheinlicherist es, dass das Ereignis tatsächlich eintritt. Aus der Perspektive eines Frühwar-ners ist es rational, möglichst spät zu warnen, weil die Fehlerquote geringer ist.

Auch wenn die Konfliktkorrelationen meist umstritten sind, gibt es docheinige Indikatoren für Präventionsbedarf. Dazu zählen in der Regel drama-tische Verschiebungen in der Demographie (z.B. Migration, Flucht, extremeVerjüngung), ökonomische Schocks, politische Störungen (krasse Willkür undRepression gegen bestimmte Gruppen, unfriedliche Wahlen, Gewalt gegenGruppensymbole, Kirchen), eine Militarisierung der Innenpolitik, Massenmo-bilisierung und destabilisierende externe Interventionen zugunsten einer Kon-fliktpartei. Außerordentlich kompliziert ist es dagegen, den Einfluss „tieferer“Konfliktursachen konkret zu bestimmen.

Externe Akteure und Prävention

Als Akteure einer Präventionspolitik können die Weltmacht USA, ande-re Großmächte, einzelne Regierungen, internationale Organisationen, einzel-ne oder kollektive diplomatische Verbünde, Nichtregierungsorganisationen(NGOs), aber auch Akteure aus den Konfliktgebieten selbst angesehen wer-den. Diese Akteure verfügen über je eigene Interessen, Ressourcen und Sank-tionsmittel. Grundsätzlich gilt: Je mehr Akteure für eine Präventionspolitik zugewinnen sind, umso höher ist die Legitimation, umso wahrscheinlicher sindjedoch auch Meinungs- und Interessensdivergenzen, Ineffizienz und ein ent-sprechend hoher Koordinationsbedarf. Prävention durch NGOs mag bisweilenden Vorteil haben, unabhängiger, neutraler, flexibler, transparenter und kon-fliktsensibler zu sein. Andererseits liegen den Erwartungen an NGOs häufignaive Vorstellungen über den vermeintlich friedfertigen, autonomen oder al-truistischen Charakter der Zivilgesellschaft zugrunde.

Als positive Beispiele einer Präventionspolitik in den 1990er Jahren wirdgemeinhin die OSZE-Diplomatie in den baltischen Staaten und in Makedonienangeführt. Im Baltikum setzte sich die OSZE, später die EU, für Minderheiten-standards ein, dies konnte zudem mit Integrationsanreizen verknüpft werden.Zu keinem Zeitpunkt bestand allerdings im Baltikum die Gefahr einer Eskalati-on in organisierte, kollektive Gewalt, insofern können Estland und Lettland alsleichte Präventionsfälle verbucht werden. Systematisch hat die OSZE gleich-wohl einige Vorteile für eine präventive Politik. Dazu gehören die Selbstver-pflichtung der Mitglieder auf geteilte Grundwerte, das hohe Maß an Inklusi-

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on und Partizipation und die normative Verknüpfung von Demokratisierungmit Konfliktregelung. Ihr Nachteil: Die OSZE ist durchsetzungsschwach, kon-sensgebunden, sie wird durch nichtdemokratische Mitglieder gebremst und dieMitglieder müssen bereit sein, Ressourcen zu stellen.

Auch ohne direkte Präventionspolitik vermittelt die internationale Ge-meinschaft Signale für Konflikteskalation oder -deeskalation. Anfang der1990er Jahre hat die Rhetorik der Selbstbestimmung, vom nationalen Erwa-chen und den Völkergefängnissen in Osteuropa gewaltsame Sezession ermu-tigt. Die Hinwendung der USA zur UCK und deren Anerkennung als legi-timer Sprecher der Kosovaren hat ab Sommer 1998 Nationalisten ermuntert,den Sezessionismus militärisch zu forcieren. Umgekehrt wurde im Frühjahrund Sommer 2001 eine Eskalation des Makedonienkonfliktes mit dem Ziel ei-ner militärischen Intervention der NATO zurückgewiesen und mit dem Ohrid-Abkommen eine Demobilisierung der albanischen Separatisten sowie eine po-litische Machtbeteiligung der albanischen Minderheit vermittelt. Als verpasstePräventionschancen gelten wiederum der Ruanda-Genozid 1994, die anhalten-de Darfur-Katastrophe und der Libanonkrieg 2006. In allen drei Fällen wur-den deutliche Anzeichen einer bevorstehenden dramatischen Konflikteskalati-on ignoriert und stattdessen ein Unwille zur Konflikteindämmung signalisiert.

Prävention durch die Vereinten Nationen

Was für die OSZE gilt, trifft ähnlich für die Vereinten Nationen zu: die Legiti-mität aufgrund ihres völkerrechtlichen Charakters und die gleichzeitige Hand-lungsbeschränkung aufgrund der Vielzahl der Vetospieler. Als Instrumente derPrävention erwähnte Kofi Annan im Jahr 2001 die Frühwarnung, gute Diensteund Vermittlung, die Förderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und guterRegierungsführung, Abrüstung und Rüstungskontrolle, eine gerechte Entwick-lung und die Achtung der Menschenrechte sowie des humanitären Rechts. ImProgress Report von Kofi Annan vom Juli 2006 liegt der Fokus der Präventionauf Institutionen der gewaltfreien Konfliktbearbeitung und Dialogforen. Nebender strukturellen und operativen Prävention führt Annan den Begriff der syste-mischen Prävention ein, worunter er die Vorbeugung globaler Risiken versteht.Der Annan-Bericht empfiehlt vor allem, die transnationalen Risikofaktoren zuminimieren. Konkret zählt er dazu ein impact assessment für Unternehmen, diein Gebieten mit hohem Konfliktrisiko operieren, internationale Kontrollen überillegalen Handel mit Kleinwaffen, Strategien, um den Gebrauch von nuklea-ren, radiologischen, chemischen und biologischen Waffen zu bannen, Entwick-lungsprojekte, die Alternativen zum Drogenanbau bieten sowie Umweltschutz-

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maßnahmen. Ferner erwähnt der Bericht Arbeitsbeschaffungsprogramme, dieden Migrationsdruck mindern sollen. Als strukturelle Maßnahmen nennt ergute Regierungsführung sowie Korruptions- und Armutsbekämpfung. Um diePräventionskapazitäten der UN zu stärken, empfiehlt Annan eine verbesser-te Konfliktanalyse, Kooperation zwischen den diversen UN-Abteilungen unddie Unterstützung von Präventionskapazitäten in den Ländern selbst sowie diefortgesetzte Unterstützung von friedenserhaltenden UN-Missionen.

Präventionspolitik der EU

Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU hat sich seit der zwei-ten Hälfte der 1990er Jahre ebenfalls dem Aufbau von Frühwarn- und Peace-keeping-Kapazitäten und von Anlaufstellen bei der Kommission für Krisen-prävention mit einem Fokus auf Afrika verschrieben. Beim Rat der EU gibtes seit dem Vertrag von Amsterdam (1997) eine Policy Planning und EarlyWarning Unit. Prominente Fälle von regionalen Präventionsaktivitäten der EUwaren bzw. sind die Concordia-Mission in Makedonien und die EU-Missionenin der Demokratischen Republik Kongo. Während das Ziel im Kongo in derUnterstützung einer demokratischen Wahl bestand, ohne dass es mehr als spo-radische Gewalt gab, ist die Makedonien-Erfahrung, wo ein virulenter Kon-flikt gestoppt wurde, bisher einzigartig. In anderen Fällen, etwa Sanktionsdro-hungen gegenüber Sudan, Simbabwe, Iran und Usbekistan, ist die Politik derEU-Mitglieder hingegen uneinheitlich, inkonsequent und deshalb wenig er-folgreich. Von einigen Konflikten wie in Tschetschenien, Tibet oder Kaschmirhält sich die EU aus Rücksichtnahme auf die involvierten Großmächte ohnehinfern.

Das Image, wonach die EU eine reine Zivilmacht sei, ist seit dem Koso-vokrieg, dem Afghanistankrieg und der Beteiligung zahlreicher EU-Mitgliederam Irakkrieg beschädigt. In der EU ist die Befürchtung allerdings groß, dasssie selbst darauf reduziert werden könnte, Militärinterventionen zuzustimmen,die von den USA entschieden wurden, diese zu finanzieren und die Lasten derspäteren Stabilisierung zu tragen. Dies ist zweifellos ein Motiv für ein mög-lichst frühzeitiges Reagieren auf Konfliktdynamiken. Die Koordinations- undKohärenzprobleme aufgrund vieler Mitglieder, ein geringes Budget für zivileKrisenprävention, aber auch mögliche Dopplungen mit der NATO schränkendie Möglichkeiten der EU derweil ein. Die EU ist deshalb meist dort tätiggeworden, wo ein robustes Auftreten der NATO nicht mehr nötig schien (Bal-kan) oder wo die NATO bzw. einzelne NATO-Staaten kein Interesse zeigten(DR Kongo). Der Schwerpunkt der materiellen Hilfe der EU liegt ohnehin auf

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Staaten, die EU-Mitglied werden möchten. Die EU konnte und kann Verhal-tenserwartungen in Ost- und Südeuropa mit Anreizen für potenzielle Mitglie-der verbinden. Freilich könnte sie ihre Glaubwürdigkeit und ihr Profil stärken,indem sie nicht wartet, bis der UN-Generalsekretär um Unterstützung anfragt,sondern selbst als eine Koalition der Willigen initiativ wird – etwa im FalleDarfur (vgl. Beitrag 4.1).

Aktionsplan der Bundesregierung

Die Bundesregierung hat im Jahre 2004 einen interministeriellen Aktions-plan für „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidie-rung“ aufgelegt. Vorbeugende und zivile Maßnahmen haben demnach Prio-rität vor der militärischen Reaktion.7 Grundlage des Aktionsplanes sind einerweiterter Sicherheitsbegriff, ein ressortübergreifendes, kohärentes Vorgehen,der Aufbau krisenpräventiver Strukturen und eine Vernetzung auf europäischerund globaler Ebene sowie eine komplementäre Rolle der Zivilgesellschaft. DerBundesregierung ging es darum, das Politikfeld zu etablieren und damit in-ternational als wichtiger und innovativer Akteur wahrgenommen zu werden.Die Bundesregierung versteht unter Krisenprävention sowohl die Vorsorgeals auch die Konfliktnachsorge. Insgesamt werden 161 Aktionen aufgezählt,wobei das Themenfeld weit gefasst ist. Es schließt die menschliche Sicher-heit, das zivil-militärische Schnittstellen-Management, early warning – earlyaction, Wirtschaft-Umwelt-Kultur und ein Kommunikationskonzept für Kri-senprävention ein. Zur Prävention zählen Dialog, Länderstrategien, friedens-fördernde Entwicklungszusammenarbeit, die Förderung zivilgesellschaftlicherProjekte, das internationale Krisenmanagement und die Schaffung demokrati-scher und rechtsstaatlicher Strukturen.

In der durch das BMZ geförderten Entwicklungszusammenarbeit wurdendie Friedensentwicklung und Krisenprävention als neue Schwerpunkte aufge-nommen, darunter Maßnahmen, die sich unter die Schlagworte Sicherheitssek-torreform, Förderung regionaler Kooperation sowie Stärkung regionaler Kapa-zitäten zur Krisenprävention und Friedensförderung subsumieren lassen (vgl.Friedensgutachten 2006, Beitrag 2.4.). Das Auswärtige Amt unterstützt Pro-jekte des Zivilen Friedensdienstes, während das BMZ die Armutsbekämpfungund die gute Regierungsführung als zentrale Förderbereiche ansieht – angeb-lich werden mittlerweile rund 20 Prozent der Finanzmittel der bilateralen Ent-

7 Die Bundesregierung: Aktionsplan Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedens-konsolidierung, Berlin 2004.

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wicklungszusammenarbeit im Umfeld von Konfliktsituationen eingesetzt. DerZivile Friedensdienst wurde von der Rot-Grünen Bundesregierung mit demZiel geschaffen, durch Dialogförderung, vertrauensbildende Maßnahmen, Ver-söhnungsarbeit und Menschenrechts- bzw. Demokratieförderung zu gewalt-freien Konfliktlösungen bzw. der Konflikttransformation beizutragen.

Erste Rückmeldungen zum Aktionsplan kamen trotz grundsätzlicher Be-fürwortung zu dem nüchternen Fazit, dass die 161 aufgeführten Aktionen ei-nem Katalog unverbundener Maßnahmen ähneln, die ressortübergreifende Ko-operation wenig institutionalisiert ist und der Frühwarnung keine Taten folgen.Derweil erfüllt der Beirat für zivile Krisenprävention weitgehend eine Alibi-funktion. Das ministerielle Engagement für Prävention, besonders early war-ning und early action, unterliegt zudem modischen Konjunkturen und außen-politischen Profilierungswünschen.

Prävention und Großmächte

Der im Jahr 2000 erschienene Bericht von Lakhdar Brahimi zu UN-Friedens-operationen forderte die Großmächte zu multilateralem, präventivem Handelnauf. Großmachtkooperation ist jedoch selten gegeben – gemeinsame Schutz-güter und vitale Interessen mehrerer Großmächte müssen auf dem Spiel ste-hen. Da humanitäre Katastrophen möglicherweise nur lokale oder regionaleAuswirkungen haben, ist bisweilen nur der Verlust an Glaubwürdigkeit ein In-terventionsgrund. Unilaterale Prävention wird derweil häufig von Großmäch-ten bevorzugt, besonders von den USA, weil sie mehr Handlungsfreiheit undschnelleres Agieren ermöglicht und sich nicht durch die Interessendivergenzenkollektiver Verbünde behindern lassen will. In der Tat verfügen die USA übereinzigartige Ressourcen, einen Friedensschluss herbeizuführen und durchzu-setzen (z.B. Camp David, Dayton und Good Friday Abkommen). Allerdingsbedingt unilaterales Handeln eine fragliche Legitimation, mangelnde Lasten-teilung erzeugt Misstrauen und hat möglicherweise geringe Persistenz zur Fol-ge.

Großmachtkooperation bei der Prävention kann wiederum gerade dadurchentstehen, dass eine Großmacht daran gehindert werden soll, einseitig zuguns-ten einer Konfliktpartei einzugreifen – Prävention bestünde dann darin, ein-seitiges oder konfrontatives Eingreifen zu verhindern. Kooperation zwischenGroßmächten kann auch entstehen, wenn befürchtet wird, dass die Großmäch-te andernfalls selbst in den Konflikt hineingezogen werden oder er sich durchUntätigkeit verschärft. Grundsätzlich kann wohl angenommen werden, dassPrävention erst dann von Großmächten unterstützt wird, wenn Eigeninteres-

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sen massiv betroffen sind. Prävention ist an ein großes Interesse der west-lichen Führungsmächte an Konflikteindämmung, einen gemeinsamen politi-schen Willen im UN-Sicherheitsrat, ein geostrategisches Interesse der USAoder anderer Großmächte und die Bereitstellung von adäquaten Ressourcenfür eine Präventionspolitik gebunden.

Fazit

Um den Präventionsbegriff nicht zu entleeren, sollte er auf die Vorbeugungbzw. Eindämmung massiver und organisierter zwischen- und innerstaatli-cher Gewalt fokussiert werden, wobei glaubwürdige Eindämmung auch völ-kerrechtlich mandatierte Militärinterventionen einschließen kann. Präventionkann am ehesten einen Beitrag dazu leisten, den Modus der Konfliktaustragungzu verändern, indem konsistente Reaktionsmuster entwickelt und alternativeHandlungsanreize geboten werden sowie im Falle von Völkermord Sanktio-nen greifen.

Prävention kann auch militärische Zwangsmittel beinhalten. Durch frü-hes militärisches Eingreifen hätten der Völkermord in Srebrenica (Bosnien1995) und der Genozid in Ruanda möglicherweise verhindert werden können.Auf diese Präzedenzfälle wurde bei der Kosovointervention (1999) dann perAnalogieschluss rekurriert. Da die Verhinderung von Genozid oder drohenderMassenvernichtung meist auf Analogieschlüsse angewiesen ist, diese aber inhohem Maße spekulativ sind, können präventive Militärinterventionen freilichauch leicht missbraucht werden – zuletzt geschehen beim zweiten Irakkrieg.Auch hier wurde mit der Prävention bzw. sogar einer „Präemption“ argumen-tiert. Das Völkerrecht legitimiert zwar keine Präventivkriege, allerdings sindpräemptive Maßnahmen nach Art. 51 UN-Charta zur Abwehr eines „unmit-telbar“ bevorstehenden Angriffs erlaubt. Die Definition von „Unmittelbarkeit“hängt freilich stark von subjektiven Wahrnehmungen ab. Die UN-Charta (Art.42) ist selbst unpräzise, wenn sie es dem Sicherheitsrat anheimstellt, wie er„den Weltfrieden und die internationale Sicherheit“ zu wahren (Prävention)oder wiederherzustellen (Restitution) gedenkt. Die Kriterien präventiver mili-tärischer Zwangsmittel sind jedenfalls bisher nicht hinreichend expliziert wor-den.

Präventionsinstrumente sind Politikfeld-spezifisch. Wenn die Annahmerichtig ist, dass der Konfliktmodus maßgeblich für Eskalationsgefahren ist,dann dürften folgende Handlungsfelder vorrangig sein: die Förderung von re-gionaler Kooperation und Regimen zur Kontrolle von Konfliktgütern, Waffen-exportkontrollen, Medienkommunikation über die Grenzen der Konfliktpartei-

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ANDREAS HEINEMANN-GRÜDER

en hinweg, ein rechtsstaatlicher Sicherheitssektor und politische Institutionen,die Kooperationsanreize zwischen Gruppen verstärken. Wesentlich scheint dieKonditionalität von externer Hilfe, deren Kombination mit politischen Refor-men sowie der Zugang zu Exportmärkten zu sein, vor allem für afrikanischeStaaten. Unausgeschöpfte Potenziale für eine strukturelle Prävention bestehenbei der internationalen Regimebildung, vornehmlich in Bezug auf illegalenHandel mit Kleinwaffen und illegalen Drogen und die Zertifizierung von Kon-fliktgütern.8

Offenkundig besteht Bedarf an einer Verbesserung der Konfliktanalysen,an einer Verknüpfung von regionalen mit sektoralen Programmen, der Abstim-mung der nationalen mit den EU-Präventionsinstrumenten und einer deutli-chen Aufstockung der Präventionspolitik mit qualifiziertem Personal. In Groß-britannien wurden eigens Conflict Prevention Pools eingerichtet, d.h. ständigeGremien für die Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungsressorts. Von ihrenErfahrungen könnte die Bundesregierung lernen. Die Wahrscheinlichkeit, dassein transnationaler Präventionsmechanismus unter den EU-Mitgliedern insti-tutionalisiert wird, ist allerdings gegenwärtig gering.

8 Paul Collier: Breaking the Conflict Trap. Civil War and Development Policy, Washington,D.C. 2003, S. 126-134.

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1.9. Wider die Aufrüstungs-Globalisierung: Plädoyerfür eine nachhaltige Abrüstungsinitiative

Harald Müller

Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung liegen in einer präzedenz-losen Agonie. Die Priester der Macht des Faktischen predigen uns: Recht so!Das sei „alte Politik“, überholt vom Ende des Ost-West-Konflikts. Dabei wirdverdrängt, dass die alten Antagonisten bis 1996 an neuen Abkommen und ander Anpassung der alten arbeiteten. Und es wird uns nie erklärt, warum die„neuen“ Bedrohungen nicht auch mit Hilfe bewährter Instrumente bekämpftwerden könnten.

Die Hinrichtung der Rüstungskontrolle stand auf der Agenda jener Ko-alition von Neokonservativen und militärgläubigen Nationalisten, die bis zuden Kongresswahlen im Herbst 2006 maßgeblich die Richtung der amerikani-schen Sicherheitspolitik bestimmten. Sie waren im Abarbeiten dieser Agendabestürzend erfolgreich. Und es war gewiss nicht das Verdienst der Cheneys,Rumsfelds oder Boltons, sondern dem Widerstand anderer westlicher Staatenwie Kanadas, Schwedens oder Deutschlands zu verdanken, dass von dem inden neunziger Jahren so hoffnungsvoll aufwachsenden Gebäude einer Welt-rüstungsordnung wenigstens noch einige Ruinen in brauchbarer Bausubstanzerhalten blieben.

Der vorliegende Beitrag begründet, warum Rüstungskontrolle und Abrüs-tung nach wie vor ein unabdingbares Instrument friedlicher Weltgestaltungbleiben. Er beschreibt den misslichen Zustand, in dem sich dieses Politik-feld gegenwärtig befindet, und setzt dabei einen besonderen Schwerpunkt aufden vielleicht wichtigsten und am meisten gefährdeten Eckstein, den nuklea-ren Nichtverbreitungsvertrag. Abschließend versucht er einige Prioritäten fürdie kommenden Jahre zu bestimmen, wenn die erwartbaren politischen Verän-derungen in Washington – hoffentlich – wieder Handlungsspielräume auftunwerden.

Diagnose: Riskante Machtwechsel in Sicht

Was immer über die Globalisierung gestritten wird: Sie bringt die verschiede-nen Länder und Regionen der Welt in engeren Kontakt. Dies ist erfreulich, weilsich neue Chancen der Zusammenarbeit ergeben. Zugleich birgt die Globali-sierung aber auch Risiken, weil der unwirsche Zwilling wachsender Koope-

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HARALD MÜLLER

rationsmöglichkeiten leider die Vervielfältigung von Konfliktrisiken ist. Wäh-rend nach einer fast schon vorherrschenden Meinung die Globalisierung denStaat ausfransen lässt, stehen der Realität einiger Failed States durchweg sta-bile Staaten und sich konsolidierende Staatswesen mit wachsenden Machtmit-teln gegenüber, die ihre Ressourcen dafür einsetzen, die Instrumente öffent-licher Ordnung weiter zu stärken – gelegentlich schmerzlich auf Kosten derDemokratie und der Bürgerrechte. Die Globalisierung kennt ihre Gewinnerund ihre Verlierer nicht nur innerhalb der Gesellschaften, sondern auch in derStaatenwelt. Staaten entwickeln sich mit ungleich wachsenden Kapazitäten anwirtschaftlicher und militärischer Stärke sowie an institutionellen Ressourcen.Das gilt für Regionen ebenso wie für die Welt als ganze. Am augenfälligstenwird diese Entwicklung an der Aufholjagd Indiens und Chinas gegenüber denführenden Mächten des Westens, einschließlich der Supermacht USA. Proji-ziert man die gegenwärtigen Wachstumsraten in die kommenden Jahrzehnte,wird China die USA in einer Generation einholen, Indien wird eine halbe Ge-neration später dran sein.

Das ungleiche Wachstum von Machtressourcen ist nach aller historischerErfahrung ein Moment der Destabilisierung. Das ist nachvollziehbar, auchwenn man kein Jünger kruder Realpolitik ist: In den Regionen und weltweithaben sich die Staaten auf der Basis des Status quo mehr oder weniger gutarrangiert. Diese Gleichgewichte werden durch ungleiches Wachstum ausge-hebelt, neue Arrangements müssen gesucht und gefunden werden. Die Theorieund die Empirie des Machtwechsels (power change) haben Perioden dieser Artin Europa und in der Welt als besonders riskant, weil kriegsträchtig ausgewie-sen.

Nichts wäre daher unsinniger, als aus der erfreulichen Tatsache, dass derKrieg zwischen den großen Mächten in den Annalen der jüngsten Geschichtenicht vorkommt, voreilig zu schließen, man müsse sich über diese Mensch-heitsgefahr keine Sorgen mehr machen. Abgesehen davon, dass mancher Kriegder letzten fünfzig Jahre unter heutigen und künftigen Auspizien durchaus alsmilitärische Auseinandersetzung zwischen großen Mächten angesehen würde(etwa die Kriege zwischen Indien und China oder zwischen Indien und Pakis-tan), verdankt sich die relativ gewaltarme jüngste Periode der Großmachtbezie-hungen den massiven Anstrengungen der Verantwortlichen, die Bedingungendafür zu schaffen, dass die vorhandenen politischen Konflikte ohne große be-waffnete Zusammenstöße ausgetragen werden konnten. Mit dem Hinweis aufdas Abklingen zwischenstaatlicher Kriege in der Konfliktstatistik einem Endedieser Anstrengungen das Wort zu reden, wäre mehr als fahrlässig.

Ein weiteres kommt hinzu: Die erfreuliche Verdichtung des Handelsver-

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kehrs zwischen den Nationen, welche die Globalisierung mit sich bringt, wirfteinen dunklen Schatten: Auch die Umlaufgeschwindigkeit für moderne Waf-fensysteme und einschlägige Technologien hat sich erhöht. Die weltweite Ver-breitung von Waffentypen, die erst vor wenigen Jahren in die Arsenale derGroßmächte eingestellt wurden, ist heute Normalität. Das Angebot an dual-use-Technologien ist kaum mehr zu kontrollieren. Technologien für Massen-vernichtungswaffen können findige Staaten aus einer Vielzahl von Quellenzusammenkaufen, wie es Pakistan oder der Irak vor 1991 getan haben; dasNuklearschmuggel-Netzwerk des Dr.Khan demonstrierte, dass ein „Projekt-führer“ diese Aufgabe für seine Klienten übernehmen kann (wenn auch imFalle Khan anscheinend nur in semi-professioneller Manier). Deshalb ist dersubstaatlichen Proliferation genauso viel Augenmerk zu schenken wie der zwi-schenstaatlichen.

Rüstungskontrolle und Abrüstung als Instrumentekooperativer Sicherheit

Unter den Bedingungen einer enger zusammengewachsenen Welt, in der dieWirkung modernster Waffen – konventioneller wie Massenvernichtungswaf-fen – jene früherer Jahrhunderte beträchtlich übertrifft, ist daher dringend zuraten, vorausschauende Vorkehrungen zu treffen, um die genannten Risikenmit friedlichen Mitteln präventiv abzufedern. Für diesen Zweck wie geschaffenist die bi- und multilaterale Rüstungskontrolle und Abrüstung. Sie ist in einemanderen Kontext geschaffen worden, doch war dieser Kontext den genanntenmachtpolitischen Entwicklungsmustern nahe genug, um Rüstungskontrolle aufihre Tauglichkeit für die kommenden Aufgaben des friedlichen Konfliktmana-gements zwischen regionalen und globalen Mächten hin zu prüfen.

Ihre Geburtsstunde schlug, als sich das nukleare Patt zwischen den USAund der Sowjetunion etablierte – eine klassische Figur des machtpolitischenAufholens einer Macht gegenüber einer anderen. Ihre stärkste Bewährungspro-be bestand sie in der dramatischen Abwärtsspirale der Sowjetunion währendder zweiten Hälfte der achtziger und Anfang der neunziger Jahre. Rüstungs-kontrolle half den Übergang zu stabilisieren und wurde nahezu zum wichtigs-ten Instrument, um die Risiken des ungeheuren sowjetischen Machtverlustsaufzufangen.

Mit diesem transformativen Potenzial erfüllte die rüstungskontroll- und ab-rüstungspolitische Praxis in jener Phase eine von ihren „Erfindern“ nicht insAuge gefasste Funktion: die der dynamischen Stabilisierung von Konflikttrans-

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formationen. Änderungen der rüstungskontrollpolitischen Dispositive dientenbeiden Seiten sowohl dazu, ihren guten, d.h. nichtaggressiven Willen zu si-gnalisieren, als auch dazu, den jeweils erreichten Fortschritt der Beziehungenzu konsolidieren. Jede neue Errungenschaft – das Stockholm-Dokument von1986, der INF-Vertrag von 1987, KSE, das Wiener Dokument und START Ivon 1990, START II und die Chemiewaffenkonvention von 1992 – zog einen„Sperrriegel“ ein, der die Beziehungen daran hinderte, in ein früheres, bedroh-licheres Stadium zurückzufallen. Und jede gab den Parteien das Vertrauen, esmit noch mutigeren weiteren Schritten zu versuchen, bis die Änderung der Be-ziehungsqualität vollendet war.

Diese Entwicklung stellte die Ziele klassischer Rüstungskontrolle –Kriegsverhütung durch Stabilität, Kostenminderung und Schadensbegrenzungfür den Fall, dass es trotz aller Anstrengungen doch zum bewaffneten Konfliktkommt – in den Schatten. Doch bleiben diese Ziele, namentlich das erste, fürdie bevorstehenden Entwicklungen von herausragender Bedeutung: Zwischenden regionalen Mächten im Mittleren Osten und in Südasien muss schrittwei-se eine Rüstungskonstellation erreicht werden, welche die Risiken von tota-len ebenso wie von begrenzten Angriffskriegen vermindert. Vor allem unterden großen Mächten – den USA, China, Indien, Russland, Japan und der Eu-ropäischen Union – müssen die militärischen Dispositive gleichermaßen de-fensive Absichten signalisieren; davon sind sie heute weit entfernt. Wie bri-sant sich die Lage entwickelt, zeigt eine Serie von Ereignissen zu Beginndes Jahres 2007: der chinesische Antisatellitentest (nachdem Beijing mehrals ein Jahrzehnt lang vergeblich versucht hatte, das Veto Washingtons gegenWeltraum-Rüstungskontrolle zu überwinden); die harsche Kritik Moskaus anden europäisch-amerikanischen Raketenabwehrplänen, gepaart mit Erwägun-gen, den Vertrag über nukleare Mittelstreckenraketen zu kündigen; die zuneh-mend selbstbewussten Rüstungspläne Japans; die beharrlichen Anstrengungendes Pentagon und der US-Kernwaffenlabore, auch gegen den Widerstand desKongresses die Entwicklung neuer Sprengkopftypen voranzutreiben. All dasdeutet auf einen neuen Rüstungswettlauf unter den Mächten hin, dessen erstePhase wir gerade erleben. Gelänge es hingegen, dieses Risiko einzufangen, sowäre damit auch die brisante Weltregion Ostasien weitgehend pazifiziert. Ste-hen sich dort doch vier der sechs genannten Staaten, nämlich China, Japan, dieUSA und Russland, direkt gegenüber.

Die Kostenminderung für Rüstungsausgaben bleibt angesichts der zivilen –immer auch konfliktpräventiven – Weltaufgaben ein dringendes Gebot. Deramerikanische Militärhaushalt, um den in diesem Fall irreführenden Begriffdes Verteidigungshaushalts zu vermeiden, stellt mit ungefähr 500 Milliarden

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US-Dollar eine Obszönität dar, wenn man ihn mit den Ausgaben für Umwelt-schutz, Entwicklungshilfe oder AIDS-Bekämpfung vergleicht. Dass die chine-sischen Rüstungsausgaben in den letzten Jahren mit höheren Raten wachsenals das Bruttosozialprodukt, verdient angesichts der inneren Verhältnisse desLandes durchaus die gleiche Bezeichnung.

Das Ziel, im Kriegsfall den Schaden zu begrenzen, gebietet nicht nur wei-terhin das Verbot aller besonders zerstörerischen, grausamen und nachhaltigwirkenden Waffen unter den Gesichtspunkten des humanitären Völkerrechts,sondern auch und vor allem der Atomwaffen. Die Erfahrung mit den soge-nannten kleinen Kriegen, etwa im subsaharischen Afrika, verlangt nach derstärkeren Begrenzung der Zufuhr an konventionellen Waffen in diese Bürger-kriegsgebiete und den kreativen Mitteleinsatz, um die dortigen Kriegsökono-mien von den Verbindungen zum Weltmarkt abzuschneiden und damit auszu-trocknen. Die versuchte und in Teilen erfolgreiche Ächtung der „Blutdiaman-ten“ ist ein erstes, vielversprechendes Beispiel, das im weiteren Sinne zu deninnovativen Instrumenten der Rüstungskontrolle gerechnet werden muss.

Rüstungskontrolle: Der beklagenswerte Stand der Dinge

Der Rüstungskontrollzug, der während der frühen neunziger Jahre scheinbarunaufhaltsam voran rollte, begann seinen Bremsvorgang 1994 mit der Über-nahme des US-Kongresses durch die Republikaner, bei denen ihr rechter Flü-gel den Ton angab. Er rollte in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre allmäh-lich aus und kam zum Halt, als der Senat die Ratifikation des Teststoppvertra-ges verweigerte. Die Regierung Bush legte den Rückwärtsgang ein. Es beganneine beispiellose Demontage und Sabotage existierender Abkommen und lau-fender Verhandlungen. Heute stehen wir vor einem Scherbenhaufen.

Der über sieben Jahre verhandelte Protokollentwurf, der das Biowaffen-Übereinkommen mit verifikationsartigen Maßnahmen ergänzen sollte, schei-terte 2001 am amerikanischen Widerstand. Wie wichtig eine Vereinbarungzur Prüfung der Vertragstreue wäre, zeigen die umlaufenden Anschuldigun-gen, dass einige Staaten vertragsbrüchig seien. Mühsam gelang es den euro-päischen Bündnispartnern, durch eine Serie von Experten und Staatentreffenwenigstens einen Rest sicherheitspolitischer Kooperation in diesem Sektor zuerhalten. Dort wurden bescheidene praktische Schritte zur Implementierungdes Übereinkommens mit dem neuen Schwerpunkt der Bekämpfung des Bio-Terrorismus gemacht. Selbst gegen deren Institutionalisierung stemmt sich dieamerikanische Regierung doktrinär, obwohl diese Aktivitäten durchaus nütz-lich sind. Immerhin verlief die Überprüfungskonferenz im Dezember 2006

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konstruktiver. Dass dies schon als Verbesserung der Lage gewertet wird, zeigtden beklagenswerten Zustand des angesichts der Entwicklungen der Biotech-nologie eminent wichtigen multilateralen Abkommens.

Die Chemiewaffenkonvention, die über das ausgefeilteste Verifikationssys-tem aller multilateralen Verträge verfügt, ist durch die Vorbehalte, die der US-Senat seiner Ratifikationsentschließung und Implementierung beifügte, ge-schwächt. So dürfen von den Inspektoren in amerikanischen Einrichtungengezogene Stoffproben ausschließlich in amerikanischen Laboratorien unter-sucht werden. Dem US-Präsidenten ist das Recht vorbehalten, Verdachtsin-spektionen zu unterbinden, wenn er nationale Sicherheitsinteressen der USAgefährdet sieht. Die vereinbarten Fristen zur Vernichtung existierender Che-miewaffenbestände in den USA und in Russland können nicht eingehaltenwerden, weil die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel im Missverhält-nis zum technischen Aufwand stehen. Mitgliedsstaaten wurden öffentlich desVertragsbruchs verdächtigt, ohne dass die Forderung nach Verdachtsinspek-tionen an die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW) her-angetragen würde, wie es die Konvention vorsieht. Und die US-Armee ex-perimentiert mit „nichttödlichen“ Kampfstoffen, die bei friedenserhaltendenund -erzwingenden Einsätzen genutzt werden könnten. Der Einsatz dieser to-xischen Chemikalien wäre strikt vertragswidrig. Immerhin finden Jahr für Jahrviele Inspektionen statt. Die Zahl der Vertragsmitglieder ist auf 181 angewach-sen. Und die Konvention hat dazu geführt, dass einige Länder ihre Chemiewaf-fenprogramme eingestellt haben. Die Bilanz ist mithin wenigstens durchwach-sen.

Nach der bemerkenswerten Anstrengung der Vertragsparteien, den unterden Auspizien des Ost-West-Konflikts abgeschlossenen Vertrag über konven-tionelle Streitkräfte in Europa (KSE) den neuen Umständen anzupassen, düm-pelt das veränderte Vertragswerk vor sich hin, ohne in Kraft treten zu können.Die Vereinigten Staaten wollen für sich Flexibilität durchsetzen, die Hand-lungsfreiheit Russlands aber zugleich beschränken. Die USA und andere Ver-tragsstaaten haben die Ratifikation des neuen Vertrages an den Abzug sämtli-cher russischer Truppen aus Moldawien und Georgien gebunden und machendamit ein Kernelement gesamteuropäischer Sicherheit von der Regelung zwei-er lokaler, noch dazu weitgehend innerer Konflikte abhängig. Dahinter verbirgtdie Bush-Regierung ihr allgemeines Desinteresse an Rüstungskontrolle. Russ-land selbst scheint inzwischen das Interesse an dem Vertrag zu verlieren. Somitbesteht das akute Risiko, dass der OSZE-Region dieser Stabilisator ganz ver-loren geht.

Mit humanitären Gründen und auf massiven Druck aus der Zivilgesell-

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schaft entschloss sich 1996 eine Gruppe gleichgesinnter Staaten, aus derZwangsjacke der etablierten Verhandlungssysteme, in denen jeder beteiligteStaat ein Veto hatte, auszubrechen und einen unkonventionellen Weg zum Ver-bot der Anti-Personenminen zu gehen. Die Ottawa-Konvention von 1997 hataber den Nachteil, dass die meisten Großmächte – die USA, Russland, China,Indien – diesem Vertrag ferngeblieben sind. Die gleiche Entwicklung bahntsich jetzt bei den Streubomben an. Ihr Einsatz ist für die betroffene Zivilgesell-schaft ähnlich fatal wie der von Antipersonenminen. Die Vereinigten Staatenbevorzugen für beide Waffentypen technische Lösungen, d.h. eine möglichstverlässliche Selbstzerstörungstechnik. Auch bei diesen Techniken gibt es je-doch eine, wenn auch geringere Quote von „Versagern“, und die ärmeren Län-der machen geltend, dass die Technik-Lösung sie benachteilige, während voreinem allgemeinen Verbot alle gleich seien. Man kommt nicht umhin festzu-stellen, dass sich gerade die mächtigsten Länder der Erde das Recht auf denEinsatz von Waffen vorbehalten, die für Nichtkombattanten besonders verhee-rende Wirkung zeitigen.

Die Vereinten Nationen haben ein Aktionsprogramm für die Einschrän-kung des unkontrollierten Waffenhandels auf den Weg gebracht. Alle Versu-che, auch den legalen Handel mit Waffen zu regulieren, den Übergang ausdem legalen in den illegalen Sektor zu versiegeln und eine flächendeckendeKontrolle des zivilen Waffenbesitzes einzuführen, scheitern zumeist am Vetoder USA. Dort formuliert die National Rifle Association die Politik mit, jenemächtige Waffenlobby, in der sich vom Jäger bis zum Rüstungskonzern, vomSammler bis zur rechtsextremen Miliz die geballte Opposition gegen jeglicheWaffenkontrolle stemmt. Doch auch Russland und China wenden sich gegenweitergehende Versuche, im Hinblick auf diese tödlichen Instrumente inner-staatlicher Konflikte ihre Handlungsfreiheit einzuschränken.

Die Bush-Administration hat den Vertrag über antiballistische Raketen(ABM-Vertrag) der die Raketenabwehr verbot, gekündigt und damit dieGrundlage für die nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung beseitigt. Seit-her droht ein neues Wettrüsten, weil Russland und China um die Glaubwürdig-keit ihrer Abschreckung fürchten und sekundäre Atommächte wie Indien undPakistan durch die sicherheitspolitischen Verflechtungen in den Rüstungsauf-wind eingesaugt werden. Seit über einem Jahrzehnt währt die Weigerung Wa-shingtons, dem Begehren Chinas und Russlands nachzukommen, Verhandlun-gen über ein Stationierungsverbot für Waffen im Weltraum zu führen. Sie drohtjetzt auch in diesem Bereich einen Rüstungswettlauf einzuläuten, der in Wech-selwirkung mit dem nuklearen Wettbewerb verlaufen wird. Der spektakuläreTest einer chinesischen Antisatellitenwaffe ist ein Menetekel. Die Kombinati-

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on von Raketenabwehr und drohender Weltraumrüstung blockiert seit mehr alseinem Jahrzehnt sämtliche Verhandlungen in der Genfer Abrüstungskonferenz,da China Verhandlungen über einen Vertrag zum Verbot der Spaltstoffproduk-tion für Waffenzwecke verweigert, solange es keine Gespräche über Abrüstungim Weltraum gibt. Diese Blockade in Genf steuert zum vielleicht fatalsten Erbeder Sicherheitspolitik der Bush-Administration bei: zur Erosion des nuklearenNichtverbreitungsregimes.

Der Nichtverbreitungsvertrag und die nukleare Abrüstung

Der Nichtverbreitungsvertrag folgt einer schlichten realpolitischen Logik: Ineiner Welt, in der die Staaten ihre nationale Sicherheit durch eine Mixtur vonSelbsthilfe und internationaler Kooperation zu gewährleisten suchen, gibt esnur zwei Möglichkeiten, um mit einer besonders wirksamen Waffe umzuge-hen: Entweder hat sie keiner oder der Tendenz nach haben sie alle, die es sichleisten können. Dahinter steckt weder eine idealistische Philosophie, noch eineBesonderheit des Kalten Krieges, die durch die sogenannten neuen Bedrohun-gen außer Kraft gesetzt worden wäre, noch ein Neidkomplex größenwahnsin-niger Kleinstaaten, sondern sicherheitspolitischer Common Sense. Der Nicht-verbreitungsvertrag ist in diesem Sinne ein interimistisches Vorhaben, das ausdem Prozess einer schrittweisen Proliferation umsteuert zu einer Welt mit meh-reren Dutzend Kernwaffenstaaten, aus der Kernwaffen ebenso verbannt sindwie chemische oder biologische Waffen. Das ist der strategische Sinn von Art.VI, wie er auch in der Verhandlungsgeschichte überdeutlich zum Ausdruckkommt: Die Nichtkernwaffenstaaten waren nicht bereit, den im ursprünglichenEntwurf der beiden Supermächte geforderten Verzicht ohne Gegenleistung zuerbringen. Nur das Versprechen der nuklearen Abrüstung aller machte ihnenden Verzicht möglich.

Nun hört man von Seiten der Kernwaffenstaaten, das Verhalten der Atom-mächte hätte mit den nuklearen Bewaffnungsmotiven anderer nichts zu tun,diese beruhten vielmehr ausschließlich auf regionalen oder sogar nationa-len Gegebenheiten. Doch ist schon die bloße Vorstellung, das Gebaren derGroßmächte spiele keine Rolle für andere, einigermaßen grotesk. Bezeichnen-derweise gelangen in diesem Punkt die ansonsten weit auseinanderliegendenDenkschulen der Wissenschaft von den internationalen Beziehungen – der aufMachtverhältnisse abhebende Realismus und der auf kulturelle Faktoren fo-kussierte Konstruktivismus – zu den gleichen Ergebnissen: Es besteht einemodellartige Wirkung des Verhaltens der Großmächte auf das Verhalten an-derer. Der Realismus führt diesen Mimikry-Effekt darauf zurück, dass sich

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andere am Modell der erfolgreichsten Staaten orientieren, um das eigene Über-leben zu gewährleisten. Der Konstruktivismus sieht von den Führungsmächtengewohnheitsmäßig gesetzte Verhaltensnormen, an denen sich andere nach ei-ner Logik der Angemessenheit orientieren. Beide teilen die Prognose, dass dieNichtverbreitung von Kernwaffen langfristig nur in Verbindung mit deren Ab-rüstung eine Realisierungschance besitzt.

Die bestehenden Nuklearmächte motivieren andere Staaten auf fünffacheWeise, sich Kernwaffen zuzulegen:

– Sie schaffen Bedrohungslagen, in denen bestimmte Staaten glauben, nurdurch den Erwerb einer eigenen Abschreckungsfähigkeit hinreichende Si-cherheit erlangen zu können. Die seit 1945 beobachtbaren Proliferations-ketten bezeugen diesen Mechanismus: Die Sowjetunion, China, Indien, Pa-kistan, Nordkorea, Iran und selbst Südafrika sind überwiegend durch solcheErwägungen angetrieben worden, wobei die Vereinigten Staaten am häu-figsten als „Motivator“ fungierten. Israel ist der einzige Fall, der aus dieserKette völlig herausfällt.

– Die Nuklearmächte betreiben gegenüber einzelnen Staaten spezifische Be-drohungspolitiken, die die dortigen Führungen zum Schluss bringen, in un-mittelbarer existenzieller Gefahr zu sein. Solche Situationen haben seit demEnde des Ost-West-Konflikts eher zugenommen und durch die Konstruktionder „Achse des Bösen“ eine besondere Zuspitzung erfahren. Das chinesischeVerhalten gegenüber Taiwan fällt auch in diese Kategorie.

– Sie schaffen Statussymbole, die ambitionierte Mittelmächte zur Nachah-mung anreizen. Dies spielte überwiegend oder teilweise eine Rolle bei denbritischen, französischen, indischen und iranischen Motiven.

– Durch die seit 2005 nahezu explizite Weigerung, die Verpflichtungenaus Art. VI des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV) konsequentzu verwirklichen, schwächen Nuklearstaaten nachhaltig die Vertragsge-meinschaft. Sie entziehen ihr die Möglichkeit, als geschlossener Willens-block gegen Versuche des Vertragsbruchs aufzutreten. Und sie entwertendie Wirkung der Verbotsnorm des Vertrages durch neue Kosten-Nutzen-Kalkulationen ambitionierter Mittelmächte. Hier zeigt sich übrigens, dassdie unbegrenzte Verlängerung des NVV 1995 ein Fehler war: Die Kernwaf-fenstaaten glauben jetzt, den Rest der Welt „in der Tasche“ zu haben. Wassich damals viele, auch der Autor, nicht vorstellen konnten, ist eingetreten:Die Fünf sehen mit Nonchalance über ihre Abrüstungsverpflichtungen hin-weg.

– Als permanente Mitglieder des Sicherheitsrates haben die Nuklearmächtebislang versäumt, ihre Rolle als Hüter des Vertrages unparteiisch, universal

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und wirksam wahrzunehmen. Sie handeln vielmehr selektiv, mit fadenschei-nigen Vorbehalten oder auch gar nicht. Die Chance der Durchsetzung desVertrags ist ein eminent wichtiger Bestandteil seiner Wirksamkeit – sie wirddamit vermutlich entscheidend geschmälert.

Diese Aufzählung sagt nicht, dass die des Vertragsbruchs Verdächtigenoder Überführten keine „Schuld“ an den heutigen Krisen des NVV trügen.Aber sie tun das nicht im luftleeren Raum, sondern in einer internationalenUmwelt, die in erheblichem Maße durch die Aktionen, die Attitüden und diepolitische Rhetorik der Großen gestaltet wird. Für die gefährliche Krise desNVV gilt das alte Sprichwort: „Der Fisch stinkt vom Kopf“. Gewiss ist Wa-shington nicht an allem schuld. Russland, China oder Frankreich sind mitver-antwortlich für die missliche Lage. Aber die USA sind die Führungsmacht. Siehaben die besten Möglichkeiten, die Entwicklung des Regimes zu steuern –und sie haben in den letzten Jahren entschieden die falsche Richtung gewählt.

Die Folgen sind leicht vorhersehbar. Selbst wenn es gelingt, die gegenwär-tigen akuten Proliferationskrisen glimpflich beizulegen, werden neue kommen.Die „japanische Option“, sich möglichst nahe an die Schwelle des Kernwaffen-besitzes zu bewegen, wird zum allgemeinen Verhaltensmuster werden. Wobeiin Japan die Stimmen, die über eine eigene nukleare Abschreckung philoso-phieren, noch nie so lautstark waren wie in jüngster Zeit. Schon ist in Ländernwie Südafrika, Argentinien, Brasilien, Südkorea und Australien ein Nachden-ken zu beobachten, neu oder wieder in die Anreicherungstechnik einzusteigen.Schon äußern eine Reihe arabischer Länder die Absicht, in großem Maßstabin zivile Kernenergieprogramme einzusteigen. Zufall? Alles in völliger Un-schuld? Es wäre schön, wenn man das glauben könnte. Die russischen Äuße-rungen zu den amerikanischen Raketenabwehrplänen sollten ebenso wie derchinesische Antisatellitentest deutlich gemacht haben, dass auch zwischen denNuklearmächten die Rückkehr zu hochriskanten Rüstungswettläufen, die manbeendet glaubte, wieder wahrscheinlicher geworden sind.

Die Politik der letzten Jahre, die im Scheitern der Überprüfungskonferenzvon 2005 ihren traurigen Höhepunkt fand, hat die Vision einer Welt mit Dut-zenden von Kernwaffenstaaten, jenen alten Albtraum John F. Kennedys, wie-der in einen erschreckend nahen Zeithorizont gerückt. Gewiss bedarf es, umdiese Möglichkeit zu verschließen, der energischen und aktiven Beilegung derKrisen um Iran und Nordkorea. Alle zielführenden Schritte in diese Richtungsind zu unterstützen. Aber zugleich bedarf es einer glaubwürdigen und sichtba-ren Änderung der Kernwaffenpolitik der Atommächte in Richtung Abrüstung.Vielleicht hätte man vor ein paar Wochen eine solche Forderung noch als uto-pische Träumerei eines idealistischen Friedensforschers abgetan. Aber diese

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Formel passt nicht auf Henry Kissinger, George Schultz, William Perry undSam Nunn, die sich so spektakulär für eine völlige nukleare Abrüstung und füreine führende Rolle ihres eigenen Landes dabei ausgesprochen haben. Viel-leicht bringt ihre späte Kehrtwende in Erinnerung, dass die Befürworter dieserPosition in den neunziger Jahren von Paul Nitze bis General Goodpaster, vonGeneral Butler bis General Horner reichten – nicht eben eine Sammlung pazi-fistischer Schwärmer.

Völlige nukleare Abrüstung geschieht nicht über Nacht. Sie vollzieht sichin verdaulichen Bissen. Die Speisekarte dafür liegt längst vor: in den Doku-menten der NVV-Konferenzen von 1995 und 2000. Daran ist – nach der po-tenziell fatalen Unterbrechung der letzten sechs Jahre – anzuknüpfen, um denVertrag wieder mit Leben zu füllen. Die in den Hauptstädten der Kernwaf-fenstaaten gängige Vorstellung, der Rest der Welt werde ihnen für alle Zeitendie Rolle eines privilegierten Treuhänders überlassen, ist illusionär und ge-fährlich. In Zukunft wird die Welt frei von Kernwaffen sein – oder aber vollvon ihnen. Dann aber steigen sowohl die Risiken von nuklearen Konfliktenzwischen Staaten als auch diejenigen des Nuklearterrorismus – denn die Zu-griffsmöglichkeiten von nichtstaatlichen Akteuren auf Spaltmaterial oder garauf Kernwaffen multiplizieren sich in einer solchen Welt.

Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Die Rüstungskontrolle muss auf ganzer Linie rehabilitiert, die Abrüstung vor-angebracht werden. Die Bundesregierung ist besonders im Feld der Kleinwaf-fen (einschließlich Minen und Streubomben) auf einem guten Weg. Sie hat sichdort mit gleichgesinnten Ländern zusammengeschlossen und verfolgt, wenn esnicht anders geht, auch einen vom großen Verbündeten missbilligten Kurs.

Bei den Chemie- und Biowaffen ist die Strategie, „das Erreichte zu wahrenund auf bessere Zeiten zu warten“, vermutlich die realistischste. Die Prioritätgebührt jedoch den Kernwaffen. Hier sind die Risiken am größten. Sie sindohne Weiteres denen der Klimakatastrophe gleichzusetzen, nur dass sie nichtdurch ein beständiges, beobachtbares Wachstum gekennzeichnet sind, sonderndurch plötzliche Sprünge. Die jedoch werden katastrophal sein.

In nuklearen Fragen tendiert die nicht nuklear bewaffnete NATO-Mitgliedschaft dazu, sich im Namen der Bündnissolidarität gewissermaßenin intellektuelle Vorbeugehaft nehmen zu lassen. Mit dem unsinnigen und inseiner internationalen Ausstrahlung schädlichen Festhalten an der Ersteinsatz-doktrin und an der Stationierung taktischer Kernwaffen auf europäischem Bo-den, für die keine nachvollziehbare Rolle für die westliche Sicherheit mehr

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besteht, verschafft man dem Kernwaffenbesitz der Partner eine Aura von Le-gitimität, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts unangemessen ist.

Statt „Feigheit vor dem Freund“ ist eine größere Konfliktbereitschaft anzu-raten. Den nuklear bewaffneten Partnern muss im Verein mit Gleichgesinntenklar bedeutet werden, dass man ihren unverantwortlichen Kurs nicht längermitträgt. Dazu zählt die Aufforderung, die taktischen Kernwaffen von unse-rem Territorium abzuziehen (vgl. Beitrag 1.5.). In Genf sollte der kanadischeVorschlag energisch unterstützt werden, Gespräche über eine Begrenzung derRüstung im Weltraum zu beginnen. Sollte das Thema Raketenabwehr in derNATO erörtert werden, müsste die wichtigste Forderung lauten, dass die USAihr geplantes System verbindlich und dauerhaft begrenzen, weil nur so der be-ginnende neue nukleare Rüstungswettlauf abgebremst werden kann.

Noch ist nicht aller Tage Abend. Entgegen den Auguren, die von einem Re-gierungswechsel in Washington keine substanziellen Änderungen erwarten, istdaran zu erinnern, dass die amerikanische Politik anders war, bevor der Kon-gress in die Hände der republikanischen Rechten fiel, und dass auch danachdie Clinton-Administration keineswegs die rüstungskontrollfeindlichen Exzes-se ihrer Nachfolgerin vorwegnahm. In einer künftigen amerikanischen Admi-nistration wird es den kooperationsabgeneigten, ideologisch bedingten Dog-matismus der Bush-Regierung nicht mehr geben. Das allein ist viel wert. Wenndie nicht nuklear bewaffneten Bündnispartner darauf dringen, wird sich Wa-shington bewegen. Der Teststopp beispielsweise hätte in einer neuen Konstel-lation wirkliche Chancen. Da sich die übrigen Kernwaffenstaaten bislang imWindschatten Washingtons halten konnten, wird das die Lage ändern. SelbstFrankreich war kompromissbereiter, solange die USA es waren – trotz allerBeschwörungen französischer Unabhängigkeit.

Dass sich Deutschland der von Kanada initiierten Middle Powers Initiativeangeschlossen hat, die versucht, den nuklearen Abrüstungsprozess mit maß-vollen Vorschlägen wieder in Gang zu bringen, war eine kluge Entscheidung.Diese Initiative bietet ein brauchbares Forum, um die dringend notwendigeDiplomatie gegenüber den Freunden zu koordinieren. Der Einsatz ist hoch. Erverdient auch seitens der Regierungsspitze die gleiche Energie, die erfreuli-cherweise gegenwärtig für den Klimaschutz aufgewandt wird.

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Kapitel 2:

Brennpunkt Mittlerer Osten

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2.1. Der Libanon zwischen Krieg und Dauerkrise

Jan Hanrath

Der Krieg zwischen Israel und der Hisbollah, der im Sommer 2006 im Libanonausgetragen wurde, ließ diesen lange vor sich hinschwelenden Konfliktherd er-neut in den Fokus der internationalen Politik geraten. Bereits die politischenEntwicklungen seit der Ermordung des ehemaligen libanesischen Premiermi-nisters Hariri 2005 sowie die sich anschließenden Massenproteste mit ihrenForderungen nach Reformen und einem Abzug der syrischen Truppen hattendie Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die innere Zerrissenheit des Landes, dievielfältigen Interessen externer Akteure und die Eskalation der Regierungskri-se im Herbst des Jahres 2006 werfen die Frage auf, ob es den politischen undgesellschaftlichen Kräften im Libanon gelingen wird, die vielschichtigen Pro-bleme des Landes auf friedliche Weise zu lösen, oder ob es einen Rückfall inVerhältnisse geben wird, wie sie das Land bereits zu Bürgerkriegszeiten erlebthat.

Zwischen internen Konflikten und externer InterventionTrotz einer Größe von nur gut 10.000 Quadratkilometern und einer Bevölke-rung von knapp vier Millionen Einwohnern weist der Libanon eine der frag-mentiertesten Gesellschaften im Nahen Osten auf. Sie ist hinsichtlich wirt-schaftlichem Status, Bildung, politischer Partizipationsmöglichkeiten und Ori-entierungen sowie religiöser Ausrichtung stark differenziert, wobei sich sozia-le und politische Unterschiede häufig in religiösen Kategorien ausdrücken. Ins-gesamt sind heute 18 verschiedene Religionsgruppen offiziell anerkannt. Da-bei bilden die muslimischen Gemeinschaften rund 60 Prozent, die christlichenetwa 40 Prozent der Bevölkerung. Die größte der muslimischen Gemeinschaf-ten ist mit rund 34 Prozent der Gesamtbevölkerung die schiitische, gefolgt vonder sunnitischen mit ca. 20 Prozent. Einen deutlich kleineren, jedoch einfluss-reichen Teil stellen die Drusen dar, eine aus dem schiitischen Islam hervorge-gangene Religionsgemeinschaft. Bei den Christen bilden die Maroniten, einemit der katholischen Kirche verbundene Glaubensrichtung, mit etwa 19 Pro-zent die Mehrheit. Dazu kommen unter anderem die griechisch-orthodoxe, diearmenische und die griechisch-katholische Gemeinschaft.1 Die Zugehörigkeit

1 Alfred B. Prados: Lebanon, Congressional Research Service, CRS Report for Congress, Up-dated November 28, 2006, Washington 2006, http://fpc.state.gov/documents/organization/77712.pdf (Zugriff: 20.3.2007), S. 3.

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JAN HANRATH

zu einer dieser religiösen Gemeinschaften drückt sich dabei nur sehr bedingtdurch einen speziellen Glauben oder gar besondere Frömmigkeit aus, vielmehrbestimmen Geburt und Sozialisation in einer dieser Gruppen den Zusammen-halt. Bereits seit dem 19. Jahrhundert wurde versucht, den Spannungen zwi-schen den Religionsgemeinschaften mit einem Proporzsystem entgegenzuwir-ken, das allen Gruppierungen die Beteiligung an den Regierungsgeschäftenermöglichen sollte. Dieser Logik ist man bis heute gefolgt, sie stellt ein we-sentliches Charakteristikum des libanesischen Staates dar.

Fundament des politischen Systems sind die unter französischem Mandat1926 verabschiedete Verfassung, der so genannte Nationalpakt von 1943 sowiedas Taif -Abkommen von 1989. Bei dem Nationalpakt handelt es sich um eineungeschriebene Vereinbarung, die die Machtteilung zwischen den religiösenGemeinschaften nach einem Verhältnis von 6:5 zwischen Christen und Mus-limen regelte. Zudem musste der Präsident immer ein maronitischer Christ,der Premierminister ein Sunnit und der Parlamentspräsident ein Schiit sein. Indem nach dem saudi-arabischen Verhandlungsort benannten Taif -Abkommenwurde unter Beibehaltung des konfessionellen Proporzprinzips die Machtver-teilung den demographischen und politischen Realitäten angepasst. Es siehtvor, die Sitze im Parlament gleichmäßig zwischen Christen und Muslimenaufzuteilen und die vormals dominante Position des christlichen Präsidentenzugunsten des sunnitischen Premierministers und des schiitischen Parlaments-präsidenten einzuschränken. Die Vereinbarung leitete auch das Ende des seit1975 herrschenden Bürgerkrieges ein, der in wechselnden Allianzen zwischenGruppierungen unterschiedlicher religiöser und ideologischer Prägung geführtwurde. Im Laufe dieses Konfliktes, der über 100.000 Tote forderte und rundein Viertel der libanesischen Bevölkerung zu Flüchtlingen machte, griffen so-wohl Syrien als auch Israel immer wieder zugunsten wechselnder Akteure ak-tiv in das Kriegsgeschehen ein. Syrien war ab 1976 mit eigenen Truppen imNachbarland präsent. Nachdem Israel bereits 1978 während der Operation Li-tani zeitweilig auf libanesisches Territorium vorgedrungen war, marschierte es1982 in den Libanon ein und hielt bis 2000 eine sogenannte Sicherheitszoneim Südlibanon besetzt.

Nach dem Bürgerkrieg war der Libanon nicht nur zwischen den großenreligiösen Gruppen, sondern auch innerhalb dieser in Fraktionen und Milizengespalten. Um ein Wiederaufflammen der Gewalt zu verhindern, sollten allediese Gruppen an der politischen und wirtschaftlichen Macht teilhaben. Ob-wohl nicht formal Teil der Vereinbarung, implizierte das Taif -Abkommen, dasssämtliche Entscheidungen auf politischer, wirtschaftlicher und administrativerEbene konsensuell getroffen werden sollten. Ein solches System war von An-

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fang an anfällig für Stillstand und Patt-Situationen, sodass häufig langwierigeVerhandlungen oder die Intervention externer Akteure notwendig erschienen.Syrien erwies sich immer wieder als der mächtigste Vermittler und übte soseinen Einfluss bis in jeden Winkel der libanesischen Politik aus. Obwohl derlibanesische Staatsapparat der Verfassung nach demokratisch und einem freigewählten Parlament verpflichtet ist, werden die wesentlichen Entscheidun-gen an anderer Stelle getroffen: In den meisten Fällen kann das Parlamentnur die von den oligarchischen Eliten der jeweiligen Religionsgruppen aus-gehandelten Kompromisse absegnen. Das Erscheinungsbild des libanesischenStaatsapparates ist modern, nicht aber seine Funktionsweise. Da der Präsi-dent, der Premierminister und der Parlamentspräsident annähernd mit glei-cher Macht, wenn auch in unterschiedlichen Bereichen, ausgestattet sind, über-schattet das Verhältnis dieser Troika sämtliche anderen Institutionen. So wirddie Besetzung jedes wichtigen staatlichen Amtes zum potenziellen Streitfallüber Machtanteile der jeweiligen Konfessionsgruppe. Konflikte werden jedochselten im Ministerrat oder Parlament behandelt bzw. beigelegt, sie bedürfenhäufig eines externen Vermittlers. Daraus resultiert eine politische und admi-nistrative Lähmung, die es den existierenden Institutionen nahezu unmöglichmacht, notwendige Reformen einzuleiten. Es besteht eine ständige Sorge, dassjeder Wandel auch das sorgfältig ausbalancierte Interessengleichgewicht derGemeinschaften stören könnte.

Verglichen mit anderen arabischen Ländern existiert im Libanon eine ak-tive und breit gefächerte Zivilgesellschaft. Neben der Übernahme wichtigerAufgaben im sozialpolitischen Bereich engagieren sich Nichtregierungsorga-nisationen (NGOs) bei wichtigen Fragen wie den Menschenrechten, der De-mokratisierung, der Korruptionsbekämpfung und dem Umweltschutz. Zivilge-sellschaftliche Akteure im Libanon lassen sich ihrer Struktur nach zwei Sphä-ren zuordnen. Zum einen repräsentieren sie die alten klientelistischen, konfes-sionellen Netzwerke und Strukturen, zum anderen versuchen moderne NGOssich von solchen Strukturen zu lösen und den Konfessionalismus zu überwin-den. Noch sind solche Sozialbewegungen in der Minderheit, doch der Trendführt in diese Richtung. Der Staat räumt zivilgesellschaftlichen Aktivitäten –mit einigen Abstrichen – breite Entfaltungsmöglichkeiten ein. Auch die vonder Verfassung garantierte Meinungs- und Pressefreiheit wird weitgehend re-spektiert und spiegelt sich in einer breit gefächerten und durchaus regierungs-kritischen Medienlandschaft wider. Bis zu den Entwicklungen des Jahres 2005gab es jedoch einige Tabuthemen, die vor allem aufgrund syrischen Drucksnicht öffentlich behandelt werden durften bzw. einer erzwungenen Selbstzen-sur zum Opfer fielen, so z.B. Kritik an Syrien und seiner Regierung sowie

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Themen, die aus Regierungssicht die Sicherheit des Landes gefährden oderinter-konfessionelle Spannungen verstärken könnten. Vor allem seit dem is-raelischen Abzug aus dem Südlibanon wuchs die Kritik an der syrischen Trup-penpräsenz und Syriens massiver Einmischung in alle gesellschaftlichen Be-reiche.

Der Mord an Rafik Hariri – Kontext und Folgen

Seit Ende 2004 nahmen die anti-syrischen Tendenzen in der libanesischen In-nenpolitik deutlich zu. Bis zu diesem Zeitpunkt tolerierten die meisten Liba-nesen die syrische Truppenpräsenz sowie den Einfluss auf Geheimdienst undStaatsapparat als Preis, den es für die innere Stabilität zu zahlen galt, solangesie demokratische Praktiken wie die Wahl des Parlaments oder des Präsidentenpflegen konnten. In den Monaten vor dem Attentat auf Rafik Hariri nahm diesyrische Einmischung in die libanesische Innenpolitik jedoch offenere und här-tere Formen an. Im September 2004 drängte die syrische Regierung – trotz ver-breiteter öffentlicher Ablehnung – das libanesische Parlament, durch eine Ver-fassungsänderung die Amtsverlängerung des pro-syrischen Präsidenten EmileLahoud zu ermöglichen. Das Parlament stimmte mit der notwendigen Zwei-drittelmehrheit einer einmaligen, auf drei Jahre beschränkten Verlängerung zu,obwohl die libanesische Verfassung eine maximale Amtszeit von sechs Jahrenvorsieht. Nachdem bereits einige Minister deswegen ihr Amt niedergelegt hat-ten, trat Hariri am 20. Oktober 2004 aus Protest gegen den syrischen Druck alsPremierminister zurück. Er wurde durch Omar Karami, einen engen Verbün-deten Syriens, ersetzt.

Als Folge dieser Entwicklungen formierte sich ein breites Oppositions-bündnis, das über Partei- und Konfessionsgrenzen hinweg die Amtsverlänge-rung Lahouds verurteilte, einen völligen Abzug der syrischen Truppen sowiefreie und faire Wahlen forderte. Bereits vor Hariris Rücktritt war auch interna-tional Kritik am Vorgehen Syriens laut geworden, die am 2. September 2004in der von den USA und Frankreich eingebrachten Resolution 1559 des UN-Sicherheitsrats mündete. Diese forderte den Rückzug aller ausländischen Trup-pen aus dem Libanon, die Entwaffnung aller Milizen und die Abhaltung freierund fairer Wahlen.2 Die Annahme der Resolution führte zu steigenden Span-nungen zwischen Hariri und der libanesischen Regierung, die ihm vorwarf,eigentlicher Initiator der UN-Initiative zu sein. Am 14. Februar 2005 wurde er

2 UN Security Council: Resolution 1559, New York 2 September 2004, http://daccessdds.un.org/doc/UNDOC/GEN/N04/498/92/PDF/N0449892.pdf?OpenElement (Zu-griff: 20.3.2007).

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Opfer eines Bombenanschlags. Mit ihm starben 22 weitere Personen, über 100wurden verletzt. Das Attentat löste eine Massenbewegung aus, die in den Stra-ßen Beiruts ihrer Trauer Ausdruck verlieh und ihre Wut gegen das als Draht-zieher vermutete Syrien artikulierte. In einem in der arabischen Welt noch nieda gewesenen Schritt beugte sich die Regierung von Premierminister Karamiam 28. Februar 2005 dem Druck der Öffentlichkeit und trat zurück.

Die anti-syrische Koalition umfasste über die Konfessionsgrenzen hin-weg Kräfte aus allen Bereichen der libanesischen Gesellschaft, wobei jedochdie schiitische Beteiligung gering und eher auf Privatpersonen beschränktblieb. Die schiitischen Parteien Amal und Hisbollah, skeptisch gegenüber demgroßen maronitischen Einfluss auf die Protestbewegung und deren Unterstüt-zung im Westen, blieben den Protesten fern. Aus taktischen Gründen wolltensie nicht gegen Präsident Lahoud und Syrien Position beziehen, zugleich aberauch eine Konfrontation mit der Oppositionsbewegung vermeiden. Als die For-derungen nach einem Rückzug der syrischen Truppen lauter wurden und sichderen Abzug abzeichnete, mobilisierten die Hisbollah und ihre Verbündetenam 8. März 2005 rund eine halbe Million Menschen, um den syrischen Trup-pen für ihre Dienste in der Vergangenheit zu danken und gleichzeitig ihre eige-ne Macht zu demonstrieren. Am 14. März 2005 fanden auch die anti-syrischenProteste in einer Demonstration ihren Höhepunkt, an der über eine MillionMenschen teilnahmen, also fast ein Drittel der libanesischen Bevölkerung.

Die breite Mobilisierung und die häufig verwandten Begriffe Zedernrevo-lution oder Beiruter Frühling (in Anlehnung an demokratische Bewegungenwie 2004 in der Ukraine oder 1968 in Prag) täuschen jedoch über den tat-sächlichen Charakter dieser Massenbewegung hinweg. Sie war von Anfang anpolitisch, ideologisch, gesellschaftlich und konfessionell sehr heterogen undnur zu einem geringen Teil genuin demokratisch orientiert. Geeint war sienur durch die gemeinsame Forderung nach einem Ende der Dominanz Syri-ens und dem Abzug seiner Truppen. Dieser Forderung gab Syrien schließlichunter internationalem und innerlibanesischem Druck nach und beendete An-fang April seine 29-jährige Militärpräsenz im Libanon. Darüber hinausgehen-de Hoffnungen, dass aus der oppositionellen Bewegung eine breite Demokra-tiebewegung entstehen würde, erwiesen sich schon bald als zu optimistisch.Die Parlamentswahlen, die ab Mai 2005 durchgeführt wurden, waren weiterhinvom Konfessionalismus geprägt. Aus den Wahlen ging ein Bündnis aus sunni-tischen, christlichen und drusischen Kräften hervor, das sich nach dem Datumder größten anti-syrischen Proteste Bewegung des 14. März nennt; doch auchdie schiitischen Parteien Hisbollah und Amal wurden zunächst an der Regie-

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rung beteiligt. Neuer Premierminister wurde der langjährige Hariri-VerbündeteFuad Siniora.

Die Bemühungen um die Aufklärung des Hariri-Mordes sorgten indes imLibanon für innenpolitischen Sprengstoff. Bereits am 25. Februar 2005 hatteder UN-Sicherheitsrat eine Erklärung veröffentlicht, in der er das Attentat aufHariri scharf verurteilte und den UN-Generalsekretär beauftragte, möglichstbald über die Umstände, Gründe und Konsequenzen der Ermordung Berichtzu erstatten. Ein daraufhin entsandtes Expertenteam kam zu dem Ergebnis,dass die libanesischen Untersuchungen deutliche Mängel aufwiesen und imLibanon weder die Fähigkeiten noch das nötige Engagement vorhanden sei,um befriedigende Ergebnisse erwarten zu lassen. Daraufhin verabschiedete derUN-Sicherheitsrat am 7. April 2005 die Resolution 1595, die eine internatio-nale, unabhängige Untersuchungskommission zur Unterstützung der libanesi-schen Behörden bei der Untersuchung des Attentats einrichtete. Zum Vorsit-zenden der Kommission wurde der Berliner Oberstaatsanwalt Detlev Mehlisbestimmt, der Ende Oktober 2005 seinen ersten Bericht vorlegte. Darin ver-trat die Kommission die Überzeugung, dass der Anschlag auf Hariri von einerGruppe mit umfangreicher Organisation und beträchtlichen Ressourcen ausge-führt worden war. Darüber hinaus gebe es Beweise, die sowohl auf eine liba-nesische als auch eine syrische Beteiligung hinwiesen. Aufgrund der syrischenDurchdringung der libanesischen Institutionen und Gesellschaft sowie der en-gen Zusammenarbeit von syrischen und libanesischen Geheimdiensten sei einSzenario schwer vorstellbar, bei dem ein so komplexer Attentatsplan ohne de-ren Wissen hätte ausgeführt werden können.3 Weitere Berichte der Kommissi-on, die seit Januar 2006 vom Belgier Serge Brammertz geleitet wird, bestätig-ten frühere Erkenntnisse, ohne jedoch bisher zu einem endgültigen Ergebniszu kommen. Syrien wies alle Vorwürfe zurück und konnte mehrfach nur durchinternationalen Druck zur Kooperation mit der Untersuchungskommission be-wegt werden.

Ende 2005 bat die libanesische Regierung den UN-Sicherheitsrat umdie Einrichtung eines internationalen Tribunals zur Verurteilung möglicherAngeklagter im Fall Hariri. Dieser beauftragte im März 2006 den UN-Generalsekretär mit der Aushandlung einer Vereinbarung mit der libanesischenRegierung bezüglich der Errichtung eines solchen Tribunals. Die Debatte umdas Tribunal führte jedoch zu innerlibanesischen Spannungen, in deren Fol-ge die schiitischen Minister zeitweilig zurücktraten. Ihrer Ansicht nach war

3 Report of the Independent Investigation Commission established pursuant to Security Coun-cil Resolution 1595, New York 20 October 2005, http://daccessdds.un.org/doc/UNDOC/GEN/N05/563/67/PDF/N0556367.pdf?OpenElement (Zugriff: 20.3.2007), S. 62.

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bei der Entscheidung über die Anfrage bei der UNO nicht das vereinbarteKonsensprinzip im Ministerrat angewandt worden. In dem von Parlamentsprä-sident Nabih Berri organisierten Nationalen Dialog konnten sich die Konflikt-parteien zwar kurzfristig auf eine Reihe grundsätzlicher Prinzipien, einschließ-lich der Anerkennung eines internationalen Tribunals, verständigen. Diese Ei-nigkeit brach nach dem Krieg im Sommer 2006 allerdings zusammen.

Der Krieg von 2006

Trotz des Abzugs der israelischen Truppen aus dem Südlibanon 2000 war dieGrenzregion unruhig geblieben. Israels häufige Verletzungen des libanesischenLuftraums und verschiedene Militäraktionen gegen Stellungen der Hisbollah,die wiederum Angriffe auf israelisches Territorium verübte, führten zu stän-digen Spannungen. Für Israel ging es in erster Linie um die Sicherheit sei-ner nördlichen Grenze sowie der grenznahen Siedlungsgebiete. Es verlang-te von der libanesischen Regierung, gegen die Hisbollah vorzugehen. Dieserechtfertigte ihre Militäraktionen mit der fortwährenden Besetzung der She-baa-Farmen. Bei diesem etwa 28 Quadratkilometer großen Gebiet handelt essich um von Israel 1967 besetztes und später annektiertes Territorium, welchesSyrien, der Libanon und die Hisbollah als libanesisch ansehen. Israelischer In-terpretation nach handelt es sich jedoch um syrisches Territorium. Hier setztedie Hisbollah mit Unterstützung Syriens ihren Widerstand gegen Israel fortund demonstrierte damit gleichzeitig ihre besondere Bedeutung für den Liba-non und die libanesische Innenpolitik. Auch wenn die Hisbollah sich in denletzten Jahren – neben ihrer Präsenz als Miliz – politisch engagierte und zumintegralen Bestandteil des libanesischen politischen Systems wurde, blieb deranti-israelische Widerstand doch Kernpunkt ihrer Identität. Darin wird sie auchvon Iran politisch, finanziell und militärisch unterstützt, ohne jedoch sein di-rekter Befehlsempfänger zu sein (vgl. Beitrag 2.2.).

Auslöser des Krieges im Sommer 2006 war die Gefangennahme zweierisraelischer Soldaten und die Tötung acht weiterer durch die Hisbollah An-fang Juli 2006. Diese Operation sollte als Symbol politischer Solidarität mitden Palästinensern gelten, die sich seit Ende Juni einer massiven Boden- undLuftoffensive Israels im Gazastreifen ausgesetzt sahen, vor allem aber Israel zuVerhandlungen über die Freilassung libanesischer Gefangener bewegen. Israelbeantwortete diesen Vorfall am 12. Juli 2006 mit dem Sommerkrieg und leitetemassive Angriffe aus der Luft und mit bis zu 10.000 Mann starken Bodentrup-pen ein. Die Militäroperationen zerstörten neben Einrichtungen der Hisbollahvor allem die zivile Infrastruktur und zogen so die Zivilbevölkerung stark in

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Mitleidenschaft. Neben der Befreiung der entführten Soldaten ging es Israelvor allem darum, den politischen Einfluss und die militärische Infrastrukturder Hisbollah zu zerstören sowie seine Macht und die eigene Stärke und Ver-geltungsbereitschaft unter Beweis zu stellen, um zukünftige Angriffe abzu-schrecken. Die Hisbollah wiederum reagierte auf den israelischen Einmarschmit Raketenangriffen auf den Norden Israels. Das israelische Vorgehen warvölkerrechtswidrig, da es den sehr begrenzten Angriff einer nicht-staatlichenOrganisation völlig unverhältnismäßig mit Bombardierungen ziviler Einrich-tungen und Wohnbezirke beantwortete. Zudem verletzte der Einsatz von Streu-bomben ebenfalls internationale Standards. Über die rein völkerrechtliche Be-trachtungsweise hinaus lässt sich zudem kritisieren, dass vor dem Waffengangfriedliche Mittel zur Konfliktbeilegung nicht versucht worden waren.

Der Krieg endete nach 34 Tagen am 14. August 2006 mit einer durch dieVereinten Nationen vermittelten Waffenruhe. Libanesische Truppen wurdenan der israelisch-libanesischen Grenze stationiert, um einen weiteren Rake-tenbeschuss Nordisraels zu verhindern, die israelischen Truppen zogen sichauf eigenes Staatsgebiet zurück. Die Resolution 1701 des UN-Sicherheitsratssieht zudem eine Unterstützung der libanesischen Armee durch internationaleTruppen vor. Dies soll durch die Aufstockung der bereits seit 1978 im Land be-findlichen Beobachtermission der Vereinten Nationen (United Nations InterimForces in Lebanon, UNIFIL) um 15.000 Soldaten und deren Ausstattung miteinem robusten Mandat geschehen.4 Im Rahmen des ausgeweiteten UNIFIL-Mandats beteiligt sich auch Deutschlands Marine an der Maritime Task Forcezur seeseitigen Kontrolle der libanesischen Grenze und zur Verhinderung vonWaffenlieferungen an die Hisbollah.

Der Krieg bedeutete sowohl für den Libanon als auch für Israel humani-täre und materielle Schäden, wobei die Anzahl der Opfer und das Ausmaßder Zerstörungen im Libanon die auf israelischer Seite deutlich übertraf. Ins-gesamt hatte Israel aufgrund der fast 4.000 von der Hisbollah abgefeuertenRaketen 43 tote Zivilisten zu beklagen, 350.000 bis 500.000 Menschen wur-den zur Flucht gezwungen.5 Auf der libanesischen Seite wurden knapp 1.200Menschen getötet, wobei es sich dabei überwiegend um zivile Opfer handelte.Darüber hinaus gab es über 4.400 Verletzte und zeitweilig fast eine Million

4 UN Security Council: Resolution 1701, New York 11. August 2006, http://daccessdds.un.org/doc/UNDOC/GEN/N06/465/03/PDF/N0646503.pdf?OpenElement (Zugriff:20.3.2007).

5 Amnesty International: Israel/Lebanon – Under Fire: Hizbullah’s Attacks on Northern Is-rael, London 14. September 2006, http://web.amnesty.org/library/index/engmde020252006(Zugriff: 20.3.2007).

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Flüchtlinge, rund ein Viertel der Bevölkerung.6 Die israelischen Bombardie-rungen führten zu massiven Schäden an der libanesischen Infrastruktur, z.B.der Zerstörung oder schweren Beschädigung des internationalen Flughafens,eines großen Teils des Straßennetzes, zahlreicher Brücken, Tankstellen, Pro-duktionsstätten und Wohnhäusern. Die direkten Kosten des Krieges für denLibanon werden auf rund 2,8 Milliarden US-Dollar, die indirekten Kosten, diesich aus Produktionsausfällen, ausbleibenden Investitionen, fehlenden Einnah-men aus dem Tourismus etc. ergeben, werden auf mindestens 9,5 MilliardenUS-Dollar geschätzt. 7

Die politischen Folgen für Israel und den Libanon bzw. die Hisbollah sindzwiespältig. Zwar führte Israel diesen Krieg mit großer Zerstörungskraft undkonnte so seine militärische Stärke demonstrieren; es gelang aber nicht, dieHisbollah entscheidend zu schlagen und die entführten Soldaten zu befreien.Der bereits angeschlagene Mythos militärischer Unbesiegbarkeit Israels wur-de weiter geschwächt und das israelische Abschreckungspotenzial dadurchgemindert. Innenpolitisch führten diese Entwicklungen in Israel zu heftigenDiskussionen, in deren Folge der israelische Generalstabschef Dan Haluz imJanuar 2007 zurücktrat. Die Hisbollah profitierte zwar politisch von den Aus-einandersetzungen, ihre militärischen Möglichkeiten sind aufgrund der israeli-schen Angriffe, der UNIFIL-Truppen und der libanesischen Armee im Südendes Landes jedoch seitdem deutlich eingeschränkt. Für den Libanon insgesamtbedeutete der Krieg eine Verschärfung der innenpolitischen Spannungen, dieseitdem noch weiter zunahmen.

Steht der Libanon vor einem neuen Bürgerkrieg?

Die Monate nach der Beendigung des Krieges waren von einer Vertiefungder politischen Gräben und einer eskalierenden Regierungskrise im Libanongeprägt. Unmittelbarer Auslöser war die Verabschiedung des von der UNOvorgelegten Statuts für ein internationales Tribunal zur strafrechtlichen Aufar-beitung des Mordes an Hariri im November 2006. Die schiitischen Ministerkritisierten die ihrer Meinung nach übereilte Verabschiedung und lehnten sieals erneuten Bruch des Konsensprinzips ab. Hinter dieser Ablehnung ist je-

6 Vgl. Higher Relief Council des libanesischen Ministerrats: Lebanon under Siege, www.lebanonundersiege.gov.lb/english/F/Main/index.asp (Zugriff: 20.3.2007).

7 Vgl. The Government of Lebanon: Setting the Stage for Long Term Reconstruction – TheNational Early Recovery Process, Stockholm Conference for Lebanon’s Early Recovery,31.8.2006, www.lebanonundersiege.gov.lb/Documents/StockholmConferenceDocument.pdf (Zugriff: 20.3.2007).

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doch weniger eine grundsätzliche Ablehnung des Tribunals als vielmehr Ab-hängigkeit von Syrien zu vermuten. Dort überwiegt vor allem die Sorge, dasshochrangige Politiker und Vertreter des syrischen Sicherheitsapparats zur Ver-antwortung gezogen werden könnten. Aus Protest traten die fünf schiitischenMinister und ein christlicher Minister mit engen Bindungen an Syrien zurück.

Seitdem finden die Auseinandersetzungen vor allem auf den Straßen inForm von Massendemonstrationen statt. Hier stehen die eher pro-westlichen,mehrheitlich sunnitisch-maronitischen Anhänger der Bewegung des 14. März,die eine vollständige Aufklärung des Hariri-Mordes sowie weiterer Attenta-te und die Einrichtung eines internationalen Tribunals fordern, einer Allianzaus pro-syrischen, teilweise auch pro-iranischen Kräften gegenüber. Sie wirftder Regierung eine zu westliche Orientierung vor und steht der sunnitisch-maronitischen Dominanz skeptisch gegenüber. Sie setzt sich neben den Schi-iten, die auf eine ihrem Bevölkerungsanteil entsprechende, höhere Machtbe-teiligung drängen, auch aus der Bewegung des 2005 aus französischem Exilzurückgekehrten, christlichen Ex-Generals Michel Aoun zusammen, die zwarin den letzten Parlamentswahlen 21 von insgesamt 128 Sitzen erlangen konnte,sich jedoch mit den übrigen Parteien nicht auf eine Regierungsbeteiligung eini-gen konnte. Obwohl früher ein Syrienkritiker, pflegt Aoun nun eine taktischeAllianz mit den pro-syrischen Kräften. Beide Lager werfen sich gegenseitigvor, lediglich als verlängerter Arm die Interessen externer Akteure – wie derUSA, Israels, Syriens oder Irans – zu vertreten.

In das politisch aufgeheizte Klima fiel Ende November 2006 ein weite-res Attentat, die Ermordung des syrienkritischen Industrieministers Pierre Ge-mayel, das die Gesellschaft zusätzlich polarisierte. Anfang Dezember 2006organisierten die Hisbollah und ihre Verbündeten die größte Demonstration inder Geschichte des Landes, um den Rücktritt der Regierung Siniora durchzu-setzen und eine Regierung der nationalen Einheit zu erzwingen. Seither befandsich das Regierungsviertel unter permanentem Belagerungszustand durch op-positionelle Demonstranten, die in diesem luxuriösen Teil Beiruts Zelte aufge-schlagen hatten. Einen gewaltsamen Höhepunkt erreichten die Auseinander-setzungen Mitte Januar 2007, als die Hisbollah und ihre Verbündeten einenGeneralstreik ausriefen, bei dem es bei Zusammenstößen zwischen sunniti-schen Regierungsanhängern und schiitisch-christlichen Oppositionsanhängernzu vier Todesopfern und zahlreichen Verletzten kam. Diese Eskalation lässt dieGefahr einer erneuten Konfessionalisierung der Gewalt deutlich werden undweckt bei vielen Beobachtern Erinnerungen an die Bürgerkriegszeit. Bislangwurden von den meisten Libanesen solche Befürchtungen mit dem Verweis aufdie Kriegsmüdigkeit der Bürger, die Neutralität der Armee und die Unwahr-

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LIBANON

scheinlichkeit eines militärischen Sieges – bei gleichzeitig hohem Risiko –abgetan. Doch die Radikalisierung der Lager und die große Anzahl an Hand-feuerwaffen in der Bevölkerung als Erbe des Bürgerkriegs lassen den Ausbrucheines neuen Gewaltkonfliktes nicht mehr unmöglich erscheinen.

Das zentrale Problem ist die völlige Lähmung des politischen Systems seitEnde 2006. Sowohl der maronitische Präsident Emile Lahoud als auch derschiitische Parlamentspräsident Nabih Berri boykottieren die Regierung undverweigern ihre Zusammenarbeit bei Gesetzentwürfen. Die Regierung Sinioramöchte derweil den Eindruck von Normalität erwecken, indem sie die Protes-te auf den Straßen ignoriert und sich auf internationaler Bühne als Garant fürStabilität und Wiederaufbau präsentiert. Die drängenden Probleme des Landes,angefangen von der Bildung einer neuen, stabilen Regierung, über die Bestim-mung eines Nachfolgers von Präsident Lahoud, der Erarbeitung eines neuenWahlrechts, der schrittweisen Überwindung des Konfessionalismus, der Behe-bung der Kriegschäden bis hin zur Entwaffnung der Hisbollah und der Errich-tung eines internationalen Tribunals, lassen sich jedoch nur gemeinsam vonallen gesellschaftlichen Gruppen angehen. Das bedeutet auch, dass die schiiti-sche Bevölkerung – und damit auch die Hisbollah – stärker an den Regierungs-entscheidungen beteiligt werden muss. Daher ist es eher kontraproduktiv, wenneuropäische Staaten und die USA allein Premierminister Siniora und seine Re-gierung unterstützen und auf der Entwaffnung der Hisbollah als Vorbedingungfür deren Einbeziehung beharren. Dies schürt die Vorbehalte gegenüber denwestlichen Interessen und führt zu einer weiteren Eskalation der Krise. Zu-dem sollten Lösungsversuche in einen größeren, regionalen Kontext einbezo-gen werden, da die innerlibanesischen Konfliktfaktoren Querverbindungen mitanderen Konflikten in der Region, vor allem dem israelisch-palästinensischenund dem israelisch-syrischen aufweisen. Langfristig müssen im Libanon diealten konfessionellen und klientelistischen Gesellschaftsstrukturen überwun-den werden, um dauerhaft das gewaltsame Aufflammen innergesellschaftlicherKonflikte zu vermeiden.

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2.2. Irans revolutionäre Außenpolitik: Realität oderRhetorik? Verschiebungen in der innerenMachtbalance

Semiramis Akbari

Die Islamische Republik Iran befindet sich gegenwärtig in einer prekären Si-tuation. Die Nuklearfrage und die Rolle Teherans in den Konflikten der Regionhaben seit dem Wahlsieg Ahmadinejads an Bedeutung gewonnen, sodass dieVeränderung der inneren Machtbalance im Westen kaum mehr wahrgenom-men und analysiert wird. Die Verschiebung der inneren Machtbalance wirftdie Frage auf, ob Ahmadinejads martialische Rhetorik ein Zeichen von Stärkeoder Schwäche ist. Dieser Beitrag analysiert die veränderte Außenpolitik Iransals Folge innenpolitischer Machtverlagerungen und erörtert, welche Chancenfür eine diplomatische Lösung der Konflikte mit Teheran noch bestehen.

Der Wahlsieg Ahmadinejads bei denPräsidentschaftswahlen 2005

Erstmals in der Geschichte der Islamischen Republik wurde mit Mahmud Ah-madinejad bei den neunten iranischen Präsidentschaftswahlen 2005 ein Ul-trakonservativer zum Staatspräsidenten gewählt. Selbst das konservative La-ger hatte es nicht für möglich gehalten, dass der einstige Oberbürgermeistervon Teheran die Nachfolge des Reformklerikers Mohammad Khatami antre-ten könnte. Auch Europa hatte mit dem Wahlsieg des Realpolitikers AyatollahAli Akbar Rafsanjani gerechnet. Ahmadinejad gelang es jedoch, sich in derStichwahl gegen Rafsanjani mit 62 Prozent der Stimmen durchzusetzen. Wiekam es zu diesem überraschenden Wahlergebnis?1

Ahmadinejad erreichte die Wähler vor allem mit dem Versprechen, dieErdöleinnahmen gerecht zu verteilen und die Korruption zu bekämpfen. Da-mit konnte er sich als Anwalt des kleinen Mannes und Nicht-Kleriker ohnebelastende Seilschaften profilieren. Rafsanjani geriet dadurch in die Situation,sich verteidigen zu müssen. Er stand für das klerikale Establishment, und derVorwurf des Nepotismus und der Korruption traf auch ihn. Rafsanjani warb

1 Ausführlicher dazu Semiramis Akbari: Grenzen politischer Reform- und Handlungsspiel-räume in Iran. Die Bedeutung innenpolitischer Dynamiken für die Außenpolitik, Frankfurta.M. 2006, HSFK-Report 9/2006.

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IRAN

hauptsächlich um die Stimmen des Mittelstandes und befürwortete eine stär-kere Privatisierung von staatlichen Unternehmen.

Doch Ahmadinejads Erfolg basierte nicht nur auf der Thematisierung vonsozialer Ungleichheit. Dass er unterstützt wurde von dem ultrakonservativenAyatollah Mohammad Taqi Mesbah Yazdi, der seine Anhänger, darunter dieparamilitärischen Gewaltakteure der Basiji-Miliz, mobilisierte, trug zu Ahma-dinejads Wahlsieg bei. Yazdi, der Leiter des Imam-Khomeini-Instituts in Qom,gilt als geistiger Mentor Ahmadinejads. Innerhalb der schiitischen Gemein-schaft verkörpert er den kompromisslosen Dogmatiker. Yazdi hält an der strengreligiösen Nomenklatur fest und fordert einen theonomischen Staat auf der Ba-sis der Scharia. Er stellt die vom Volk legitimierten Machtzentren in Frage undbestreitet, dass Ayatollah Ruhollah Khomeini in seinem Herrschaftskonzeptrepublikanische Elemente eingeschlossen hatte. Parlament, Volkssouveränitätund Wahlen werden von ihm nicht anerkannt. Yazdi ist der Überzeugung, dassder geeignete Vertreter des Verborgenen Imams nur aus den Reihen der Ultra-konservativen kommen kann und demokratische Wahlen allenfalls die Zustim-mung des Volkes zu einer bereits gefällten Entscheidung bezeugen.

In den öffentlichen Debatten setzte Ahmadinejad vorwiegend auf innen-politische Themen, um eine breite Wählerschaft zu erreichen. Außenpoliti-sche Fragen, wie z.B. das Thema Israel, griff er nicht auf. Mit einer Rückkehrzu den Idealen der Islamischen Revolution assoziierte er weniger eine Re-Islamisierung der Gesellschaft, als die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. SeinKontrahent, der Pragmatiker Rafsanjani, griff im Wahlkampf vor allem außen-politische Themen auf. Er versprach eine diplomatische Lösung des Streits umdas iranische Nuklearprogramm und bessere Beziehungen zu Washington. Imzweiten Wahlgang erhielt Rafsanjani auch Rückendeckung aus den Reihen derReformer, die eine „Talibanisierung“ verhindern wollten.

Schon im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2005 wurde offensichtlich,dass innerhalb der politischen Elite heftige Machtkämpfe stattfanden. Nachder Niederlage Rafsanjanis erreichten die politischen Auseinandersetzungen,nicht nur zwischen Konservativen und Pragmatikern, sondern auch innerhalbdieser beiden größten Lager, ihren Höhepunkt. Divergierende Interessen undNormenkonflikte in der konservativen Elite zeigen, dass sie keine homogeneGruppe darstellt. Vielmehr blockieren sich pragmatische und radikale Konser-vative gegenseitig.

Die Pragmatischen Konservativen, wie der Oberbürgermeister von Tehe-ran, Mohammad Baqer Qalibaf, lehnen die Rückkehr zu revolutionären Wer-ten und einer militanten Außenpolitik ab. Qalibaf, der selbst aus den Reihender Revolutionswächter stammt, benutzt eine säkulare Sprache und widersetzt

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sich der Instrumentalisierung des Islam. Die pragmatischen Konservativen leh-nen politische Reformen nicht ab, sondern definieren sie für sich neu. Auf dereinen Seite wollen sie die Islamische Republik sichern, auf der anderen Kha-tamis Reformagenda aufgreifen und das politische System reformieren. Siebezeichnen sich als fundamentalistische Reformisten.

Die Ultrakonservativen bleiben den idealtypischen Wert- und Normenvor-stellungen der Islamischen Revolution von 1978/79 treu und räumen der so-zialen Gerechtigkeit eine übergeordnete Rolle ein. Sie fühlen sich einer en-gen Interpretation der von Khomeini konzipierten religiösen Staatsdoktrin „derabsoluten Herrschaft des religiösen Rechtsgelehrten“ verbunden. Diese gehtauf der Basis der schiitischen Imamatslehre von einer Rückkehr des zwölf-ten Imam Mahdi aus, dem die religiöse und weltliche Herrschaft vorbehaltenist. Khomeini definierte die Rolle der schiitischen Geistlichkeit neu, indem erdem obersten religiösen Rechtsgelehrten die religiöse und auch die politischeStellvertreterschaft des zwölften Imams zusprach. Er lehnte die hergebrachtepassive Heilserwartung der Geistlichkeit ab und forderte ihre aktive Führungs-rolle in weltlichen Fragen. Zudem verknüpfen die Ultrakonservativen die mitdem Erbe Khomeinis verbundene Symbolik mit einem grenzüberschreitendenschiitischen Nationalismus.

Neben diesen beiden konservativen Strömungen sind die Pragmatiker zunennen, zu deren prominentesten Vertretern Rafsanjani und seine Anhänger-schaft zählen. Er war von 1980 bis 1989 Parlamentspräsident, wurde 1989zum Staatspräsidenten gewählt und leitet seit 1997 den Feststellungsrat, einvon Khomeini gegründetes Gremium, dessen 30 Mitglieder vom Revolutions-führer ernannt werden und das zwischen Parlament und Wächterrat vermit-telt sowie den Revolutionsführer in außen- und innenpolitischen Fragen berät.Nach dem derzeitigen Revolutionsführer Ayatollah Khamenei gilt Rafsanjanials der einflussreichste Politiker im Land. Er kritisiert die von Yazdi betriebeneAbwertung der republikanischen Elemente nach Ahmadinejads Wahlsieg mitdem Argument, dass die republikanischen Institutionen sehr wohl Bestandteildes Herrschaftskonzepts von Khomeini seien.

Diese Auseinandersetzung verrät einen Interessenkonflikt. Auf der einenSeite steht das klerikale Establishment um Rafsanjani, das mit der Wirtschafts-elite die republikanische Identität des Staates sichern möchte. Auf der anderenstehen die Ultrakonservativen und ein Teil der paramilitärischen Gewaltakteu-re, die eine islamische Regierung ohne jede Legitimierung durch das Volk eta-blieren wollen.

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Eingeschränkte Machtkompetenzen – Antrieb fürAhmadinejads außenpolitische Rhetorik

Der öffentliche Druck auf den neuen Präsidenten war von Beginn an groß. Sei-ne Wähler erhofften sich eine nachhaltige Wirtschaftspolitik, die versproche-ne Senkung der Arbeitslosigkeit und einen erfolgreichen Kampf gegen Armutund Korruption. Doch diese Ziele bedürfen einer mittel- bis langfristigen An-strengung, bis sich ein signifikanter Fortschritt einstellt. 60 Prozent der Iranerleben an der Armutsgrenze. Nach offiziellen Angaben liegt die Arbeitslosen-quote bei elf Prozent, anderen Schätzungen zufolge soll sie tatsächlich bei 30Prozent liegen.

Kaum war der Präsident im August 2005 vom Parlament bestätigt und vomRevolutionsführer vereidigt worden, setzte massive Kritik ein. Insbesonderedie pragmatischen Konservativen warfen Ahmadinejad vor, er verfüge überkein Regierungskonzept. Sein fehlender Rückhalt in den konservativen Reihendes Parlaments zeigte sich bei der Besetzung von Ministerien, als das Parla-ment mehrere von ihm vorgeschlagene Kandidaten ablehnte, sodass anfangsnur 17 von 21 Posten besetzt werden konnten.

Hinzu kommt, dass Ahmadinejad Versprechungen gemacht hatte, derenEinlösung nicht nur in der Hand des Staatspräsidenten liegt. Die iranischeWirtschaft wird maßgeblich von religiösen Stiftungen kontrolliert, die mehroder weniger autonom agieren und nicht dem Staatspräsidenten unterstehen.Sie sind die größten Wirtschaftsunternehmen Irans. Kurzum: Ahmadinejad sahsich einem einflussreichen Machtapparat gegenüber, der seine eigenen Interes-sen vertrat und sich dem Einfluss des Präsidenten entzog.

Obwohl die iranische Volkswirtschaft seit Ahmadinejads Amtsantritt einWachstum verzeichnete, sank der Lebensstandard. Das Wachstum resultiertaus gestiegenen Deviseneinnahmen der iranischen Ölindustrie. Die Lebens-mittelpreise sind seit 2005 um 30 Prozent gestiegen und die Kapitalflucht hatenorm zugenommen. Ahmadinejad konnte bisher seine Versprechungen nichteinlösen.

Aufgrund dieser Probleme boten sich Ahmadinejad von Anfang an wenigMöglichkeiten, seine Machtposition zu stärken. Der Schluss liegt nahe, dass eraus dieser Not heraus Themen finden musste, um seine Wirtschaftspolitik zukaschieren. Dafür boten sich außenpolitische Themen an. Alte Feindbilder ausder Zeit der Islamischen Revolution wiederzubeleben, schien angesichts derzunehmenden Dominanz der USA am Persischen Golf ein probates Mittel, umseine Kritiker in Schach zu halten.

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Ahmadinejads außenpolitisches Agieren kann zudem als Reaktion auf sei-ne eingeschränkten Kompetenzen in der Außen- und Sicherheitspolitik gedeu-tet werden. Der Staatspräsident versucht, seine innenpolitische Position mitHilfe von außenpolitischer Rhetorik zu stärken. Das lässt sich insbesondereim Konflikt um das iranische Atomprogramm beobachten. Ahmadinejad be-ansprucht den Bereich der Sicherheitspolitik für sich. Dabei kann er sich aufeinen Teil der Revolutionswächter und der paramilitärischen Gruppe der Ba-sijis stützen. Ahmadinejad versucht mit außenpolitischer Rhetorik, die Machtdes klerikalen Establishments zu verringern. Der Klerus seinerseits widersetztsich dem zunehmenden Einfluss der Basijis auf die Außen- und Sicherheitspo-litik.

Der Westen berücksichtigt nur selten, dass die tatsächliche Außenpoli-tik Irans von einem Geflecht konkurrierender Machtzentren bestimmt wird.Die außenpolitischen Entscheidungskompetenzen des Staatpräsidenten sindbegrenzt. Mit der Sicherheitspolitik befassen sich auch das Außenministeriumund der oberste nationale Sicherheitsrat. Letzterer ist sowohl für die äußereals auch für die innere Sicherheit verantwortlich und untersteht dem Revoluti-onsführer. Neben dem nationalen Sicherheitsrat übt auch der Vorsitzende desFeststellungsrates einen enormen Einfluss auf die Außenpolitik aus. Das Ge-waltmonopol liegt laut Verfassung jedoch beim Revolutionsführer. Er ist dieletzte Entscheidungsinstanz in sicherheitspolitischen Fragen.

Ahmadinejads Rückkehr zu den Idealen der IslamischenRevolution

Obwohl der Staatspräsident in außen- und sicherheitspolitischen Fragen kaumEntscheidungsfreiheit besitzt, ist es Ahmadinejad mit seiner provokativen Rhe-torik gelungen, die Aufmerksamkeit der internationalen Staatengemeinschaftauf sich zu ziehen. Sein Wahlsieg markiert somit eine Zäsur in Irans Außenpo-litik. Unmittelbar nach Gründung der Islamischen Republik stand der Kampfgegen die US-Hegemonie im Mittleren Osten im Vordergrund. Das bedeute-te eine Abkehr von der pro-amerikanischen und pro-israelischen Außenpolitikvon Schah Mohammad Reza. Mit der Islamischen Revolution verschlechter-ten sich die guten Beziehungen Irans zu den USA und Israel. Israels Exis-tenzrecht wurde nicht mehr anerkannt. Zudem unterhielten Washington undTeheran seit der Geiselnahme 1979 und der Besetzung der US-Botschaft inTeheran keine diplomatischen Beziehungen mehr. Ziel der neuen Außenpo-litik war, die Revolution nach Saudi-Arabien, Bahrain, Irak und Libanon zu

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exportieren. Die politische Schia wurde idealtypisch als Befreiungsansatz desunterdrückten und entrechteten Südens gegen Ost und West konzipiert. Dochscheiterte der Revolutionsexport in die arabischen Nachbarstaaten aufgrundseines schiitisch-iranischen Charakters.

Nach dem Ende des Krieges gegen den Irak (1980-1988) und dem Able-ben des charismatischen Revolutionsführers Khomeini 1989 konnte sich einepragmatische Außenpolitik entfalten. Der innenpolitische Wandel unter Staats-präsident Rafsanjani (1989-1997) half Iran, sich allmählich aus der totalen Iso-lation zu befreien und enge wirtschaftliche Beziehungen zu China und Russ-land aufzubauen. Auch Staatspräsident Khatami (1997-2005) kehrte sich in derAußenpolitik von der Revolutionsideologie ab. Reformen im Inneren begüns-tigten eine moderate Politik nach außen. Khatami wollte den Pariah-StatusIrans beenden und das Land in die internationale Gemeinschaft zurückführen.Völkerverständigung und Dialog der Kulturen bildeten den normativen Kernseiner Außenpolitik. Khatami konnte Irans Beziehungen zu den europäischenHandelspartnern, v.a. Deutschland, Frankreich und Italien, verbessern. Diplo-matische Beziehungen zu den USA konnten nicht aufgebaut werden. Auch inder Nuklearfrage erzielte Khatami keine sichtbaren Erfolge. Die Blockadepo-litik der konservativen Machtzentren und die amerikanische Isolationsstrategieverhinderten einen grundlegenden Wandel der Außenpolitik.

Rechnete Präsident George W. Bush das Land bereits nach dem 11. Sep-tember 2001 zu der „Achse des Bösen“, so geriet Iran darüber hinaus durchden anschwellenden Streit um sein im August 2002 entdecktes Urananreiche-rungsprogramm unter Druck. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO)hegt den Verdacht, dass das iranische Nuklearprogramm nicht ausschließlichzivilen Zwecken dient. Iran weist ihn von sich und insistiert auf seinem Rechtzur friedlichen Kernenergienutzung. Bislang ist es Iran nicht gelungen, Klar-heit über seine Absichten zu schaffen (vgl. Friedensgutachten 2005, Beitrag2.2.). Das multilaterale Kontrollregime konnte bisher die militärischen Ab-sichten Irans weder beweisen noch widerlegen (vgl. Friedensgutachten 2006,Beitrag 4.1.).

Das Misstrauen der internationalen Gemeinschaft gegenüber Teheran istgewachsen. Um es auszuräumen, forderten die IAEO und die EU-3 (Deutsch-land, Frankreich und Großbritannien) die Khatami-Regierung auf, ihre kriti-schen Urananreicherungsaktivitäten mit dem Ziel der Vertrauensbildung zususpendieren. Dabei erkannten die IAEO und die EU-3 das verbriefte RechtIrans auf die friedliche Nutzung der Kernenergie an. Damit sollte Teheranseinen sunnitischen Nachbarn (wie Saudi-Arabien), die sich von Iran bedrohtfühlen, aber auch der internationalen Staatengemeinschaft signalisieren, dass

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es kein geheimes Nuklearwaffenprogramm betreibt. Zwar unterzeichnete deriranische Gesandte Ali Salehi Ende 2003 das von der IAEO geforderte Zu-satzprotokoll zu dem Sicherheitsabkommen mit der IAEO, womit sich Iranverpflichtete, Inspektionen zu den nicht deklarierten Einrichtungen mit kurz-er Vorwarnzeit zu erlauben. Als Gegenleistung stellten die EU-3 eine engerewirtschaftliche und sicherheitspolitische Zusammenarbeit in Aussicht. Dochkam im Februar 2004 bei den Parlamentswahlen eine konservative Mehrheitzustande – weil der konservative Wächterrat zahlreiche Abgeordnete aus demReformlager zu den Wahlen gar nicht zugelassen hatte –, die die Khatami-Regierung daran hinderte, das Zusatzprotokoll zu ratifizieren.

Im Gegensatz zu den Vorgängerregierungen, die sich von den radikalenVorstellungen der Islamischen Revolution entfernten und eine Normalisierungder außenpolitischen Beziehungen anstrebten, geht Ahmadinejads Regierungauf Distanz zu der internationalen Gemeinschaft. Seine Außenpolitik strebt zu-rück zu den Idealen der Islamischen Revolution. Anders als Khatami, der mitder Sprache der Diplomatie um das Vertrauen der Staatengemeinschaft warb,benutzt sein Nachfolger eine revolutionäre Rhetorik. Deshalb nehmen IransNachbarn und der Westen Irans Nuklearambitionen verstärkt als Bedrohungwahr. Die Beziehungen zu den arabischen Nachbarstaaten sowie zwischen Iranund der westlichen Staatengemeinschaft sind seit dem Erstarken des ultrakon-servativen Flügels der iranischen Machtelite schwer belastet. AhmadinejadsDrohungen gegenüber Israel und seine Leugnung des Holocausts haben dasÜbrige getan, um die westliche Haltung im Streit um das Nuklearprogrammweiter zu verhärten.

Die Drohgebärden Ahmadinejads gegen Israel verstärkten die Bedenkender EU-Troika gegenüber den Nuklearambitionen des Landes. Schließlichwurde der Fall im Februar 2006 vom Gouverneursrat der IAEO an den UN-Sicherheitsrat weitergeleitet, der gemäß Kapitel VII, Art. 41 der UN-Chartabefugt ist, Sanktionen zu erlassen. Im Juli 2006 setzte der Sicherheitsrat Iranein Ultimatum, Teheran sollte bis zum 31. August der Forderung der IAEOnachkommen, als Voraussetzung für weitere Verhandlungen seine Urananrei-cherung zu stoppen. Außerdem forderte er, die noch offene Frage der IAEOüber das iranische Atomprogramm zu klären.

Seit September 2006 ist das Ultimatum abgelaufen. Iran hat seither seineUrananreicherungsaktivitäten forciert. Die radikal-revolutionäre Rhetorik desiranischen Staatspräsidenten bewirkte, dass der UN-Sicherheitsrat am 23. De-zember 2006 einstimmig die Resolution 1737 zum iranischen Atomprogrammbeschloss. Staatspräsident Ahmadinejad tat die Sanktionsresolution als „einStück Papier“ ab, das Irans Atomprogramm nicht stoppen könne.

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Die außenpolitische Leitlinie Ahmadinejads heißt: Weg vom Westen undhin zu Bündnispartnern, die geostrategische und wirtschaftliche Interessen mitIran teilen. Durch die Energie- und Technologiezusammenarbeit mit den Han-delspartnern China und Russland versucht die iranische Führung, Einfluss aufden Ausgang des Atomstreits zu nehmen. Insbesondere für die Ultrakonserva-tiven stellt das iranische Nuklearprogramm ein Prestigeprojekt dar. Die Ultra-konservativen um den Präsidenten sind der festen Überzeugung, dass die USAniemals von ihrer Forderung nach einem Regimewechsel in Iran abrücken wer-den. Deshalb wollen sie eine Islamische Republik, die ihren Bedarf selbst de-cken kann. Eine politische und wirtschaftliche Isolation würden die Ultrakon-servativen in Kauf nehmen, wenn sie der energiepolitischen Unabhängigkeitdes Landes dient. Schließlich sollen Erfahrungen aus dem achtjährigen Krieggegen den Irak genutzt werden, um die Isolationspolitik erfolgreich zu um-gehen. Iran erklärte, das Zusatzprotokoll nicht ratifizieren zu wollen. Vor Ab-lauf des UN-Überprüfungstermins am 21. Februar 2007 erklärte Ahmadinejad,dass sein Land die Urananreicherungsaktivitäten nur aussetzen werde, wenndie westlichen Staaten dies ebenfalls tun.

Innere Machtverschiebungen als Reaktion aufAhmadinejads außenpolitische Rhetorik

In der iranischen Machtelite nimmt der Unmut über Ahmadinejads radikaleRhetorik zu. Seine Drohungen gegen Israel und die Leugnung des Holocaustsstießen auf Kritik. Gegenwind kommt vor allem aus dem konservativen La-ger. Es hält Ahmadinejad vor, Iran in eine Sackgasse manövriert zu haben. Umden radikalen Staatspräsidenten im Zaum zu halten, erweiterte der Revoluti-onsführer die Machtkompetenzen des pragmatisch besetzten Feststellungsra-tes. Dieser fungiert nun als Kontrollorgan für die Exekutive, Legislative undJudikative. Außerdem scheint der Revolutionsführer bemüht, unterschiedlichePositionen in der Sicherheitsdebatte zu Wort kommen zu lassen. Die gemäßig-ten Kräfte, d.h. Pragmatiker und pragmatische Konservative, sind überzeugt,dass Irans nationale Interessen nicht durch radikale Rhetorik aufs Spiel gesetztwerden dürfen. Sie lehnen die Rückkehr zu einer revolutionären und militantenAußenpolitik ab.

Auch in der Bevölkerung hat der Staatspräsident an Rückhalt verloren.Zwar wurde Yazdi im Dezember 2006 in den Expertenrat gewählt, doch muss-ten die Ultrakonservativen sowohl bei den Wahlen zum Expertenrat als auchbei den zeitgleich stattfindenden Kommunalwahlen eine herbe Niederlage ein-

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stecken. Der Expertenrat setzt sich aus 86 Geistlichen zusammen und wird alleacht Jahre vom Volk gewählt, allerdings trifft der Wächterrat eine Vorauswahlder Kandidaten. Die Wahlen zum Expertenrat sind für die Zukunft Irans ent-scheidend, da er den Nachfolger des Revolutionsführers festlegt.

Die erneute Machtverschiebung zugunsten der Pragmatiker und der prag-matischen Konservativen zeigt, dass die gemäßigten gegenüber den radikalenKräften gestärkt wurden. Der Chefunterhändler Ali Larijani, der Vorsitzendedes Feststellungsrates Rafsanjani und der Berater des Revolutionsführers AliAkbar Velayati drängen auf eine diplomatische Lösung des Streits um das ira-nische Nuklearprogramm, um eine Isolation Irans zu verhindern.2

Nachdem die Ultrakonservativen hohe Verluste hinnehmen mussten, wur-de erwartet, dass Staatspräsident Ahmadinejad seine Rhetorik zügelt. Zumalkonservative Zeitungen wie Hamshahri oder Jumhuri-ye Eslami seine kon-frontative Haltung kritisierten und ihn zu mehr Besonnenheit aufgerufen hat-ten. Selbst der Revolutionsführer empfahl dem Präsidenten, sich stärker aufdie Wirtschaftspolitik zu konzentrieren. Doch Ahmadinejad hält unbeirrt anseiner konfrontativen Rhetorik fest. Inzwischen haben 150 Parlamentarier denPräsidenten aufgefordert, sich einer Fragestunde zu stellen und dem ParlamentAuskunft über seine Nuklear- und Wirtschaftspolitik zu erteilen. Zwei Jahrenach seinem überraschenden Wahlsieg steht der Staatspräsident innenpolitischunter enormem Druck.

Chancen für eine Lösung der Konflikte mit Teheran

Iran rückt zunehmend als Regionalmacht in den Vordergrund. Der schiiti-sche Gottesstaat tritt als selbstbewusster Akteur im Mittleren Osten auf undversucht das Machtvakuum, das der amerikanische Irak-Krieg am PersischenGolf geschaffen hat, auszufüllen. Dies wird nicht nur von der internationalenGemeinschaft kritisch beäugt, sondern auch arabische Staaten am PersischenGolf sehen ihren Status quo durch die schiitische Achse (Iran, Irak, Libanon)gefährdet. Der Bush-Administration und der israelischen Regierung sind dieregionalen Machtansprüche Teherans ein Dorn im Auge. Ob es sich um mili-tärische Auseinandersetzungen zwischen der libanesischen Hisbollah und Is-rael im Jahre 2006 oder Kämpfe zwischen palästinensischer Hamas und israe-lischer Armee handelte – immer wird Iran ausschlaggebende Einflussnahmeoder gar aktive Unterstützung unterstellt. Auch bei den gewaltsamen Ausein-

2 Siehe die Rede Ali Larijanis auf der 43. Münchener Konferenz für Sicherheitspolitik,11.2.2007, www.securityconference.de (Zugriff: 29.3.2007).

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andersetzungen zwischen sunnitischen und schiitischen Milizen im Irak hatWashington den Verdacht, dass schon vor dem Wahlsieg Ahmadinejads alleschiitischen Gruppierungen im Zweistromland, also sowohl die quietistisch-traditionellen als auch die radikalen Laienreligiösen, von Iran unterstützt wur-den.

Die Bush-Administration wirft Iran vor, radikal-schiitische Milizen im Irakmit Waffen und Geld zu unterstützen. Diese Befürchtungen sind möglicher-weise nicht unbegründet: Am 11. Januar 2007 wurden sechs Iraner von US-Soldaten in der nordirakischen Stadt Erbil festgenommen. Sie werden bezich-tigt, zur iranischen Al-Quds Brigade zu gehören, die Washington zufolge dieAufständischen unterstützt. Die iranische Regierung hingegen behauptet, dasses sich bei den Männern um Diplomaten handle und fordert ihre Freilassung.

Obwohl die Baker-Hamilton-Kommission in ihrem Report der Bush-Regierung riet, mit Teheran direkt zu verhandeln und Iran als gewichtigen ex-ternen Akteur in die Irakfrage einzubeziehen, hat die US-Regierung seit Januar2007 die militärische Drohkulisse verstärkt. Washington fordert sogar härtereSanktionen gegen das Land und setzt damit die Europäer, aber auch Russlandund China unter Druck. Ein militärisches Eingreifen der USA ist nicht ausge-schlossen. Wie greifbar eine Ausweitung des Konflikts auf Iran ist, lässt sichan den Vorwürfen amerikanischer Senatoren an Außenministerin Rice able-sen, amerikanische Einheiten würden heute schon grenzüberschreitend gegenIran vorgehen. Die schiitische Führung in Teheran droht ihrerseits, im Falleeines amerikanischen Angriffs die Straße von Hormoz am Persischen Golf zublockieren.

Die von den USA anvisierte Stabilisierung und Befriedung des Nahen undMittleren Ostens kann ohne die Einbeziehung Irans nicht gelingen. Allerdingslehnt Washington direkte Gespräche ab, solange das Land seine Urananreiche-rungsaktivitäten nicht einstellt. Zwischen amerikanischem Druck und verbalenAttacken aus Teheran bemüht sich Europa um eine diplomatische Lösung desKonflikts um das iranische Atomprogramm. Trotz der Sanktionen signalisierendie Europäer Gesprächsbereitschaft und setzen auf eine diplomatische Lösung.Mit dieser Strategie konnten sie selbst Russland und China von begrenztenSanktionen überzeugen. Die iranischen Ultrakonservativen hatten nicht damitgerechnet, dass die beiden Vetomächte im Sicherheitsrat für Sanktionen stim-men würden. Ziel der europäischen Iranpolitik ist es, den radikalen Präsiden-ten im inneriranischen Diskurs zu schwächen. Die EU konnte diesbezüglichmit der UN-Resolution 1737 erste Erfolge verbuchen. Allerdings hat sich dasVerhältnis der Staatengemeinschaft zu Iran seit März 2007 verschlechtert. 15britische Soldaten wurden von iranischer Seite am Persischen Golf festgenom-

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men, weil sie sich Teheran zufolge in seinen Hoheitsgewässern befanden. Der-weil erließ der UN-Sicherheitsrat schärfere Sanktionen gegen Iran.

Trotz allem sollte sich Europa weiterhin nicht auf die medienwirksamenVerbalattacken des iranischen Staatspräsidenten konzentrieren. Vielmehr giltes, die Verschiebung der Machtbalance in Irans politischer Elite zu beach-ten. Ahmadinejads Drohgebärden müssen ernst genommen, dürfen aber nichtüberbewertet werden. Die Macht und der mögliche Einfluss der übrigen politi-schen Akteure Irans dürfen nicht unterschätzt werden. Das europäische Parla-ment sollte den Dialog mit den gemäßigten Kräften suchen. Die Ergebnisse derWahlen vom Dezember 2006, die öffentlichen Debatten und die Parlaments-debatten zeigen, dass die Mehrheit der iranischen Bevölkerung und der po-litischen Eliten ein Interesse an der friedlichen Lösung der außenpolitischenKonflikte haben. Außerdem ist zu beachten, dass in den wichtigen außen- undsicherheitspolitischen Fragen der Revolutionsführer und der nationale Sicher-heitsrat das letzte Wort haben.

Welche Chancen bietet die Verschiebung der inneren Machtbalance für dieLösung der Konflikte mit Teheran? Es spricht einiges dafür, dass die gemäßig-ten Kräfte in Iran an der Herstellung von Frieden und Stabilität im Irak inter-essiert sind. Durch ihre guten Beziehungen zu den irakischen Schiiten könntensie zur Einhegung der Gewalt im Zweistromland beitragen. Aus diesem Grundsollten die westlichen Staaten Iran in die Gespräche zum Irak und zur Terro-rismusbekämpfung einbeziehen.

Wie kompromissbereit die moderaten Kräfte in der Nuklearfrage sind, istschwer abschätzbar. Die Urananreicherung als Vorbedingung für die Wieder-aufnahme der Verhandlungen einzustellen, lehnt Iran parteiübergreifend ab.Allerdings signalisieren die Gemäßigten zugleich Dialogbereitschaft. Unklarist jedoch, welche konkreten Zugeständnisse sie machen werden. LarijanisVorschlag, die Urananreicherung von einem Konsortium unter der Kontrolleder IAEO im eigenen Land durchführen zu lassen, wiesen die Europäer bis-lang zurück.

Wie weiter? Grundsätzlich muss die EU sich fragen, ob die Vorbedingung,die Urananreicherung zu beenden, eine sinnvolle Strategie ist. Die EU brauchteine langfristige Iran-Strategie. Die „Idee einer kernwaffenfreien Zone im Na-hen Osten“3 könnte ein wichtiges Element sein. Doch der Schlüssel zur Lö-sung der Konflikte mit Teheran liegt weiterhin bei den USA. Dort fordernIran-Experten eine radikale Kehrtwende in der amerikanischen Iranpolitik. DieEU muss ihren politischen Druck auf die Bush-Regierung erhöhen, um die-

3 Claudia Baumgart/Harald Müller: Eitler Traum oder erreichbares Ziel? Die Idee einer kern-waffenfreien Zone im Nahen Osten, Frankfurt a.M. 2004, HSFK-Report 10/2004.

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sen Politikwandel zu erzielen. Die unilaterale Gewaltandrohung, die einen Re-gimewechsel einschließt, ist kontraproduktiv. Die USA wähnen, durch härtereSanktionen die Einigkeit der iranischen Führung in der Nuklearfrage zerstörenzu können. Die iranische Elite stellt zwar keine homogene Gruppierung dar –das heißt aber nicht, dass sie sich in der Nuklearfrage spalten ließe. Hatte dieerste UN-Sanktion die Stellung des Präsidenten geschwächt, liefern die neuenUN-Sanktionen den radikalen Kräften Irans umgekehrt Argumente und bewir-ken, dass nun auch die pragmatischen Kräfte den kompromisslosen Kurs desStaatspräsidenten mittragen.

Eine konstruktive Lösung der Konflikte mit Teheran kann nur erreicht wer-den, wenn Washington Gesprächsbereitschaft signalisiert und Anreize in Formvon Sicherheitsgarantien anbietet. Ein Angriffskrieg dagegen droht den Mittle-ren und Nahen Osten vollends in Chaos zu stürzen. Daher darf der Dialog mitIran in der gegenwärtigen prekären Lage nicht ins Stocken geraten, sondernmuss intensiviert werden.

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2.3. Im Schatten des Irakkrieges: Saudi-Arabienzwischen innenpolitischer Unsicherheit undschwierigen Nachbarn

Guido Steinberg

In der Nah- und Mittelostregion beherrschen spätestens seit den 1970erJahren zwei Konflikte die internationale Politik: zum einen der israelisch-palästinensische beziehungsweise israelisch-arabische Konflikt sowie zum an-deren der Konflikt zwischen Iran, Irak und Saudi-Arabien um die Hegemonierund um den Persischen Golf. Die Auseinandersetzung am Golf nahm spätes-tens seit dem Abzug der Briten aus den Golfemiraten 1971 Konturen an undprägte ab Ende der 1970er Jahre nicht nur die Regional-, sondern zunehmendauch die Weltpolitik. In Deutschland und Teilen der westlichen Welt liegt den-noch das Hauptaugenmerk auf dem israelisch-palästinensischen Konflikt, derhäufig auch als Kern- oder Schlüsselkonflikt der gesamten Region bezeichnetwird. Hierbei handelt es sich um eine verzerrte Wahrnehmung, denn der Hege-monialkonflikt am Golf steht ihm an politischer Bedeutung und vor allem anEskalationsrisiken in nichts nach.

Der Konflikt zwischen Iran, Irak und Saudi-Arabien geht in seinen heu-tigen Ausprägungen auf eine Machtverschiebung in der Nah- und Mittelost-region zurück, die sich in den 1960er Jahren erstmals bemerkbar machte. In-folge der zu Beginn der 1970er Jahre explodierenden Öleinnahmen verlager-te sich der ökonomische und politische Schwerpunkt der Region nach Osten.Das ressourcenarme Ägypten, das seit Beginn der 1950er Jahre die unbestritte-ne arabische Führungsmacht war, verlor seine Vorrangstellung und musste sieden Erdölexporteuren Iran, Irak und Saudi-Arabien überlassen. Saudi-Arabienwurde zum Konkurrenten Ägyptens um die Führungsposition unter den ara-bischen Staaten, während Iran unter dem Schah die Vormacht am Golf blieb.Ab Ende der 1970er Jahre versuchte der Irak, dem durch die Islamische Re-volution 1979 geschwächten Iran diese Position streitig zu machen. Seitdemhaben drei große Kriege (der Iran-Irak-Krieg 1980-1988, der Zweite Golfkrieg1990/91 und der Irak-Krieg 2003) die Region erschüttert und der ursprüng-lich regionale Konflikt hat mehrmals zu Interventionen auswärtiger Mächtegeführt.

Saudi-Arabien ist der neben Iran und dem Irak wichtigste Akteur am Per-sischen Golf, allerdings auch der militärisch bis 2003 schwächste. Währenddie Geschichte der Region seit 1991 von einem labilen, durch die Präsenz der

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SAUDI-ARABIEN

USA in Saudi-Arabien und im Persischen Golf (die USA kooperieren mili-tärisch mit den arabischen Golfstaaten) hergestellten Kräftegleichgewicht ge-prägt war, hat der Krieg der USA gegen den Irak 2003 und der Sturz des Regi-mes von Saddam Hussein die Reste dieser Balance zerstört, mit ernsten Folgenfür die Sicherheit Saudi-Arabiens. Vor allem stärkten der Sturz Saddam Huss-eins und die anschließenden innerirakischen Konflikte Iran, der seit 2003 offenden Anspruch auf eine regionale Führungsrolle erhebt. Saudi-Arabien und diekleinen Golfstaaten hatten den Irak immer auch als Gegengewicht gegen denrevolutionären Iran betrachtet. Dieses ist nach 2003 weggefallen, da es denUSA und ihren Verbündeten nicht gelungen ist, einen handlungsfähigen neu-en irakischen Staat aufzubauen. Nach dem Machtverlust der „Reformer“ undder Wahl Mahmud Ahmadinejads zum Präsidenten im Sommer 2005 ist dieiranische Außenpolitik wieder weitaus aggressiver geworden als unter Präsi-dent Khatami (vgl. Beitrag 2.2.). Teheran verfolgt seitdem offensiver als schonzuvor das Ziel, eine nicht nur subregionale Vormachtstellung am PersischenGolf, sondern darüber hinaus auch im Arabischen Osten einzunehmen. DasAtomprogramm ist dabei nur ein Aspekt einer breiteren Strategie. So versuchtdie iranische Führung, durch die Förderung militanter Gruppierungen im Irakeine vollständige Beruhigung der Lage zu verhindern. Solange US-Truppen imIrak beschäftigt sind, ist auch eine Militäraktion gegen den iranischen Nach-barn unwahrscheinlich. Parallel versucht Iran, Syrien, mit dem es seit Anfangder 1980er Jahre verbündet ist, politisch und wirtschaftlich enger an sich zubinden. Zudem fördert Teheran die libanesische Hisbollah und auch die paläs-tinensische Hamas sowie weitere terroristische Organisationen und versuchtso, direkten Einfluss auf den anderen großen Regionalkonflikt zu nehmen.

Dieser ursprünglich machtpolitische Konflikt hat auch eine konfessionel-le Dimension, die immer wichtiger wird. Der Aufstieg Irans wird in Saudi-Arabien als Aufstieg eines schiitischen Staates gesehen, dem der Irak nunfolgen könnte. Die Befreiung der irakischen Schiiten vom Joch des Baath-Regimes hat auch bei den Schiiten in den Golfstaaten zur politischen Mo-bilisierung beigetragen. In Riad herrscht große Sorge, dass die eigene schi-itische Minderheit vermehrt Forderungen nach mehr politischer Partizipati-on und wirtschaftlicher Gleichberechtigung stellen könnte. Dabei ist auch insaudi-arabischen Regierungskreisen die Wahrnehmung verbreitet, dass Irangroßen Einfluss auf die saudi-arabischen Schiiten hat. Obwohl diese sich eheram Irak orientieren, besteht die Gefahr, dass Saudi-Arabien vor dem Hinter-grund des Konfliktes mit Iran zu einer verstärkt repressiven Politik gegenüberder schiitischen Minderheit übergeht. In einem solchen Fall könnte es auch zueiner innenpolitischen Konfrontation kommen, mit wiederum negativen Fol-gen für die regionale Stabilität.

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Saudi-Arabien, die USA und der Krieg im Irak

Trotz der Belastungen, denen das Verhältnis zwischen den USA und Saudi-Arabien infolge der Anschläge des 11. September 2001 ausgesetzt war, be-steht es in seinem Kern fort und bleibt eng. Während die USA die SicherheitSaudi-Arabiens vor äußeren Feinden gewährleisten, garantiert Saudi-Arabienim Gegenzug eine stabile Ölversorgung zu akzeptablen Preisen. Aufgrund die-ser wechselseitigen Abhängigkeit war die Haltung der saudi-arabischen Re-gierung gegenüber dem amerikanischen Krieg im Irak im Frühjahr 2003 am-bivalent. Riad lehnte den Krieg zunächst ab, da es den Antiamerikanismusder eigenen Bevölkerung und ein Auseinanderfallen des Irak befürchtete. DerKrieg war aus saudi-arabischer Sicht nicht erforderlich, weil das Regime Sad-dam Husseins keine unmittelbare Bedrohung für die Nachbarn darstellte. Diesaudi-arabische Regierung untersagte den USA deshalb die Nutzung ihrer re-gionalen Einsatzzentrale auf einer Luftwaffenbasis südlich von Riad. Die USAmussten diese nach Katar verlegen, nutzten allerdings stillschweigend die Ein-richtungen in Saudi-Arabien, insbesondere das hochmoderne Combined AirOperations Center auf der genannten Basis. Als sich abzeichnete, dass dieBush-Administration zum Krieg entschlossen war, entschied Riad, die Situati-on zu nutzen, um ein innenpolitisches Problem zu lösen. Es bat die amerikani-sche Regierung, ihre seit 1990 im Land stationierten Truppen nach einem er-folgreichen Ende des Irak-Krieges abzuziehen. Dies war insofern folgerichtig,als die Mehrheit der amerikanischen Truppen zur Überwachung der südlichenirakischen Flugverbotszone in Saudi-Arabien stationiert war. Nach dem Sturzdes Regimes von Saddam Hussein war dies obsolet.

Durch den Abzug sollte die Kritik vor allem islamistischer Kreise an derPräsenz ausländischer Truppen aufgefangen werden. Dies war insbesonderenach den Anschlägen der al-Qaida vom 11. September 2001 dringlich gewor-den, da die wichtigste Forderung Osama Bin Ladens die nach einem Rückzugder USA aus Saudi-Arabien war. In der sich schon 2002 anbahnenden Ausein-andersetzung zwischen al-Qaida und der saudi-arabischen Regierung nutztediese die Chance, weniger militante islamistische Gegner für sich zu gewin-nen. Bis September 2003 wurde der Abzug abgeschlossen, sodass sich heutenur noch wenige amerikanische Truppen – vorwiegend zu Ausbildungszwe-cken – im Land befinden. Der Abzug war kein Hinweis auf eine Verschlech-terung der amerikanisch-saudischen Beziehungen. Vielmehr ermöglichte erRiad, zum Status quo vom Juli 1990 zurückzukehren: Obwohl keine ameri-kanischen Truppen in Saudi-Arabien stationiert sind, steht im Konfliktfall einehochmoderne militärische Infrastruktur bereit, die schon 1990 die amerika-

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SAUDI-ARABIEN

nischen Truppen in die Lage versetzte, innerhalb weniger Wochen mehrerehunderttausend Soldaten einschließlich Material nach Saudi-Arabien zu brin-gen. In Aufbau und Aufrechterhaltung dieser Infrastruktur besteht auch im Jahr2007 der Kern der amerikanisch-saudischen Sicherheitspartnerschaft. Vor demHintergrund einer aus saudi-arabischer Sicht zunehmend bedrohlichen regio-nalen Situation hat die Zusammenarbeit mit den USA neue Bedeutung gewon-nen.

Saudi-Arabien in der Konfliktregion Persischer Golf

Saudi-Arabiens wichtigstes außenpolitisches Betätigungsfeld ist entsprechendseiner Bedrohungsperzeption heute die Golfregion. Hier steht Saudi-Arabienvor allem den mächtigen und häufig aggressiven Nachbarn Iran und Irak ge-genüber; seit den 1970er Jahren hat zu verschiedenen Zeiten immer einer derbeiden versucht, die regionalen Machtverhältnisse zu seinen Gunsten zu än-dern. Schon die demographische Situation spricht für die relative Stärke Irans:Während die Bevölkerungszahl Saudi-Arabiens bei rund 25 Millionen (davonnur rund 20 Millionen Staatsbürger) und die Iraks bei 27 Millionen liegt, lebenin Iran etwa 70 Millionen Menschen. Um sich vor den beiden Nachbarn zuschützen, baut Riad vor allem auf sein Bündnis mit den USA. Mit dieser Po-litik, die dazu beigetragen hat, dass die USA heute die stärkste Militärmachtin der Golfregion sind, steht es in offenem Gegensatz zu Iran, dessen erklärtesZiel es ist, die Präsenz der USA im Persischen Golf zu beenden.

Beziehungen zu Iran

Seit der Islamischen Revolution von 1979 sieht sich Saudi-Arabien von Iranbedroht. Zum traditionellen Vormachtstreben Irans in der Golfregion tratdamals ein ideologischer Konflikt zwischen iranischen Schiiten und saudi-arabischen Sunniten, der dadurch verschärft wird, dass es sich bei den meistenSaudi-Arabern um Anhänger der antischiitischen Wahhabiya handelt. Erst alsdie Regierung in Teheran seit Anfang der 1990er Jahre schrittweise von ihrerPolitik des Revolutionsexports in die Golfstaaten abließ, normalisierten sichdie Beziehungen. Die infolge des Irak-Krieges der USA zunehmend aggres-sive iranische Außenpolitik und insbesondere das iranische Atomprogrammhaben die alte saudi-arabische Furcht vor seinem Nachbarn wiederauflebenlassen und zu einer dramatischen Verschlechterung der bilateralen Beziehun-gen geführt.

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Obwohl Iran bereits vor 1979 der Hegemon in der Golfregion war, stellteer für Saudi-Arabien keine unmittelbare Bedrohung dar, weil er eng mit denUSA verbündet war. Mit der Islamischen Revolution endete dieses Bündnis.Mehr noch, mit der Islamischen Republik unter der Führung von AyatollahKhomeini entstand ein ideologischer Konkurrent, der nicht nur die Hegemo-nie in der Golfregion, sondern auch eine Führungsposition in der islamischenWelt beanspruchte und begann, Schiiten in den arabischen Golfstaaten – ins-besondere in Kuwait und Bahrain – gegen ihre Regierungen aufzuwiegeln undmilitante Gruppierungen zu fördern.

In Saudi-Arabien stellen Schiiten zwar nur zwischen acht und 15 Prozentder Gesamtbevölkerung, doch sie leben hauptsächlich in der Ostprovinz, wofast das gesamte saudi-arabische Erdöl produziert wird. Sie stellen dort rund50 Prozent der Bevölkerung und gelten der Regierung deshalb als besonde-res Sicherheitsrisiko. Dieser Konflikt wurde durch die saudi-arabische Positionwährend des Iran-Irak-Krieges verschärft. Weil Saudi-Arabien den Irak unter-stützte, stellte Teheran die Legitimität der saudi-arabischen Herrschaft über dieHeiligen Stätten von Mekka und Medina in Frage und schürte in den 1980erJahren wiederholt Unruhen unter den Pilgern. Bis heute fürchtet Saudi-Arabieneine Wiederaufnahme der Politik des Revolutionsexports.

Ab Anfang der 1990er Jahre ließ Iran von dieser Politik ab. Die Ent-spannung des bilateralen Verhältnisses setzte ab 1995 ein und beschleunigtesich mit der Amtsübernahme des Präsidenten Mohammed Khatami 1997. Aufsaudi-arabischer Seite war es der damalige Kronprinz Abdallah, der, seit erdie Regierungsgeschäfte von seinem kranken Bruder Fahd 1995 übernommenhatte, die Beziehungen zu Teheran ausbaute. Die Annäherung blieb jedoch vor-sichtig und weitgehend oberflächlich, da das Misstrauen auf saudi-arabischerSeite überwog. Der Machtapparat des religiösen Führers Khamenei blieb oh-nehin intakt und immer bestand die Möglichkeit, dass die Reformer um Khata-mi wieder von konservativen Hardlinern ersetzt werden würden. Als sich diesaudi-arabischen Befürchtungen mit der Amtsübernahme Mahmud Ahmadi-nejads bewahrheiteten, verschlechterten sich die bilateralen Beziehungen dra-matisch. Dieser Prozess hatte schon 2002 eingesetzt, als die ersten Nachrich-ten über das iranische Atomprogramm an die Öffentlichkeit gelangten, undsetzte sich infolge der iranischen Politik im Irak fort. Die Machtelite in Saudi-Arabien ist überzeugt davon, dass es Teheran vor allem um die Entwicklungvon eigenen Kernwaffen und weniger um die zivile Nutzung der Kernenergiegeht. Aufgrund der eigenen Schwäche bemüht sich die saudi-arabische Regie-rung jedoch, den mächtigen Nachbarn nicht zu provozieren und hofft, dass ihramerikanischer Verbündeter eine atomare Bewaffnung Irans verhindert. Erst

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seit 2006 kritisiert die saudi-arabische Regierung die Politik Teherans etwasoffener.

Beziehungen zum Irak

Bis 2003 fürchtete Saudi-Arabien den Irak fast ebenso sehr wie Iran. Die Si-tuation nach 1991 entsprach aber weitgehend saudi-arabischen Interessen. DieEindämmungspolitik der USA gegenüber dem Irak bewirkte, dass das RegimeSaddam Husseins für seine Nachbarn keine Bedrohung mehr darstellte. Da dieBeziehungen zu Iran sich stetig verbesserten, war die einzige Sorge Riads dievor den innenpolitischen Folgen der Präsenz amerikanischen Militärs auf sei-nem Territorium.

Mit dem Sturz Saddam Husseins änderte sich die Bedrohungsanalyse derRegierung in Riad grundlegend. Heute ist ihre größte Sorge die vor einem Aus-einanderfallen des Irak. Nach dem Frühjahr 2003 traten schnell zentrifugaleTendenzen auf, die sich nicht auf den Norden des Landes beschränkten, wodie Kurden ihre seit 1991 gebildete Autonomiezone konsolidierten. Kurdenund Schiiten setzten im Jahr 2005 eine föderale Verfassung durch, die auchden Schiiten die Bildung einer föderalen Region im Süden und Zentrum desLandes ermöglichen sollte. Riad fürchtet in diesem Zusammenhang vor allemdie Intervention von Nachbarstaaten wie der Türkei und Irans, die die Eman-zipation einzelner Bevölkerungsgruppen entweder verhindern oder zu ihrenZwecken zu nutzen suchen. Es ist besonders das Risiko einer regionalen mili-tärischen Eskalation, in die auch Saudi-Arabien hineingezogen werden könnte,das Riad Sorge bereitet.

Damit zusammenhängend glaubt die saudi-arabische Regierung, dass deramerikanische Krieg im Irak den Weg für eine Einflussnahme Irans auf denIrak freigemacht hat. Fast ebenso sehr wie ein Auseinanderbrechen fürchtetRiad die Entstehung eines schiitisch dominierten irakischen Staates, der sicham politischen Modell der Islamischen Republik orientieren und zu einem Sa-telliten Irans werden könnte. Riad ist vor allem besorgt über die Auswirkungeneiner solchen Entwicklung auf die eigene schiitische Minderheit, die bis heutepolitisch marginalisiert ist und kulturell sowie sozioökonomisch diskriminiertwird. Schon 2003 zeigten sich Anzeichen, dass die Befreiung ihrer Glaubens-brüder im Irak auch die saudi-arabischen Schiiten ermutigte, Gleichberechti-gung mit der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit einzufordern. Insbesonderedie Amtsübernahme einer von schiitischen Islamisten dominierten irakischenInterimsregierung im April 2005 löste in Riad kritische Reaktionen aus. Sosagte der saudi-arabische Außenminister Saud al-Faisal im September 2005 in

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einer viel beachteten Rede vor dem Council on Foreign Relations, der Irak wer-de Iran überlassen.1 Viele saudi-arabische Politiker setzen dabei die Emanzi-pation der irakischen Schiiten mit dem (zweifellos vorhandenen) Einfluss Iransgleich. Saudi-Arabien sieht sich deshalb immer mehr in der Rolle eines Sach-walters der Interessen der sunnitischen Minderheit im Irak. Hierzu wird dieRegierung auch durch die öffentliche Meinung in Saudi-Arabien gedrängt, dieein stärkeres Engagement für die Sunniten im Irak fordert. Um die Entstehungeines schiitisch dominierten Staates zu verhindern, übt Saudi-Arabien gemein-sam mit Ägypten und Jordanien Druck auf die USA aus, die Marginalisierungder Sunniten zu beenden. Seit Frühjahr 2005 drängt die Bush-Administrationihre irakischen Verbündeten tatsächlich, Sunniten in den politischen Prozesseinzubinden. Da die Gewalt im Irak im Jahr 2006 trotzdem zu einem Bür-gerkrieg eskalierte, gab Saudi-Arabien seine bisherige Zurückhaltung auf unddrohte, die sunnitischen Aufständischen im Irak gegen ihre schiitischen Wi-dersacher zu unterstützen.2

Ob Saudi-Arabien wirklich zu einem solchen Schritt bereit wäre, ist unge-wiss. Bisher hat es von einer finanziellen Unterstützung der Aufständischenabgesehen. Dies liegt vor allem daran, dass die Jihadisten unter den auf-ständischen Gruppierungen erklärt haben, auch die Regime der Nachbarlän-der des Irak stürzen zu wollen und viele saudi-arabische Freiwillige in ih-ren Reihen haben. Saudi-Arabien selbst hat seit 2003 große Mühe gehabt,al-Qaida im eigenen Land einzudämmen. Nun fürchtet Riad eine Rückkehrsaudi-arabischer Kämpfer in ihr Heimatland und neue Auseinandersetzun-gen. Sollte der sunnitisch-schiitische Bürgerkrieg im Irak allerdings eskalie-ren, dürfte Saudi-Arabien tatsächlich dazu übergehen, eher auf den Kampf imIrak konzentrierte national-islamistische Gruppierungen zu unterstützen.

Beziehungen zu den kleinen Golfstaaten

In den 1980er Jahren versuchte Saudi-Arabien, mit dem 1981 gegründetenGolfkooperationsrat ein strategisches Gegengewicht zu seinen Nachbarn Iranund Irak zu gründen. Der zweite Golfkrieg zeigte jedoch deutlich, dass sei-ne Mitgliedsstaaten (Bahrain, Katar, Kuwait, Oman, Saudi-Arabien, Vereinig-te Arabische Emirate) weiterhin auf den militärischen Schutz durch die USAangewiesen sind. Dies führte dazu, dass die kleinen Golfstaaten während der1990er Jahre bilaterale Verteidigungsabkommen mit den USA schlossen. Zu-

1 Saud al-Faisal: The Fight against Extremism and the Search for Peace, www.cfr.org/publication/8908/fight_against_extremism_and_the_search_for_peace_rush_transcript_federal_news_service_inc.html (Zugriff: 22.3.2007).

2 Washington Post vom 29.11. 2006.

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SAUDI-ARABIEN

dem konnten sie Verstimmungen zwischen Saudi-Arabien und den USA infol-ge des 11. September 2001 und den amerikanischen Truppenabzug aus Saudi-Arabien im Jahr 2003 nutzen, um ihre Beziehungen zu den USA auszubauen.Die Zeit der saudi-arabischen Hegemonie über seine kleinen Nachbarstaatenist vorbei.

Die Golfstaaten nutzten 1981 die Gelegenheit, die der Konflikt der Nach-barn bot, um ein Sicherheitsbündnis unter Ausschluss Teherans und Bagdadszu schließen. Im Laufe der Zeit ist die ökonomische Integration zu einemwichtigen Ziel geworden; in den 1980er Jahren jedoch dominierte ihr gemein-sames sicherheitspolitisches Interesse. Aufgrund der militärischen Schwächeder Mitgliedsstaaten erwiesen sich die sicherheitspolitischen Maßnahmen desGolfkooperationsrates indes als unzureichend. Seine Truppen spielten bei derVerteidigung und anschließenden Befreiung Kuwaits 1990/91 keine Rolle. Umdie damals offen zutage getretene militärische Abhängigkeit von den USA zureduzieren, verkündete der Golfkooperationsrat gemeinsam mit Ägypten undSyrien im März 1991 eine weitgehende militärische Zusammenarbeit. Ägyp-ten und Syrien sollten als Gegenleistung für Finanzhilfen Truppen zum Schutzder Golfstaaten vor Iran und Irak stellen. Es zeigte sich jedoch schnell, dassdas Misstrauen Saudi-Arabiens und seiner Verbündeten gegenüber Kairo undDamaskus zu groß war. Stattdessen schlossen die kleinen Golfstaaten bilate-rale Verteidigungsabkommen mit den USA (einige auch mit Frankreich undGroßbritannien), und auch Saudi-Arabien ließ die langfristige Stationierungamerikanischen Militärs zu.

Der Golfkooperationsrat war seit seiner Gründung auch ein Instrument, umdie saudi-arabische Hegemonie über die kleinen Golfstaaten zu festigen. Diesenutzten ab den 1990er Jahren und verstärkt nach 2001 ihre guten Beziehungenzu den USA, um sich von Saudi-Arabien zu lösen. Die US-amerikanische Po-litik nach dem 11. September 2001 und insbesondere die Entscheidung zumKrieg gegen den Irak trugen hierzu bei. Kuwait, Bahrain und Katar stelltenihr Territorium als Aufmarschgebiet zur Verfügung, während Saudi-Arabiendeutlich auf Distanz zu den amerikanischen Plänen ging. Die Verstimmungenzeigten sich insbesondere an Auseinandersetzungen über bilaterale Freihan-delsabkommen, die mehrere kleine Golfstaaten seit 2004 mit den USA ab-schlossen. Nach saudi-arabischer Lesart wird durch diese Verträge die 2003eingerichtete Zollunion unterlaufen und die wirtschaftliche Integration inner-halb des Golfkooperationsrats behindert. Ob die iranische Bedrohung diesezentrifugalen Tendenzen unter den Golfstaaten reduzieren wird, ist zweifel-haft. Es ist dennoch auffällig, dass die Staatschefs des Golfkooperationsratesauf ihrem Gipfel in Riad im Dezember 2006 erklärten, sie würden ein gemein-

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sames Programm zur friedlichen Nutzung der Kernenergie erwägen. Ebensowie ähnliche ägyptische und jordanische Ankündigungen ist die Erklärung desGolfkooperationsrates nicht nur an Iran gerichtet. Zusätzlich soll hier den USAverdeutlicht werden, wie groß die Gefahr eines regionalen Rüstungswettlaufsist, sollte Iran Atomwaffen oder auch nur die Fähigkeit, sie herzustellen, erlan-gen.

Im Falle Saudi-Arabiens ist diese Drohung durchaus ernst zu nehmen.Saudi-Arabien hat Pakistan beim Aufbau seines Atomwaffenprogramms finan-ziell unterstützt. 3 Deshalb kann nicht ausgeschlossen werden, dass Riad in Pa-kistan atomare Sprengköpfe erwirbt oder aber pakistanische Atomwaffen aufsaudi-arabischem Territorium stationiert. In jedem Fall verfügt Saudi-Arabienseit 1988 bereits über chinesische Mittelstreckenraketen, die ursprünglich fürden Transport von nuklearen Sprengköpfen konzipiert worden waren, vor demExport aber für konventionelle Sprengköpfe umgerüstet wurden. Sollte Saudi-Arabien beschließen, sich atomar zu bewaffnen, stünden also auch entspre-chende Trägersysteme bereit.

Saudi-Arabien zwischen Nahostkonflikt und iranischerBedrohung

Die Politik Saudi-Arabiens im Nahostkonflikt ist heute nur noch eine Funkti-on seiner Außenpolitik in der Golfregion, worüber die übliche anders lautendeRhetorik in Riad nicht hinwegtäuschen kann. Die saudi-arabische Regierungversucht dennoch, zu einer Lösung beizutragen, um regionale Konfliktpoten-ziale im Allgemeinen abzubauen, insbesondere aber, um dem wachsenden Ein-fluss Teherans in Syrien, Libanon und den palästinensischen Gebieten entge-genzuwirken.

Saudi-Arabien ist auch aus innenpolitischen Gründen an einer Lösung desNahostkonflikts interessiert. Riad fürchtet Kritik an seiner Sicherheitspartner-schaft mit den USA, dem wichtigsten Verbündeten Israels. Regionalpolitischbefürchtet Riad in erster Linie die Eskalationsrisiken von kriegerischen Kon-flikten in und um die palästinensischen Gebiete und deren Auswirkungen.Besonders wichtig erscheint Riad, dass seine Gegner in der Golfregion im-mer wieder versuchen, durch die Unterstützung substaatlicher palästinensi-scher und libanesischer Gruppierungen wie der Hisbollah und der Hamas ih-

3 Thomas Woodrow: The Sino-Saudi Connection, in: The Jamestown Foundation ChinaBrief, Volume 2, Issue 21 (October 24, 2002), www.jamestown.org/publications_details.php?volume_id=18&issue_id=661&article_id=4680 (Zugriff: 20.3.2007).

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re regionale Position zuungunsten Saudi-Arabiens aufzuwerten. Dies gelangSaddam Hussein während des Golfkrieges 1990/91, indem er zunächst anbot,Kuwait zu räumen, wenn Israel die Westbank und den Gazastreifen an die Pa-lästinenser übergebe und anschließend israelische Ziele mit Raketen angriff.Iran versuchte seit den 1980er Jahren, durch die Unterstützung der Hisbollahund des palästinensischen Islamischen Jihad, seinen Anspruch auf eine regio-nale Führungsposition zu untermauern. Seit Beginn der Zweiten Intifada imJahr 2000 versuchen iranische Stellen zudem, vermehrt Einfluss auf die pa-lästinensische Hamas zu nehmen. Öffentlich wurde diese Politik nach demWahlerfolg der Hamas im Januar 2006 und der anschließenden Regierungs-übernahme. Die iranische Regierung unterstützt die palästinensische Regie-rung inzwischen offen mit Millionensummen. Um dem entgegenzuwirken, luddie saudi-arabische Regierung die Führungsspitzen von Hamas und Fatah zueinem Treffen in Mekka im Februar 2007 ein. Dort gelang es König Abdal-lah, eine Einigung über die Bildung einer Regierung der nationalen Einheitzu vermitteln und die Gefahr eines palästinensischen Bürgerkrieges zunächstabzuwenden.

Die saudi-arabische Regierung versucht ebenso im Krisenfall immer wie-der, die Unterstützung seiner arabischen Nachbarstaaten zu gewinnen, um sichvor seinen Konkurrenten zu schützen. In den 1980er Jahren unterstützte Riaddas Regime Saddam Husseins mit rund 30 Millionen US-Dollar. Als diese Po-litik mit der Invasion Kuwaits durch irakische Truppen gescheitert war, ver-suchte Riad eine Allianz mit Ägypten und Syrien zu schmieden. Dieses Mus-ter setzt sich fort: Riad versucht seit 2003, verstärkt jedoch seit 2005, in Er-gänzung zu seinem Bündnis mit den USA, ein regionales Gegengewicht zuIran und zum Irak zu schaffen. Zu diesem Zweck baut es seine Allianz mitÄgypten und Jordanien aus. Die drei Staaten dringen seit 2003 darauf, dassdie Sunniten im Irak an der Macht beteiligt werden, um so die Entstehungeines schiitisch beherrschten Satellitenstaats zu verhindern. Im Libanon stell-ten sich Riad, Kairo und Amman auf die Seite der Regierung Siniora, die seitder zweiten Jahreshälfte 2006 unter starkem Druck pro-syrischer Kräfte imLand steht. Es mehren sich die Hinweise, dass diese regionale Konfliktliniezwischen einem iranisch dominierten Block einerseits (Iran, Syrien und His-bollah), und einem Bündnis zwischen den pro-amerikanischen Staaten Saudi-Arabien, Ägypten und Jordanien andererseits sich in den kommenden Jahrenverfestigen könnte. Eine zeitweilige Annäherung zwischen Riad und Teheran,wie sie beispielsweise Anfang März 2007 zu beobachten war, als der iranischePräsident Riad besuchte, kann über diese Tendenz nicht hinwegtäuschen.

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Ein regionales Sicherheitssystem?

Saudi-Arabien befindet sich Anfang 2007 in einer prekären Situation. DerKonflikt um die Hegemonie in der Golfregion zwischen Iran und Saudi-Arabien ist infolge des Irak-Krieges der USA neu entbrannt, wobei Riad ineiner schwachen Position ist. Iran scheint übermächtig und die saudi-arabischeAbhängigkeit von den USA ist ein großes innenpolitisches Problem. Trotzdemverlässt sich Riad darauf, dass die USA und ihre Verbündeten sich des Pro-blems zunächst mit diplomatischen Mitteln und Sanktionen annehmen. Ge-genüber Iran verhält sich Saudi-Arabien weiterhin zurückhaltend, da es sichanschickt, seinen Anspruch auf eine regionale Führungsposition zu verwirk-lichen. Zu offene Feindseligkeit könnte Gegenreaktionen der iranischen Füh-rung provozieren.

Dennoch reagierte Riad im Verlauf des Jahres 2006 immer häufiger kri-tisch gegenüber der iranischen Politik. Der wachsende Einfluss Teherans inNah- und Mittelost sorgte für Verstimmung. Um Konfliktpotenziale abzubau-en, bemühte sich Riad, den Konflikt im Libanon zu entschärfen, seit Janu-ar 2007 auch im direkten Gespräch mit Vertretern der iranischen Regierung.Drohungen mit einem eigenen Atomprogramm dienen wohl dem Zweck, dieUSA zu einem entschiedeneren Handeln gegen Iran zu bewegen. Inwieweitdie saudi-arabische Regierung auch Militärschläge gegen iranische Ziele bil-ligen würde, ist unsicher. Nach außen hin würde sie gegen einen solchenSchritt protestieren, unter der Hand jedoch möglicherweise ihre Zustimmungsignalisieren. Vorab bemüht sich Riad um die Schaffung einer gemeinsamenägyptisch-jordanisch-saudi-arabischen Front gegen Iran. So wird die verbrei-tete Wahrnehmung, hier stünde ein „iranisch-schiitischer Halbmond“ einemsunnitischen Block gegenüber, immer mehr zur Grundlage einer neuen Kon-fliktformation.

Um der Entstehung neuer, religiös-konfessionell definierter Konfliktlinienentgegenzuwirken, ist es vordringlich, die Vertiefung der Konfliktlinie zwi-schen Iran und seinen arabischen Gegnern zu verhindern. Die Versuche dersaudi-arabischen Regierung, im Libanon und zwischen den Palästinensern zuvermitteln, sind durchaus konstruktive Schritte, haben aber auch zum Ziel, dieAusweitung iranischen Einflusses zu verhindern. Zudem würde eine Entschär-fung beider Konflikte nicht die saudi-arabische Sorge vor dem Hegemonial-streben Irans in der Golfregion zerstreuen. Weit entfernt von einer Deeskala-tion, scheint sich der Konflikt zwischen den USA und Iran zu verschärfen. Inseiner viel beachteten Rede vom 10. Januar 2007, in der US-Präsident Bush ei-ne neue Irak-Strategie verkündete, drohte er unverhohlen mit Militärschlägen

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SAUDI-ARABIEN

gegen Iran.4 Die Rede war lediglich der deutlichste von mehreren Hinweisen,dass die US-Regierung gegenüber Iran und Syrien auf Konfrontation setzt –im Gegensatz zu der in Europa verbreiteten Vorstellung, beide müssten einge-bunden werden, um zu einer Lösung des Irak-Konfliktes beizutragen. Deshalbhaben deutsche und europäische Politik in der Irak-Frage und auch hinsicht-lich der amerikanischen Iran-Politik nur begrenzte Einwirkungsmöglichkeiten(vgl. Beitrag 2.2.). Doch auch wenn es gegen amerikanischen Widerstand un-möglich ist, Iran in ein regionales Sicherheitsforum der acht Anrainerstaatendes Golfes einzubinden, sollten deutsche und europäische Politik schon jetztversuchen, gemeinsam mit den Golfstaaten Konzepte für eine zukünftige mul-tilaterale Sicherheitsarchitektur am Golf zu erarbeiten. Diese Konzepte könn-ten nach dem Ende der Präsidentschaft George Bushs mit einer kooperativerenUS-Regierung vorangetrieben werden. Auch wenn dies heute nicht viel mehrals eine Vision ist, könnte ein solches Sicherheitssystem langfristig zur Ent-schärfung der Konflikte am Golf beitragen.

4 George W. Bush: President’s Address to the Nation, www.whitehouse.gov/news/releases/2007/01/print/20070110-7.html (Zugriff: 22.3.2007).

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2.4. Kein Bürgerkrieg in Palästina: Chance zumNeueinstieg in den Friedensprozess

Margret Johannsen

Mit Schüssen in die Luft feierten Anhänger der Fatah und Hamas am8. Februar 2007 das Ende der Kämpfe zwischen den rivalisierenden Bewegun-gen. Die Auseinandersetzungen waren im März 2006 nach dem Amtsantritt dervon Hamas geführten Regierung ausgebrochen und hatten 134 Menschenlebengefordert. Als hätten die Palästinenser nicht andere Sorgen – im gleichen Zeit-raum starben bei israelischen Angriffen, unter anderem den Militäroperationen„Sommerregen“ und „Herbstwolken“, über 600 Palästinenser.1 Mit der Verein-barung von Mekka, die Macht zu teilen, haben Präsident Mahmud Abbas fürFatah und der Vorsitzende des Politbüros Khaled Mashal für Hamas vorerstverhindert, dass die palästinensischen Gebiete in einem Bürgerkrieg versin-ken. Dass für Hamas der in Damaskus residierende und als Hardliner geltendeMashal unterzeichnete, unterstreicht die Bedeutung der Vereinbarung.

Als die Einladung des saudischen Königs Abdullah an Fatah und Hamaserging, im heiligen Mekka den drohenden Bürgerkrieg in Palästina abzuwen-den, waren die bewaffneten Auseinandersetzungen bereits gefährlich eskaliert.Am 2. Februar hatte ein Stoßtrupp der Präsidentengarde die der Hamas nahe-stehende Islamische Universität in Gaza gestürmt und versucht, sie in Brandzu stecken; wenig später geriet die benachbarte, der Fatah nahestehende Al-Azhar-Universität unter Beschuss. Dieser Tag war auch der opferreichste seitBeginn der bewaffneten Auseinandersetzungen; bei den Schießereien starben14 Bewaffnete und sieben Zivilisten, darunter vier Minderjährige.

Diplomatisch isoliert und finanziell stranguliert

An Warnungen vor einem Bürgerkrieg hatte es nicht gefehlt, als sich nach demWahlsieg der Hamas im Januar 2006 ein Boykott der palästinensischen Re-gierung abzeichnete (vgl. Friedensgutachten 2006, Beitrag 3.2.). Für die Auf-nahme diplomatischer Kontakte und die Weiterleitung von Steuern und Zöl-len, die Israel für die Palästinensische Behörde (PA) – die De-facto-Regierungder Palästinenser im Gazastreifen und Westjordanland – erhebt, verlangte die

1 Vgl. die Statistik von B’Tselem, www.btselem.org/English/Statistics/Casualties.asp (Zu-griff: 1.4.2007).

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PALÄSTINA

Regierung Ehud Olmerts von Hamas dreierlei: Israel anzuerkennen, der Ge-walt abzuschwören und sich auf die Einhaltung der bisherigen israelisch-palästinensischen Abkommen zu verpflichten. Das Nahost-Quartett schlosssich diesen Forderungen an, mit denen Hamas auf den Weg gezwungen werdensollte, den 13 Jahre zuvor die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO)unter ihrem Vorsitzenden Yassir Arafat gegangen war (vgl. Friedensgutachten1994, Beitrag 4.1.).

Als Hamas den Forderungen nicht nachkam, setzte der angedrohte Fi-nanzboykott ein. Israel behielt die den Palästinensern vertraglich zustehen-den Gelder ein, Washington und Brüssel setzten ihre Hilfszahlungen aus, undaus Furcht vor US-Sanktionen leiteten die Banken Zahlungen aus der arabi-schen Welt an die palästinensische Regierung nicht weiter. Der Boykott triebdie Regierung in den Bankrott. Nach wenigen Wochen konnte sie die rund165.000 Staatsangestellten (darunter 70.000 Sicherheitskräfte) nicht mehr be-zahlen, von deren Gehältern ein Drittel der Bevölkerung lebt. Zwar wurde einehumanitäre Katastrophe abgewendet, denn die EU schleuste mit Hilfe eines so-genannten Temporary International Mechanism an der Regierung vorbei Geldin den Gazastreifen und das Westjordanland und verhinderte auf diese Wei-se, dass sozial Schwache verhungerten und das Gesundheitswesen sowie dieEnergie- und Wasserversorgung zusammenbrachen. Gleichwohl lebten Anfang2007 über 70 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze von zweiUS-Dollar am Tag.2 Finanziell stranguliert gelang es der regierenden Hamasüberdies nicht, das für einen funktionsfähigen Quasi-Staat unerlässliche Ge-waltmonopol durchzusetzen. Um der Gewalt der Milizen und rivalisierendenSicherheitsdienste Einhalt zu gebieten, vereinbarten die Führungen von Fatahund Hamas mehrfach einen Waffenstillstand. Aber in einem Klima der Ge-setzlosigkeit, in dem der Schwarzhandel mit Kleinwaffen blühte und es immerschwieriger wurde, zwischen politischer Rivalität, privaten Fehden und krimi-nellen Geschäften zu unterscheiden, hielten solche Vereinbarungen meist nurwenige Stunden. Ein Jahr nach dem Wahlsieg der Hamas standen die Palästi-nenser am Rande eines Bürgerkriegs.

Für finanzielle Sanktionen gab es kaum einen geeigneteren Kandidaten alsdie PA. Sie war, seit sie im Mai 1994 von der israelischen Besatzungsmacht dieZivilverwaltung im Gazastreifen und in Jericho (Westjordanland) übernom-men hatte, stets auf externe Zahlungen angewiesen, was die Herausbildung ei-nes autoritären Herrschaftssystems neopatrimonialen Charakters begünstigte.

2 Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in the Palestinian territo-ries occupied since 1967 (Mr. John Dugard), www.ohchr.org/english/bodies/hrcouncil/docs/4session/A.HRC.4.17.pdf (Zugriff: 1.4.2007).

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MARGRET JOHANNSEN

Diese Abhängigkeit war die Folge einer in Jahrzehnten israelischer Besatzungdeformierten Wirtschaftsstruktur. Der Export von Arbeitskraft war die haupt-sächliche Einnahmequelle in den besetzten Gebieten und diente überwiegendzur Finanzierung des Warenimports, der im Wesentlichen aus Israel stammte.Infolgedessen verfügte die PA nur sehr begrenzt über Einnahmen, die sie selbsterhob. Sie musste ihre Ausgaben größtenteils durch Transferzahlungen aus Is-rael und Unterstützungsleistungen der internationalen Gebergemeinschaft de-cken. Als sich die hochgespannten Erwartungen der Bevölkerung an den Frie-densprozess nicht erfüllten, der israelische Siedlungsbau in den besetzten Ge-bieten anhielt und sich die wirtschaftliche Lage infolge der Abriegelungspoli-tik Israels verschlechterte, bröckelte die Zustimmung der Bevölkerung zur PA.Diese kompensierte den Verlust durch Repression und Patronage.

Nutznießer der klientelistischen Strukturen war die Fatah-Bewegung, die1969 unter dem Vorsitz Arafats zur stärksten Fraktion in der PLO aufgestiegenwar. In der Selbstverwaltung des Staates in spe mutierte Fatah zur „Staats-partei“. Sie stellte die Präsidenten, dominierte das Parlament und aus ihrenReihen stammte die große Mehrzahl der Staatsangestellten. Auch nach denverlorenen Parlamentswahlen 2006 ließ die Fatah-Führung von ihrer in Jahr-zehnten gewachsenen Überzeugung nicht ab, dass Fatah gewissermaßen aufden Besitz der „Staatsgewalt“ abonniert sei. Bis Dezember 2006 zeigte sie inden Verhandlungen mit Hamas über die Bildung einer Koalition der nationalenEinheit wenig Kompromissbereitschaft, als sie sich die israelischen Bedingun-gen für eine Beendigung der Blockade zu Eigen machte – wohl wissend, dassHamas auf dieser Basis die Macht nicht teilen würde.

Hamas: Antikoloniale Tradition und national-religiöseProgrammatik

Als Bewegung des politischen Islam lässt Hamas sich einer Strömung in denmuslimisch geprägten Staaten zurechnen, deren Programmatik als Versuch zulesen ist, gegen die Hegemonie des Nordens eine eigene Identität des islami-schen Südens in politischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht zu etablieren.Klar erkennbar steht die Hamas-Charta von 1988 in der antikolonialen Traditi-on der Muslimbruderschaft. Zugleich ist sie ein Dokument der Ersten Intifada,mit dem Hamas sich acht Monate nach ihrer Gründung als palästinensischeBefreiungsbewegung islamischer Prägung präsentierte, mit dem Ziel einer Be-freiung ganz Palästinas (das heißt: Palästinas in den zwischen 1921 und 1948geltenden Grenzen des britischen Mandatsgebiets, Israel eingeschlossen) und

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PALÄSTINA

der Herrschaft des Islam auf dem befreiten Territorium. Aufgrund der Effi-zienz ihrer sozialen Dienste und ihrer ideologischen Basis in den Moscheensowie in der Islamischen Universität von Gaza war Hamas in den palästinensi-schen Gebieten bald fest verankert. Durch die Arbeit ihrer gewählten Vertreterin den Leitungsgremien von Gewerkschaften, Berufsverbänden, Handelskam-mern, Universitäten und anderen gesellschaftlichen Einrichtungen partizipier-te die Bewegung im weiteren Sinne auch an den politischen Strukturen derSelbstverwaltungsgebiete. Aber sie lehnte den Oslo-Prozess und damit die In-stitutionen der PA ab und blieb daher zunächst eine außerparlamentarische Op-position mit der Option, den Befreiungskampf gewaltsam zu führen. Mit der2004 getroffenen Entscheidung, sich an Kommunal- und Parlamentswahlen zubeteiligen, begab sie sich auf den Weg von einer Widerstandsbewegung zurpolitischen Partei.

Kompromissangebote statt Unterwerfung

Schneller als erwartet musste Hamas sich nach ihrem Wahlsieg im Januar2006 damit auseinander setzen, dass sie als Regierungspartei nunmehr Ver-antwortung für das gesamte Gemeinwesen trug. Bei den Wahlen hatte ihreListe „Wandel und Reform“ nicht mit der Zerstörung Israels geworben, son-dern mit einem Programm verantwortlicher Regierungsführung, und damit denPrioritäten der Wähler Rechnung getragen. Sie konnte ihre Wahlversprechen,offensiv gegen Korruption und Machtmissbrauch vorzugehen, die Institutio-nen der PA zu reformieren und die vom Zerfall aller Ordnung bedrohte innereSicherheit wiederherzustellen, nicht einlösen, wenn sie ihr politisches Handelnausschließlich an den Prinzipien ausrichtete, die sie während der Ersten Inti-fada formuliert hatte. In der Erwartung, dass sie international Respektabilitäterlangen werde, wenn sie sich als politikfähig präsentieren würde, signalisier-te die Hamas-Regierung Kompromissbereitschaft. Aber sie ging nicht so weit,sich von ihrem Gründungsdokument zu distanzieren oder die Passagen zu wi-derrufen, die weithin als Programm zur Zerstörung Israels gelten, weil darinfür Israel kein Platz im Nahen Osten ist. 3

Statt Israel förmlich anzuerkennen, erklärten Regierungsvertreter undFunktionäre, Hamas strebe einen palästinensischen Staat auf den seit 1967 be-setzten palästinensischen Gebieten an. Statt förmlich der Gewalt abzuschwö-ren, boten sie einen langfristigen und umfassenden Waffenstillstand an, sofern

3 Als Beleg hierfür dient vor allem Artikel 11 in Verbindung mit Artikel 6. Eine deutscheÜbersetzung der Charta findet sich in Helga Baumgarten: Hamas. Der politische Islam inPalästina, München 2006, S. 207-226.

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MARGRET JOHANNSEN

Israel die besetzten Gebiete räume und das Rückkehrrecht der Flüchtlinge an-erkenne. Statt sich förmlich auf die Einhaltung der von der PLO unterzeich-neten Abkommen zu verpflichten, wollte die Regierung sie respektieren, wenndies den Interessen des palästinensischen Volkes diene.

Diese Angebote genügten weder Israel noch den westlichen Geldgebern.Ihr Boykott ermutigte die in den Wahlen unterlegene Fatah, auf ein Scheiternder Hamas-Regierung zu setzen. Der im September 2006 begonnene, über vierMonate dauernde Streik im öffentlichen Dienst, dessen Angehörige seit Aprilauf ihre Gehälter warteten, war auch von der Erwartung getragen, die Regie-rung zu Fall zu bringen. Den USA und der EU kann der Vorwurf nicht erspartbleiben, dass sie mit ihrer Politik der diplomatischen Isolierung und finanzi-ellen Strangulierung der Regierung einen Bürgerkrieg in Kauf nahmen. Dassdiese Politik ihre früheren Bemühungen um eine Reform des palästinensischenRegierungssystems konterkarierte, hätte ihnen klar sein müssen, nicht zu redenvon der ambitionierten Demokratisierungsagenda ihrer Broader Middle Eastand North Africa Initiative.

Mit ihren Angeboten ging Hamas vermutlich an die Grenze dessen, wasdie Organisation leisten konnte, ohne eine Spaltung zu riskieren. Den Weg derPLO bis zu Ende zu gehen, verbot sich ihr aus religiösen wie aus politischenGründen, wobei der religiöse Dogmatismus davon profitierte, dass der poli-tische Pragmatismus auf taube Ohren stieß. Anstoß nahm Hamas vor alleman der Asymmetrie der Vereinbarungen, in denen die PLO wohl Israel aner-kannt, Israel aber die PLO nur als Verhandlungspartnerin, nicht aber das Rechtder Palästinenser auf einen eigenen Staat akzeptiert hatte. Diese Asymmetriespiegelte das ungleiche Kräfteverhältnis zwischen Besatzern und Besetzten wi-der, dem Hamas mit ihrer Unterschrift nicht auch noch Legitimität verleihenwollte, zumal sie in der Frage der Nicht-Anerkennung Israels vor der Eta-blierung eines palästinensischen Staates zwei Drittel der Bevölkerung hintersich wusste. 4 Da Israel weder mit der Hamas-Regierung noch mit dem Fatah-Präsidenten bzw. Vorsitzenden der PLO über ein Ende der seit 40 Jahren an-dauernden Besatzung verhandeln wollte, sahen sich die an einem territorialenKompromiss orientierten nationalistischen Pragmatiker in der Hamas-Führungaußerstande, den nach islamischer Rechtsauffassung unzulässigen Verzicht auf„heiligen islamischen Boden“ (waqf) zu erbringen.

Gleichwohl liefen die Angebote der Hamas-geführten Regierung auf ei-ne Zustimmung zu einer Zwei-Staaten-Regelung hinaus. Zu einer förmlichenAnerkennung Israels als Voraussetzung von Verhandlungen konnte Hamas sich

4 Vgl. die Umfrage des Palestinian Center for Policy and Survey Research vom 14.-16. September 2006, www.pcpsr.org/survey/polls/2006/p21e1.html (Zugriff: 1.4.2007).

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nicht durchringen. Das ist nicht nur im Lichte ihrer Charta erklärlich, die Israelkeine legitime Existenz zubilligt, sondern auch aus säkularer Sicht so langenachvollziehbar, wie Israels Grenzen nicht feststehen bzw. Israel bestrebt ist,besetzte Gebiete zu annektieren und so das bis zum Vorabend des Sechstage-kriegs 1967 kontrollierte Territorium auszudehnen. Eine förmliche Verpflich-tung auf eine Zwei-Staaten-Regelung dürfte Hamas kaum als Vorleistung er-bringen. Sie ist vielmehr erst als Ergebnis von Verhandlungen zu erwarten.

Es ist nicht weiter verwunderlich, dass Israel keine Bereitschaft zeigte,die Angebote der Hamas im Sinne einer konstruktiven Ambiguität zu inter-pretieren. Die rechtsnationale Regierung Olmerts, geschwächt durch Affärenund den militärischen Misserfolg im Libanon, wäre wohl überfordert gewesen,wenn sich auf der anderen Seite ein unbequemer Partner etabliert hätte, der inder Lage ist, im Inneren für Ordnung und nach außen für die Einhaltung vonVereinbarungen zu sorgen. Denn das hätte Israel in Zugzwang gebracht, sei-nerseits endlich die seit 2001 ruhenden Verhandlungen mit den Palästinensernüber eine endgültige Beilegung des Konflikts wieder aufzunehmen. Ihre Anne-xionspläne konnte die israelische Regierung besser ohne eine funktionsfähigeund international respektierte palästinensische Regierung verfolgen. Dass dieUSA Israels Beharren auf den drei Forderungen bedingungslos unterstützten,war auch zu erwarten, hat sich die US-Administration doch bereits vor Jahrenentschieden, Israel bei der Verfolgung seiner territorialen Ambitionen im West-jordanland nicht im Wege zu stehen.5 Der Schulterschluss der EU mit demVerbündeten ist nicht überraschend. Denn die EU führt nicht nur die Qassam-Brigaden der Hamas, sondern die Organisation als Ganzes einschließlich derpolitischen Führung auf ihrer Liste terroristischer Organisationen. Ihretwegenerneut transatlantische Irritationen wie anlässlich des Irakkriegs zu riskierendürften die Europäer als einen zu hohen Preis angesehen haben. Sie mochtenüberdies gehofft haben, dass die Sanktionen ihre Wirklung auf Hamas nichtverfehlen würden.

Fatah reagierte zwiespältig auf den Boykott der gewählten palästinensi-schen Regierung. Auf der einen Seite konnte sie ihn nicht gutheißen, weildie Zahlungsunfähigkeit der Regierung die ohnehin notleidende Bevölkerungnoch tiefer ins Elend stürzte. Auf der anderen Seite ließ sich die Aussicht aufein Scheitern der Regierung auch als Chance begreifen, die verloren gegangeneMacht zurückzuerobern.

5 Vgl. den Brief von US-Präsident George W. Bush an den israelischen Ministerpräsiden-ten Ariel Scharon vom 14. April 2004, www.mfa.gov.il/MFA/Peace+Process/Reference+Documents/Exchange+of+letters+Sharon-Bush+14-Apr-2004.htm (Zugriff: 1.4.2007).

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MARGRET JOHANNSEN

Wer kontrolliert den Sicherheitsapparat?

Dass Fatah handfeste Gründe hatte, an diese Chance zu glauben, lässt sich amStreit um die Kontrolle des Sicherheitsapparats demonstrieren. In dieser Frageist das palästinensische Grundgesetz nicht eindeutig. Es bestimmt den Präsi-denten zum obersten Befehlshaber der nationalen Sicherheitskräfte, währenddie Verantwortung für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und in-neren Sicherheit bei der Regierung liegt.6 Die Reform der palästinensischenInstitutionen, in die das Nahost-Quartett seit der Veröffentlichung seiner RoadMap im Jahre 2003 involviert ist, hat hier keine Klarheit geschaffen. Als derPräsident noch Arafat hieß, war man bestrebt, dessen Befugnisse einzuschrän-ken. Hierzu diente das neugeschaffene Amt des Ministerpräsidenten als Regie-rungschef, zu dem zunächst Abbas berufen wurde, und die Unterstellung einesGroßteils der Sicherheitskräfte unter das Innenministerium. Nach dem Regie-rungswechsel 2006 allerdings wurden diese Reformen, die laut Road Map diepalästinensischen Institutionen staatsfähig machen sollten, wieder zurückge-nommen. Die Politik des Westens zielte nun darauf, das Präsidentenamt gegen-über dem Amt des Regierungschefs zu stärken. Den demokratischen Staatsbil-dungsprozess in den palästinensischen Gebieten einschließlich der Bemühun-gen um Transparenz ihrer Institutionen kann diese von taktischen Erwägungenbestimmte Intervention des Westens nur konterkarieren.7

Der Präsident stützt sich im Wesentlichen auf die Präsidentengarde, denPräventiven Sicherheitsdienst und die Nationalen Sicherheitskräfte. Die Präsi-dentengarde ist die am besten ausgebildete Truppe des Sicherheitsapparats,während der als geheime Staatspolizei fungierende Präventive Sicherheits-dienst in dem Ruf steht, besonders gewalttätig zu sein. Die Nationalen Si-cherheitskräfte, die von allen palästinensischen Einheiten am ehesten einer Ar-mee ähneln, gelten als schlecht ausgebildet. Die Zivile Polizei ist formell derRegierung bzw. dem Innenminister unterstellt. Ihre Kommandeure sind indesmehrheitlich mit Fatah liiert, sodass ihre Loyalität zur Hamas-Regierung inFrage stand. In dieser Situation schuf sich die Regierung entgegen einem vomPräsidenten erlassenen Dekret eine eigene Truppe. Der Operationsraum diesersogenannten Vollzugskräfte beschränkte sich weitgehend auf den Gazastrei-fen. Noch im Januar 2007 plante die Regierung, sie auch im Westjordanlandzu stationieren.

6 Vgl. Art. 39 und Art. 69 des Grundgesetzes der PA, www.usaid.gov/wbg/misc/Amended_Basic_Law.pdf (Zugriff: 1.4.2007).

7 Vgl. Muriel Asseburg: Palestine: EU Policies Frustrate Policy Aims, in: Arab Reform Bulle-tin 5 (2007): 1, www.carnegieendowment.org/files/asseburg_feb071.pdf (Zugriff: 1.4.2007).

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Während in den arabischen Staaten die Warnungen vor einem Bürger-krieg immer lauter wurden, wobei die iranischen Finanzhilfen für die Hamas-Regierung vor allem Saudi-Arabien ein Dorn im Auge waren (vgl. Beitrag2.3.), griffen die USA in die Auseinandersetzungen ein, indem sie mit Zustim-mung der israelischen Regierung ein 86 Millionen US-Dollar schweres Pro-gramm zur Verstärkung und Aufrüstung der Präsidentengarde auflegten. Indesverhinderte die Vereinbarung von Mekka fürs Erste, dass die Gelder flossen.Denn seit sich die Rivalen auf eine Teilung der Macht geeinigt haben, gehtim amerikanischen Kongress die Sorge um, dass das Geld in „falsche Hän-de“ geraten könnte. Es scheint, als sinke in Washington der Stern von Abbas.Sein Bemühen um die Abwendung eines palästinensischen Bürgerkriegs zähltaugenscheinlich weniger als die Aufwertung der Hamas, die man in der Bestä-tigung ihrer Koalitionsfähigkeit durch den Erzrivalen Fatah erblicken kann.

Die Plattform der palästinensischen Einheitsregierung

Die in Mekka vereinbarte Regierung der nationalen Einheit wurde am 17. März2007 vereidigt. Sie stützt sich auf alle relevanten politischen Kräfte – mit Aus-nahme des Dschihad Islami, der aber vorweg erklärt hatte, der Regierungsbil-dung nicht im Wege stehen zu wollen. An Hamas gingen das Amt des Mi-nisterpräsidenten, das erneut mit Ismail Haniyeh besetzt wurde, sowie weitereelf Ministerien. Fatah erhielt den Posten des Stellvertretenden Ministerprä-sidenten und fünf weitere Ressorts. Die bisher allein regierende Hamas, dieim Parlament mit 74 von 132 Sitzen eine absolute Mehrheit besitzt, ist im25-köpfigen Kabinett also nur noch mit zwölf Amtsinhabern vertreten. Diestrategischen Ressorts für Finanzen, Äußeres und Inneres werden von Unab-hängigen geleitet.

Das Regierungsprogramm8 böte durchaus die Handhabe für eine Wieder-aufnahme der israelisch-palästinensischen Verhandlungen. Denn als Referenz-rahmen für die Einheitsregierung nennt es ausdrücklich die Resolutionen desPalästinensischen Nationalrats (PNC), die von der PLO unterzeichneten Ab-kommen und die Resolutionen der Arabischen Liga. Mit anderen Worten: DieRegierung wird auf die Beschlüsse des PNC in Algier vom 15. November 1988verpflichtet, die er in Gaza am 24. April 1996 bestätigte. Auf beiden Sitzungenhatte sich das höchste palästinensische Beschlussorgan ausdrücklich zur Zwei-Staaten-Regelung bekannt, 1996 überdies zur Konfliktbeilegung mit friedli-

8 The Program of the National Unity Government, March 2007, www.jmcc.org/politics/pna/nationalgovprog.htm (Zugriff: 1.4.2007).

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chen Mitteln und Anerkennung des Existenzrechts Israels in sicheren Gren-zen, die der PLO-Vorsitzende Arafat drei Jahre zuvor geleistet hatte. Unterden Resolutionen der Arabischen Liga ist insbesondere deren Beschluss vom29. März 2002 in Beirut zu nennen, der Israel volle diplomatische Anerken-nung und Sicherheitsgarantien unter der Voraussetzung anbietet, dass es sichvollständig aus allen 1967 besetzten Gebieten zurückzieht, der Gründung einespalästinensischen Staates mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt zustimmt und einegerechte und vereinbarte Lösung des palästinensischen Flüchtlingsproblemsgefunden wird (vgl. Friedensgutachten 2002, Beitrag 4.1.). Fünf Jahre späterhat die Arabische Liga dieses Angebot auf ihrem Gipfeltreffen in Riad bekräf-tigt. Darüber hinaus bietet das Regierungsprogramm Israel eine umfassendeWaffenruhe auf der Grundlage von Gegenseitigkeit an.

Die De-facto-Zustimmung der Hamas zu einer Konfliktlösung auf der Ba-sis einer Zwei-Staaten-Regelung war bereits im „Nationalen Versöhnungsdo-kument“ enthalten, in dem sich Fatah und Hamas am 28. Juni 2006 zum Zieleines unabhängigen Staates in den 1967 besetzten palästinensischen Gebie-ten mit Jerusalem als dessen Hauptstadt bekannten.9 Die Gefangennahme ei-nes israelischen Soldaten durch militante Palästinenser am selben Tag unddie dadurch ausgelöste israelische Militäroperation „Sommerregen“ gegen denGazastreifen hatten das Papier und die darin dokumentierte Kompromissbe-reitschaft der Hamas zwar nicht in der palästinensischen Öffentlichkeit, wohlaber aus den westlichen Medien mehr oder minder verdrängt.

Eine deklaratorische Anerkennung Israels ist von Hamas vorerst nicht zuerwarten, insbesondere nicht ohne israelische Gegenleistung. Eine förmlicheAnerkennung vollziehen souveräne Staaten, wenn sie diplomatische Beziehun-gen aufnehmen. Die Voraussetzungen hierfür liegen bisher nicht vor. Verhand-lungen mit Israel wird Hamas so lange fernbleiben, wie die Bewegung nichtüber den Schatten ihrer in der Charta niedergelegten Identität zu springen ver-mag. Dem trägt das Regierungsprogramm Rechnung, indem es die Zuständig-keit für Verhandlungen an die PLO und den Präsidenten der PA delegiert. Sowird von palästinensischer Seite die Aufnahme von Verhandlungen mit Israelermöglicht, ohne damit den größeren Koalitionspartner und die Einheitsregie-rung als Ganzes von Anfang an zu belasten. Als Teil der Koalition aber wirdHamas die Resultate der Verhandlungen respektieren müssen, wenn der Pa-lästinensische Nationalrat sie billigt oder das palästinensische Volk in einemReferendum zustimmt. Dieses Verfahren ermöglicht es Hamas, ihren national-religiösen Doppelcharakter zu bewahren und zugleich der säkularen Logik ei-

9 The full text of the National Conciliation Document of the Prisoners June 28, 2006, www.jmcc.org/documents/prisoners2.htm (Zugriff: 1.4.2007).

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ner Bewegung des politischen Islam, die im Rahmen des Nationalstaats agiert,zu folgen.10

Fatah und Hamas haben ein Jahr gebraucht um einzusehen, dass keine dieandere besiegen kann. Ist nach der Regierungsbildung die Gefahr eines Bürger-kriegs gebannt? Ob allein der Wille auf Seiten der Führungen genügt, die Kon-kurrenz um Entscheidungsmacht und Ressourcen in ausschließlich gewaltfreieAustragungsformen zu lenken, ist fraglich. Die deklaratorischen Kompromis-se müssen sich nun im Gazastreifen und Westjordanland bewähren. Dort aberwird die Realität nicht allein von den Palästinensern bestimmt, sondern auchvon der israelischen Besatzungsmacht. Israelische Siedlungen fressen sich im-mer weiter in das Land, das die Palästinenser zu ihrem Staat machen wollen, sojüngst bei der Erweiterung der Siedlung Modi’in, deren auch nach israelischemRecht illegale „Außenposten“ die Planungsbehörden nachträglich „legalisiert“haben. Israels Militär macht weiterhin Jagd auf palästinensische Aktivistenund nach wie vor sterben dabei nicht nur per Fahndungsliste Gesuchte, son-dern auch Unbeteiligte. All dies erleichtert es der palästinensischen Regierungnicht, militante Kräfte zur Einhaltung eines Waffenstillstands anzuhalten bzw.gegen Splittergruppen wie den Dschihad Islami vorzugehen, der dem kondi-tionierten Waffenstillstand von 2005 nicht zugestimmt hatte.

Auch in der Regierung der nationalen Einheit werden Fatah und Hamasweiterhin um den richtigen Weg zur nationalen Selbstbestimmung streiten.Aber sie bietet die Chance, dass die Kontroversen darüber, wie der Befrei-ungskampf zu führen sei, nicht länger wie in der Zweiten Intifada als Vehikeleiner gnadenlosen Konkurrenz um den „Beifall der Straße“ dienen. Wenn derStreit künftig unter Ausschluss von Waffengewalt ausgetragen werden soll, isteine Reform des Sicherheitsapparats dringend geboten. Er darf weder, wie un-ter Arafat, als Instrument der Patronage und Repression dienen, noch darf erden Parteien gehören. Ein unparteiischer Sicherheitsapparat wird zudem ge-braucht, um der Banden in Gaza Herr zu werden, die das Sicherheitsvakuumnutzten, um kriminellen Geschäften nachzugehen. Wenn die Polizei nicht er-kennbar dem Sicherheitsinteresse aller Bürger dient, werden auch die Clansund Familien, die sich zu ihrem eigenen Schutz bewaffnet haben, ihre Waffennicht abgeben. Wenn diese Aufgabe gelöst ist, bleiben noch genügend Rei-bungsflächen. Neben der Umverteilung von Posten in der Administration, diegegenwärtig noch überwiegend durch Kader der Fatah besetzt sind, ist vor al-lem ein Neuaufbau von Institutionen und deren Funktionieren gemäß den Kri-terien von Transparenz, Rechtsstaatlichkeit und Effizienz vonnöten. Als kon-

10 Vgl. Asia Afaneh: The Secular Logic of Islamic Movements: The Case of Islam, MA dis-sertation, London 2006, S. 39.

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MARGRET JOHANNSEN

fliktträchtig könnte sich auch die Zusammenarbeit in einer Regierung erwei-sen, in der es Minister erster und zweiter Klasse gibt – die einen, mit denenIsrael, die USA und die EU sprechen, und die anderen, die darauf angewiesensind, dass ihre privilegierten Kollegen ihnen keine Informationen vorenthalten.Hindernisreich dürfte sich schließlich auch die in Mekka vereinbarte Integra-tion der Hamas in die PLO und ihre angemessene Repräsentation in derenGremien gestalten.

Handlungsbedarf für Europa

Werden Israel, die USA und die EU der Regierung Raum geben, sich diesenAufgaben zu stellen sowie ihre gebündelten Energien wieder auf eine Been-digung der Besatzung zu richten? Israel macht dazu keine Anstalten, sondernbesteht auf Erfüllung seiner drei Forderungen, bevor an die Wiederaufnah-me von Verhandlungen zur Konfliktlösung zu denken sei. Auf den von US-Außenministerin Condoleezza Rice erwirkten Treffen besprachen Olmert undAbbas bisher keine der politischen Streitfragen, sondern ausschließlich techni-sche und humanitäre Probleme. Die USA haben bisher nicht zu erkennen gege-ben, dass sie die israelische Regierung dazu energisch drängen wollen. Sie sindallerdings an einer Beruhigung der Lage interessiert, um sich voll und ganz ih-ren Problemen im Irak und mit Iran widmen zu können. Sie werden darumdie Tür zum palästinensischen Präsidenten nicht zuschlagen. Vielmehr werdensie, um ihre arabischen Verbündeten nicht zu verprellen, auch weiterhin diplo-matische Geschäftigkeit demonstrieren. Es hat indes nicht den Anschein, alssei bis zum Ende der Bush-Ära von den USA eine konstruktive Initiative zurWiederbelebung des Friedensprozesses zu erwarten. Ob die Demokraten nacheinem Machtwechsel in Washington einen neuen Anlauf nehmen werden, istvöllig offen.

Was ist in dieser Lage den Europäern zu raten? Wie soll die EU oder man-gels Einigkeit eine Koalition europäischer Staaten, die sich der VerantwortungEuropas für Frieden im Nahen Osten nicht entziehen wollen, die Chance nut-zen, die sich mit der Bildung einer handlungsfähigen und kompromissbereitenpalästinensischen Einheitsregierung und deren Unterstützung durch die Arabi-sche Liga bietet?

Europa sollte jeden Versuch unterlassen, die Regierung der nationalen Ein-heit mit dem Ziel unter Druck zu setzen, Hamas aus der Koalition zu entfernen.Stattdessen sollten die Europäer den abgerissenen Dialog mit der palästinensi-schen Regierung und deren finanzielle Unterstützung unter der Voraussetzungwieder aufnehmen, dass sich die erklärte Kompromissbereitschaft in Taten nie-

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PALÄSTINA

derschlägt. An oberster Stelle sollten dabei glaubwürdige Bemühungen um denAbschluss und die Durchsetzung eines umfassenden Waffenstillstands mit Is-rael stehen. Das kann allerdings nur gelingen, wenn sich auch Israel an einenvereinbarten Waffenstillstand hält. Eine Garantie dafür, dass sich bei den Pa-lästinensern die an Gewaltfreiheit und Verhandlungen orientierten politischenKräfte durchsetzen – und dass diese Erfolg haben, gibt es nicht, gab es aller-dings auch nicht unter Fatah-Herrschaft. Doch es wäre unverzeihlich, wennEuropa die Gunst der Stunde nicht nutzte.

Den Weg zu einem zukunftsweisenden Pragmatismus hat die VermittlungSaudi-Arabiens gewiesen, unterfüttert mit einer Finanzspritze für die Palästi-nenser von einer Milliarde US-Dollar. Die Bush-Regierung braucht in der Re-gion Partner dieses Kalibers. Sie wird sich allerdings damit abfinden müssen,dass Regime wie die Saudi-Arabiens oder Ägyptens das Modernisierungstem-po ihres politischen Systems selbst bestimmen, anstatt es sich von neokonser-vativem Missionsdrang diktieren zu lassen. In einem solchen Szenario könntendie USA, statt den Impuls von Mekka und Riad verpuffen zu lassen, den Eu-ropäern die Initiative zum Neueinstieg in den Friedensprozess überlassen undvielleicht sogar ihre Rolle als engster Verbündeter Israels nutzen, um es da-von zu überzeugen, dass Verhandlungen mit dem Ziel einer abschließendenKonfliktregelung alternativlos sind, wenn die Region zu Frieden und Stabilitätfinden will. Die Prinzipien und Elemente eines Vertrags, der eine friedlicheKoexistenz Israels und Palästinas ermöglichen kann, sind allen bekannt: Nichtnur dem Nahost-Quartett und den arabischen Staaten, sondern auch den Kon-fliktparteien.

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2.5. Eine Wende in der US-Irakpolitik?Die „neue Strategie“ der Bush-Administration

Jochen Hippler

Die Situation im Irak

Der Krieg sollte aus dem Irak ein „Schaufenster“ der Demokratie, des Wohl-stands und der Stabilität machen, um so die Umgestaltung der gesamten Regi-on einzuleiten. Nach seinem Ende herrschte in Washington aufgrund des mili-tärischen Erfolgs große Euphorie, die der US-Präsident an Bord eines Kriegs-schiffs beispielhaft ausdrückte: „Mission accomplished“. Diese optimistischeSicht hielt sich in Washington erstaunlich lange, obwohl die Sicherheits- undpolitische Lage im Irak ab Herbst 2003 zusehends schwieriger wurde und dieLebensbedingungen der irakischen Bevölkerung sich kaum besserten. Selbstvier Jahre nach Kriegsende verfügt die Mehrheit der irakischen Bevölkerungüber kein sauberes Trinkwasser und keine angemessene medizinische Versor-gung. Schätzungen der Arbeitslosigkeit liegen zwischen 13,4 und 60 Prozent.Im Januar 2007 erklärten nach Angaben des US-Verteidigungsministeriumsnur 16 Prozent der befragten Einwohner Bagdads, dass ihr Einkommen zurBefriedigung der Grundbedürfnisse ausreichte. In der Hauptstadt gibt es wei-terhin nur sechs bis sieben Stunden Elektrizität pro Tag, was die wirtschaftlicheEntwicklung und das Leben der Menschen stark belastet.

Als die überparteiliche Irakkommission unter James Baker und Lee Ha-milton im Dezember 2006 ihren Bericht (Iraq Study Group Report) vorlegte,zeichnete sie vor dem Hintergrund dieser Situation ein ausgesprochen düsteresBild der Zukunft: „Ein Abgleiten ins Chaos könnte den Zusammenbruch derirakischen Regierung und eine humanitäre Katastrophe auslösen. Nachbarlän-der könnten intervenieren, Zusammenstöße zwischen Sunniten und Schiitensich ausbreiten. Al-Qaida könnte einen Propagandaerfolg erzielen und seineOperationsbasis ausbauen. Das globale Ansehen der USA könnte beschädigtund die Amerikaner könnten politisch polarisiert werden.“1

1 Iraq Study Group (James A. Baker, III, and Lee H. Hamilton et al.): The Iraq StudyGroup Report, Washington 2006, S. 6, www.usip.org/isg/iraq_study_group_report/report/1206/iraq_study_group_report.pdf (Zugriff: 2.4.2007; eigene Übersetzung, auch im Folgen-den).

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IRAK

Solche Warnungen sind begründet. Die aktuelle Situation im Irak und ihreVorgeschichte können hier nicht ausführlich dargestellt werden, zusammenfas-send sollten aber zumindest drei Punkte festgehalten werden:

Der Krieg und die Besatzungspolitik machten aus einer stabilen Diktatureinen failing state. Das Kernproblem des gegenwärtigen Konfliktbündelsbesteht nicht primär in der Sicherheitslage, die Symptom tiefer liegenderProbleme ist, sondern in der Fragmentierung von Staatlichkeit und darin,dass die Grenzen staatlicher Instanzen zu privaten Akteuren (Parteien, Mi-lizen, etc.) zunehmend erodieren. Einzelne Ministerien, Behörden oder Si-cherheitsdienste sind von konkurrierenden oder verfeindeten Akteuren un-terwandert oder übernommen worden und werden zu eigenen Zwecken in-strumentalisiert; private Milizen und staatliche Sicherheitsorgane sind invielen Bereichen kaum mehr unterscheidbar, zum Teil sind die gefährlich-sten und gewalttätigsten Milizen selbst zu Teilen des Staatsapparates ge-worden. Bei bewaffneten Gruppen und Milizen ist selbst ein Fragmentie-rungsprozess zu beobachten, der ihre zentrale Kontrolle zunehmend unter-gräbt oder schon aufgehoben hat. Anders ausgedrückt: In den beiden letztenJahren haben sich Warlord-Strukturen gebildet, die mit staatlichen Stellenverwoben sind. Erst dadurch werden die Sicherheitsprobleme zunehmendunlösbar.

Im Irak sind heute zumindest vier gleichzeitig stattfindende Gewaltkonflik-te miteinander verknüpft, die hohe Opferzahlen fordern: (a) ein gewaltsa-mer Aufstand gegen fremde Besatzungstruppen und ihre irakischen Partner,(b) ein Bürgerkrieg mit ethnischen Säuberungen zwischen Gruppen sunniti-scher und schiitischer Araber sowie zwischen Arabern und Kurden, (c) eingewaltsamer Machtkampf zwischen verschiedenen schiitischen Parteien undMilizen, und (d) die Gewaltkampagne einer relativ kleinen Gruppe von ein-gesickerten arabischen Jihadisten, die fremde Truppen angreifen und Terrorgegen Schiiten und nicht kooperierende Sunniten ausüben.

Die wirtschaftliche und soziale Lage sowie die Sicherheitssituation bleibenangesichts der hohen Gewaltkriminalität für die Bevölkerung katastrophalschlecht, was die Chancen politischer Stabilisierung untergräbt.

Wachsende Skepsis in Washington

Trotz der dramatischen Entwicklung bemühte sich die US-Regierung lange,demonstrativen Optimismus auszustrahlen. Erst angesichts der im November

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JOCHEN HIPPLER

bevorstehenden Kongresswahlen begann die Bush-Administration im Sommer2006 aufgrund ungünstiger Umfragewerte, die wachsende Besorgnis in Mili-tär, Politik und US-Öffentlichkeit teilweise aufzunehmen. So erklärte der US-Präsident in einer Pressekonferenz im August 2006 nicht länger, dass sich dieLage im Irak stetig verbessere, sondern warnte vor einem Scheitern: „Ein ge-scheiterter Irak würde Amerika weniger sicher machen. Ein gescheiterter Irakim Herzen des Mittleren Ostens wird Terroristen und Extremisten einen siche-ren Zufluchtsort bieten. [. . . ] Wenn Sie denken, die Probleme seien jetzt schonernst, dann stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn die USA das Land verlas-sen, bevor dessen Regierung eine Chance hat, sich selbst zu verteidigen, selbstzu regieren und auf den Willen des Volkes zu antworten.“2

Seitdem hat sich die Situation im Irak weiter verschärft und der Präsidentgeriet innenpolitisch in die Defensive. Die Kongresswahlen ergaben im No-vember 2006 – auch wegen der Krise im Irak – Mehrheiten für die Demo-kratische Partei im Repräsentantenhaus wie im Senat. Und die neue Mehrheitmachte sofort deutlich, dass sie mit der Irakpolitik nicht einverstanden war.Selbst Republikanische Abgeordnete und Senatoren gingen zunehmend aufDistanz zum Präsidenten. Dies bedeutet nicht, dass der Kongress in absehba-rer Zeit die Regierung zum Abzug der Truppen aus dem Irak zwingen wird –dazu fehlt es an Konsequenz und Einigkeit auch in der Demokratischen Par-tei. Trotzdem ist der politische Spielraum des Präsidenten geschrumpft undseine Glaubwürdigkeit in der Irakpolitik stark angeschlagen. Als Ergebnis derKongresswahlen trat Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, einer der Fal-ken der Irakpolitik, im Dezember 2006 zurück, nachdem der Präsident diesbereits Wochen zuvor angekündigt hatte. Als dann fast gleichzeitig die bereitserwähnte überparteiliche und mit politischen Schwergewichten besetzte IraqStudy Group ihren Bericht mit Empfehlungen zu einer Wende der Irakpolitikvorlegte, wurde die Lage für Präsident Bush noch schwieriger.

Dieser Bericht enthält eine ernsthafte und weitgehend realistische Analyseder Situation im Irak und ihrer Ursachen. Dabei werden eine Reihe von Indi-zien angesprochen, die den Irak als failing state erscheinen lassen, ohne dassdieser Begriff allerdings benutzt wird. So wird beispielsweise in Bezug auf dieirakische Polizei formuliert: „Die irakische Polizei kann die Kriminalität nichtunter Kontrolle bringen und ist routinemäßig an konfessioneller Gewalt, ein-schließlich nicht erforderlicher Verhaftungen, Folter und gezielten Exekutio-nen arabisch-sunnitischer Zivilisten beteiligt. Die Polizei ist im Rahmen des

2 The White House, Office of the Press Secretary, Press Conference by the President, Au-gust 21, 2006, www.whitehouse.gov/news/releases/2006/08/print/20060821.html (Zugriff:2.4.2007).

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Innenministeriums organisiert, das mit Korruption und der Infiltration durchMilizen konfrontiert ist und die Polizei in den Provinzen nicht kontrolliert.“3

Weniger eindeutig als die Analyse sind die insgesamt 79 Vorschläge derKommission. Viele von ihnen sind durchaus angebracht. Dies gilt besondersfür die Notwendigkeit, mit Syrien und Iran zu kooperieren, und für die Dring-lichkeit, den Israel-Palästina-Konflikt auf der Grundlage der Formel „Land ge-gen Frieden“ zu lösen. Beides könnte die regionalen Bedingungen für eineStabilisierung des Irak verbessern.

Allerdings werfen manche Vorschläge des Kommissionsberichts auch Fra-gen auf: So fokussieren sie häufig auf die irakische Zentralregierung, derenFunktionsfähigkeit aber selbst bezweifelt wird. Beispielsweise verlangt derBericht eine Stärkung der irakischen Regierung, was prinzipiell sicher wün-schenswert wäre – aber was das angesichts ihrer Fragmentierung und Unter-wanderung durch private Gewaltakteure bedeuten soll, bleibt unklar. Schließ-lich könnte dies gerade zu einer Verschärfung ihrer inneren Widersprüche füh-ren und den Milizen nützen. Auch der Vorschlag, der irakischen Regierungmit einer Verminderung der US-Unterstützung zu drohen, falls sie bestimmtebenchmarks, etwa bezüglich der Sicherheit, nicht erreichen sollte, wirkt frag-würdig und hilflos. Von einer kaum funktionsfähigen Regierung in Bagdad zuverlangen, was die US-Besatzungstruppen selbst nicht zustande brachten, istwenig überzeugend – und darüber hinaus ist für Washington keine Alternativezu einer Unterstützung der Regierung erkennbar. Manche Passagen des Be-richts lesen sich, als sollte präventiv die Verantwortung für das Chaos im Irakvon der US- auf die irakische Regierung verschoben werden – was politischverständlich ist, aber friedenspolitisch nicht hilft.

Eine neue Irakstrategie?

Präsident Bush hatte bereits vor der Veröffentlichung des Berichts eine „neueIrakstrategie“ angekündigt, was zumindest implizierte, dass die alte erfolg-los geblieben war. Im Zuge der Vorbereitungen kam es zu einer Reihe vonpersonellen Umbesetzungen, zu denen neben dem erwähnten Rücktritt Rums-felds auch der des UN-Botschafters Bolton gehörte. Auch wichtige Positionenan der Spitze des US-Militärs wurden neu besetzt, General David Petraeusein Counterinsurgency-Experte, wurde zum neuen Oberkommandierenden derUS-Truppen im Irak.

3 Iraq Study Group, a.a.O., S. 12.

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Am 10. Januar 2007 verkündete George W. Bush schließlich seine neueStrategie. Dabei folgte er nicht den Empfehlungen der Iraq Study Group, son-dern lehnte sich an Vorschläge von Frederick W. Kagan an, die dieser für denrechten Think Tank American Enterprise Institute (AEI) unter dem vielsagen-den Titel Choosing Victory – A Plan for Success in Iraq4 geschrieben hatte.Bush konzedierte in seiner Rede, dass „die Situation im Irak inakzeptabel“ seiund dass möglicherweise Fehler gemacht wurden. Dies war eine ungewohnteVeränderung der Tonlage. Der Präsident erklärte: „Es ist klar, dass wir unse-re Strategie im Irak ändern müssen“, denn „ein Scheitern im Irak wäre eineKatastrophe für die USA“,5 was die so lange immer wieder vorgetragenen Er-folgsmeldungen erkennbar relativierte.

Dann erklärte der Präsident in Übereinstimmung mit dem AEI-Bericht dieSicherheitslage in Bagdad zum Schlüssel der Entwicklung im Irak und erläu-terte, warum es bisher nicht gelungen sei, die Stadt zu stabilisieren: „Unserefrüheren Anstrengungen zur Sicherung Bagdads scheiterten aus zwei Haupt-gründen: Es gab nicht genug irakische und amerikanische Truppen, um Stadt-viertel zu sichern, die von Terroristen und Aufständischen gereinigt wordenwaren. Und es gab zu viele Restriktionen für die Truppen, die wir dort hat-ten.“6

Aus dieser Analyse zog er den Schluss, die Zahl der US-Soldaten im Irakum 21.500 zu erhöhen, die die Sicherheitslage gemeinsam mit irakischen Ein-heiten verbessern sollten. Die offensichtliche Frage, was denn das Neue dieserEntscheidung ausmache und warum sie eine Wende zu mehr Stabilität brin-gen solle, beantwortete er so: „Nun, hier sind die Unterschiede: Bei früherenOperationen säuberten die irakischen und amerikanischen Streitkräfte vieleStadtviertel von Terroristen und Aufständischen, aber wenn unsere Soldatenabzogen, um andere Ziele zu verfolgen, kamen die Mörder zurück. Diesmalwerden wir die Truppenstärke haben, um die Gebiete zu halten, die wir ge-säubert haben. Bei früheren Operationen hielten politische und konfessionelleEinmischungen die irakischen und amerikanischen Truppen davon ab, in Vier-tel vorzurücken, aus denen die konfessionelle Gewalt angeheizt wird. Jetzt ha-ben die irakischen und amerikanischen Truppen grünes Licht, diese Viertel zu

4 Choosing Victory – A Plan for Success in Iraq, Phase I Report, Frederick W. Kagan, AReport of the Iraq Planning Group at the American Enterprise Institute, Washington, January2007.

5 George W. Bush, President’s Address to the Nation, Office of the Press Secretary, Washing-ton, January 10, 2007, www.whitehouse.gov/news/releases/2007/01/print/20070110-7.html(Zugriff: 2.4.2007).

6 Ebd.

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betreten – und Ministerpräsident Maliki hat versprochen, dass keine politischeoder konfessionelle Einmischung toleriert wird.“7

Die Truppenverstärkung wurde durch weitere Elemente ergänzt, etwa all-gemeine Verweise auf politische Reformnotwendigkeiten und den Hinweis,dass die irakische Regierung mehr Geld für die Verbesserung der wirtschaft-lichen Situation ausgeben wolle. Darüber hinaus kündigte Präsident Bush an,dem syrischen und iranischen Einfluss im Irak und in der Region massiver ent-gegenzutreten. Deshalb würde ein zusätzlicher Flugzeugträger in den Persi-schen Golf entsandt. Zusammengenommen war deutlich, dass die „neue Stra-tegie“ vor allem darin bestehen sollte, die Truppen im Irak zu erhöhen undinsbesondere in Bagdad zu verstärken. Dies war offensichtlich kein Wandelder Strategie, sondern nur eine begrenzte Veränderung der Taktik. Aber auchdiese war eigentlich nicht neu. Schließlich hatte der Präsident bereits im Som-mer 2006 auf einer Pressekonferenz erklärt, seinen militärischen Kommandeu-ren „jede Flexibilität“ gegeben zu haben, „die sie brauchen“ um einen „sehrrobusten Sicherheitsplan für Bagdad“ zu implementieren. Zu diesem Zweckwar auch schon eine Kampfbrigade von Mosul nach Bagdad verlegt worden.8

Letztlich bestand so die angeblich neue Strategie nur aus der Erhöhung derZahl der US-Kampftruppen von knapp 140.000 auf 160.000 Soldaten. DerAnsatz war damit fast vollständig sicherheitspolitisch fokussiert, brachte in-haltlich nichts Neues und blieb von eher bescheidenem Umfang. Die Erfolgs-aussichten waren daher gering.

Bereits im Januar 2007 trafen die ersten zusätzlichen Truppen im Irak ein.Sie wurden gemeinsam mit irakischen Einheiten in Bagdad eingesetzt. Nachunterschiedlichen Berichten führte dies allerdings vor allem dazu, dass höher-rangige Führer schiitischer Milizen – vor allem der Mahdi-Armee Muqtada al-Sadrs – die fraglichen Gegenden rechtzeitig verließen und manche sich zu Ge-sprächen nach Iran begaben. Bereits nach kurzer Zeit unterstrichen bewaffneteGruppen durch neue Bombenanschläge in Bagdad, dass die modifizierte US-Taktik selbst sicherheitspolitisch keine Wende bringen würde. Wenn in einigenStadtteilen Bagdads das Gewaltniveau teilweise reduziert werden konnte – dieDauerhaftigkeit dieses Effekts bleibt abzuwarten – so stieg es in Nachbarpro-vinzen an. Wegen des offenbar begrenzten Erfolgs der Operationen wurde biszum März 2007 die Entsendung von zusätzlichen 7.200 Soldaten – über dieAnkündigungen von Januar hinaus – beschlossen.

7 Ebd.8 The White House, Office of the Press Secretary, Press Conference by the President, Au-

gust 21, 2006, www.whitehouse.gov/news/releases/2006/08/print/20060821.html (Zugriff:2.4.2007).

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Politische Optionen

In der politischen Diskussion werden jenseits der aktuellen US-Politik unter-schiedliche Optionen zur Lösung der Irakkrise und für ein Ende des Bürger-kriegs diskutiert:

Die weitere Verstärkung oder ein schrittweiser Abzug der US-Truppen: Bei-de Optionen sind nicht geeignet, die Gewalt im Irak zu beenden. Eine Aus-weitung der Truppenpräsenz kann keinen militärischen „Sieg“ erreichen,weil es keinen identifizierbaren Gegner gibt, den man militärisch schlagenkönnte: Die Gewaltakteure sind sunnitisch und schiitisch, sie sind Feindeder Regierung und Teil der Regierung, sie sind oft von der Zivilbevölkerungoder von den Sicherheitskräften nicht mehr zu unterscheiden. Das Problemist im Kern politisch, nicht militärisch, und durch Gewalt nicht mehr lösbar.Zugleich würde eine weitere Verstärkung der US-Truppen den Aufständi-schen nur zusätzliche Angriffsziele bieten und den Widerstand gegen sieverstärken. Umgekehrt könnte ein Abzug der US-Truppen die Gewalt imIrak nicht beenden, sondern sie nur vom Kampf gegen die USA auf deninnerirakischen Bürgerkrieg verlagern – was die US-Opfer reduzieren, dieGewalt insgesamt aber nicht vermindern würde.

Eine regionale Lösung: Regionale Initiativen sind sinnvoll und überfällig,um zumindest die Nachbarländer aus dem irakischen Bürgerkrieg herauszu-halten, deren Destabilisierung zu vermeiden und um ein weiteres Anheizender Gewalt aus dem Ausland zu verhindern. In diesem Zusammenhang wä-re entscheidend, alle Nachbarn – auch Syrien und Iran – einzubinden. Diesist unter bestimmten Bedingungen möglich: Beide Länder haben zwar dasInteresse, die USA im Irak in Schwierigkeiten zu halten, um sie an einembefürchteten militärischen Vorgehen gegen sich selbst zu hindern. Aber zu-gleich müssen sie sich von einer Eskalation der Gewalt im Irak bedroht füh-len, weil diese sie destabilisieren könnte. Eine ernsthafte Kooperation mitSyrien und Iran wird deshalb nur dann zustande kommen, wenn die USAbereit sind, beide Länder nicht weiter zu bedrohen und ihre Sicherheit zugarantieren (vgl. Beitrag 2.2.). Allerdings würde selbst eine breite regiona-le Kooperation die Gewalt im Irak nicht beseitigen, da diese überwiegendinnenpolitische Ursachen hat. Die regionale Kooperation ist also nötig, umden Druck zu vermindern, stellt aber keine Konfliktlösung dar.

Die Aufteilung des Irak in drei Kleinstaaten: Es zirkuliert gelegentlichdie Vorstellung, die konfessionellen und ethnischen Auseinandersetzungendurch eine Teilung des Irak und die Schaffung sunnitischer, schiitischer und

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kurdischer Kleinstaaten zu überwinden. Dies ist aus mehreren Gründen un-realistisch. Ein Drittel des irakischen Öls liegt im kurdischen Norden, zweiDrittel im schiitischen Süden. Ein sunnitischer Staat wäre wirtschaftlichkaum lebensfähig. Er würde entweder zum Ghetto oder aber er müsste umeinen Anteil am Öl kämpfen. Zudem sind die Siedlungsgebiete in konfessio-neller und ethnischer Hinsicht nirgends so getrennt, wie die Urheber solcherKonzepte es sich vorstellen. Ohne Zwangsumsiedlungen wären deshalb kei-ne geschlossenen Siedlungsräume zu erreichen. Vollends unvorstellbar isteine Teilung mit Blick auf Bagdad. Denn dort leben mehrere Millionen Sun-niten und Schiiten sowie zwischen einer halben und einer Millionen meistschiitischer Kurden. Ethnische Säuberung als Konfliktlösung? Angesichtsdessen, dass solche Umsiedlungen und Deportationen nach aller Erfahrunghöchst konfliktträchtig und opferreich sind, muten derartige Vorschläge ge-radezu obszön an.

Da aussichtsreiche Lösungen erkennbar fehlen, bleibt Washington tatsächlichnur eine Politik des „Durchwurstelns“, die nichts löst, aber das Gesicht halb-wegs wahrt. Die vier ineinander verschachtelten irakischen Gewaltkonfliktehaben eine Eigendynamik entwickelt, die von außen kaum noch wirksam zubeeinflussen ist. Sie kann von außen nur noch angeheizt, aber kaum mehr zu-rückgeschraubt werden. Die Lösung dieses Konfliktbündels kann nur noch ausdem Irak selbst kommen. Dort allerdings sind gegenwärtig keine ernsthaftenLösungsansätze erkennbar. Die Verschränkung der machtpolitischen Konfron-tationen innerhalb und zwischen den konfessionellen Gruppen und Organisa-tionen mit ihrer Infiltration staatlicher Organe, die dadurch ihren staatlichenCharakter verlieren, lässt eine Konfliktlösung in den nächsten zwei oder dreiJahren unwahrscheinlich werden. Es gibt nicht mehr den Konflikt, der zu lö-sen wäre, sondern sehr unterschiedliche Konflikte, die miteinander verknüpftsind. Es gibt auch keine national handlungsfähigen Akteure mehr, wie auch einfunktionierender, neutraler und glaubwürdiger Staatsapparat, der die Konflik-te lösen könnte, fehlt. Wirksame Eingriffmöglichkeiten von außen sind kaumerkennbar, solange im Inneren keine konkreten Ansatzpunkte dafür bestehen.Erst wenn diese entstanden sind, würden sich realistische Optionen externerUnterstützung eröffnen.

Lähmung der US-Irakpolitik

Der US-Regierung ist schrittweise klar geworden, dass sie über keine Erfolgversprechenden Optionen mehr verfügt. Ihr Denken wird nun von Möglich-keiten der Schadensbegrenzung und nicht mehr von Siegesträumen bestimmt.

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Man will durch Zeitgewinn das Desaster im Irak an die nächste Administrationweiterreichen und dieser die Verantwortung für schmerzhafte Schlussfolgerun-gen aufbürden. Die Nervosität und Unsicherheit der Bush-Administration lässtsich auch daran ablesen, dass sie Anfang März 2007 der Teilnahme an einervon Bagdad angeregten internationalen Irakkonferenz unter Beteiligung Syri-ens und Irans zustimmte (ähnlich einem entsprechenden Vorschlag der IraqStudy Group), obwohl sie noch im Januar und Februar Gespräche mit beidenLändern strikt abgelehnt hatte. Dieser unvermittelte Schwenk deutet allerdingsnoch nicht auf eine Kurskorrektur hin, er ist nur ein weiteres Indiz für diewachsende Hilflosigkeit der Bush-Administration.

Mit einem Wort: Die USA haben sich im Irak in eine Sackgasse manö-vriert. Eine militärische Befriedung des Landes ist ausgeschlossen, da die po-litischen Voraussetzungen dafür, anders als im Sommer 2003, nicht mehr be-stehen. Die Bush-Administration hat diesen Zustand durch eine Mischung ausInkompetenz, ideologischen Scheuklappen und der einseitigen Betonung mili-tärischer Machtmittel mit verursacht. Nun haben die USA die Kontrolle überdie Situation verloren. Sie reagieren mit einer etwas erhöhten Dosis der bereitsgescheiterten Politik. Washington hat sich in eine paradoxe Situation gebracht:Die USA sind weiter der mächtigste Akteur im Irak, an dem kein Weg vorbei-führt. Zugleich aber sind sie zu gestaltender Politik nicht mehr in der Lage,und trotz all ihrer Macht und militärischen Stärke zunehmend marginalisiert.

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Kapitel 3:

Machtverschiebung in denasiatisch-pazifischen Raum – Risikenoder Chancen für die institutionelle

Kooperation?

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3.1. Regionale Vernetzung und rivalisierende Mächteim asiatisch-pazifischen Raum

Hans-Joachim Giessmann

Verglichen mit Europa und seinen multilateralen sicherheitspolitischen Koope-rationen sind Vernetzungen im asiatisch-pazifischen Raum (Asien-Pazifik) bisheute weniger stark ausgeprägt. Neben „asiatischen Besonderheiten“ in dergeschichtlichen Entwicklung wurden hierfür in der Region zumeist stärkereAsymmetrien in der Geographie, den kulturellen Traditionen und den jeweilsbestimmenden religiösen Bindungen sowie der Machtverteilung zwischen denStaaten geltend gemacht. Im Zentrum der Vorbehalte gegen den Ausbau wech-selseitig verpflichtender Bindungen stand für die kleineren Staaten vor allemdie Sorge vor einer Einschränkung ihrer Souveränität und damit ihrer äuße-ren und inneren Handlungsfreiheit. Für die großen Staaten, namentlich fürdie nach dem Zweiten Weltkrieg dominierende Super- und Schutzmacht USA,galt fast ein halbes Jahrhundert das uneingeschränkte Diktum, dass den eige-nen Interessen an Einfluss und Vorherrschaft besser durch bilaterale als durchmultilaterale Kooperation zu entsprechen sei. Wiederholte Ideen zur Errich-tung eines Sicherheitssystems in Asien-Pazifik führten wegen der divergen-ten Interessen der großen wie der kleinen Staaten nicht zum entscheidendenDurchbruch. Erstmals scheint nun aber mit dem Konzept der von der ASEANvorgeschlagenen Sicherheitsgemeinschaft eine Wende möglich.

Viele Institutionen – wenig Sicherheitskooperation

Die 1967 von Thailand, Indonesien, Malaysia, den Philippinen und Singa-pur gegründete, zunächst auf wirtschaftliche Vorteile und regionale Stabilitätbedachte Interessengemeinschaft der Association of Southeast Asian Nations(ASEAN), enthielt mit dem erklärten Gewaltverzicht ihrer Mitglieder unter-einander zumindest im bescheidenen Ansatz den Gedanken einer kooperativenSicherheitsordnung zwischen souveränen Staaten.

In den 1990er Jahren, nachdem sich Asien-Pazifik der Fesseln des KaltenKrieges entledigt hatte, schienen sich plötzlich die Schleusen zu multilateralerKooperation in voller Breite zu öffnen. Die ASEAN streckte ihre Fühler überihre vormaligen Grenzen nach Norden und Westen aus. Zwischen 1995 und1999 wurden Vietnam, Myanmar (Birma), Laos und Kambodscha neu aufge-nommen. Auf Initiative der ASEAN-Staaten war zuvor 1994 ein zwischen-

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HANS-JOACHIM GIESSMANN

staatliches Regionalforum ins Leben gerufen worden, dem heute neben denzehn ASEAN-Mitgliedern weitere 14 Partnerstaaten Asien-Pazifiks1 und dieEuropäische Union als Mitglieder angehören. Dieses ASEAN Regional Forum(ARF) bezog als erste Organisation in Asien kooperative Sicherheitsfragenin die Agenda ein, darunter den Austausch über Verteidigungsdoktrinen undmaritime Sicherheit, Konsultationen über präventive Diplomatie und zur Ent-wicklung von vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen, nach 2001auch über eine abgestimmte Terrorabwehr.

Die Asia Pacific Economic Cooperation (APEC2), im Jahre 1989 zunächstals informelles Konsultationsforum, als politischer Gegenentwurf und als wirt-schaftliches Gegengewicht zur Europäischen Union auf Initiative der USA,Australiens und Japans gegründet, ließ mit der 1994 formulierten Zielsetzungaufhorchen, im asiatisch-pazifischen Raum bis 2010 die größte Freihandelszo-ne der Welt zu bilden. Dass dieser Kooperation bis heute formell nicht Staaten,sondern „Wirtschaften“ angehören, die durch die Staaten nur „vertreten“ wer-den, bediente das Interesse der überwiegenden Anzahl der Partner, die kritischeSouveränitätsfrage nicht zum Hindernis wechselseitiger wirtschaftlicher Vor-teile werden zu lassen bzw. den Befürchtungen vor einer asiatisch-pazifischenHegemonialordnung zu begegnen. Zum anderen war so gegenüber China dieTeilnahme der „Wirtschaftsgroßmächte“ Hongkong und Taiwan zu vertreten.

Mit ASEM (Asia Europe Meeting) entstand 1996 ein weiterer multilatera-ler Mechanismus, der neben den zehn ASEAN-Staaten sowie Japan, Südkoreaund der VR China auch die 27 Mitgliedstaaten der EU und die EuropäischeKommission einschließt, und der sich – anders als APEC – auch mit sicher-heitspolitischen Themen befasst, darunter der Nichtverbreitung von Massen-vernichtungswaffen, der Terrorbekämpfung, vertrauensbildenden Maßnahmensowie der Lösung der nordkoreanischen Atomkrise.

Zu erwähnen ist darüber hinaus die South Asian Association for RegionalCooperation (SAARC), die nach ihrer Gründung im Jahre 1985 als zunächstsüdasiatischer wirtschaftlicher Verbund erst seit kurzem überregionale Bedeu-tung gewinnt, wie die Zuerkennung des Beobachterstatus für China und Japan(2005) und dessen Beantragung durch Südkorea und die USA bezeugen. Ei-ne subregionale Rolle spielen auch die 1996 auf Initiative Chinas gebildetenShanghai Five. Bei ihrer Bildung standen für die fünf GründungsmitgliederChina, Russland, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan explizit kooperati-

1 Australien, VR China, Indien, Japan, Kanada, Mongolei, Neuseeland, Nordkorea, Pakistan,Papua-Neuguinea, Russland, Südkorea, Ost-Timor und die USA.

2 Zur APEC gehören Australien, Brunei, Chile, VR China und Hongkong, Indonesien, Japan,Kanada, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Papua Neuguinea, Peru, Philippinen, Russland,Singapur, Südkorea, Taiwan, Thailand, die USA und Vietnam.

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ve Sicherheitsinteressen – Grenzfragen, territoriale Integrität und innere Ord-nung – Pate. Im Juni 2001 wurde sie in eine institutionalisierte Regionalor-ganisation – die Shanghai Cooperation Organisation (SCO3) – umgewandelt,der seitdem auch Usbekistan angehört. Nach 2001 bekräftigten Russland undChina die Zweckbestimmung der SCO als Mittel auch zu kooperativer Terror-bekämpfung. Unter dieser Flagge verfolgten beide Länder jedoch von Anfangan eigene geopolitische Interessen wie die Abschirmung des EnergiereichtumsZentralasiens vor dem Zugriff Dritter.

Die jüngste subregionale Kooperation in Asien reagierte auf die Krise umdas nordkoreanische Atomprogramm. Die sogenannten Sechser-Gespräche 4

wurden erstmals im August 2003 auf Initiative Chinas aufgenommen, nach-dem Nordkorea Ende 2002 ein eigenes Atomprogramm, den Ausstieg aus demNichtverbreitungsvertrag (NVV) verkündet und die Inspektoren der IAEO desLandes verwiesen hatte.

Für die rasante Entwicklung regionaler Kooperation in Asien in den 1990erJahren war die Finanzkrise 1997 bis 1999 eine einschneidende Zäsur. Die Kri-se erschütterte zwar vor allem Japan und die ostasiatischen „Tigerstaaten“,jedoch bremste die politische Ernüchterung über die hohen Wachstumsrisi-ken vorübergehend die Dynamik zwischenstaatlicher Kooperation im gesam-ten asiatisch-pazifischen Raum. Erst mit dem Abklingen der durch die Finanz-krise ausgelösten politischen Schockwellen entstand 1999 als fortentwickel-ter Mechanismus die sogenannte ASEAN+3 (ASEAN-Staaten plus Südkorea,VR China und Japan), deren immer engere Zusammenarbeit sich in den letztenJahren zu einem Integrationsmotor entwickelt hat, ohne allerdings die Weichenbereits eindeutig zugunsten der Entwicklung einer umfassenden Sicherheits-und Friedensordnung in Asien-Pazifik stellen zu können. Im Jahre 2002 emp-fahl die East Asia Study Group die Durchführung regelmäßiger Gipfeltreffenunter Führung der ASEAN5, eine Idee, die auf Initiative Indonesiens im ASE-AN CONCORD II (Bali Concord II) im Oktober 2003 aufgegriffen und nach-folgend mit dem Konzept einer Sicherheitsgemeinschaft, der ASEAN SecurityCommunity (ASC) verknüpft wurde. Der sogenannte Vientiane Action Plan(VAP), der während des 10. ASEAN-Gipfeltreffens im November 2004 in La-os angenommen wurde, hat als fünf grundlegende „kooperative Prinzipien“einer solchen Sicherheitsgemeinschaft festgelegt: politische Entwicklung, die

3 Die Mongolei (2004) hat Beobachterstatus, ebenso seit 2005 Indien, Iran und Pakistan. Af-ghanistan wurde zum Gipfeltreffen 2006 in Schanghai erstmals als Gast eingeladen.

4 Teilnehmer sind China, die USA, Russland und Japan sowie die beiden koreanischen Staa-ten.

5 Final Report of the East Asia Study Group, ASEAN+3 Summit, Phnom Penh, 4.11.2002,www.aseansec.org/viewpdf.asp?file=/pdf/easg.pdf, S. 58 (Zugriff: 23.2.2007).

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Gestaltung – und Einigung hinsichtlich – gemeinsamer Normen, Konfliktprä-vention, die Lösung von Konflikten sowie die Friedenskonsolidierung nachüberwundenen Konflikten.6 Parallel wurde die Durchführung jährlicher Gip-feltreffen im 16er-Format (East Asian Summit, EAS7) vereinbart. Währenddes zweiten EAS im Januar 2007 auf der philippinischen Insel Cebu wurdeals nächster Schritt eine gemeinsame EAS-Freihandelszone vereinbart. Daswichtigere regionalpolitische Signal war jedoch die Einigung darüber, erstmalsgemeinsame Verfassungsziele zu entwickeln und im Spektrum erweiterter Si-cherheit (z.B. Klimaschutz, alternative Energieversorgung) enger zu kooperie-ren. Die ASEAN unterstrich damit ihren politischen Willen, frühere Koopera-tionshemmnisse zu überwinden und hierfür selbst Abstriche in der kritischenSouveränitätsfrage in Betracht zu ziehen. Allerdings: Für die GesamtregionAsien-Pazifik ist trotz dieser spannenden Entwicklung in Rechnung zu stel-len, dass die USA an ihr nicht teilnehmen, aber als wichtigster Bündnispartnerfür viele Staaten in der Region erheblichen Einfluss auf deren Politik und denGrad ihrer Zusammenarbeit nehmen.

Rivalität und Kooperation: möglich oder unvereinbar?

Der Anzahl nach zu urteilen, ist das Geflecht multilateraler Kooperationen inAsien-Pazifik kaum minder vielfältig als in Europa. Ihre sicherheitspolitischenKomponenten scheinen aber weniger stark, weil sie keine Rüstungskontroll-regime enthalten. Auch gibt es kein kollektives Verteidigungssystem wie dieNATO und die Großmächte können für sich keine Vorherrschaft reklamieren,der sich alle anderen Staaten unterwerfen würden. Mit den USA, Japan undzunehmend China sowie mit Abstrichen Russland existieren aber regionaleVormächte, deren Politik die Zusammenarbeit in Asien-Pazifik befördern, sieaber auch schwächen und sogar aushebeln könnte.

Die Unberechenbarkeit der Entwicklung ist unter anderem dadurch be-gründet, dass sich die großen Staaten Asiens in unterschiedlichen Entwick-lungsstadien befinden. Während sich China durch Kombination seiner Res-sourcen mit dynamischem Wachstum und zunehmend aktiver Außenpolitikvon einem Entwicklungsland in eine globale Wirtschaftsmacht verwandelt,sucht Russland einen mitbestimmenden Platz unter den asiatischen Mächtenzu gewinnen und im Kielwasser Chinas politischen Einfluss zurückzuerobern.Mit Blick auf die multilaterale Kooperation in Asien ist Russland trotz seiner

6 Vientiane Action Programme 2004-2010, www.aseansec.org/VAP-10th%20ASEAN%20Summit.pdf, S. 6-8 (Zugriff: 23.2.2007).

7 Neben ASEAN+3 sind zu den EAS auch Indien, Australien und Neuseeland eingeladen.

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militärischen und energiewirtschaftlichen Potenziale als regionale Vormachtdeutlich schwächer positioniert als vor 20 Jahren. Chinas Angebot der Shang-hai Cooperation wurde dankbar angenommen, weil Moskau hofft, dadurchden Einfluss der USA an seiner Peripherie zu verringern und die chinesischeNachbarschaftskooperation besser kontrollieren zu können. Bislang ist es aberChina, das die Tagesordnung der SCO dominiert.

Japan hat als einst unumstrittene asiatische Wirtschaftsvormacht viel vomfrüheren Glanz eingebüßt und steht heute in größerer Abhängigkeit von denUSA, vor allem seit durch militärische Risiken (Nordkorea) und wirtschaft-liche und regionalpolitische Konkurrenz (China, Indien) Japans relative poli-tische Macht in Ostasien geschwächt scheint. Anders als das instabile Russ-land bleibt Japan als ökonomischer Gigant und Alliierter der USA aber einpolitisches Schwergewicht in Asien. Die USA haben als dominierende Mili-tärmacht und hegemonialer Champion bilateraler Beziehungen zwar einigesvon den großen Einflussverlusten seit den 1970er Jahren wettmachen können.Gleichzeitig fürchten sie aber die Bildung kooperativer Machtkartelle, derenZiel in der Begrenzung ihres Einflusses auf die Geschicke und Ressourcen derRegion bestehen könnte.

Bestrebungen Chinas und Russlands um Achsenbildung und die Spal-tungsversuche der USA gegenüber ASEAN könnten im schlimmsten Fall da-zu führen, deren Mechanismen in ein Vehikel konkurrierender Vorteilsnahmeder großen Staaten gegeneinander zu verwandeln. Nicht auszuschließen wä-re dann, dass durch wirtschaftliche Dynamik und politischen Wandel künftigeKräfteverschiebungen in Asien-Pazifik zu einem System rivalisierender Mini-allianzen, zu Bandwagoning und wechselnden bilateralen Partnerschaften füh-ren.

Ironischerweise scheint aber diese Gefahr gegenwärtig die kleineren Staa-ten, die besonders stark auf die Wahrung ihrer Souveränität erpicht waren, zuermuntern, die Kooperation miteinander zu intensivieren und ihre Institutio-nen stärker auch mit Sicherheitsfragen zu befassen. Tatsächlich hätten vor al-lem sie wegen ihrer geringeren wirtschaftlichen und militärischen Macht vonden Muskelspielen der Großen nichts Gutes zu erwarten. Die wechselseitigeBelauerung und Belagerung der Großen (vgl. Friedensgutachten 2006, Beitrag1.1.) bietet den Kleinen Gelegenheit, gemeinsame Interessen klarer zu erken-nen und gebotene Spielräume besser zu nutzen. Die Frage bleibt, wie die Riva-lität zwischen den Mächten auf die multilaterale Kooperation in Asien-Pazifikdurchschlägt bzw. wie die Aussichten zu beurteilen sind, dass die großen Staa-ten ihre Rivalitäten einhegen. Die wichtigsten Akteure hierbei sind die USA,China und Japan. Dies ignoriert Russlands Rolle nicht, stellt aber die starke

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Beziehung der drei anderen Mächte zu den wichtigsten multilateralen Institu-tionen in Asien-Pazifik in Rechnung.

Die USA: Multilateralismus als konzertierteDominanzpolitik

Die Bush-Regierung trat zunächst mit einer dezidiert kritischen Einstellung zuallen Institutionen an, die von ihr nicht klar beherrscht oder maßgeblich kon-trolliert wurden. Sie stellte damit ein Grundprinzip ihrer Vorgänger in Frage:das Werben um internationale Zustimmung für die eigene Politik. Der 2003 oh-ne Zustimmung des UN-Sicherheitsrats geführte Schlag gegen den Irak wurdegerade in Asien – angesichts der Sensibilität für das hohe Gut der Staatensou-veränität – als akutes Risiko interpretiert. Denn in der „Achse des Bösen“, dieals Drehbuch für potenzielle Feldzüge im „Krieg gegen den Terror“ verstandenwurde, fanden sich mit Iran und Nordkorea zwei weitere asiatische Staaten. Obdie USA gegen den nordkoreanischen „Vorhof der Tyrannei“8 tatsächlich mili-tärisch zu Felde gezogen wären, hätte sich die Lage im Irak anders entwickelt,bleibt allerdings Spekulation, denn die USA haben jenseits rhetorischer Schär-fe gegenüber dieser möglichen Atommacht stets den Vorrang der Diplomatiebetont.

Zu den Lehren aus den Kriegen in Afghanistan und im Irak sowie ausder Atomkrise Nordkoreas gehörte, dass auch die stärkste Militärmacht ih-re Sicherheitsprobleme nicht allein lösen kann. Die überarbeitete Nationa-le Sicherheitsstrategie9 der USA fand zur „Notwendigkeit“ zurück, für denKampf gegen den Terror die Unterstützung von Freunden, Partnern und Al-liierten zu gewinnen.10 Die USA geben sich seither empfänglicher für eineintensivere Abstimmung auch mit den Staaten Asien-Pazifiks. In den Sechser-Gesprächen mit Pjöngjang setzten sie bewusst auf das VermittlungsgeschickChinas. Gleichzeitig zeigten sich die USA in der APEC und durch intensi-ve Shuttle-Diplomatie in asiatischen Staaten bemüht, einer Regionalisierungmultilateraler Sicherheitskooperation unter stärkerer Beteiligung Chinas ver-besserte bilaterale Absprachen entgegenzusetzen. Vor allem ein Regionalisie-rungsszenario unter Einschluss Chinas bei gleichzeitigem Ausschluss der USA

8 Report by Secretary of State-Designate Condoleezza Rice, Senate Foreign Relations Com-mittee, 18.1.2005, Department of State, Press Release 2005/70, www.state.gov/secretary/rm/2005/40991.htm (Zugriff: 27.2.2007).

9 The National Security Strategy of the United States of America, March 2006, http://whitehouse.gov/nsc/nss/2006/index.html (Zugriff: 23.2.2007).

10 Ebenda, Section III.a.

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gilt als worst case. Beunruhigung geht deshalb von der erweiterten Kooperati-on der ASEAN aus, bei der die USA nur Zaungast sind. In Washington wirdder Bedeutungsverlust traditioneller bilateraler Bindungen befürchtet, falls dieeigene Autorität schwindet. Durch konzertiertes Handeln mit alten und neu-en Partnern (Indien, Vietnam) sucht die US-Regierung deshalb, Richtung undAusmaß der Regionalisierung zu beschränken bzw. im eigenen Interesse zubeeinflussen.

Chinas Aufstieg – zur regionalen Macht?

Nach Maos Tod und dem militärischen Desaster im Grenzkonflikt mit Vietnam1979 schlug die seinerzeit neue chinesische Führung unter Deng Xiaoping zu-nächst einen Kurs außenpolitischen Disengagements und der ökonomischenErneuerung bei gleichzeitiger Restauration der innenpolitischen Autorität derKommunistischen Partei als Machtzentrum ein. Nach der Niederschlagung derStudentenrevolte auf dem Tiananmen im Juni 1989 hielt man zwar an dieserStrategie fest, um sich aber noch in der ersten Hälfte der 1990er Jahre, we-gen der Abhängigkeit des Wachstums vom Außenhandel, von ausländischenInvestitionen sowie von Technologie- und Energiezufuhren neu zu orientie-ren. Die Spannungen mit den USA nach dem Amtsantritt der Bush-Regierungüberzeugten die Führung, dass China sich auch sicherheitspolitisch nicht vonder Außenwelt isolieren darf. Die Kooperation, insbesondere im Rahmen vonSCO und mit ASEAN wurde als Chance zur Durchsetzung eigener Interessenund eines stabilen Umfelds für fortgesetztes Wachstum auch im Krisenfall derchinesisch-amerikanischen Beziehungen erachtet.

Für die ASEAN-Staaten bedeutete die Einbindung Chinas eine politischeGratwanderung. Zwar war unstrittig, dass Stabilität nicht ohne die bevölke-rungsreichste und größte wirtschaftliche Wachstumsmacht in Asien zu habenist. Andererseits wurde eine Übersetzung des Wachstums Chinas in erpresse-rische Druckpolitik befürchtet, mit zweistellig steigenden Rüstungsausgabenals deren Vorboten. Mit fast allen Nachbarn stritt China über Grenzverläu-fe und wiederholte Kriegsdrohungen gegen Taiwan galten zusätzlich als Be-leg für mangelnde Verlässlichkeit Beijings. Andererseits legte China erklärtenWert auf gute Beziehungen mit den Nachbarn und lässt bisher keinen Zweifeldaran, dass es – mit Ausnahme des Sonderfalls Taiwan – Waffen als Mittel zurLösung von Streitfragen ablehnt. Es läge auch nicht in seinem Interesse, dieBefeuerung des wirtschaftlichen Wachstums durch militärische Abenteuer zugefährden und eine Isolation von den Zuflüssen an Kapital, Technologie undEnergie zu riskieren. Die USA, Japan und zunehmend Südkorea sind starke In-

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vestoren und wichtige Absatzmärkte. Taiwans Status als größter Einzelinvestorin China spricht dafür, dass Beijing, trotz harscher Rhetorik, nur sezessionisti-schen Bestrebungen in Taiwan einen Riegel vorzuschieben sucht, im Übrigenjedoch den Status quo akzeptiert, solange die akute Gefahr der Abspaltungnicht gegeben ist. So berechtigt die Kritik am Antisezessionsgesetz ist, ausder Sicht der nüchternen Pragmatiker auf beiden Seiten der Taiwan-Straße be-sitzt das Gesetz paradoxerweise eine mäßigende Wirkung, weil es erstmalspräzise Kriterien definiert hat, wie eine Militäraktion zu vermeiden ist. Auchdas ehrgeizige Rüstungsprogramm Chinas (vgl. Beitrag 3.2.) kann verschiedeninterpretiert werden. Waffentechnologisch befindet sich China verglichen mitden USA auf dem Stand der 1980er Jahre. Das Prestige der Offiziere und desSoldatenberufs ist gering, die Verteidigungsmoral schlecht. Einsatzkalküle fürdie Armee bergen möglicherweise für China ein höheres Risiko als für seineNachbarn.

Die ASEAN-Staaten suchen Chinas Politik seit längerem durch Engage-ment präventiv zu beeinflussen. Sein Wachstum wird als Chance und als Risikobegriffen, wobei sich beides in der Wahrnehmung die Waage hält. Von Chinawird erwartet, dass es im 21. Jahrhundert als einzige Macht den regionalen undglobalen Führungsanspruch der USA herausfordern kann. Für viele ASEAN-Staaten hat sich China durchaus für mehr Führungsverantwortung qualifiziert,seit es während der Asienkrise die Situation nicht für sich ausnutzte und aufdie Abwertung seiner Währung verzichtete. Auch das konstruktive Verhaltenin der nordkoreanischen Atomfrage und die Kompromissbereitschaft im Streitum die Spratley-Inseln haben dazu beigetragen, Vorbehalte in der Region ab-zubauen.

Japan – gefürchtet, gehasst, bewundert

Als Regionalmacht ist Japan ökonomisch ein Gigant, außenpolitisch agiert eshingegen oft unauffällig und vorsichtig. Regionale Führungsansprüche werdenin der Innenpolitik Japans zwar hin und wieder erhoben, es fehlt ihnen jedochan Wirkung, einerseits wegen der Unterwerfung unter den militärischen Schutzder USA, andererseits wegen der mangelnden Akzeptanz einer FührungsrolleJapans vor allem in der unmittelbaren Nachbarschaft des Kaiserreichs. Für jeneStaaten, die zwischen 1895 und 1945 Opfer japanischer Besetzungen wurden,hat sich Japan bis heute nicht ausreichend seiner historischen und politischenVerantwortung gestellt. Misstrauen besteht fort, dass ein militärisch wieder-erstarkendes Japan neue Aggressionsgelüste vor allem gegen seine Nachbarnhegen könnte. Insbesondere in China und Korea wird Japan noch immer als

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potenzielle Bedrohung gesehen, obwohl sich der Umfang der wirtschaftlichenBeziehungen gerade in den letzten Jahren deutlich erhöht hat. Das Handels-volumen zwischen Japan und China hat sich zwischen 2000 und 2005 fastverdreifacht, zwischen Japan und Südkorea fast verdoppelt.11 Beide Staatenwürden sich auch einem nur regionalen Mitführungsanspruch Japans wider-setzen. In Südostasien sind die Vorbehalte gegen eine aktivere politische RolleJapans in Asien-Pazifik weniger streng, jedoch ist keine Parteinahme für Japandenkbar, die China vielleicht veranlassen könnte, der Kooperation wieder denRücken zu kehren.

Japan könnte, selbst wenn es an der Entwicklung multilateraler Koope-ration mitwirkt, seinen politischen Einfluss in der Region nur dann wirklichausdehnen, wenn es fortdauernde Bedenken hinsichtlich der langfristigen Aus-richtung seiner Außenpolitik ausräumt. Unter der inzwischen aus dem Amt ge-schiedenen rechtsgerichteten Regierung Koizumi gelang dies nicht. Der Schul-buchstreit und die regelmäßigen Besuche des Yasukuni-Schreins durch den Mi-nisterpräsidenten, die vor allem in China als gezielte Provokation interpretiertwurden, haben Vorbehalte bei den Nachbarn eher noch verstärkt, ebenso wiedie Überlegungen zur Revision des Friedensartikels der japanischen Verfas-sung sowie zur erweiterten Auslegung der japanischen Selbstverteidigung. Sogehörte zu den ersten Amtshandlungen des neuen Premiers Shinzo Abe diesymbolträchtige Aufwertung des Amts für Verteidigung zum Verteidigungs-ministerium ab Januar 2007. Auch das erneuerte Beistandsabkommen und dieBeteiligung an der „Koalition der Willigen“ der USA gegen den Irak stießenauf Kritik. Beunruhigend wirkt vor allem in China die Debatte über eine mögli-che Nuklearbewaffnung, die Beschaffung von weitreichenden Raketen und diegleichzeitige Errichtung eines gemeinsamen Raketenschutzschirms mit denUSA. Gerade für das letztgenannte Projekt wurden in den Haushalt 2007 umfast ein Drittel höhere Mittel als 2006 eingestellt. Ungeachtet der Besorgnis-se seiner Nachbarn ist Japan andererseits im gesamten asiatisch-pazifischenRaum als Wirtschaftspartner weiterhin attraktiv. Das gründet in seiner wirt-schaftlichen Stärke, seiner Investitionskraft und der in den letzten Jahren, vorallem nach der Finanzkrise von 1997, unter Beweis gestellten Anpassung andie Wettbewerbsbedingungen der Globalisierung. Japan gilt insbesondere denkleineren Staaten als Modellfall, wie globale Märkte durch ständige technolo-gische Innovation erobert und behauptet werden können.

11 Vgl. Merchandise Trade of Japan by Region and Economy, in: WTO-Statistics, www.wto.org/english/res_e/statis_e/its2006_e/section3_e/iii70.xls; OECD International Tradeby Commodities Statistics, www.census.gov/compendia/statab/tables/07s1371.xls (Zugriff:27.2.2007).

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Imperiale Belastungsproben multilateraler Kooperation

Die USA suchen seit 2001 verstärkt ihre frühere regionale Vorherrschaft zuerneuern. Eine selbstbewusstere Führung in China ist erpicht, mehr Führungs-verantwortung zu übernehmen. Japan schließlich sucht unter den militärischenFittichen der USA eine mitbestimmende Rolle in Asien durch wirtschaftli-che soft power zu erhalten. Alle drei sind für ihre Ziele auf die Kooperationuntereinander und mit anderen Staaten in der Region angewiesen, sie sehensich zugleich aber auch in Konkurrenz um bestimmenden Einfluss. Die Ambi-valenz dieser Lage drückt sich fast zwangsläufig auch in einer zwiespältigenBeziehung der Mächte untereinander und in ihrer Politik gegenüber den multi-lateralen Institutionen Asien-Pazifiks aus. Während China die Behandlung derStreitpunkte Taiwan und Spratley-Inseln im Rahmen des Regionalforums derASEAN strikt ablehnte und damit die Verwandlung des ARF in eine regiona-le Sicherheitsarchitektur verhinderte, hat es den 2002 im Ergebnis diplomati-scher Schlichtung durch die ASEAN ausgehandelten politischen Verhaltens-kodex für den bilateralen Umgang der Konfliktparteien in der Spratley-Frageakzeptiert und sich bisher konsequent daran gehalten. Einerseits sucht Chinafür sich den südostasiatischen Absatzmarkt zu erobern und jegliche Handels-barrieren gegen seine Ausfuhren zu beseitigen, andererseits zeigt sich Beijingaber auch willens, durch eigene Investitionen in den ASEAN-Staaten derenWirtschaftskraft zu stärken. Auch gegenüber Japan und den USA pflegt Chi-na im Unterschied zur Vergangenheit eine deutlich ausgewogenere Balancezwischen rhetorischer Abgrenzung und pragmatischer Kooperation. Dadurchentstand, trotz anhaltender Konkurrenz, ein durchaus tragfähiges Fundamentfür bilaterale Kooperationen innerhalb und außerhalb des Formats ASEAN+3,während Streitfragen wie jene um den Verlauf der Grenzen fortbestehen.

Auch die USA bemühten sich um größere Flexibilität, vor allem nach 9/11und der nordkoreanischen Atomkrise. Doch zeigte sich das auch schon in frü-heren Krisen: nach der Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad1999 und der Lösung der Spionageflugaffäre im April 2001. Damals war einelektronisches Aufklärungsflugzeug vom Typ EP-3 mit einem Abfangjäger J-8der chinesischen Luftwaffe kollidiert und anschließend auf der südchinesi-schen Insel Hainan notgelandet, der chinesische Pilot kam dabei ums Leben.Die folgende diplomatische Krise wurde im Juli 2001 beigelegt. Stärker als dieRivalen China und Japan benötigen die USA einen berechenbaren politischenModus Vivendi für ihre dauerhafte Verwurzelung in Asien, denn sie sind geo-grafisch am weitesten entfernt und als Konsultationspartner im Rahmen vonASEAN+10 politisch am schwächsten mit der dynamischen Regionalisierung

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unter Führung der ASEAN verbunden. APEC taugt zur Kompensation und alspolitisches Disziplinierungsinstrument nicht, das ARF ist kaum mehr als eindiplomatischer Gesprächskreis und die subregionalen Foren sind zu speziali-siert, um Gegengewichte zu den von der ASEAN je nach Bedarf sehr geschicktund flexibel gehandhabten bilateralen und multilateralen Kooperationsformatevon „ASEAN+1“, „+1+1+1“ über „+3“ und „+6“ bis schließlich „+10“ zu be-wirken: „+1“, „+1+1+1“ und „+3“ umfassen die bilateralen und multilateralenKooperationen der ASEAN mit China, Japan und Südkorea, „+6“ ist das EAS-Format, „+10“ schließlich das erweiterte Forum unter Einschluss der weiterenDialogpartner Kanada, Russland und die USA.

Wie Japan, dessen Einfluss sich auf wirtschaftliche Angebote stützt, ver-suchten auch die USA für sich das Projekt einer Freihandelszone zu kapern,um der Dynamik der ASEAN-Integration den Wind aus den Segeln zu neh-men. Beide Versuche führten jedoch nicht zum Ziel, sodass letztlich keine an-dere Lösung blieb, als einen möglichst sicheren Platz im Zug zur angestrebtenFreihandelszone bis 2010 zu finden. Für die USA bildet insofern das Angebotdes Schutzpatrons weiter das wichtigste Instrument eigener Einflussnahme inAsien-Pazifik. Dabei besteht das Problem darin, dass dieses Angebot infolgeder geringen Neigung zu kollektiven Allianzen in Asien-Pazifik nur bilateralfunktioniert, bilaterale Beistandsvereinbarungen jedoch von dritten Staaten alspotenzielle Bedrohung erachtet werden. Dies gilt insbesondere für das Bünd-nis der USA mit Japan. Mehr Zuspruch erhalten die USA dort, wo sie sichunter der Flagge der Terrorbekämpfung physisch oder politisch unterstützendan die Seite der Regierungen bei der Verfolgung fundamentalistischer oderseparatistischer Rebellengruppen stellen. Allerdings beurteilen einige Länder,wie Malaysia und Indonesien, diese „Hilfe“ auch skeptisch, weil sie politischeEinmischung und die Eskalation von antiamerikanisch befeuerten religiösenSpannungen in ihren Ländern befürchten.

Während sich Japans Sorgen auf ein erstarkendes China und den politi-schen Hasardeur Pjöngjang konzentrieren, reduziert die Erneuerung der mili-tärischen Bindung an die USA die eigene Flexibilität in der Regionalpolitik aufwirtschaftspolitische Instrumente. Gemessen an diesen Vorzeichen scheint Ja-pan nach anfänglicher Zurückhaltung heute froh, überhaupt am Regionalismusder ASEAN beteiligt und nicht durch China abgehängt worden zu sein. Solan-ge Tokio darauf verzichtet, aus eigenem Interesse oder auf Druck der USA, dieAgenda bestimmen zu wollen, wird seine Teilhabe an der Kooperation akzep-tiert werden. Nicht weniger, aber auch kaum mehr.

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Der erweiterte Regionalismus der ASEAN – Grenzen undChancen

Die ASEAN-Staaten haben sich der Aufgabe einer intensiveren multilateralenKooperation verschrieben und sind dabei spät und allmählich aus dem Schat-ten früherer starrer Souveränitätsansprüche hervorgetreten. Sie haben erkannt,dass für eine stabile Sicherheitsordnung in Asien-Pazifik die Einbindung dergroßen asiatischen Mächte China und Japan erforderlich ist. Andererseits ha-ben sie aber auch erfahren, dass sie durch Einigung an Einfluss in der Regiongewinnen und mit ihrer größeren Verhandlungsmacht sogar die mächtigerenStaaten zu einem kooperativeren Verhalten bewegen können. Soweit die guteNachricht. Die Probleme beginnen dort, wo die Kooperationsinteressen letz-terer durch wechselseitige Konkurrenz überlagert werden. Hinzu kommt, dassein engerer Multilateralismus in Asien-Pazifik die traditionellen Pfründe derUSA in der Region in Frage stellt. Zerstörungsrisiken für den aufkeimendenpolitischen Regionalismus insofern nicht mehr für möglich zu halten, wäreangesichts der Vormachtkonkurrenz der Großen voreilig. Die USA werden Ja-pan zunehmend unter Druck setzen, vor allem in der sicherheitspolitischenRegionalkooperation auf die Bremse zu treten. Japan wird alles zu blockierenversuchen, was die Entwicklung Chinas zur Führungsmacht in Asien-Pazifikbegünstigen könnte. China wird darauf bedacht sein, die USA aus der neuenGemeinschaft herauszuhalten und Japans politische Rolle in Ost- und Süd-ostasien zu begrenzen.

Die kleineren Staaten Asien-Pazifiks würden die von ihnen gewonnenenFreiräume und die Initiative verspielen, machten sie sich von der Bereitschaftder Großen abhängig, Kompromisse zu schließen. Dies gilt umso mehr, alsParteinahmen für eine Führungsmacht jeweils mindestens eine der beiden an-deren verprellen würde. Unklar ist auch, ob der Konsens der kleineren Staatenbereits belastbar genug ist, um politische Konzepte auch gegen den Willen dergroßen Mächte voranzutreiben, zumal ihre Bindungen an diese unterschiedlichstark ausgeprägt sind. In der Vergangenheit war ASEAN erfolgreich, wenn derStreit um Kompromisse nicht auf öffentlichen Märkten ausgetragen wurde,sodass Lösungen nicht scheiterten, bevor sie reifen konnten. Gelingt dies wei-terhin und behält ASEAN die Regionalisierung in der eigenen Hand, stehendie Chancen für eine Sicherheitsgemeinschaft nicht schlecht. Der Weg dorthinist allerdings noch weit.

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3.2. Nuklear- und Rüstungspolitik wichtiger Akteureim asiatisch-pazifischen Raum

Hans-Joachim Schmidt und Niklas Schörnig

Neben den USA und dem Mittleren Osten hat sich Asien zu einem bedeu-tenden Hot Spot hoher Wachstumsraten im Rüstungsbereich entwickelt. Dabeihilft vielen Ländern der seit Jahren anhaltende ökonomische Aufschwung, sichzunehmend und umfangreich moderne Waffensysteme zu beschaffen.

Folgt man der klassischen Rüstungskontrollliteratur, so bergen steigendeRüstungsausgaben und intensivierte Rüstungsprogramme immer die Gefahreines auf einem Aktions-Reaktions-Mechanismus beruhenden Rüstungswett-laufs, der im Extremfall zu kriegerischen Auseinandersetzungen führen kann.Vor diesem Hintergrund scheinen die weitreichenden Aufrüstungsbemühun-gen in Asien die Gefahr eines Krieges in der sicherheitspolitisch schon an-gespannten und durch zahlreiche Grenzkonflikte (vgl. Beitrag 3.1.) in der anRessourcen reichen Region zu verschärfen.

Allerdings zeigt der genauere Blick, dass Rüstungsdynamiken und sicher-heitspolitische Entwicklung in Asien und im pazifischen Raum je nach Landoder Region von ganz verschiedenen Faktoren gekennzeichnet sind und nichtalle Rüstungsdynamiken gleichermaßen problematisch erscheinen. Währendmanche durch überregionale Faktoren angetrieben werden, sind andere regio-naler oder gar innenpolitischer Natur.

Ziel dieses Artikels ist deshalb, zentrale Länder oder Staatenpaare in dreiunterschiedlichen Regionen Asiens – Nordostasien, Südasien und Südostasi-ens – auf ihr aktuelles Rüstungsverhalten hin zu untersuchen und damit eindifferenziertes Bild der Rüstungstrends in der Region zu zeichnen. Dabei wirdeine sehr heterogene Lage beschrieben, für die eben auch kein allgemeinerLösungsvorschlag unterbreitet werden kann.

Die Auswahl der Länder erfolgt nach der militärischen Bedeutung in derRegion, die sich vor allem in der absoluten Höhe der militärischen Ausga-ben und der Fähigkeit zur (regionalen) Machtprojektion ausdrückt. Aus die-sem Grund beziehen wir auch Russland und Australien ein. Russland ist alsasiatisch-pazifische Macht der wichtigste Rüstungslieferant für China und In-dien, es wird eine wachsende Rolle im asiatisch-pazifischen Sicherheitsraumspielen. Australien ist für die USA neben Japan und Südkorea ein wichtiger Al-lianzpartner geworden. Das Militärabkommen zwischen Japan und Australien

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HANS-JOACHIM SCHMIDT UND NIKLAS SCHÖRNIG

vom März 2007 hebt seine schon in Ost-Timor und den Salomonen deutlichgewordene regionale Bedeutung hervor.

Nordostasien

China

Das seit Jahren zweistellige Wirtschaftswachstum hat China 2006 zur viert-stärksten Wirtschaftsnation aufsteigen lassen. Es gilt als künftiger Herausfor-derer der USA, obwohl sein Pro-Kopf-Einkommen mit 1.450 USD (2005)noch weit von dem der USA entfernt ist. Chinas Verteidigungsetat wuchs von1996 bis 2005 nominal um 165 Prozent und – mit Ausnahme der Asienkrise1998 – stärker als das Bruttoinlandsprodukt (BIP).1 Lag der Verteidigungs-etat 1996 bei 1,8 Prozent des BIP, so stieg er bis 2004 auf 2,4 Prozent. 2007will China sein Verteidigungsbudget um fast 18 Prozent auf knapp 45 Mrd.USD anheben, während die Wirtschaft gleichzeitig um acht Prozent wachsensoll. Westliche Experten gehen von real zwei- bis dreifach höheren Verteidi-gungsausgaben aus.2 Selbst dann würde China nur knapp 20 Prozent des US-Verteidigungsetats erreichen.

In den USA sehen besonders die Konservativen China als Hauptbedro-hung. Der von Beijing nicht angekündigte Test einer Anti-Satellitenwaffe imJanuar 2007 scheint ihre Befürchtungen zu bestätigen. Das gilt auch für dasAntisezessionsgesetz vom März 2006, das die Unabhängigkeit Taiwans not-falls mit Waffengewalt verhindern will. Hinzu kommt der Ausbau der gegenTaiwan gerichteten Mittelstreckenraketen auf über 700, der Bau neuer Lan-dungsschiffe, eines eigenen Kampfflugzeugs (J-10) und die Einführung mo-derner russischer Jagdbomber (Su-27) mit größerer Reichweite. Im nuklear-strategischen Bereich modernisiert China seine landgestützten Raketen mit derDF-31 und erhöht ihre Zahl auf 60. Daneben plant es, fünf Atom-U-Boote mitje zwölf strategischen Raketen und Flugzeugträger zu bauen.

Mit seinem Bevölkerungsreichtum und seinem schnellen Wachstum istChina auf die Entwicklung seiner Offshore-Ressourcen und den Import vonEnergie und Rohstoffen besonders aus dem Nahen Osten und Afrika ange-wiesen. Es hat deshalb ein starkes Interesse, sowohl seine Küstenzonen alsauch seine Versorgungswege zu schützen. Beijing hat seine defensive Militär-

1 Die meisten Zahlenangaben dieses Beitrags fußen auf dem SIPRI Yearbook 2006, S. 295-386 und der Military Balance 2007, S. 331-371.

2 Zu verschiedenen Methoden der Berechnung und des Vergleichs siehe SIPRI Yearbook2006, S. 310-311 und 369-86.

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strategie zu einer Strategie der aktiven Verteidigung weiterentwickelt, derenGeltungsbereich zunehmend über das eigene Festland hinausreicht. Nach demVerteidigungsweißbuch 2006 sollen die modernisierten Streitkräfte bis zumJahre 2050 imstande sein, in informationsgesteuerten Kriegen zu siegen.3

Die Volksbefreiungsarmee wird aber noch erheblicher Anstrengungen be-dürfen, bis sie qualitativ mit westlichen Streitkräften vergleichbar ist. Außer-dem kann sich China angesichts wachsender sozialer Gegensätze im Land kei-nen größeren Krieg leisten: Er würde den Handel gefährden, die Spannungenim Land verschärfen und könnte die Macht der Partei bedrohen. Das chine-sische Militär steht mit seinen Fähigkeiten zur militärischen Machtprojektionund Seekontrolle erst am Anfang und liegt mindestens noch 15 bis 20 Jahrehinter den US-Streitkräften zurück. Auch wenn China für die USA derzeit kei-ne ernste Bedrohung ist, könnte sich das im regionalen Kontext zumindest fürTaiwan bald ändern, sollte die zunächst auf regionale Machtprojektion ausge-richtete Rüstungsdynamik ungebrochen weitergehen.

Japan

China und Japan bestritten von 1996 bis 2005 70 Prozent der Militärausga-ben Ostasiens, doch fiel der Anteil Japans als zweitstärkster Wirtschaftsnationgleichzeitig von 45 auf 35 Prozent. Aufgrund der wirtschaftlichen Stagnati-on stieg der Verteidigungsetat Tokios im gleichen Zeitraum nur um real 1,6Prozent. Japan gab 2006 mit 41,1 Mrd. USD offiziell knapp ein Prozent sei-nes BIP (der Verfassung entsprechend) für die Verteidigung aus, doch sinddie Ausgaben vermutlich höher. Von 2006 bis 2009 soll der Etat aber leichtsinken. Auf den ersten Blick erscheint das beruhigend, doch verändert sichseit 1997 Tokios Verteidigungspolitik. Die Taiwankrise 1996 sowie Nordkore-as Raketentests 1998 und 2006 und der Atomtest 2006 haben diesen Wandelbeschleunigt. Die Konservativen in Tokio nutzten dies, um die in der Verfas-sung festgelegten Einschränkungen eines gemeinsamen Einsatzes mit anderenStreitkräften aufzuweichen. Seit Januar 2007 haben die japanischen Selbstver-teidigungskräfte ein eigenes Ministerium, es bleibt aber weiterhin dem Mi-nisterpräsidenten unterstellt. Ministerpräsident Shinzo Abe plant, alle Verfas-sungsbeschränkungen – bis auf die defensive Zielsetzung – für die japanischenStreitkräfte aufzuheben.

Das nordkoreanische Verhalten nahm Tokio zum Anlass, die Entwick-lung und Kooperation bei der Raketenabwehr mit Washington auszuweiten.

3 Kapitel II, National Defense, in: China’s National Defense in 2006, http://english.peopledaily.com.cn/whitepaper/defense2006/defense2006.html (Zugriff: 22.3.2007).

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In diesem Bereich steigen die Rüstungsausgaben Japans massiv, allerdingsauf Kosten anderer Rüstungsprojekte. In den nächsten Jahren werden dieUSA und Japan die land- und seegestützte Raketenabwehr durch den Bau ei-nes Frühwarnradars, durch die Einführung und Modernisierung des Patriot-Raketenabwehrsystems und durch Kreuzer, die mit dem Raketenabwehrsys-tem SM-3 ausgerüstet sind (darunter sechs Schiffe für Japan und sieben für dieUSA) verbessern. Sollte es überdies erlaubt werden, im Falle eines AngriffsSM-3-Abwehrraketen binnen weniger Minuten notfalls ohne Zustimmung desMinisterpräsidenten einzusetzen,4 erhöht dies in Krisensituationen das Eska-lationsrisiko.

Nach Pjöngjangs Nukleartest hat Shinzo Abe zwar entschieden, dass sichTokio keine Nuklearwaffen zulegen will, er hat jedoch die Diskussion über ei-ne japanische Nuklearbewaffnung ausdrücklich begrüßt. Vor zehn Jahren wäredas noch Tabu gewesen. Die japanischen Konservativen haben Angst, dass sichdie USA aufgrund des Debakels im Irak von ihren globalen Verpflichtungenzurückziehen und Tokio plötzlich alleine stehen könnte. Für diesen Fall hältselbst der ehemalige Ministerpräsident Nakasone die nukleare Bewaffnung fürmöglich. Zudem soll die Diskussion China unter Druck setzen, mehr für dieDenuklearisierung Nordkoreas zu tun. Diese Rechnung Japans scheint aufzu-gehen: China ist sichtlich bemüht, keine zusätzlichen Anreize für eine nukleareBewaffnung Japans zu schaffen.

Südkorea

Auch in Südkorea wird seit dem nordkoreanischen Atomtest die Frage der nu-klearen Bewaffnung diskutiert, aber anders als in Japan eher im Verborgenen,um China und die USA nicht zu verärgern. Das ist viel gefährlicher, zumaldie Bevölkerung für eine atomare Bewaffnung aufgeschlossener ist als in Ja-pan. US-Außenministerin Rice war deshalb bei ihrer Asienreise kurz nach demAtomtest Nordkoreas bemüht, jeden Zweifel an der amerikanischen Verteidi-gungsgarantie zu zerstreuen. Trotzdem wird auch in Seoul die Stationierungtaktischer amerikanischer Atomwaffen – als Alternative zur nuklearen Aufrüs-tung – erwogen. Südkorea hat in den letzten Jahren ebenfalls die Rüstungs-dynamik angetrieben. Bei einem jährlichen Wirtschaftswachstum von vier bisfünf Prozent stiegen die Verteidigungsausgaben seit 2004 um jährlich fast zehnProzent und diese Rate soll bis 2011 beibehalten werden. Ziel ist, in der Ver-

4 „LDP OKs interceptor missile authority“, in: The Japan Times Online, 10.3.2007, search.japantimes.co.jp/print/nn20070310b3.html (Zugriff: 23.3.2007).

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teidigung von den USA unabhängiger zu werden und das gemeinsame Kom-mando mit den US-Streitkräften 2012 aufzulösen.

Südkorea will in den nächsten Jahren seine Streitkräfte umfassend moder-nisieren. Die Einführung des Patriot-Raketenabwehrsystems und neuer Panzer(K2), der geplante Kauf von 12 Großkampfschiffen der KIDD-Klasse, vonsechs Kreuzern mit dem Raketenabwehrsystem SM-3 und zwei leichten Lan-dungsträgern sowie von 60 Kampfflugzeugen des Typs F-15 zeigen, dass esdabei nicht nur um die Verteidigung gegen Nordkorea geht, sondern zuneh-mend auch um die Wahrnehmung regionaler Sicherheitsinteressen gegenüberChina und Russland einschließlich Japans.

Die USA in Nordostasien

Die USA wollen zur Erhaltung ihrer militärischen Überlegenheit in Japan einneues Asien-Pazifik-Kommando errichten und bis 2014 rund 8.000 Marinein-fanteristen von Okinawa nach Guam verlegen, um die Insel Okinawa zu ent-lasten, auf der über 70 Prozent der US-Streitkräfte in Japan disloziert sind.Weitere Verlegungen sollen ihre militärische Flexibilität verbessern. Diese Re-dislozierungen werden über 10 Mrd. USD kosten, von denen Japan über 6Mrd. übernimmt. Auch wenn das vordergründig mit der Bedrohung Nordko-reas begründet wird, geht es mehr um die Verteidigung Taiwans gegen China.Japan ist im Gegensatz zu Südkorea bestrebt, die militärische Integration mitden US-Streitkräften auszubauen.

Auch in Südkorea werden die US-Truppen (USFK) von 2004 bis 2008mit mehr als 11 Mrd. USD modernisiert und ihre Präsenz von 37.000 auf25.000 Soldaten reduziert. Im Zuge der wachsenden militärischen Unabhän-gigkeit Südkoreas können die USFK dann flexibler für andere regionale Kon-flikte eingesetzt werden. Das stößt aber in Seoul auf Vorbehalte, weil man nichtin andere Konflikte der USA (etwa Taiwan) hineingezogen werden will.

Nordkorea

Nordkoreas rückständige Ökonomie ist seit 2000 bestenfalls um einige Pro-zent gewachsen. Obwohl die Führung in Pjöngjang über 30 Prozent ihres Etatsin die Verteidigung steckt, ist es ihr nicht möglich, sich am konventionellenWettrüsten mit den meisten Nachbarstaaten zu beteiligen, weder durch Eigen-entwicklungen noch durch Rüstungsimporte. Um seine wachsende konventio-nelle Unterlegenheit zu kompensieren, scheint das Land auf die Entwicklungvon Chemie- und Nuklearwaffen zu setzen. Damit schafft es aber gerade inNordostasien neue Ungleichgewichte, die den nuklearen Rüstungswettlauf an-

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heizen, sollten die Verhandlungen bei den Sechsmächte-Gesprächen zwischenChina, USA, Japan, Russland, Nord- und Südkorea scheitern.

Russland

Mit Ausnahme der nuklearstrategischen Streitkräfte sind Russlands Truppenveraltet ausgerüstet. Moderne Waffen wurden fast nur für den Export nachChina, Indien, Venezuela und den Nahen Osten produziert. In den letzten Jah-ren dienten die Zuwächse im Verteidigungsetat hauptsächlich dazu, die nu-klearstrategischen Streitkräfte mit der mobilen Topol-M Rakete zu moderni-sieren. Die Militärausgaben stiegen dabei in den letzten Jahren nicht stärkerals das Wirtschaftswachstum, 2006 wurden sie auf 24,9 Mrd. USD geschätzt.Die wirtschaftliche Erholung und ein jährliches Wirtschaftswachstum von 5bis 7 Prozent seit 1999, das angesichts steigender Energie- und Rohstoffpreiseanhalten dürfte, ermöglichen es Russland, auch wieder verstärkt in die konven-tionellen Streitkräfte zu investieren. Die neue Militärstrategie, über die nochberaten wird, zielt darauf, die konventionellen Streitkräfte zu modernisieren,um sie zur Terrorismus-Bekämpfung und zur militärischen Machtprojektionzu befähigen. Moskau erhöht die globale Unsicherheit, indem es sich zur Ver-besserung seiner Sicherheit zwei Optionen offen hält: Sollte China zur Haupt-bedrohung werden, will es sich künftig stärker an den Westen und die NATObinden. Oder es wird mit China die Shanghai-Organisation zu einem Gegen-bündnis aufbauen, sollte sich eine Neuauflage des Kalten Krieges, von demPutin auf der 43. Münchner Sicherheitskonferenz Anfang 2007 sprach, nichtvermeiden lassen.

Südasien

Indien und Pakistan

In Südasien verzeichnet Indien mit mehr als 23 Mrd. USD das größte Vertei-digungsbudget, mit weitem Abstand gefolgt von Pakistan mit 3,6 Mrd. (Stand2005). Zwischen 1996 und 2005 stieg der indische Verteidigungshaushalt realum mehr als 82 Prozent. Nach einer moderaten Zunahme zu Beginn des Jahr-hunderts wuchsen die Verteidigungsausgaben 2004 um rund 16 Prozent und2005 um 7,8 Prozent. Seit 2004 ist Indien wieder der größte Rüstungsimpor-teur unter den Entwicklungsländern. Seine Rüstungsimporte, überwiegend aus

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Russland und Israel, betrugen 2004 ca. 5,7 Mrd. USD.5 Die Rüstungsausga-ben und die Rüstungsimporte werden vermutlich in den nächsten Jahren weitersteigen.

Erstens haben sich Indiens Verteidigungsausgaben im vergangenen Jahr-zehnt bei ca. drei Prozent des BIP eingependelt und da Experten mit einemnachhaltigen Wirtschaftswachstum möglicherweise sogar über dem von Chinarechnen, können die hohen Zuwächse der Rüstungsausgaben auch künftig oh-ne zusätzliche Belastungen im zivilen Sektor finanziert werden. Zweitens treibtdas Wissen um die eigene Wirtschaftsmacht die indischen Rüstungsprogram-me an. Das Wirtschaftswachstum in Asien hat die Bedeutung der Schifffahrts-wege im Indischen Ozean, über die pro Jahr mehr als eine Milliarde TonnenErdölprodukte nach Asien geliefert werden, erheblich erhöht. Entsprechendseinem gestiegenen Eigenverbrauch versucht Indien seinen maritimen Einflusszu stärken. So will die Marine am Ende des Jahrzehnts zwei Flugzeugträger-gruppen einsetzen, die gleichzeitig im Arabischen Meer und im Golf von Ben-galen agieren können und die Position gegenüber der – ebenfalls expandie-renden – chinesischen Flotte stärken. Schon jetzt weitet Indien seinen Ein-fluss in der Region aus und bot Malaysia im Sommer 2006 Unterstützung beider Überwachung der Straße von Malakka, der wichtigsten Versorgungsrou-te vom Indischen Ozean in die Südchinesische See und den Pazifik, an. Auchdie Luftstreitkräfte wollen ihre area of interest ausweiten. Mit der wachsendenwirtschaftlichen Rolle steige auch die Erwartung, so der indische Luftwaffen-kommandant Shashindra Pal Tyagi, dass sich Indien in „Fragen regionaler Si-cherheit“ und bei „humanitären Belangen“ stärker engagiert.6

Hier kommt, drittens, das verbesserte Verhältnis zu den USA ins Spiel, dassich in dem seit Juli 2005 geplanten Nuklearabkommen niederschlug. Es sollIndien, das den nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NPT) nicht unterzeich-net hat, volle zivile Nuklearkooperation mit den USA gewähren. Im Gegenzugwürde Indien sein Nuklearprogramm teilen und die als zivil deklarierten Anla-gen internationaler Kontrolle unterstellen. Brisant ist, dass das Abkommen dasmilitärische Nuklearprogramm Indiens entlasten würde, was speziell Pakistansehr kritisch sieht. Allerdings ist die Zukunft des Atomdeals noch ungewiss,da Teile des US-Kongresses schärfere Auflagen und indische Vorleistungenverlangen, während Indien keinerlei Veränderungen akzeptieren will.

Die Unterzeichnung des auf zehn Jahre angelegten indisch-amerikanischen

5 Rahul Bedi: „Indian conventional defence purchases soar“, in: Jane’s Defence Weekly 42(2005): 37, S. 42.

6 Rahul Bedi: Interview mit Air Chief Marshal Shashindra Pal Tyagi, Indian Air Force Chief,in: Jane’s Defence Weekly 42 (2005): 38, S. 34 (eigene Übersetzung).

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Verteidigungspakts im Juni 2005 wurde öffentlich kaum zur Kenntnis genom-men. Das Dokument weist auf die gemeinsamen Interessen bei der Terrorbe-kämpfung, der Bekämpfung religiöser Extremisten, der Nichtverbreitung vonMassenvernichtungswaffen und dem Schutz von Handelslinien hin. Neben ver-mehrten gemeinsamen Übungen sieht der Pakt intensivierten Rüstungshandel,Technologietransfer und gemeinsame Forschungs- und Entwicklungsprojek-te vor. Damit unterstützen die USA Indien in seinem Bestreben, die eigenenStreitkräfte zu modernisieren und zentrale Elemente der Revolution in Mili-tary Affairs (vgl. Friedensgutachten 2005, Beitrag 3.6.) zu inkorporieren. Hin-ter dieser Kooperation steht das Interesse Washingtons, Indien als regionaleGroßmacht für seine Bemühungen, China einzuhegen, zu gewinnen. Zwar füh-ren Indien und China Gespräche mit dem Ziel, ihren seit 1962 schwelendenGrenzkonflikt beizulegen; und im Juni 2006 einigte man sich einen Grenzüber-gang zu öffnen – gleichwohl besteht weiterhin Misstrauen. Die amerikanischeUnterstützung verfolgt auch das Ziel, die Rüstungs- und Sicherheitskooperati-on zwischen Indien und Russland einzuschränken. Mit welchem Erfolg, bleibtoffen.

Ein weiteres Motiv Indiens, seine Rüstung zu erhöhen, ist die Rivalität mitPakistan. Zwar haben sich die Beziehungen verbessert, seit man sich Anfang2004 auf einen Zeitplan für Friedensverhandlungen einigte und kontinuierlicheGespräche führt, die beide Seiten jüngst als irreversibel bezeichneten. Dochgerieten die Gespräche durch die schlechte humanitäre Kooperation nach demErdbeben in Kashmir am 8. Oktober 2005 und den Bombenanschlägen isla-mistischer Terroristen in Delhi knapp zwei Wochen später ins Stocken. NachBerechnungen der indischen Armee soll sich das militärische Kräfteverhältniszwischen Indien und Pakistan von 1,75 : 1 Mitte der 1970er Jahre auf 1,22 : 1Anfang dieses Jahrzehnts verschlechtert haben.7 Möglicherweise sagen dieseZahlen mehr aus über die indische Perzeption Pakistans als über das tatsächli-che Kräfteverhältnis. Die realen Verteidigungsausgaben Pakistans stiegen zwi-schen 1996 und 2004 nur um 17 Prozent und sind zwischen 2004 und 2005sogar um acht Prozent gefallen. Auch nahm der Anteil der Rüstungsausga-ben am BIP seit 1996 kontinuierlich ab. Allerdings konnte Pakistan in dieserZeit durch Kooperation mit China moderne Waffensysteme erlangen und ist ineinigen Hightech Joint Ventures engagiert. In jüngster Zeit hat Pakistan nach16-jähriger Pause dank seines Engagements im Antiterrorkampf als Belohungauch wieder amerikanische Hochtechnologie erhalten. Bis Ende 2007 werdender pakistanischen Luftwaffe 36 moderne F-16C/D Kampfflugzeuge im Wertvon ca. 3 Mrd. USD überstellt. Zusätzlich wurde die Lieferung modernster

7 Military Balance 2004/05, S. 309.

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Luft-Luft Raketen mit Fähigkeiten, über die Pakistan im Gegensatz zu Indienbislang nicht verfügte, beschlossen. Allerdings knüpfen die USA an die Lie-ferung die Bedingung, die enge Rüstungskooperation Pakistans mit China zulösen. Nach 16 Jahren amerikanischen Rüstungsembargos dürften jedoch dieBefürchtungen in Pakistan vor einer erneuten US-Abhängigkeit wahrschein-lich so groß sein, dass man auf die chinesische Kooperation nicht verzichtenwird.

Südostasien

In Südostasien wirkt die Krise von 1997/98 noch nach. Viele Rüstungspro-gramme wurden verschoben oder gestrichen, und die Rüstungsetats regionalbedeutender Staaten wie Indonesien oder Malaysia haben erst seit kurzer Zeitwieder das Niveau der frühen und mittleren 1990er Jahre erreicht. Trotzdemvollzieht sich in der Region eine allgemeine Modernisierung der Streitkräfte,wobei angesichts der gestiegenen Bedeutung der Seehandelswege sowie derlangen Küstenlinien der meisten Länder ihr Hauptaugenmerk auf den Marinenund Luftwaffen liegt. Unklare Grenzverläufe bergen das größte Potenzial füreine militärische Auseinandersetzung.

Singapur

Vorreiter bei der regionalen Modernisierung der Streitkräfte ist Singapur. Trotzseiner knapp 4,5 Mio. Einwohner, die auf weniger als 700 Quadratkilometernleben, gilt das kleine Land aufgrund seiner hochmodernen, dem Leitbild deramerikanischen Revolution in Military Affairs folgenden Armee als regiona-le Mittelmacht. Da Singapur als einer der wenigen Staaten der Region seineRüstungsbemühungen nach der Asienkrise nur marginal einschränken musste,zählen seine Luft- und Marinestreitkräfte – neben Australien – zu den mo-dernsten der Region. Die Kompensation von Quantität durch Qualität und diefast nicht vorhandene strategische Tiefe des Landes spielt bei den Modernisie-rungsentscheidungen mindestens eine ebenso starke Rolle wie das besondereInteresse des Stadtstaates an sicheren Seewegen aufgrund seiner Exportabhän-gigkeit.

Malaysia

Malaysia hat zwar keinen offenen Konflikt mit Singapur, doch ist das Verhält-nis zwischen beiden Staaten aus historischen Gründen angespannt. Malaysias

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Rüstungsentscheidungen orientieren sich traditionell an den Vorgaben des klei-nen Nachbarn. Dabei spielt neben Prestigedenken auch eine gewisse Aktions-Reaktions-Dynamik eine Rolle: Die eigene Stärke wird in Bezug zum hoch-gerüsteten kleinen Nachbarn gesetzt. Dass diese Dynamik aber ihre Grenzenhat, zeigt sich darin, dass Malaysia in den letzten zehn Jahren nie viel mehr alsdie Hälfte der Rüstungsausgaben Singapurs aufbrachte und seinen Militäretatin den Jahren 1998 bis 2000 sogar einschränkte, was gegen die Brisanz desRüstungswettlaufs spricht.

Indonesien

Ähnlich wie in Malaysia wurde auch der indonesische Verteidigungshaushaltwährend der Asienkrise zurückgeschraubt und erreichte erst 2004 wieder denrealen Wert von 1996, nämlich 2,77 Mrd. USD (in Preisen von 2003). Gesun-kene Budgets, gepaart mit dem – seit der Unterdrückung des Unabhängigkeits-referendums in Ost-Timor durch indonesische Truppen im Jahr 1999 bestehen-den – Waffenembargo der EU und der USA, führten dazu, dass viele Gerät-schaften der indonesischen Armee (noch) in schlechtem Zustand oder zum Teilnicht einsatzfähig sind. Geplante Modernisierungen durch Einkäufe in Osteu-ropa oder Russland scheiterten oft an Geldmangel. Für die nächsten Jahre plantIndonesien eine umfassende Restrukturierung der Marine und hofft, bis 2013den Einsatzbereich seiner Marine über küstennahe Gewässer hinaus auswei-ten zu können. Dabei kommt Indonesien die amerikanische Entscheidung vomNovember 2005 zu Hilfe, das Waffenembargo gegen den Inselstaat aufzuhe-ben, umfangreiche Waffenlieferungen zuzulassen und „der Stimme der Mä-ßigung in der islamischen Welt“8 finanzielle Militärhilfe zu gewähren. Aller-dings zeigt die verhaltene Reaktion auf die amerikanische Regional MaritimeSecurity Initiative von 2004, die auf eine intensivere Kooperation regionalerMarinestreitkräfte unter amerikanischer Führung zielte, dass Indonesien aufdie Einmischung externer Akteure in regionale Sicherheitsbelange sehr emp-findlich reagiert. Ein einschneidendes Erlebnis war hier die UN-Intervention inOst-Timor unter der Führung Australiens im Jahr 1999, die die Beziehungenzwischen den beiden Nachbarn erheblich beeinträchtigte.

8 So Undersecretary of State for Political Affairs, Nicholas Burns, in einem Statement zurEntscheidung der Bush-Regierung, zit. nach Scott Morrissey: „U.S. Lifts Indonesia ArmsEmbargo“, in: Arms Control Today, January/February 2006, www.armscontrol.org/act/2006_01-02/JANFEB-indonesia.asp (Zugriff: 23.3.2007).

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Australien

Australien versteht sich zunehmend als Ordnungsmacht in der näheren Region.Es beteiligte sich an den von den USA geführten Operationen in Afghanistan2002, im Irak 2003 und intervenierte auf den Salomon-Inseln im Juli 2003.Das zeugt von der australischen Abkehr von der bisherigen Landesverteidi-gung hin zur Machtprojektion. Im Rüstungsbereich ist Canberra schon frühdem amerikanischen Beispiel gefolgt, seine Armee mit modernster Hochtech-nologie auszurüsten, um quantitative Nachteile auszugleichen. Mit gut 13 Mrd.USD (Stand 2005) verfügt Australien über den größten Wehretat in der Regionund plant jährliche Steigerungen von real drei Prozent bis 2015. Die Verteidi-gung gegen nicht näher bezeichnete Herausforderer ist indes nicht ganz in denHintergrund getreten. So sorgte jüngst für Überraschung, dass Canberra ent-gegen früheren Absichten nun doch die neuen F/A-18F Kampfjets beschaffenwill, um keine „Fähigkeitenlücke“ entstehen zu lassen. Immerhin konnte Aus-tralien die in den späten 1990er Jahren verschlechterten Beziehungen zu vielenasiatischen Nachbarn inzwischen normalisieren. Im November 2006 erneuer-ten Indonesien und Australien das 1999 von jenem aufgekündigte Abkommenzur bilateralen Sicherheitskooperation. Von besonderer Bedeutung ist das bila-terale Sicherheitsabkommen zwischen Japan und Australien vom März 2007,das auf australische Initiative zustande kam und die sicherheitspolitische Rolledes fünften Kontinents auch über die nähere Umgebung hinaus deutlich auf-wertet.

Alles halb so wild?

Die zu beobachtenden Rüstungsdynamiken sind in den drei Regionen unter-schiedlich strukturiert und haben verschiedene Ursachen: Während in Süd-ostasien hauptsächlich nationale Rivalitäten und Konflikte die Rüstungsdyna-miken antreiben, spielen in Südasien und Nordostasien zusätzlich auch regio-nale und vor allem globale Faktoren eine sich wechselseitig verstärkende Rol-le. Das gilt für Nordostasien vielleicht noch stärker als für Südasien.

Mit China und Indien stehen sich zwei regionale Großmächte gegenüber,die beide als kommende Weltmächte gehandelt werden und deren Rüstungs-programme auf die Ausweitung des Einflussraumes ausgerichtet sind. Hinzukommt Russland, das sich als zehntstärkste Wirtschaftsnation ebenfalls miteinem regionalen Führungsanspruch zurückmeldet. In dieser Lage versuchendie USA ihren Einfluss durch die gezielte Unterstützung Indiens zu verstärken.Trotz der gleichzeitigen Waffenlieferungen an Pakistan erhöhen sie damit das

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Ungleichgewicht zwischen Indien und seinem nordwestlichen Rivalen, wasbei einer erneuten Verschlechterung der Beziehungen die Gefahr eines Krie-ges zwischen den beiden Nuklearmächten birgt. Schließlich zeigt auch JapanInteresse an einer bedeutenderen Rolle, auch wenn sich die japanischen Am-bitionen wegen der Verfassungsbeschränkungen noch nicht in höheren Rüs-tungsausgaben niederschlagen. Kein anderer Staat in Südostasien ist bestrebt,seine Rolle so massiv auszuweiten. Nur Australien versucht sich als regionaleOrdnungsmacht. Allerdings sind die Ressourcen Canberras zu begrenzt, umsich ohne amerikanische Hilfe über die direkte Nachbarschaft hinaus militä-risch zu engagieren.

Es gibt zwischen den Regionen auch Gemeinsamkeiten. Die inzwischenwieder in Schwung gekommene Wirtschaft ermöglicht in vielen Ländernwachsende absolute Rüstungsausgaben, ohne den Bevölkerungen Mehrbe-lastungen aufzubürden, die zumindest in den demokratischen Staaten zu ei-ner intensiveren Diskussion staatlicher Ressourcenallokation führen könnten.Gleichzeitig suchen immer mehr Staaten der Region ihre ökonomischen Inter-essen auch durch militärische Mittel zu schützen, vor allem durch höhere In-vestitionen in die Marine. Vor dem Hintergrund vieler ungelöster Grenzfragenund unklarer Abgrenzungen nationaler Hoheitsgewässer besteht vor allem inSüdostasien immer noch die Gefahr militärischer Zusammenstöße, auch wennsie in den vergangenen Jahren praktisch nicht mehr vorkamen.

Die bisherigen Bemühungen zur militärischen Vertrauensbildung habentrotz einiger Fortschritte nicht geholfen, die Rüstungsdynamiken nachhaltigzu beschränken. In den letzten Jahren ist eher das Gegenteil zu beobachten.Die bilateralen sicherheitspolitischen Dialoge und vertrauensbildenden Maß-nahmen reichten nicht aus. Zwar ist z.B. China bemüht, mit vielen Nach-barn – darunter auch mit Indien – seine Grenzprobleme friedlich zu regeln, undzwischen Pakistan und Indien gibt es Friedensgespräche über den Kaschmir-Konflikt sowie eine von den USA unterstützte Vertrauensbildung im nuklearenBereich. Diese Schritte sind unbedingt fortzusetzen. Zugleich erkennen immermehr Staaten die Notwendigkeit der gemeinsamen Abwehr regionaler Gefah-ren, wie etwa der Piraterie, des internationalen Terrorismus oder der nuklearenNonproliferation. Das findet in den letzten Jahren seinen Ausdruck in einersteigenden Anzahl von Sicherheitsabkommen. Hier bietet sich die Chance, diesicherheitspolitischen Dialoge weiter zu multilateralisieren, um trotz expandie-render Rüstungsprogramme die Gefahren ungewollter militärischer Konflikteeinzuhegen.

Die Einflussmöglichkeiten externer, speziell europäischer Akteure in Asi-en sind begrenzt. Am bedeutungsvollsten ist hier die Aufrechterhaltung des

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RÜSTUNGSDYNAMIKEN IN ASIEN

EU-Waffenembargos gegenüber China, solange es nicht zu mehr militärischerTransparenz und zu mehr sicherheitspolitischer Kooperation gerade in der Tai-wanfrage bereit ist. Generell sind die EU-Staaten bei Rüstungsexporten in die-sen Großraum zur besonderen Zurückhaltung angehalten, selbst wenn sie dieUnabhängigkeit von den USA erhöhen – die Lieferung der deutschen Patri-ot II-Variante sowie französischer U-Boote und Hubschrauber an Südkoreaunterliegt einer besonderen Begründungspflicht. Auch wenn es der Sicherheitdeutscher Truppen in Afghanistan dienen mag – deutsche Rüstungslieferungenan Pakistan bleiben genauso problematisch wie die an Singapur und Malaysia,laut Rüstungsexportbericht 2005 der Bundesregierung die wichtigsten Emp-fängerländer in diesem Raum.

Signifikante Waffenlieferungen stammen aus Russland, Israel und denUSA. Generell kommt den USA hier eine besondere, wenn auch zwiespälti-ge Rolle zu. Auf der einen Seite verstärken die USA ihren Einfluss und nut-zen Waffenlieferungen gezielt als Belohung für gefälliges Verhalten einzelnerStaaten (Pakistan, Indonesien, Australien) oder zur Einhegung Chinas (Indien).Auf der anderen Seite besitzen die USA so viel Gewicht, dass Rüstungskon-trollbemühungen nur mit ihnen gelingen können. Hier ist besonders auf dieim Februar 2007 endlich in Gang gekommenen Sechsmächte-Gespräche hin-zuweisen. Eine Regelung der Nuklearkrise mit Nordkorea könnte viele Span-nungen abbauen. Ihre sicherheitspolitische Wirkung würde sich zwar zunächstauf die koreanische Halbinsel konzentrieren. Doch besitzen diese Gesprächeschon jetzt das Potenzial, eine Basis für die Verständigung zwischen Chinaund den USA zu schaffen und dabei auch die übrigen Regionalmächte Nord-ostasiens einzubinden. Selbst auf den Taiwankonflikt würde das stabilisierendwirken.

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3.3. Der Wirtschaftsboom in China und Indien:Das Konfliktpotenzial der Umweltfolgen

Volker Teichert und Stefan Wilhelmy

Der wirtschaftliche Aufstieg von China und Indien trägt dazu bei, die Weltord-nung grundlegend zu verändern. Vielfach wird dies als „tektonische Verschie-bung“ in der internationalen Machtkonstellation bezeichnet (vgl. Beitrag 3.4.).Der mit der ökonomischen Entwicklung verbundene politische und militäri-sche Machtzuwachs von China und Indien wird in den nächsten Jahrzehntenvoraussichtlich zu einer multipolaren Weltordnung führen, in der Europa nurmit großen politischen und wirtschaftlichen Anstrengungen einen Platz nebenden USA und den beiden mit Abstand bevölkerungsreichsten Ländern der Erdebehaupten können wird. Der Zugriff auf endliche Ressourcen und die Nutzungder Umweltmedien gewinnen dabei zunehmend an Bedeutung.

Neue Weltmächte im Verteilungskampf um Ressourcen undUmweltnutzung

Beim Kampf um vorhandene Rohstoffe und Energiequellen müssen sich dieIndustrienationen zunehmend mit den ehemaligen Entwicklungsländern Chi-na und Indien auseinandersetzen. In diesen beiden Ländern hat eine enormewirtschaftliche Entwicklung dazu geführt, dass beide Staaten zu wirtschaft-lichen Mächten aufgestiegen sind, die nun in Konkurrenz mit den Industrie-staaten um Machteinflüsse bei den Rohstoff exportierenden Ländern ringen.Gerade in Afrika gehört China mittlerweile zu den wichtigsten Akteuren hin-sichtlich der Erschließung und Ausbeutung neuer Erdölvorkommen und an-derer Rohstoffe. „Als weltweit zweitgrößter Rohölverbraucher bezieht Chinamehr als ein Viertel seiner Öleinfuhren aus dem Golf von Guinea und dem su-danesischen Hinterland.“1 Durch eigene Kohlevorkommen und eigene Ölfel-der können China und Indien noch einen Großteil ihres Energiebedarfs durchEigenproduktion decken. China und Indien verfügen nach den USA und Russ-land über die dritt- und viertgrößten Kohlevorkommen. Die extensive Nutzungvon Kohle führt als Folge der ineffizienten Verbrennungstechniken zu enormenLuftverschmutzungen, vor allem in den Großstädten.

1 Jean-Christophe Servant: Weiße Elefanten in der Grauzone, in: Edition Le Monde diploma-tique, No. 1 (2007), S. 48.

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ASIENBOOM UND KLIMAWANDEL

China tritt auf den Rohstoffmärkten in wachsendem Maße in Erscheinung,um die für seine Produktion notwendigen Ressourcen zu sichern. Der Versuchder staatlichen chinesischen Ölfirma China National Offshore Oil Corporation(CNOOC) 2005, den amerikanischen Ölkonzern Unocal für 18,5 MilliardenUS-Dollar zu kaufen, war ein erster Fingerzeig für den sich verschärfendenKonkurrenzkampf. Der gestiegene Ressourcen- und Energieverbrauch spiegeltsich in den jährlichen Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts wider, die inden letzten anderthalb Jahrzehnten in China (preisbereinigt) im Durchschnittum rund fünf Prozent gestiegen sind. Auch in den kommenden Jahren wirdmit ähnlich hohen Wachstumsraten gerechnet. In Indien liegen sie derzeit nochunter denen in China, doch erwartet man – mit einer Zeitverzögerung von zehnbis 15 Jahren – ähnlich hohe Wachstumsraten.

Tabelle 1: Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes in China und Indien von1990 bis 2006

Jahr China IndienBruttoinlandsprodukt Bruttoinlandsprodukt

zu realen Preisen(in Mrd. Yuan)1)

Veränderung zumVorjahr (in vH)

zu realen Preisen(in Mrd. Rupien)

Veränderung zumVorjahr (in vH)

1990 3.718,9 18.013.6061991 3.927,3 + 5,6 16.144.283 – 10,41992 4.214,4 + 7,3 15.048.525 – 6,81993 4.171,6 – 0,1 14.853.285 – 1,31994 3.783,8 – 9,3 14.399.118 – 3,11995 3.570,3 – 5,6 14.058.674 – 2,41996 3.615,9 + 1,3 13.858.208 – 1,41997 3.825,0 + 5,8 13.603.712 – 1,81998 4.157,7 + 8,6 12.690.377 – 6,71999 4.517,6 + 8,7 12.950.258 + 2,02000 4.859,5 + 7,6 13.037.235 + 0,72001 5.187,4 + 6,7 13.176.199 + 1,12002 5.657,6 + 9,1 13.179.898 0,02003 6.115,7 + 8,1 13.649.269 + 3,62004 6.446,2 + 5,4 14.125.278 + 3,52005 6.788,4 + 5,3 14.485.758 + 2,62006 7.156,9 + 5,4 14.871.726 + 2,7

1) ab 1990 in Preisen von 2000Quelle: International Monetary Fund; eigene Berechnungen

Diese jährlichen Wachstumsraten würden allerdings wesentlich geringerausfallen, wenn man die direkten und indirekten Kosten, die sich durch die

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Umweltverschmutzung und -zerstörung ergeben, mit einberechnete. Nach ei-nem Bericht der chinesischen State Environmental Protection Administrati-on (SEPA) beliefen sich die preisbereinigten Kosten für die Umweltschäden(Gross Domestic Pollution) allein in China im Jahre 2004 auf knapp siebenProzent des realen Bruttoinlandsprodukts.2 Für Indien liegen keine vergleich-baren Zahlen vor.

Mit dem immensen Wachstum verbunden ist ein ständig steigender Ver-brauch an Energie und Rohstoffen. Um einerseits die Konsumbedürfnisse dereigenen Bevölkerung zu befriedigen, die Mitte 2006 in beiden Ländern 2,43Milliarden Menschen und damit rund 40 Prozent der Weltbevölkerung aus-machte, ist die Nachfrage nach Rohstoffen enorm gewachsen, mit denen haupt-sächlich die Produktionsgüter des täglichen Bedarfs wie Kleidung, Elektroge-räte und Automobile hergestellt werden. 2005 hat China 26 Prozent des Roh-stahls, 37 Prozent der Baumwolle und 47 Prozent des Zements, die weltweitzur Verfügung standen, verarbeitet3 . Zum anderen profitieren aber auch dieVerbraucher in den Industriestaaten von dieser Entwicklung, denn viele euro-päische, amerikanische und japanische Firmen haben mittlerweile große Teileihrer Produktion nach China und Indien verlagert, um Kosten zu sparen. Dashält den Preis für viele Güter niedrig. Die Industriegesellschaften bezahlen die-se Entwicklung aber mit dem Verlust von Arbeitsplätzen und den Umweltfol-gen in China und Indien, die sich ihrerseits auf das globale Klima auswirken.

Rund drei Viertel der auf dem Weltmarkt gehandelten Spielwaren kom-men aus China. Ähnlich sieht es bei den Elektroartikeln aus. Außerdem istChina dabei, eine der größten Automobilindustrien aufzubauen. Seit 2006 istChina nach den USA der zweitgrößte Automobilproduzent. Insgesamt hat es2006 7,2 Millionen Fahrzeuge produziert, die Hälfte davon Pkws. Die Volksre-publik überholte damit Japan als zweitgrößten Automobilhersteller. Bis 2020sollen sich nach einem Bericht der Weltbank auf Chinas Straßen 190 MillionenFahrzeuge befinden – mehr als in den USA.4 Zurzeit liegt der Pkw-Bestand inChina bei rund 30 Millionen. In Indien ist eine vergleichbare Entwicklung vor-auszusehen: Dort gibt es gegenwärtig ca. acht Millionen Autos, in den nächstenbeiden Jahrzehnten wird mit 100 Millionen Fahrzeugen gerechnet. Die Folgenfür das Weltklima wären gravierend. „Nach Angaben der US-Energiebehörde

2 Vgl. SEPA (ed.): GDP – Gross Domestic Pollution, unter http://english.sepa.gov.cn/zwxx/hjyw/200609/t20060908_92572.htm (Zugriff: 29.3.2007).

3 Vgl. Christopher Flavin/Gary Gardner: China, Indien und die neue Weltordnung, in: World-watch Institute (Hrsg.): Zur Lage der Welt 2006: China, Indien und unsere gemeinsameZukunft. Münster 2006, S. 56.

4 Vgl. Asian Development Bank (ed.): China wird CO -Emissionen verdreifachen, www.CO2-Handel.de/article311_4007.html (Zugriff: 29.3.2007).

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sind US-amerikanische Autos für fünf Prozent des weltweiten Ausstoßes desKlimagases Kohlendioxid (CO ) verantwortlich. Auf ganz Asien gerechnet,könnte sich der Ausstoß an CO durch den Transportsektor in den nächsten 25Jahren verdreifachen.“5 2004 lag der CO -Ausstoß pro Kopf in China bei 3,7Tonnen und in Indien bei einer Tonne. Zum Vergleich: In den USA stieß jederBürger im Jahre 2004 19,7 Tonnen und in Deutschland 10,3 Tonnen aus.

Die Verlagerung von arbeits- und ressourcenintensiven Produktionsprozes-sen insbesondere nach China entlastet auch die Umweltbilanz der Industrielän-der, was in der aktuellen Debatte häufig übersehen wird. Wird beispielsweisedie Produktion eines bestimmten Konsumartikels von Deutschland nach Chinaverlagert, schlagen sich die bei seiner Herstellung anfallenden Treibhausgase-missionen negativ in der chinesischen Umweltbilanz nieder. Der Ausstoß derdeutschen Klimagase sinkt entsprechend, ohne dass sich das Konsumverhaltenin Bezug auf dieses Produkt in Deutschland ändern muss.

China und Indien haben vor diesem Hintergrund zwar noch den Statuseiner „verlängerten Werkbank“ für die Unternehmen in den klassischen In-dustriestaaten, doch ist dies nur eine Übergangsphase auf dem Weg zu einereigenständigen wirtschaftlichen Entwicklung. Chinas gewaltiges Wirtschafts-potenzial zeigt sich darin, dass nach wie vor 45 Prozent der Arbeitskräfte inder Land- und Forstwirtschaft, 24 Prozent in der Industrie und 31 Prozent imDienstleistungssektor tätig sind. In Indien ist das Arbeitskräftepotenzial fürdie Industrie- und Dienstleistungssektoren noch größer: Hier arbeiten noch 60Prozent der Beschäftigten in der Landwirtschaft, zwölf Prozent in der Industrieund 28 Prozent im Dienstleistungssektor.

Schaut man sich die Verteilung auf die einzelnen Wirtschaftssektoren an,so tragen in China der Industriesektor mit 48 Prozent (Indien: 19 Prozent), derDienstleistungssektor mit 40 Prozent (Indien: 61 Prozent) und die Land- undFortwirtschaft mit 12 Prozent (Indien: 20 Prozent) zum Bruttoinlandsproduktbei. 6 Die von beiden Ländern verfolgte nachholende wirtschaftliche Entwick-lung wird diese Struktur gravierend verschieben.

Die herrschende Weltordnung wird durch die zuvor beschriebenen Ent-wicklungen in vielerlei Hinsicht verändert:– Erstens wird sich die Rangfolge der Länder verändern, indem China und

Indien die bisherigen Industriestaaten in vielen Wirtschaftsbereichen (Chi-

5 Harald Maass: In China fahren bald mehr Autos als in den USA, in: Frankfurter Rundschauvom 6.2.2007, S. 1.

6 Vgl. Central Intelligence Agency (ed.): The World Factbook 2007: China, www.cia.gov/cia/publications/factbook/geos/in.html und Central Intelligence Agency (ed.): The WorldFactbook 2007: India, www.cia.gov/cia/publications/factbook/geos/ch.html.

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na: Industriesektor; Indien: Dienstleistungssektor) überholen und verdrän-gen werden.

– Zweitens wird sich das ressourcen- und energieintensive Modell von Eu-ropa, Japan und den USA nicht eins zu eins auf China und Indien übertra-gen lassen. Begrenzte Ressourcen, verteuerte Energie, knappes Trinkwasser,beschädigte Ökosysteme und der mittlerweile auch in den Industrieländernangekommene Klimawandel zeigen, dass das westliche Industriemodell unddie ihm zu Grunde liegenden Produktions- und Konsummuster weder in denIndustrieländern fortgeführt noch auf Entwicklungs- und Schwellenländerübertragen werden können.

Diese Erkenntnis ist spätestens seit der Diskussion über die „Grenzen desWachstums“ vor über drei Jahrzehnten bekannt; die aktuelle Diskussion überdie globalen ökologischen Folgen des chinesischen und indischen Wirtschafts-booms kam also nicht überraschend. Die wirtschaftliche Dynamik der beidenLänder wird aber die verbleibende Zeit für die notwendigen Anpassungspro-zesse erheblich verkürzen und zeigt exemplarisch das Ausmaß der zu bewälti-genden Aufgaben.

Ökonomisch-ökologische Auswirkungen desWirtschaftsbooms

Der Wirtschaftsboom, die Umweltzerstörungen und der Klimawandel habenin China und Indien zu einer dramatischen Zunahme von Naturkatastrophengeführt, die menschliches Handeln mitverursacht hat. Nach eigenen Berech-nungen auf Grundlage der Angaben der Münchner Rückversicherung wurdenzwischen 1900 und 1909 in China nur sechs Katastrophen gezählt, seit An-fang dieses Jahrzehnts sind es bereits 205. In Indien ist eine vergleichbare Ent-wicklung zu beobachten: Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts waren eslediglich vier Naturkatastrophen, seit 2000 bereits 133.

Daneben kommt es in China als Folge der wirtschaftlichen Entwicklung zueinem wachsenden Wasserbedarf der Bevölkerung, der Industrie und der Be-wässerungslandwirtschaft; der Grundwasserspiegel sinkt, die Flüsse trocknenaus. Hinzu kommt die Wasserverschmutzung durch Papierfabriken, Druckerei-en und Färbereien, chemische Fabriken und andere Betriebe. Etwa drei Vierteldes Wassers, das durch Chinas ländliche Gebiete fließt, ist nicht als Trink-wasser geeignet. In städtischen Regionen sind sogar 90 Prozent der Flüsse ver-schmutzt, was nicht verwundert, denn nur ein Viertel der städtischen Abwässerwird geklärt. Um landesweit zumindest die Hälfte der Abwässer zu reinigen,

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wären rund 10.000 Klärwerke und Investitionen von mindestens 48 MilliardenUS-Dollar notwendig. Rund 700 Millionen Menschen haben in China keinenZugang zu sauberem Wasser, was zu Magen-Darm-Erkrankungen wie Choleraund Ruhr führt.

Von 30 Städten mit der weltweit höchsten Luftverschmutzung liegen 20in China. Hauptursache für die schlechte Luftqualität ist die Verbrennung vonKohle. China hat mittlerweile die weltweit höchsten Schwefeldioxidemissio-nen, die zu jährlichen Schäden in Höhe von 13,3 Milliarden US-Dollar führen.Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass jedes Jahr 250.000 Menschenwegen verschmutzter Luft in den Städten sterben. Der ständig wachsende In-dividualverkehr trägt zunehmend zur Luftbelastung in den Städten bei (vgl.Tabelle 2).

Neben der enormen Luftverschmutzung ist vor allem in den Städten dieAbfallentsorgung nicht oder nur unzureichend geregelt. Der Abfall ist in Chi-na allgegenwärtig und unübersehbar; gerade einmal 20 Prozent aller Abfällewerden umweltgerecht entsorgt. Die Abfallentsorgung ist bislang für die Bür-ger kostenlos, Systeme zur Mülltrennung zwecks Nutzung von verwertbarenAbfällen gibt es nicht. Der Verbrauch von Verpackungen und Plastiktüten und-flaschen ist sehr hoch. Was nicht durch arme Müllsammler verwertet wird undübrig bleibt, wird zentral verbrannt oder in die umliegende Landschaft gekipptund abgelagert. Täglich fallen außerdem etwa 30.000 Tonnen Bauschutt an,die ohne jegliche Überprüfung der toxischen Belastung zur Landgewinnunggenutzt werden.

Die Zukunft lässt in diesem Bereich Besserung erhoffen: China bemühtsich zunehmend darum, bereits bei der Produktion die Faktoren Wiederver-wendbarkeit und Entsorgung zu berücksichtigen. Maßnahmen, die eine Wie-derverwendung von gebrauchter Elektronik erleichtern, werden von der chi-nesischen Regierung unterstützt, wenn die Aufbereitung den Umweltschutz-normen entspricht. Ebenso werden Projekte zur Mülltrennung und umweltver-träglichen Entsorgung in Angriff genommen.

Ein weiteres Problem ist die Entwaldung, die ihrerseits zu Bodenerosion,Überschwemmungen, Versandung der Flüsse, Wüstenbildung und lokalen Kli-maveränderungen führt. Überschwemmungen forderten in Indien und Chinanicht nur Todesopfer, sondern zogen auch erhebliche finanzielle Auswirkun-gen nach sich. 2005 kam es beispielsweise in den beiden indischen Bundes-staaten Gujarat und Maharashtra zu sintflutartigen Regenfällen, die zahlreicheStadtteile bis zu drei Meter überfluteten. Die Regenmengen lösten Erdrutscheaus, in den Slums stürzten unzählige Hütten ein, die Menschen verloren ihr ge-samtes Hab und Gut, viele Menschen wurden durch Stromschläge getötet oder

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Tabelle 2: Werte zur Luftbelastung in China und Indien (2004)

Stickoxid Schwefeldioxid

Städte in China

Beijing 119 55Chongqing 67 113Guangzhou 75 78Guiyang 24 80Luoyang 37 99Shanghai 62 55Shijazhuang 32 89Tianjin 52 73Urumqi 58 106Wuhan 52 45

Städte in Indien

Delhi 40 10Ahmedabad 22 15Bangalore 61 7Chennai 7 5Hyderabad 31 8Kalkata 53 9Mumbai 19 7Pune 53 31

Empfohlener maximaler Wert WHO (2006) 40 50

Quelle: Asian Development Bank, Country Synthesis Report on Urban Air Quality Management. People‘sRepublic of China, Manila 2006, S. 13; Asian Development Bank, Country Synthesis Report on Urban AirQuality Management. India, Manila 2006, S. 11f.; World Health Organization (WHO), WHO Air Quali-ty Guidelines for Particulate Matter, Ozone, Nitrogen Dioxide, and Sulfur Dioxide. Global Update 2005.Summary of Risk Assessment unter www.who.int/phe/air/aqg2006execsum.pdf

ertranken in den Fluten. Insgesamt waren in beiden Bundesstaaten bis zu 1.300Todesopfer zu beklagen. Aber es war in Indien auch die teuerste Naturkatastro-phe aller Zeiten. Die Münchner Rückversicherung schätzt den Gesamtschadenauf 770 Millionen US-Dollar. In China hat die Regierung aufgrund der Über-schwemmungen im Jahre 1998 das Schlagen von Holz verboten.

Neben den ökologischen Folgekosten hat das Wachstum in China und In-dien zu Preissteigerungen auf den Rohstoffmärkten geführt. Vor allem für Ni-ckel, Eisenerz, Zinn, Kupfer, Blei und Stahlschrott sind überdurchschnittliche

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Preiserhöhungen zu verzeichnen. Auch seltene Metalle, die man für bestimmteSchlüsseltechnologien braucht, wurden drastisch teurer:

Tabelle 3: Anwendungsbereiche und Preisanstieg für ausgewählte Metalle

Rohstoff Anwendungsbereich Preis2001*

Preis2005*

Preisanstiegin%

Indium LCD-Flachbildschirme, Halbleiter 120 810 575Molybdenum Stahlerzeugung 5 72 1.340Platin Katalysatoren 533 890 66Selenium Glas, Chemie, Elektronik 3,8 52 1.268Tellurium Stahlerzeugung 7 96 1.271Tungsten Elektronik 64 140 118Vanadium Petrochemie, Metallwirtschaft 1,37 17,5 1.177Zirkon Keramik, Chemie 340 662 95

* Angaben in US-Dollar bezogen auf spezifisch relevante MengenQuelle: Stiftung Entwicklung und Frieden, Globale Trends 2007, Frankfurt/Main S. 307

Diese Verteuerungen haben aber nicht nur Auswirkungen auf die Ökono-mien der Industrie- und Schwellenländer, auch die Entwicklungsländer habenunter diesen Preisanstiegen zu leiden, insbesondere die afrikanischen und asia-tischen, die nicht im gleichen Maße wie China und Indien von der weltum-spannenden Verlagerung von Arbeitsplätzen profitieren. In den Industriestaa-ten wird es darauf ankommen, in Zukunft Produkte auf den Markt zu bringen,die reparierbar, modular aufgebaut und zerlegbar sind. Am Ende des Produkt-lebenszyklus müssen sie sich wieder in den Produktionskreislauf zurückführenlassen, ohne dass sie deponiert, verbrannt oder recycelt werden.

In Indien sorgt die Landwirtschaft durch Überdüngung und Wasserentnah-me für die größten Umweltprobleme. Beides bewirkt eine starke Bodenver-salzung und den Anstieg des Grundwasserspiegels. Weitere Umweltschädenverursachen Unternehmen, die ihre Industrieabwässer ungeklärt in die Flüs-se leiten dürfen. Ähnlich wie in China ist auch die Luftverschmutzung durchBetriebe und private Haushalte enorm.

Der Bau großer Dämme und Rückhaltebecken ließ ganze Landstriche ver-schwinden, Flora und Fauna wurden zerstört und Menschen mussten ihre Orteverlassen und umsiedeln. Parallele Entwicklungen sind auch in China zu beob-achten. Bezüglich der Abfallentsorgung hat Indien die gleichen Probleme wieChina, denn auch dort gibt es keine geregelte Müllentsorgung, vor allem wasden Verpackungsmüll, besonders Plastiktüten, angeht. Ebenso mangelt es aneiner Klärung der Abwässer mit den genannten Folgen für die Gesundheit derindischen Bevölkerung.

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Soziale Auswirkungen der Umweltveränderungen unddamit verbundene Konfliktpotenziale

Die rasante Wirtschaftsentwicklung hat in China und Indien zu einer deutli-chen Reduzierung der Armut beigetragen. In China ist beispielsweise die Zahlder absolut Armen, die von weniger als einem US-Dollar pro Tag leben müs-sen, nach offiziellen Angaben von 250 Millionen im Jahr 1978 auf 26 Mil-lionen im Jahr 2003 zurückgegangen. In Indien hat sich die Zahl der absolutArmen von einer halben Milliarde auf 250 Millionen Menschen halbiert. DerAnteil der Menschen mit sanitärer Versorgung stieg laut Human DevelopmentReport 2006 (HDR) des United Nations Development Programme (UNDP)von 1990 bis 2004 in China von 23 Prozent auf 44 Prozent, in Indien von 14Prozent auf 33 Prozent.

Vor allem in China hat der Wirtschaftsboom gleichzeitig aber auch zu mas-siven sozialen Ungleichgewichten geführt. Während das Land zu Beginn desReformprozesses Anfang der 1980er Jahre noch zu den egalitärsten Gesell-schaften zählte, wies der Grad der Ungleichverteilung der Einkommen miteinem Gini-Index von 44,7 für das Jahr 2001 einen ähnlich hohen Wert aufwie viele lateinamerikanische Staaten. In Indien lag der Gini-Index für denBerechnungszeitraum 1999-2000 bei 32,5, im Jahr 1997 betrug er 37,8; d.h.im Unterschied zu China hat der Grad der Ungleichverteilung der Einkommenabgenommen und liegt auf einem wesentlich niedrigeren Niveau7 Die wach-sende soziale Differenzierung in China zeigt sich vor allem zwischen urbanenund ländlichen Regionen.

Die ökonomischen Disparitäten werden durch die zunehmenden Umwelt-belastungen weiter verschärft, von denen arme Bevölkerungsschichten gene-rell sehr viel stärker betroffen sind. Die SEPA rechnet mit bis zu 150 MillionenÖkoflüchtlingen in den nächsten Jahren, wenn die Umweltbelastungen nichtdeutlich reduziert werden. Nach einer Umfrage der SEPA sieht die Bevölke-rung die massive Umweltzerstörung neben der medizinischen Versorgung undder Bildung mittlerweile als eines der drei größten Probleme des Landes. Von4.500 Befragten schätzten 60 Prozent die Lage der Umwelt als „sehr ernst“ ein,86 Prozent sehen ihre Gesundheit gefährdet. Die Zahl der eingereichten um-weltbezogenen Beschwerden stieg nach Angaben der SEPA im vergangenenJahr um 30 Prozent auf 600.000. Die Kommunistische Partei steht damit vorgewaltigen Herausforderungen und steckt zugleich in dem Dilemma, dass die

7 Die Angaben beruhen auf den aktuellen World Development Indicators 2006 der Weltbank,vgl. http://hdr.undp.org/hdr2006/statistics/indicators/147.html (Zugriff: 29.3.2007) sowieauf dem Human Development Report 2001.

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wirtschaftlichen Erfolge einerseits zur Stabilisierung des politischen Systemsbeitragen und andererseits die Art und Weise des Wirtschaftens die sozialenund ökologischen Grundlagen des Wachstumspfades zunehmend untergräbt.

Eines der Hauptprobleme ergibt sich dabei aus der fortschreitenden Urba-nisierung. In China hat sich der Anteil der Stadtbevölkerung zwischen 1975und 2004 von 17,4 Prozent auf 39,5 Prozent mehr als verdoppelt. In Indienstieg der Anteil in dieser Zeit von 21,3 auf 28,5 Prozent vergleichsweise mo-derat. Bis 2015 werden voraussichtlich ein Drittel der indischen und die Hälf-te der chinesischen Bevölkerung in Städten leben. Hinzu kommen in Chinaderzeit schätzungsweise 150 Millionen Landbewohner, die als Wanderarbei-ter in den boomenden Städten tätig sind. Bei der Modernisierung bestehenderSiedlungen wie auch bei der Umwandlung von landwirtschaftlich genutztenFlächen in Industrie- und Wohngebiete erhalten die bisherigen Nutzer häufigkeine oder nur eine unzureichende Entschädigung, was immer wieder zu mas-siven Protesten führt.

Gleichzeitig entsteht eine wachsende Konkurrenz um die Ressource Was-ser. Diese wird sich durch den Klimawandel in den kommenden Jahren massivverschärfen, worauf der jüngste HDR hingewiesen hat. Demnach setzen diezunehmende Nachfrage der Industrie, die Urbanisierung, das Bevölkerungs-wachstum und die Umweltverschmutzung die Wassersysteme und damit auchdie Landwirtschaft künftig einem wachsenden Druck aus. Nach Einschätzungdes UNDP wird vor allem in den Entwicklungsländern und insbesondere auchin China der sich verschärfende Konkurrenzkampf zu einer Zunahme der ge-sellschaftlichen Konflikte um Wasser führen.

Durch das rasche Wirtschaftswachstum werden die Wasserressourcen vorallem im Norden Chinas bereits heute übernutzt. So umfassen die Flüsse Huai,Hai und Huang (Gelber Fluss) nur gut acht Prozent der Wasserressourcen desLandes, liefern aber das Wasser für knapp die Hälfte der Bevölkerung und für40 Prozent der Agrarflächen. Der Anteil der Industrie an diesem Wasserver-brauch hat sich seit 1980 auf 21 Prozent verdoppelt, der des städtischen Was-serverbrauchs sogar verdreifacht. Die Nachfrage außerhalb der Landwirtschaftwird voraussichtlich bis 2030 um weitere 30 Prozent steigen. Dadurch werdenvor allem die ärmeren Bauern in ihrer Existenz bedroht.

Die sozialen und ökologischen Probleme und der wachsende Unmut inder Bevölkerung über Willkürentscheidungen lokaler Behörden und Partei-kader sowie über die um sich greifende Korruption haben in China in denvergangenen Jahren immer häufiger zu Protesten geführt. Im Jahr 2003 gabes nach Angaben der chinesischen Führung 58.000 „größere Ereignisse vonsozialen Unruhen“, zwei Jahre später zählte das Ministerium für öffentliche

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Sicherheit offiziell 87.000 Fälle von „Störungen der öffentlichen Ordnung“,die von Protestaktionen und Demonstrationen bis zu Sitzstreiks reichten.8 Vordiesem Hintergrund wird in dem ab 2006 laufenden Fünfjahresplan das Zieleiner „harmonischen Gesellschaft“ proklamiert. Bislang gelingt es der chine-sischen Führung, diese Proteste so zu kanalisieren, dass sie das System nichtdestabilisieren. Langfristig wird dies aber nur durch größere Mitspracherech-te der Bevölkerung möglich sein, was in der Übergangsphase allerdings eineGratwanderung ist.

Auch in Indien ist der wirtschaftliche Modernisierungsprozess von grund-legenden sozialen und ökologischen Veränderungen begleitet. Auf Grund derinsgesamt stabilen demokratischen Strukturen und der föderalen Ordnung ver-fügt das Land für diesen Transformationsprozess jedoch über bessere Rah-menbedingungen, weshalb Indien in zahlreichen Studien langfristig die güns-tigeren Prognosen ausgestellt werden und die südasiatische Wirtschaftsmachthäufig auch als „das bessere China“ bezeichnet wird. Welche Verwerfungendie Wirtschaftsentwicklung allerdings auch hier mit sich bringt, zeigt sich bei-spielsweise daran, dass sich in den vergangenen zehn Jahren rund 25.000 in-dische Landwirte angesichts von Missernten und hohen Schulden das Lebengenommen haben.9

Schlussfolgerungen

China und Indien haben gegenwärtig ein großes Interesse daran, den wirt-schaftlichen Aufschwung zu stabilisieren, ja sogar noch auszuweiten. Eineboomende Wirtschaft stärkt die politischen Machthaber. Doch sowohl der En-de 2006 vorgelegte Stern-Review on the Economics of Climate Change10 alsauch der vierte Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IP-CC) machen übereinstimmend deutlich, dass die nächsten ein bis zwei Jahr-zehnte darüber entscheiden werden, ob eine Trendumkehr bei den globalenTreibhausgasen rechtzeitig gelingen wird, und dass gerade die großen Schwel-lenländer wie Indien und China in diesen Prozess rasch und umfassend einge-bunden werden müssen. Beide Berichte unterstreichen überdies die ökonomi-schen Folgekosten, die durch Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirt-

8 Vgl. Heinrich Kreft: China – Die soziale Kehrseite des Aufstiegs, in: Aus Politik und Zeit-geschehen, Heft 49/2006, S. 15-20.

9 Vgl. Winand von Petersdorff: Indiens seltsamer Weg zum Wohlstand, in: Frankfurter All-gemeine Sonntagszeitung vom 18.2.2007, S. 38f.

10 Vgl. www.sternreview.org.uk (Zugriff: 29.3.2007).

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ASIENBOOM UND KLIMAWANDEL

schaftsforschung (DIW)11 untermauert werden. Nach einer DIW-Studie ist inChina bis zum Jahre 2050 mit 12 Mrd. USD und bis 2100 mit 81 Mrd. USDKlimaschutzkosten zu rechnen. In Afrika und Lateinamerika würden die Kos-ten des Klimaschutzes um ein Vielfaches höher liegen, nämlich 2050 in Afrikabei 31 Mrd. USD und in Lateinamerika bei 108 Mrd. USD.

Deshalb muss laut dem Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltverän-derungen12 bis 2050 eine Halbierung der globalen Treibhausgase im Vergleichzu 1990 erfolgen. Nimmt man eine höhere Treibhausgaskonzentration und da-mit einen höheren Temperaturanstieg in Kauf, bedarf es zwar geringerer An-strengungen zur Emissionsvermeidung, gleichzeitig steigen aber auch die Kos-ten für die notwendigen Anpassungen an die Folgen des Klimawandels erheb-lich. Und diese Kosten fallen vor allem in den ärmeren Ländern Afrikas, Asi-ens und Lateinamerikas an. In erster Linie müssen sich die Industrieländer aufGrund ihrer Verantwortung und ökonomischen Leistungsfähigkeit zu ambi-tionierten Emissionsreduktionen bekennen. Dies ist die Voraussetzung, damitauch für die Schwellen- und Entwicklungsländer schrittweise und differenzier-te Reduktionen festgeschrieben werden können. Denn alles, was an Maßnah-men unterbleibt, hat nicht nur Auswirkungen in den Industrieländern, sondernauch in den Entwicklungsländern. Das Konfliktpotenzial zeigt sich erstens inZusatzkosten für die privaten Haushalte, denn natürlich werden die Kostendes Klimawandels und der erforderlichen Anpassungs- und Schutzmaßnah-men zu einem großen Teil umgelegt. Zweitens wird die Zahl der Naturkata-strophen in China und Indien weiter zunehmen. Drittens wird die Gesundheitder Menschen durch Temperaturextreme und die Ausbreitung von Krankhei-ten beeinträchtigt werden. Hinzu kommt viertens Emigration aus, aber auchBinnenmigration in den hier betrachteten Ländern. Dadurch wird es auch zuumweltbedingten Wanderungsbewegungen in die Industrieländer kommen.

Während angesichts der Dringlichkeit einer umfassenden globalen Verein-barung für die Zeit nach Kyoto das Thema Klimaschutz allenthalben – vonUmweltminister Gabriel bis hin zum Leiter des United Nations EnvironmentProgramme (UNEP), Achim Steiner, zur „Chefsache“ erklärt wird, könntenzentrale Erkenntnisse des bisherigen Umsetzungsprozesses in den Hintergrundgeraten. Die notwendigen Maßnahmen müssen zu einschneidenden Verän-derungen der Produktions- und Konsummuster in den Industrieländern füh-ren, d.h. beim Kauf ist sehr viel stärker als bisher auf qualitativ hochwerti-

11 Vgl. Claudia Kemfert: Weltweiter Klimaschutz – Sofortiges Handeln spart hohe Kosten, in:DIW-Wochenbericht, 12-13/2005, S. 209-215

12 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen: NeueImpulse für die Klimapolitik: Chancen der deutschen Doppelpräsidentschaft nutzen. Poli-tikpapier 5, Berlin 2007

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VOLKER TEICHERT UND STEFAN WILHELMY

ge und damit teurere Produkte zu achten. Die Fixierung der Gesellschaft aufden Material- und Energiedurchfluss bedingt durch immer neue und schnelle-re Produktzyklen muss aufgebrochen werden, dem Verbraucher kommt dabeieine zentrale Rolle zu. Aber auch in den Schwellen- und Entwicklungsländernist eine deutliche Korrektur des eingeschlagenen, an quantitativem Wachstumorientierten Entwicklungspfades vorzunehmen. Zumindest in den demokra-tisch regierten Staaten sind die Regierungen dabei aber auf eine breite gesell-schaftliche Unterstützung angewiesen. Wer sich die damalige Diskussion überdie Einführung der Ökosteuer in Deutschland oder die aktuellen Absatzzahlenhochmotorisierter Geländewagen vergegenwärtigt, stößt auf die noch immerbestehenden gesellschaftlichen Hindernisse für einen grundlegenden sozial-ökologischen Wandel. Derzeit besteht auch die Gefahr, dass die Diskussion aufden Klimaschutz und auf technische Lösungen und Effizienzstrategien verengtwird. Neben der weiteren Erforschung der naturwissenschaftlichen Wechsel-wirkungen des Klimawandels und der Entwicklung effizienterer Technologienbedarf es aber dringend der Ausarbeitung gesellschaftlicher Umsetzungsstra-tegien. Angesichts der wachsenden Bedeutung der Schwellenländer muss derwissenschaftliche, soziale und kulturelle Austausch mit ihnen intensiviert wer-den, um gemeinsam sozial-ökologische Lösungsansätze zu entwickeln und ge-sellschaftliche Hindernisse identifizieren und überwinden zu können.

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3.4. Chinas Aufstieg und die Veränderung der globalenMachtverhältnisse – Europa als Zuschauer oderAkteur?

Matthias Dembinski und Bruno Schoch

Die internationalen Machtverhältnisse befinden sich in einer tektonischen Be-wegung. Die asiatisch-pazifische Region beeindruckt mit Wachstumsraten,von denen Europäer nur noch träumen. Vor allem aber ist das riesige Chinaauf die Weltbühne zurückgekehrt. Es steht außer Frage, dass die ökonomischeGewichtsverlagerung in den asiatisch-pazifischen Raum politische Implikatio-nen hat. Die europäische Öffentlichkeit ist indes aus Gewohnheit auf die trans-atlantischen Beziehungen fixiert, die noch immer als Nabel der Weltpolitikerscheinen. Doch ist das Verhältnis zwischen den USA und China bereits diewohl folgenreichste Machtrelation der Welt; und wie China seine Beziehungenzu Japan und Indien gestaltet, dürfte bald schwerer wiegen als alle transatlan-tischen Fragen.

Chinas Aufstieg zur ökonomischen und politischen – und möglicherwei-se bald auch militärischen – Weltmacht verheißt Chancen, erscheint aber auchbedrohlich: China ist riesiger Zukunftsmarkt und rastloser Konkurrent in ei-nem. Seinen Manchester-Kapitalismus lenkt eine kommunistische Partei. Dasdynamische Wachstum geht einher mit einem dramatisch zunehmenden Ein-kommensgefälle. Die KP beharrt auf ihrem Machtanspruch, doch ist eine ge-nuin kommunistische Ideologie nicht mehr zu erkennen. Nationalismus dientals Legitimitätsressource, auch wenn seit den antijapanischen Ausschreitun-gen Ende 2005 Beschwichtigungsbemühungen erkennbar sind. China wird vonaußen als neue Übermacht wahrgenommen, zugleich prognostiziert man ihmaufgrund innerer Probleme – soziale Gegensätze, Umweltzerstörung und gras-sierende Korruption – gern den Zusammenbruch. Auch in der Außen- und Si-cherheitspolitik erscheint China widersprüchlich: mal als potenzieller Partnereines effektiven Multilateralismus, mal als energiepolitischer Konkurrent undBedrohung. Seinen Einstieg in die bemannte Weltraumfahrt im Oktober 2003und der Abschuss eines ausgedienten Wettersatelliten im Januar 2007 nimmtman im Westen vielfach als militärische Herausforderung wahr.

Noch vor drei oder vier Jahren war das ganz anders. Damals redeten inder außen- und sicherheitspolitischen Zunft Deutschlands alle von der unange-fochtenen amerikanischen Hegemonie. Heute gilt als ausgemacht, dass ein chi-nesisches Jahrhundert ins Haus steht. Woher rührt der Meinungsumschwung?

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MATTHIAS DEMBINSKI UND BRUNO SCHOCH

Von politikwissenschaftlichen Moden abgesehen, ist er auch eine Folge derGeschwindigkeit, mit der Bushs Debakel im Irak die Machtposition der USAuntergräbt. Hinzu kommt die schnell wachsende Präsenz Chinas als außen-politischer Akteur mit globalen Interessen. Ob in Lateinamerika, Afrika oderim Mittleren Osten – der Westen entdeckt unversehens, dass die Tage seinerDominanz gezählt sind.

In den USA schob der 11. September das Thema des chinesischen Auf-schwungs in den Hintergrund. Das änderte sich 2005. Als Reaktion auf die de-mokratische Entwicklung in Taiwan, wo Präsidentschaftskandidat Chen Shui-bian auch mit dem Ruf nach Unabhängigkeit über die Guomindang triumphierthatte, verabschiedete Beijing im März ein Antisezessionsgesetz, das den An-spruch auf ein China mit Drohungen bekräftigte. Hinzu kamen Berichte überdie forcierte Modernisierung der chinesischen Rüstung. Und als der Ölpreisim selben Jahr auf das Rekordhoch von über 70 US-Dollar pro Barrel kletter-te, tauchte erstmals eine neue Erklärung dafür auf: der Öldurst Chinas.

Die amerikanische Debatte schwankt zwischen der Erwartung, China wer-de sich weiter liberalisieren und außenpolitisch als responsible stakeholder diebestehende Ordnung stützen (so der ehemalige stellvertretende AußenministerRobert B. Zoellick), und der Befürchtung, sein Aufstieg werde unweigerlichzu einer machtpolitischen Konkurrenz führen (so der einflussreiche Politik-wissenschaftler John J. Mearsheimer). Entsprechend widersprüchlich fällt dieAntwort aus. Seit den 1980er Jahren kombiniert die amerikanische Chinapoli-tik Versuche, im Reich der Mitte Wandel durch Handel zu induzieren und esin globale Strukturen einzubinden, mit der militärischen Vorsorge für alle Fäl-le. Das schlägt sich nieder in Formeln wie Congagement – Containment plusEngagement.

Auch in Brüssel ist das Thema angekommen. 2003 legte die Kommissi-on ein Grundsatzdokument vor: A maturing partnership – shared interestsand challenges in EU-China relations. Drei Jahre später folgte ein weiteresStrategiepapier: EU – China: Closer partners, growing responsibilities. DieKommission arbeitet mit Hochdruck an einem Partnerschafts- und Koope-rationsabkommen, das der wachsenden Bedeutung Chinas Rechnung tragensoll. Die Strategien der USA und der EU sind jenseits aller Rhetorik durchpraktische Kontinuität gekennzeichnet. Beide stimmen in dem Ziel überein,Chinas Transformation in eine offene Gesellschaft mit rechtsstaatlichen Struk-turen und Menschenrechten abzustützen. Beide fördern Chinas Integration indie weltweiten politischen und wirtschaftlichen Institutionen. Dennoch gibtes auch Unterschiede. Der wichtigste ist, dass der europäischen China-Politikdas Element des hedging bzw. der militärischen Rückversicherung fehlt. Vor-

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CHINA UND EUROPA

behaltloser bezeichnet die EU China als strategischen Partner, mit dem sie dasInteresse am Aufbau einer multilateralen Weltordnung teile.

Unser Beitrag fragt, ob eine „strategische Partnerschaft“ angesichts vonChinas Politik angemessen ist, inwieweit die europäisch-chinesischen Bezie-hungen diesen Begriff rechtfertigen und schließlich, ob die EU gegenüber Chi-na auch sicherheitspolitisch mehr eigenes Profil entwickeln sollte.

Exorbitante Zuwachsraten

Seit Deng Xiaopings Reformen wächst Chinas Wirtschaft im Jahresschnitt umgut neun Prozent; auch 2006 war sie wieder die Wachstumslokomotive derWeltwirtschaft. Binnen weniger Jahre stieg China 2005 zur drittgrößten Han-delsmacht auf, nach den USA und Deutschland und vor Japan. Sein Handels-volumen erreichte Ende 2005 180 Milliarden US-Dollar. Seine Exporte in dieEU wuchsen seit 1990 um sage und schreibe 820 Prozent, die der EU nach Chi-na um 600 Prozent. Inzwischen ist die EU für China der größte Handelspartner,2006 übertrafen dessen Exporte in die EU erstmals die der USA. Längst liefertChina nicht mehr nur kostengünstige Konsumgüter, vielmehr bieten chinesi-sche Firmen auch Hochtechnologie an. Jüngst überraschte Beijing mit der An-kündigung, das globale Duopol der Produzenten größerer Passagierflugzeugeaufbrechen zu wollen.

Die Entwicklung Chinas zu einem Zentrum der industriellen Produktiongeht einher mit der atemberaubenden Zunahme seines Bedarfs an Energieträ-gern und Rohstoffen. Es ist nach den USA der zweitgrößte Konsument von Pri-märenergie. Sein jährlicher Erdölverbrauch kletterte zwischen 1990 und 2004von 116,6 auf 308,6 Millionen Tonnen. Und als Land mit den zweithöchstenWährungsreserven – aktuell über eine Billiarde US-Dollar – bestimmt Chinaüber die Finanzbeziehungen in der ganzen Welt mit. Schon diese Zuwachs-raten signalisieren eine dramatische Veränderung der globalen ökonomischenVerhältnisse.

Wirtschaftsboom und geopolitischer Einfluss

Das wirtschaftliche Gewicht eines Landes übersetzt sich nicht unmittelbar inaußenpolitische Macht. Gleichwohl ist die politische Dynamik in Asien, vonChinas Aufstieg angetrieben, nicht zu übersehen. Er wird gern in historischeAnalogie gesetzt mit dem wilhelminischen Deutschland oder mit der Sowjet-union in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Doch diese Vergleiche hinken.

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MATTHIAS DEMBINSKI UND BRUNO SCHOCH

Die These von einem friedlichen Aufstieg Chinas stützt sich auf drei starkeArgumente, auch wenn sie nicht unwidersprochen sind.

China war in seiner Geschichte, obgleich ökonomisch, technologisch undkulturell lange führend, keine expansive Macht. Bis ins 15. Jahrhundert hatte esweltweit das höchste Pro-Kopf-Einkommen. Und noch bis ins frühe 19. Jahr-hundert blieb es die größte Volkswirtschaft überhaupt. Erbrachte China 19525,2 Prozent der Weltwirtschaftsleistung, so hatte der Anteil 1820 noch stolze33 Prozent betragen.1 Dennoch verzichtete es auf Eroberungen und begnügtesich damit, dass die Nachbarn mittels Tributzahlungen seine Herrschaft mehroder weniger symbolisch anerkannten. Mag das vor dem Hintergrund der euro-päischen Geschichte auch als „unnatürlich“ erscheinen – das Reich der Mittegenügte sich über Jahrtausende selbst und war nie Teil eines Staatensystemsim europäischen Sinn. So aufschlussreich diese historischen Bezüge sind, soerlauben sie doch keine eindeutige Aussage darüber, welche Lehren die chine-sische Führung aus der Geschichte zieht. Ist ihr Weltbild von der Tradition dernicht-expansiven chinesischen Kaiserreiche geprägt? Oder aber vom traumati-schen Zusammenbruch, verursacht von militärisch überlegenen Mächten?

Zweitens hängt die chinesische Wirtschaft in hohem Maße vom Außen-handel ab. Seit Deng Xiaoping 1978 den Reformkurs einleitete, besteht dasoberste Ziel der chinesischen Außenpolitik darin, für ein „friedliches Umfeld“zu sorgen, das die ungestörte Modernisierung des eigenen Landes gestattet.Chinas Aufschwung ist der bewussten Integration in die Weltwirtschaft ge-schuldet. Das Land ist eng in internationale Handels- und Finanzströme einge-bunden: So entsprach der Außenhandel im Jahr 2005 65 Prozent des chinesi-schen Bruttoinlandsprodukts – gegenüber 22 Prozent in Japan.2 Und der Anteilausländischer Direktinvestitionen am chinesischen Bruttoinlandsprodukt be-trägt 36 Prozent.3 Kurzum: China ist Teil einer globalen Wertschöpfungskette.Die Klage über Zahlungsbilanzungleichgewichte und steigende Ressourcen-preise übersieht, dass es im Rahmen einer internationalen, nicht zuletzt vonwestlichen Firmen gesteuerten Arbeitsteilung importierte Rohstoffe und Vor-produkte zu Konsumgütern für die unersättlichen westlichen Märkte verarbei-tet. 4

1 Gudrun Wacker: Chinas „Grand Strategy“, in: Dies. (Hrsg.): Chinas Aufstieg: Rückkehr derGeopolitik, SWP-Studie S 3/2006, S. 61 f.

2 www.worldbank.org >Data&Statistics >Key Statistics>By Topic (Zugriff: 10.4.2007)3 Karl Pilny: Das asiatische Jahrhundert. China und Japan auf dem Weg zur neuen Weltmacht,

Frankfurt a.M. 2005, S. 122 f.4 Erik Britton/Christopher T. Mark: The China Effect: Assessing the Impact of the US Eco-

nomy on Trade and Investment with China, A Report by Oxford Economics and The SignalGroup, The China Business Forum, Washington 2006.

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CHINA UND EUROPA

Doch bleibt auch dieser Aspekt ambivalent. Interdependenz schafft auchVerlierer und kann Ressentiments fördern. Die westlichen Klagen über Dum-ping und Arbeitsplatzverluste in der verarbeitenden Industrie sind bekannt.Chinesische Vorbehalte gegenüber der Dominanz westlicher Firmen sind einneueres Phänomen. Daneben hat die Ressourcenabhängigkeit Chinas weitrei-chende geopolitische Konsequenzen. Angetrieben vom Hunger nach Erdöl undanderen Rohstoffen ist die chinesische Außenpolitik in den letzten Jahren glo-bal geworden. Für Furore hat der in westlichen Augen spektakuläre Ausgriffauf Afrika und Lateinamerika gesorgt. Die Eindeutigkeit, mit der China dabeiseine ökonomischen Interessen vor Menschenrechte, Demokratie und Rück-sichten auf regionale Stabilität stellt, kann zu Konflikten mit dem Westen füh-ren. Das gilt nicht zuletzt für den Mittleren Osten. In nur fünf Jahren hatChina von 1999 bis 2004 seine Erdölimporte vervierfacht, seine Abhängig-keit von Ölimporten wächst rapide. Chinesische Staatsfirmen sind dabei, die-sen Öl-Durst mit Konzessionen und gigantischen Investitionen namentlich inSaudi-Arabien und Iran zu löschen, wo China unlängst die Anteilsmehrheit ander Erdgasförderung auf den Yadavaran-Feldern erwarb. Die merkantilistischeStrategie Chinas, sich mit langfristigen Verträgen Erdöl zu sichern, führt nicht,wie manche prognostizieren, unausweichlich zu einem Kampf um Ressourcen.Erhöhen doch die hohen Investitionen Chinas auch die Menge des verfügba-ren Öls. Kritisch wird diese Strategie, weil China seine ökonomischen Inter-essen mit einer politischen Strategie der Zusammenarbeit absichert, die sichweder um regionale Spannungen noch um innere Verhältnisse in den Erdölfördernden Staaten besonders schert. So scheute Beijing nicht davor zurück,Saudi-Arabien Raketen mit einer Reichweite von 2.800 Kilometern zu liefern,es baut enge Beziehungen zu Iran auf, hofiert ungeniert erklärte Feinde derUSA wie Hugo Chavez oder arbeitet vertrauensvoll mit Ländern wie Birmaoder dem Sudan zusammen. Diese Strategie läuft westlichen Sicherheitsinter-essen zuwider und konterkariert die Versuche europäischer Staaten, mit einerStrategie der Konditionierung Menschenrechte und Standards von good gover-nance zu fördern. Gewiss wäre es scheinheilig, China für das allenfalls halb-herzige Engagement der Europäer in Darfur verantwortlich machen zu wol-len; vielmehr scheint ihnen Chinas Veto-Drohung gelegen zu kommen, um ihrNicht-Handeln zu kaschieren. China ist auch nicht Schuld an der AufrüstungSaudi-Arabiens – dessen Luftwaffe fliegt britische Tornados und Hawk-Jäger.Gleichwohl konterkariert die Haltung Chinas eine Strategie, die auf Menschen-rechten und Standards des guten Regierens pocht.

Drittens fallen Anstrengungen der chinesischen Führung auf, die mit demrasanten Aufstieg ihres Landes verbundenen Ängste bei Nachbarn und an-deren Großmächten zu beschwichtigen. Die chinesische Außenpolitik lässt

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MATTHIAS DEMBINSKI UND BRUNO SCHOCH

sich nicht mehr auf die Logik „klassischer Souveränitäts-, Macht- und Na-tionalstaatskonzepte“5 reduzieren. Vielmehr bemüht sich Beijing, Provokatio-nen und Konfrontationen zu vermeiden. Fraglos war der eingangs erwähnteAbschuss des Wettersatelliten provokativ und unverantwortlich, nicht zuletztaufgrund des dadurch erzeugten Weltraumschrotts. Doch war er eher die Aus-nahme von der Regel. Unentwegt beschwört Beijing internationale win-win-Situationen und die Vorteile seines Wirtschaftsaufstiegs auch für die anderen.Als 2003 Hu Jintao als Partei- und Staatschef sowie Wen Jiabao als Minis-terpräsident die Führung um Jiang Zemin ablösten, gaben sie die Losung vonChinas „friedlichem Aufstieg“ aus. Binnen Monaten veränderte sich Beijingsaußenpolitisches Gebaren, der autokratische Habitus eines Jiang Zemin, Dengsoder gar Maos scheint passé. Die neue Führung hat begriffen, dass Chinas Mo-dernisierung in hohem Maße in internationale Entwicklungen eingebettet istund davon abhängt, auf welche Weise sie die globalen Gegebenheiten selbstverändert. Das Bewusstsein von dieser Interdependenz treibt China zusehendsan, ordnungspolitisch die regionalen und globalen Verhältnisse mit zu gestal-ten. War die Volksrepublik während des Ost-West-Konflikts außer Nordkoreaund Pakistan mit keinem seiner 14 Nachbarn im Frieden, so hat sich das vonGrund auf geändert. Heute bestehen Spannungen nur noch mit Japan. Auchin der UNO arbeitet China konstruktiv mit. Galt sie in Beijing lange entwe-der als ineffektiv oder als Instrument mächtiger westlicher Staaten, so weichtdiese Perspektive neuerdings multilateralem Engagement. China beteiligt sichmit 1.000 Soldaten an der UNIFIL-II Truppe – insgesamt stellte es seit 19905.600 Soldaten für 15 UN-Friedensmissionen – und mit 63 Millionen US-Dollar an der internationalen Katastrophenhilfe nach dem Tsunami 2004. Aufdem China-Afrika-Gipfel im November 2006 sagte Beijing für fünf Milliar-den US-Dollar zinsvergünstigte Darlehen und Exportkredite zu.6 Selbst dienoch vor einigen Jahren beobachtbare Praxis hemmungsloser Exporte sensiti-ver Güter an kritische Staaten wie Iran ist mittlerweile einer verantwortungs-bewussteren Nonproliferationspolitik gewichen. Zwar bleibt Chinas Verhaltengemessen daran, was man von einem multilateral ausgerichteten Staat erwar-ten könnte, immer noch weit zurück, doch verglichen mit seiner Politik der1990er Jahre nimmt es heute spürbar mehr internationale Verantwortung wahr.

Pochte China lange auf seine 1948 wiedergewonnene nationale Souverä-nität, so beteiligt es sich mittlerweile an der regionalen Integration, treibt sie

5 Dirk Messner: Machtverschiebungen im internationalen System: Global Governance imSchatten des Aufstieges von China und Indien, in: Globale Trends 2007, Frankfurt a.M.2006, S. 56 f.

6 François Godement: Neither hegemon nor soft power: China’s rise at the gates of the West,Institute for Security Studies: Chaillot Paper, Paris 2006, S. 59.

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in Zentralasien sogar voran. Auf dem ASEAN-Gipfel im Oktober 2003 aufBali vereinbarten China und die ASEAN-Staaten, bis 2011 alle Zollschran-ken aufzuheben und nach dem Vorbild der EU perspektivisch eine East Asi-an Community (EAC) von Korea bis Indonesien aufzubauen. Zentrale strate-gische Bedeutung kommt den ehemaligen Sowjetrepubliken Mittelasiens bei.Um diese Staaten einzubinden, hat China mit der Shanghai Cooperation Or-ganization (SCO) eine internationale Staatenorganisation initiiert. Richtete siesich anfangs gegen die gemeinsame Bedrohung durch Islamisten und Terro-risten, so befasst sie sich zunehmend mit Erdölfragen; darüber hinaus dientsie generell der Erhaltung regionaler Stabilität in der Region. Beijing pflegtauch mit den früheren Rivalen Russland und Indien – mit beiden führte Chi-na in den 1960er Jahren Grenzkriege – freundschaftliche Beziehungen: Chinaschloss 1997 einen Vertrag über eine „strategische Partnerschaft“ mit Russ-land. Dieses ist wegen seiner Öl- und Gasvorkommen sowie seiner leistungs-starken Rüstungsindustrie interessant, die China für die Modernisierung sei-ner Streitkräfte braucht. Gegenüber Indien verbleibt zwar viel wechselseitigesMisstrauen, Indien rüstet nicht zuletzt mit Blick auf China auf. Doch intensi-vierte sich der bilaterale Handel von 300 Millionen US-Dollar 1994 auf mehrals zehn Milliarden im Jahr 2004. Die Gespräche über die Himalaya-Grenzekommen voran, inzwischen führen die beiden früheren Antagonisten sogar ge-meinsame Manöver durch.

Dennoch bleibt auch dieses neue Engagement Chinas für regionale Zu-sammenarbeit ambivalent. Zum einen hält es staatliche Souveränität hoch undverbittet sich jede Einmischung in innere Angelegenheiten. Zum anderen folgtsein Engagement einer realpolitischen Agenda. Gegenüber Südost- und Zen-tralasien will es die wirtschaftliche Kooperation ausbauen und absichern. Eshat nicht zuletzt mit der Straße von Malakka seinen wichtigsten Nachschub-weg im Blick, durch den rund ein Viertel aller Waren und die Hälfte allenErdöls dieser Welt transportiert werden. Doch geht es China auch darum, japa-nischen und amerikanischen Einfluss zurückzudrängen. Deshalb arbeitet es ge-zielt an regionalen Organisationen, an denen die USA nicht beteiligt sind. Mitder Entschließung der Staats- und Regierungschefs der SCO vom Juli 2005,die von den USA forderte, einen Zeitpunkt für ihren Abzug aus der Region zunennen, konnte Beijing einen ersten Erfolg verbuchen.7

Angespannt bleibt Chinas Verhältnis zu Japan. Seit 2001 pilgerte der ja-panische Ministerpräsident Koizumi alljährlich zum Yasukuni-Schrein, umKriegstote zu ehren, darunter hochrangige Kriegsverbrecher. Führung und Be-

7 Declaration of Heads of Member States of Shanghai Cooperation Organisation, Astana, July5, 2005, www.sectsco.org/html/00500.html (Zugriff: 10.4.2007).

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MATTHIAS DEMBINSKI UND BRUNO SCHOCH

völkerung Chinas, das im Krieg gegen Japan etwa dreizehn Millionen Totezu beklagen hatte, empfinden dies als Provokation. Wiederholt kam es zu an-tijapanischen Demonstrationen. China kritisiert Japans Aufrüstung und emp-findet seine militärische Anlehnung an die USA als Bedrohung. Umgekehrtfühlt sich Japan von der Modernisierung der chinesischen Streitkräfte bedroht.Ein zweiter Krisenherd im Verhältnis Chinas zu seinen Nachbarn ist Taiwan.Zwar gilt die Insel in Beijing, aber auch völkerrechtlich, als innerchinesischeAngelegenheit, doch bildet sie eine Sollbruchstelle der sicherheitspolitischenArchitektur Ostasiens.

Die Ambivalenz der neuen Außenpolitik Chinas

Wie ist nun diese neue Außenpolitik zu bewerten? Bilden Japan und auf seineWeise Taiwan nur die sprichwörtlichen Ausnahmen von der Regel, die Vol-ker Stanzel, der deutsche Botschafter in Beijing, auf die Formel bringt, dass„Beijing mit seinen regionalen Initiativen echte – und für China neue – mul-tilaterale Politik (betreibt)“?8 Oder versucht es nur ungleich geschickter alsfrüher, die USA zurückzudrängen? Wahrscheinlich beides. An der japanisch-amerikanischen Militärkooperation und besonders an der diffizilen Gratwan-derung der USA in der Taiwan-Frage nimmt Beijing immer wieder Anstoß.Hardliner gibt es auch hier. So drohte etwa im Juli 2005 General Zhu Chenghuden USA mit einem Atomschlag, sollten sie im Fall eines Konflikts mit Taiwanintervenieren. Und niemand kann ausschließen, dass China eines Tages auchmilitärisch mit den USA konkurriert. Eigentlich überrascht aber, wie erfolg-reich China soft power einsetzt und damit auf ein Konzept baut, das traditio-nell die US-amerikanische Außenpolitik kennzeichnete. Diplomatie, Handelund internationale Kooperationsforen sind die Mittel, mit denen China seinenEinfluss in der Region und darüber hinaus zu mehren sucht, nicht militärischeMacht.

In dieses Bild passt die chinesische Politik gegenüber Europa, dem wich-tigsten Handelspartner. Beijing liebäugelt seit langem mit der EU als Partnerfür eine multipolare Weltordnung, was nicht nur in Paris durchaus auf Gegen-liebe stößt. China erklärte das Jahr 2004 zum „Europajahr“ und rief eine „stra-tegische Partnerschaft“ mit der EU aus. Ein Ziel erreichte diese diplomatischeOffensive bisher indes nicht: Dass die Europäer ihr Waffenembargo aufhoben,das sie 1989 nach dem Blutbad auf dem Tien Anmen verhängt hatten.

8 Volker Stanzel: Aufstieg zur Weltmacht, in: Volker Ulrich und Eva Berié (Hrsg.): Der Fi-scher Weltalmanach aktuell: Weltmacht China (Die Zeit), Frankfurt a.M. 2005, S. 98.

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CHINA UND EUROPA

Europas Strategie setzt auf Dialog

Seit 1995 führt die EU den Dialog mit China in drei Bereichen. Der poli-tische Dialog behandelt außen- und sicherheitspolitische Themen, u.a. Men-schenrechtsfragen. Der ökonomische und handelspolitische Dialog erörtert dieBeseitigung von Marktzugangsbarrieren oder den Schutz von Urheberrechten.Hinzu kommen Gespräche über Kooperation, welche die verschiedenen Ent-wicklungshilfeprogramme der EU bündeln. In den letzten Jahren wurden dieThemen auf Umweltschutz, Erziehung und Kultur ausgeweitet. Mittlerweilebesteht ein kontinuierlicher Dialog zwischen der EU und China auf allen Ebe-nen, angefangen von jährlichen Gipfeltreffen bis zu mittlerweile 25 Arbeits-gruppen im Rahmen des ökonomischen Dialogs.

Aber rechtfertigt die Dichte dieser Gespräche bereits die Rede von einer„strategischen Partnerschaft“? Oder lügt sich die EU-Kommission in die Ta-sche, wenn sie formuliert: „Die EU und China teilen viele Interessen hinsicht-lich der Fragen der Global Governance, insbesondere in Bezug auf die Rollemultilateraler Organisationen und Regime. Durch eine weitere Intensivierungihrer Zusammenarbeit werden sie ihre gemeinsamen Visionen und Ziele nochbesser erreichen können.“?9

Bei Lichte besehen bleibt das Konzept der strategischen Partnerschaft ne-bulös; und die europäische Politik unterscheidet sich auf vielen Feldern nichtvon der US-amerikanischen. Beide sind von Kontinuität geprägt. Beide drän-gen mit zum Teil harten Bandagen auf eine weitere Öffnung und Liberalisie-rung des chinesischen Marktes. Beide führen die hohen Zahlungsbilanzdefizi-te auf unzureichende Marktzugangsmöglichkeiten zurück. Und beide klagenüber die mangelhafte Umsetzung der Abkommen über die Intellectual Proper-ty Rights. Bis heute lehnt es auch die EU ab, China den Status einer Markt-wirtschaft zu verleihen, was dessen Verhandlungsposition in Anti-Dumping-Verfahren verbessern würde. Schließlich setzen sich EU und USA für die De-mokratisierung Chinas ein, für die Menschenrechte und einen besseren Min-derheitenschutz. Und beide versuchen, Chinas Außenpolitik dahingehend zubeeinflussen, dass es sich auf der internationalen Bühne als verantwortungsbe-wusster stakeholder verhält.

Dennoch springen auch Unterschiede ins Auge. Während die USA Defi-zite bei den Menschenrechten öffentlich anprangern, setzt Europa stärker aufstille Diplomatie. Seit China 1996 wegen einer europäischen Resolution in derUN-Menschenrechtskommission scharf protestiert und den Menschenrechts-

9 Commission: A maturing partnership – shared interests and challenges in EU-China relati-ons, Brussels, COM(2003) 533 fin., Brüssel 2003, S. 7 (eigene Übersetzung).

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MATTHIAS DEMBINSKI UND BRUNO SCHOCH

dialog ausgesetzt hatte, verlagert die EU das Thema in die Hinterzimmer derverschachtelten EU-China-Dialoge. Zwar schlagen jüngere Papiere etwas kri-tischere Töne an. So gesteht die Kommission in ihrem Strategiepapier von2006 ein, dass sich die Erwartungen an den Menschenrechtsdialog nicht er-füllt haben.10 Gleichwohl strebt die EU ein engeres Partnerschaftsverhältnisan.

Vor allem fällt aus, dass sicherheitspolitische Erwägungen in der europäi-schen Chinapolitik so gut wie keine Rolle spielen. Obwohl europäische Ängstevor der „chinesischen Gefahr“ kaum hinter amerikanischen zurückstehen, feh-len Elemente der sicherheitspolitischen Vorsorge völlig. Die EU scheint ganzdarauf zu vertrauen, dass sich China, um die Früchte des wirtschaftlichen Er-folgs weiter ernten zu können, innenpolitisch reformieren und nach außen alsmultilateraler Partner auftreten muss.

Ursachen der amerikanisch-europäischen Differenzen

Die USA sind spätestens seit 1945 eine pazifische Weltmacht. Sie haben fürdas entmilitarisierte Japan Sicherheitsgarantien übernommen und dort sowiein Südkorea rund 70.000 Soldaten stationiert. Mit dem Grand Bargain gingder chinesische Alleinvertretungsanspruch in den siebziger Jahren von Taiwanauf die Volksrepublik über, doch sind die USA im Taiwan Relations Act von1979 für die Inselrepublik umfangreiche Schutzverpflichtungen eingegangen.Deren Relevanz wuchs, als sich das Guomindang-Regime in eine Demokratietransformierte. Hinzu kommt, dass die USA als globale Ordnungsmacht einInteresse daran haben, die Hegemonie einer Regionalmacht in Asien zu ver-hindern. Sie streben dort mit militärischer Präsenz und Bündnisbeziehungennach einem Machtgleichgewicht.

Dagegen ist die EU, wenn denn hergebrachte Machtkategorien für sie über-haupt taugen, eine regionale Macht. Und sie agiert, anders als die USA, inso-fern als Zivilmacht, als der komplizierte Abstimmungsprozess ihres außen-und sicherheitspolitischen Intergouvernementalismus jeder Machtprojektionenge Schranken setzt. Seit ihrem Rückzug aus den Kolonien sind europäischeStaaten machtpolitisch in Asien kaum mehr präsent. Kurzum: Die EU befin-det sich, im Unterschied zu den USA, in keiner direkten Hegemonial- oderMachtkonkurrenz mit China.

10 Commission: EU – China: Closer Partners, growing responsibilities, COM(2006) 631 final,Brüssel 2006.

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CHINA UND EUROPA

Schließlich gibt es in Europa Stimmen, die einer multipolaren Welt dasWort reden. Dahinter steht entweder, wie es am prägnantesten in Paris artiku-liert wird, eigener Machtanspruch, oder aber die Überzeugung, dass mehrereMachtzentren bessere Chancen für Frieden und Stabilität bieten als eine vonden USA dominierte Welt.

Ende des Schwankens?

Auch wenn in Europa manche bewusst auf eine multipolare Strategie setzen,scheint die Politik der EU insgesamt doch von wirtschaftlichen Interessen ge-prägt. Eine sicherheitspolitische Strategie in Asien verfolgt sie nicht. Vor al-lem schwankt sie, ob sie amerikanische Politik ergänzen oder eine Alternati-ve zu ihr darstellen will. Dies zeigte die Diskussion um die Aufhebung desWaffenembargos exemplarisch. Begreift man China als multilateralen Partner,hat sich das Embargo überlebt. Es stellt eine diskriminierende Maßnahme dar,die China symbolisch auf einer Stufe mit Staaten wie Myanmar (Birma) be-handelt und deshalb aufgehoben werden sollte. Dieser Auffassung schienensich die EU-Staaten 2004/05 unter Führung von Jacques Chirac und GerhardSchröder weitgehend anzuschließen. Um eine quantitative und qualitative Er-höhung der europäischen Rüstungsexporte nach China zu verhindern, sollteparallel zur Aufhebung des Embargos der bestehende Rüstungsexportkodexausgebaut werden. Lediglich das Europäische Parlament und einige nordeuro-päische EU-Mitglieder hielten die Aufhebung des Embargos wegen anhalten-der Menschenrechtsverletzungen Chinas für unangebracht. Doch als im Früh-jahr 2005 aus dem amerikanischen Kongress wütende Proteste und Drohungenlaut wurden, ließ die EU das Thema wieder fallen. Nun blockierten Länder mitbesonders engen sicherheitspolitischen Beziehungen zu den USA die Aufhe-bung des Embargos.

Diese Episode könnte zugleich das Ende der europäischen Ambivalenz undZurückhaltung einläuten. Zumindest fordern die USA lautstark, China etwasmoderater, die EU auf, Farbe zu bekennen. Stellten sich die USA bisher auf denStandpunkt, die Europäer sollen sich sicherheitspolitisch aus Ostasien heraus-halten, dringen sie seit der Diskussion um das Embargo darauf, dass die EUsicherheitspolitisch relevante Schritte mit Washington koordiniert. Brüssel hatsich darauf eingelassen und führt seitdem einen strategischen Dialog mit denUSA über Ostasien. Stand dabei zunächst das Waffenembargo im Vordergrund,möchten die USA nun auch über Taiwan reden. Auf der anderen Seite erwartetChina von Europa in diesen Fragen ein eigenes Profil.

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Solange die EU keine Sicherheitspolitik für Asien hat, bleibt sie dort aufihre Bündnisvormacht angewiesen. Beredtes Zeugnis dafür ist etwa, dass dieEuropäer im Streit um Nordkoreas Atomwaffen bloß Zuschauer sind. Auf ab-sehbare Zeit kann deshalb die China-Politik der EU ihr Schwanken zwischenEigenständigkeit und komplementärer Anlehnung an die USA nicht völlig be-enden. Doch kann und sollte sie ihre Position in dreifacher Hinsicht schärfen.

Die Engagement-Strategie der EU blendet Gefahren, die mit dem AufstiegChinas einhergehen, nicht völlig aus. Sie verlässt sich für alle Fälle auf ihrenstärksten Verbündeten. Diese Rückversicherung ist für einen regionalen Staa-tenbund legitim, außerdem fügt sie sich in Geschichte und politische Erfahrungder EU. Ein Multilateralismus, der die EU zu einer Weltmacht im traditionel-len Sinne fortentwickeln wollte, wäre ein zweifelhafter Fortschritt. Er liefe aufeinen Bruch mit der Tradition der europäischen Integration hinaus und kämeeinem Rückschritt ins Großmachtdenken des 19. Jahrhunderts gleich. Zudemwürde er die EU überfordern. Das impliziert freilich auch, dass man für Fra-gen, die in den USA von großer sicherheitspolitischer Relevanz sind, die nötigeSensibilität aufbringt. Dennoch ist das Waffenembargo nicht in Stein gemei-ßelt. Es wurde als Reaktion auf die blutige Niederschlagung der Studenten-bewegung 1989 verhängt. In dem Maß, in dem China Menschenrechtskon-ventionen größere Beachtung schenkt und Abkommen über Rüstungskontrolleeinhält, kann die EU in Rücksprache mit Washington durchaus anstreben, dasEmbargo durch weniger diskriminierende, aber nicht weniger effektive For-men der Exportkontrolle zu ersetzen.

Trotz der Ambivalenz des aufsteigenden China könnte der Ansatz der EU,auf hedging zu verzichten und auf multilateralen Dialog zu setzen, sich alsder richtige erweisen. Spricht doch manches dafür, dass China in den letztenJahren weniger auf hergebrachte Machtpolitik denn auf soft power und mul-tilaterale Ordnungspolitik setzt. Es ist deshalb keineswegs bloß „Schlafmüt-zigkeit“11 , wenn sich die EU im Umgang mit China auf wirtschaftliche Fragenund den Dialog in Sachen Demokratie und Menschenrechte konzentriert sowieeinem nach dem Vorbild der eigenen Einigung gestrickten, auf Freiwilligkeitberuhenden Multilateralismus das Wort redet. Die EU sollte die Erklärungender chinesischen Führung zum peaceful rising als Maßstab nehmen und daranihr konkretes Verhalten messen. Dies bedeutet, den Dialog über problemati-sche Staaten wie Iran und über Fragen humanitärer Sicherheit fortzuführensowie die nur rudimentären internationalen Regeln in diesem Bereich unterEinschluss Chinas weiterzuentwickeln. Dasselbe gilt für die Rüstungskontrol-

11 Harald Müller: Weltmacht Indien. Wie uns der rasante Aufstieg herausfordert, Frankfurta.M. 2006, S. 298.

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CHINA UND EUROPA

le und den Bereich der Weltraumwaffen. Die EU muss nicht ihre Strategieändern, wohl aber sollte sie aktiver als bisher versuchen, China in die multila-teralen Regelwerke von Global Governance einzubeziehen. Die beiden höchstunterschiedlichen Regionalmächte müssen lernen, sich ihrer globalen Verant-wortung zu stellen.

Die europäische Dialogstrategie zur Erreichung von Demokratie und Men-schenrechten in China mag als mühsamer Weg erscheinen, dem schnelle Erfol-ge versagt bleiben. Doch sind Alternativen nicht erkennbar. Allerdings solltedie EU den Dialog über Menschenrechte nicht ausschließlich vertraulich füh-ren. Mit der öffentlichen Anklage von Menschenrechtsverletzungen kann sieBeijing internationale Legitimität verweigern – eines der wenigen Mittel, dasdie EU überhaupt hat, um auf China Druck auszuüben. Auch muss sie unmiss-verständlich klar machen, dass ihre Unterstützung der Ein-China-Politik nichtals Rechtfertigung für militärische Gewalt gegen die Demokratie in Taiwanmissbraucht werden darf.

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Kapitel 4:

Krisenherde in Afrika

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4.1. Konflikte im Sudan – Ursachen und Prognose

Michael Ashkenazi und Susan Hough

Seit seiner Unabhängigkeit im Jahre 1956 leidet der Sudan fast ununterbro-chen unter inneren Konflikten. Von 1983 bis 2005 befand sich der Südsudan imBürgerkrieg und seit 2003 ist Darfur zur Arena einer gewaltsamen Rebelliongegen die arabisch dominierte Regierung in Khartoum geworden. Während diezwei Rebellengruppen aus Darfur – die Sudanesische Befreiungsarmee (SudanLiberation Army, SLA) und die Bewegung für Gerechtigkeit und Gleichheit(Justice and Equality Movement, JEM) – die Regierung beschuldigen, „Afri-kaner“ zugunsten von „Arabern“ zu unterdrücken, kontert die Regierung mitLuftbombardements und Bodenangriffen sowie Überfällen, die von einer ara-bischen Miliz, den Dschandschawid, durchgeführt werden. Die Konflikte sindendemisch und multidimensional, wobei sich die Gewalt schnell von einerEbene auf die andere verlagert. Ausbrüche organisierter und nicht organisierterlokaler Gewalt sind ebenso an der Tagesordnung wie die von regionalen bzw.ethnischen Gruppen. Eine Reihe struktureller Faktoren trägt zur Verstetigungder Gewalt bei: Extreme regionale Diskrepanzen, die Bevorzugung bestimm-ter Ethnien in der Regierung und im öffentlichen Dienst, Verteilungskämpfeum Öleinnahmen und knappe Ressourcen (besonders Wasser und Weideland),schlechte Regierungsführung, Armut und religiöse Fundamentalismen beför-dern die Konfliktdynamik. Die sudanesische Regierung beutet zudem das Hin-terland aus, indem es die Öleinnahmen einstreicht.

Seit mehreren Jahren ist die Provinz Darfur ein Schauplatz anhaltenderVerbrechen gegen die Menschlichkeit, die Züge eines Genozids tragen. DasLand zeigt die traurigen Folgen von religiös aufgeladenen Gruppenkonflikten.Zudem sind Nachbarstaaten wie der Tschad, Äthiopien und Uganda direkt undindirekt in das Konfliktgeschehen einbezogen. Darüber hinaus ist der Sudanein Beispiel für das weitgehende Unvermögen internationaler Organisationen,darunter die Afrikanische Union, die Vereinten Nationen, aber auch die EUund die NATO, der Konflikteskalation Einhalt zu gebieten. In seiner gegen-wärtigen Gestalt ist der Sudan kaum fähig, elementare Staatsfunktionen zuerfüllen.

Bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts war außerhalb des Sudans haupt-sächlich der Konflikt zwischen der sudanesischen Regierung und einer ge-mischten Gruppe südsudanesischer Guerillabewegungen bekannt, die sich imÜbrigen auch untereinander bekriegten. 2005 wurde ein Friedensabkommenzwischen der Regierung in Khartoum und der Sudanesischen Volksbefreiungs-

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MICHAEL ASHKENAZI UND SUSAN HOUGH

armee (SPLA) unterzeichnet. Es gewährt dem Südsudan Autonomie und siehtein Referendum über die mögliche Unabhängigkeit Südsudans für 2011 vor.Mittlerweile ist die SPLA die dominierende Kraft in der Regierung des Südsu-dan, einer autonomen Region von zehn Bundesstaaten, die über eine eigene Ar-mee verfügt. Die kaum geschulte, unerfahrene, weitgehend inkompetente undkorrupte südsudanesische Regierung ist nicht in der Lage, die Entwicklungs-vorhaben zu initiieren. Die Nationale Kongresspartei (NCP), d.h. die nordsu-danesische Mehrheitsfraktion in der Zentralregierung, hintertreibt wiederumbewusst das Friedensabkommen und nutzt die Schwächen der südsudanesi-schen Regierung aus, insbesondere hinsichtlich der Verteilung der Einnahmenaus den Ölfeldern von Abyei und durch einseitige Festlegung des Grenzver-laufs zwischen Nord- und Südsudan.1

Sowohl der Zusammenbruch von Recht und Ordnung als auch Opportu-nismus haben das Entstehen bewaffneter Gruppen begünstigt und erzeugenanhaltende Gewalt. Einige der Milizen, z.B. die südsudanesische SPLA, habensich in organisierte militärisch-politische Kräfte verwandelt. Andere, z.B. die„Weiße Armee“, sind geblieben, was sie von Beginn an waren, nämlich Selbst-verteidigungsgruppen auf Dorf- oder Stammesebene. Manche, wie z.B. dieSPLA/M (Sudan People’s Liberation Army/Movement), fungieren als persönli-che Schutztruppen mächtiger Persönlichkeiten. Bei anderen wiederum handeltes sich um von der sudanesischen Regierung unterstützte Banden, die gleich-sam als paramilitärisches Instrument der Regierung agieren. Häufig kämpfendie lokalen Gruppen um wirtschaftliche oder politische Ressourcen.

Das Fehlen einer kompetenten Polizei sowie verlässlicher Rechts- und Jus-tizbehörden führt dazu, dass kommunale Konflikte häufig eskalieren. Aus derRegion Beja und aus Darfur liegen kaum Daten vor, aber Berichte und Presse-meldungen aus dem Südsudan und den städtischen Regionen des Nordsudanlassen darauf schließen, dass kommunale Gewalt dort endemisch ist. Rinder-oder Viehdiebstahl, Raubüberfälle, kriminelle Handlungen und Familienzwis-te (vorgebliche Untreue, Entführung, heimliches Verschwinden von Ehepart-nern, Vergewaltigung) sowie Vergeltungsakte führen vielfach zu bewaffneterGewalt. Bezeichnend für diese Streitigkeiten ist, dass da, wo die Akteure ver-schiedenen ethnischen oder religiösen Gemeinschaften angehören oder ande-rer politischer Überzeugung sind, eine persönliche Auseinandersetzung leichtin einen Konflikt zwischen den jeweiligen Gemeinschaften oder Gruppen es-kaliert. Kommunale Gewalt, ausgelöst z.B. durch Viehdiebstahl oder Raub vonFrauen, ist in vielen Gemeinschaften verbreitet. Durchlässige Grenzen, grenz-überschreitende Volksgruppen und die Strategie der sudanesischen Regierung

1 www.crisisgroup.org/home/index.cfm?id=1230&l=1 (Zugriff: 12.4.2007).

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lassen Auseinandersetzungen häufig zu transnationalen Konflikten werden,wie dies an der Grenze zum Tschad (Volksgruppe der Zaghawa), zu Ugan-da (Volksgruppe der Acholi) und zu Äthiopien (Volksgruppen der Nuer undGalla) der Fall ist.

Die Vielzahl gewalttätiger Auseinandersetzungen, insbesondere in den ab-gelegenen Gebieten des Sudan, behindern Entwicklungsprojekte. Gelder, diefür die Entwicklung eingesetzt werden könnten, werden von Staatsorganen fürmilitärische Zwecke umgewidmet oder unrechtmäßig abgezweigt. Die abneh-mende Bereitschaft der Geber (allen voran die USA, der UN Common Huma-nitarian Fund, Kanada, Libyen, Norwegen, Irland, Italien, die Schweiz, Bel-gien und die Bundesrepublik), Gelder für humanitäre Hilfe zur Verfügung zustellen, trägt zusätzlich zur Verunsicherung bei – die Angst vor Lebensmittel-knappheit und Hungersnöten wächst.

Konfliktursachen

Die drei Hauptursachen der gewaltsamen Konflikte im Sudan sind die ex-trem ungleiche Verteilung von Wohlstand und Ressourcen, die ineffizienteund korrupte Regierungsführung sowie ethnisch-religiöse Spannungen. Khar-toum ist eine entwickelte, moderne Stadt mit ausgebauter Infrastruktur, befes-tigten Straßen, Elektrizitätsversorgung, fließendem Wasser, Notdiensten undeiner Polizei. Dschuba, die Hauptstadt des Südsudan, besitzt dagegen eine ein-zige geteerte Straße in miserablem Zustand, weder fließendes Wasser nochElektrizitäts- oder Telefonnetz. Die Polizei hat der Kriminalität jenseits einesRadius von fünf Kilometern um die Stadt herum nichts entgegenzusetzen. Inanderen Städten und Dörfern außerhalb des Großraums von Khartoum ist dieSicherheits- und Versorgungslage noch schlechter und zwar ungeachtet dessen,dass der Sudan regelmäßige, hohe Einkünfte aus dem Export von Erdöl, dasteilweise aus dem Südsudan kommt, und von landwirtschaftlichen Erzeugnis-sen bezieht. De facto gelangt nur ein kleiner Teil des nationalen Einkommensüber das engere Umland von Khartoum hinaus. Deshalb leidet die Bevölke-rung in hohem Maß an Armut und es fehlt an elementaren Bildungsangebotenund Entwicklungsmöglichkeiten.

Schwache Staatlichkeit

Die Regierungspräsenz im Sudan ist außerordentlich ungleichmäßig. Die su-danesische Regierung ist sehr wohl in der Lage, Ölgeschäfte mit ausländischen

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Unternehmen auszuhandeln, Waffen zu kaufen und auf der Grundlage staatli-cher Gewalt groß angelegte Infrastrukturprojekte durchzuführen. Aber ihre Le-gitimation wird ständig in Frage gestellt und sie hat große Schwierigkeiten, ih-re Autorität über die in unmittelbarer Nachbarschaft der Hauptstadt gelegenenBundesstaaten hinaus zur Wirkung zu bringen. Die sudanesische Regierungist von internen Machtkämpfen, Korruption und undurchsichtiger Bürokratiegekennzeichnet. Dem Durchschnittsbürger stehen kaum öffentliche Dienstleis-tungen zur Verfügung und die wenigen staatlichen Einrichtungen, die funktio-nieren, etwa der Zolldienst und die Grenzkontrolle, füllen lediglich die Kas-sen der Regierungseliten. Zudem werden öffentliche Ämter häufig nicht mitEinheimischen, sondern mit aus Khartoum entsandten Beamten besetzt odersie bleiben vakant, weil es angeblich an Personal fehlt. Allein in Darfur sindüber 120 offizielle Stellen offen, die laut dem Friedensabkommen für Darfurmit örtlichen Repräsentanten zu besetzen gewesen wären, weil die Khartoum-Regierung dies verweigert.

Die Autonomieregierung des Südsudan, die überwiegend von der Südsu-danesischen Volksbefreiungsbewegung gestellt wird, hat bei der Regierungs-führung kaum bessere Ergebnisse vorzuweisen. Immer wieder werden Kor-ruptionsvorwürfe gegen die Polizei und die Justiz erhoben. Offenbar ist dieKorruption auch in der Regierung weit verbreitet. Vor allem aber verfügt dieRegierung nicht über die personellen Kapazitäten, um die Wirtschaft oder dasStaatswesen zu steuern. Die südsudanesische Regierung hat wiederholt festge-stellt, dass ihr eine Buchhaltung fehlt um zu überprüfen, ob sie die ihr zuste-henden Anteile aus den Öleinnahmen auch wirklich erhält. Auf der Hauptver-kehrsader nach Uganda errichten Banditen zwischen Dschuba, der Hauptstadtdes Südsudan, und der Stadt Yei regelmäßig Straßensperren, die die Route un-passierbar machen. Die Regierung des Südsudan ist unfähig, die Sicherheitihrer Bürger über die Hauptstadt Dschuba hinaus zu gewährleisten.

Ethnische Spannungen

Das Leben im Sudan ist seit Jahrhunderten von ethnischen Spannungen ge-prägt. Bei einigen Volksgruppen, wie z.B. den Dinka, Murle und Nuer, ist esTradition, Raubzüge gegen die Nachbarn und auch untereinander zu unterneh-men und so das eigene Gebiet zu vergrößern – oft auch mit einer ideologi-schen Begründung. Das Volk der Murle beispielsweise glaubt, Gott habe ihmalle Rinder auf der Erde geschenkt. Wenn die Murle ihren Nachbarn Rinderwegnehmen, ist dies in ihren Augen kein Diebstahl, sondern eine Wiederinbe-sitznahme. Verschärft werden die Spannungen zwischen den Ethnien dadurch,

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dass viele Gruppen – etwa die Beja, Nuba und Fur – von der Zentralregie-rung und den arabisch orientierten Stämmen des Nordsudan als Zwangsarbei-ter ausgebeutet wurden. Die dominierende Stellung der Volksgruppe der Dinkaim Südsudan hat bei deren Nachbarn und auch bei traditionellen Feinden wieden Nuer Ressentiments hervorgerufen. Während des Bürgerkriegs bildetendie Nuer eine rivalisierende Rebellenarmee, die Südsudanesischen Verteidi-gungskräfte (South Sudan Defence Forces, SSDF).

Abneigungen gegen andere ethnische Gruppen im Sudan basieren aufUnterschieden in der Lebensweise und -perspektive sowie der Kultur. Dieinterethnischen Spannungen werden durch den Staatsapparat verschärft, derdie Konflikte instrumentalisiert. Angehörige einzelner Gruppen, wie z.B. dieDschandschawid, werden von der Regierung als Satrapen rekrutiert. Viele eth-nische Gemeinschaften im Sudan pflegen zwar eine Tradition der Hilfsbereit-schaft innerhalb der eigenen Gruppe, verhalten sich jedoch nach außen kampf-bereit. Kleinwaffen sind überall im Sudan verbreitet und ein Bestandteil deralltäglichen Gewalt. Da es keine kompetenten Sicherheitskräfte gibt, verfügenGruppen, die traditionell Raubüberfälle auf die Rinderherden ihrer Nachbarnverüben, häufig über größere und qualitativ bessere Schusswaffen. Da niemandin der Lage war, Truppen über längere Zeit im Feld zu halten, griffen insbe-sondere die SPLA und die sudanesische Regierung auf die Praxis zurück, ört-liche Milizen zu bewaffnen, die lokal für Sicherheit sorgen und für kurzzeitigeKampfeinsätze herangezogen werden könnten.

Religiöse Konfliktlinien

Bis zum Aufkommen des militanten Islam stellten die interreligiösen Bezie-hungen kein besonderes Problem dar. Die Mitglieder einer ethnischen Gruppeoder sogar einer Familie konnten unterschiedlichen Religionen angehören undbisweilen gaben Einzelpersonen sogar mehrere Religionszugehörigkeiten an.Die Bevölkerung des Sudan teilt sich kulturell in solche Gruppen, die, unge-achtet der Religionszugehörigkeit, eine Abstammung von arabischen Vorfah-ren für sich in Anspruch nehmen, und solchen, die dies nicht tun. Das wirdvon der sudanesischen Regierung als Mobilisierungsmotiv ausgenutzt – vieleRegierungsmitglieder hängen angeblich oder tatsächlich dem Gedanken einerumfassenden arabischen Einheit an. In diesem Sinne wird der Krieg im Su-dan oft als Rassenkrieg zwischen Arabern im Norden und Afrikanern im Sü-den dargestellt. Tatsächlich haben sich jedoch Araber und Afrikaner weitge-hend vermischt. Bedeutsamer ist vielmehr, dass die islamischen Fundamenta-listen den nicht formellen Grundsätzen der Uruba anhängen, wonach der Islam

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sich durch arabische Sprache, nomadisches Leben und Kamelzucht auszeich-ne, während die sesshaften Bauern, die nicht Arabisch sprechen, eine rassischeBegründung des Islam ablehnen.

Wie in anderen afrikanischen Staaten auch, hat der Aufschwung des poli-tischen Islam meist säkulare Ursachen: Er ist Ausdruck zivilgesellschaftlicherAutonomie gegenüber einer korrupten Regierung, ein Versuch, Großgruppenzu mobilisieren, ein Mittel der Politisierung von Wahlkämpfen sowie der Ab-grenzung gegenüber den USA und Großbritannien, vor allem aber dient er dermoralischen Legitimation von Forderungen marginalisierter Gruppen. Bis zurJahrtausendwende dominierten drei Stämme aus dem Nordsudan Regierung,Polizei, Militär, Justiz, Banken und Provinzverwaltungen, obwohl sie nur et-was mehr als fünf Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten. Vor diesemHintergrund gewann die „Islamische Revolution“ Anhänger, weil sie Gerech-tigkeit und Respekt für die unterrepräsentierten Gruppen einforderte, ethnischeund soziale Spaltungen zu überbrücken versprach und vorgab, gegen die Kor-ruption anzugehen. Die sudanesische Regierung begann in den 1980er Jahrenihrerseits, den Konflikt mit der südsudanesischen SPLA als einen religiösenKonflikt darzustellen. Durch die Islamisierung konnten im Norden leichterFreiwillige für paramilitärische Verbände mobilisiert werden, die als billiges„Kanonenfutter“ im Kampf gegen die SPLA dienten.

Äußere Einflüsse

Die Bürgerkriege im Sudan werden durch grenzübergreifende Einflüsse ver-schärft. Streitigkeiten der benachbarten Länder untereinander und das Verhält-nis der Nachbarn zum Sudan begünstigen die Fortsetzung der Konflikte undbieten ihnen zusätzlich Nährboden. Die SPLA genoss in der Vergangenheit dieHilfe der Regierung Äthiopiens, die, je nachdem, wie sich das Verhältnis derRegierung in Addis Abeba zu Khartoum gestaltete, mehr oder weniger gewährtwurde. Uganda hat die SPLA in den ersten Jahren unterstützt, hauptsächlichwegen der beiderseits der Grenze lebenden Volksgruppen (wie etwa die Acho-li). Im Gegenzug hat die sudanesische Regierung die ugandische Lords Resi-stance Army (LRA) bei ihren Raubüberfällen in Uganda mit Waffen, Munitionund Geld versorgt. Die Armee Ugandas geht im Südsudan gegen die LRA vor,die sudanesische Armee wiederum soll den Truppen der LRA im SüdsudanUnterschlupf gewähren. Der Beja-Konflikt im Osten Sudans wird wiederummit Unterstützung Eritreas in Gang gehalten, dessen Grenze mit dem Sudanumstritten ist. Eritrea hilft zudem mehreren Fraktionen im Darfur-Konflikt,wo einige ethnische Gruppen, die beiderseits der Grenze siedeln, von der Re-

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gierung des Tschad gestärkt werden. Im Gegenzug fördert die Regierung desSudan Rebellen, die die tschadische Regierung stürzen wollen.

Seit etwa 2003 zeigen internationale Unternehmen – vornehmlich kanadi-sche, norwegische, malaysische und chinesische Ölkonzerne – im Sudan eineüberaus intensive Geschäftstätigkeit. 2 Insbesondere China hat große Investitio-nen im Sudan getätigt, um seine Ölversorgung sicherzustellen, und tritt seitherals Fürsprecher der Regierung in Khartoum auf. Öleinkünfte und Förderrechtewurden gegen Waffen und politische Unterstützung eingetauscht: Die Reak-tion der Vereinten Nationen auf die Gräueltaten in Darfur wurde von Chinablockiert, weil es primär darum bemüht ist, seine Ölinvestitionen im Sudan zuschützen.

Der Darfur-Konflikt

Darfur liegt im Westen an der Grenze zum Tschad und hat eine fast vollständigmuslimische Bevölkerung. Historisch war das Sultanat Darfur ein mächtigesGebilde, das bis zur Ankunft der britischen Kolonialmacht oft die herrschen-de Macht im Sudan war. Bis zu einer sogenannten Säuberungsaktion durchdie sudanesische Regierung in den 1980er Jahren wurden viele Soldaten undOffiziere der sudanesischen Streitkräfte in Darfur rekrutiert. Das ehemals be-deutende Darfur ist unter dem derzeitigen Regime zu einem vernachlässigtenRandgebiet verkommen – einer der Hauptgründe für die dortige Unzufrieden-heit. Außerdem gibt es Vermutungen über Ölvorkommen im Süden von Darfur,was einer der Gründe dafür sein könnte, dass die Regierung in Khartoum ver-sucht, die ansässige Bevölkerung zu vertreiben. Die von den Medien betontearabisch-afrikanische Abgrenzung basiert nicht auf einer physischen Stereo-typisierung, sondern ist ideologisch begründet. Die Nomaden argumentieren,sie seien Araber, weil sie der Uruba aufgrund der beduinischen Lebensweisesowie in Sprache und Kultur entsprächen und zudem von arabischen Einwan-derern abstammten. Als Reaktion darauf und mit dem Ziel, eine kohärenteoppositionelle Ideologie zu schaffen, heben die Subsistenzbauern und einigeRinderzüchter in den letzten zwanzig Jahren ihre afrikanische Identität im Ge-gensatz zur arabischen hervor.

Die Instabilität im Tschad trägt in zweifacher Weise zu den Problemen inDarfur bei. Einerseits unterstützen tschadische Nomaden ihre ethnischen Ver-wandten jenseits der Grenze in Darfur, andererseits fördert die Regierung des

2 Caroline Buddenhagen: Darfur activists support realistic solutions, Chicago Maroon, onlineedition, May 19, 2006, http://maroon.uchicago.edu/viewpoints/articles/2006/05/19/darfur_activists_sup.php (Zugriff: 12.4.2007).

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Sudan regierungsfeindliche Kräfte im Tschad, um die dortige Regierung ihrer-seits in Bedrängnis zu bringen. Die Zugehörigkeit zu Stämmen, die sich bei-derseits der Grenze befinden (besonders Zaghawa und Fur) bedeutet, dass esständig grenzüberschreitende Übergriffe und Vergeltungsakte gibt. Wie schonim Konflikt im Südsudan bedient sich die sudanesische Regierung auch in Dar-fur einer Art Freibeutersystem, indem sie die Dschandschawid dazu anstiftet,die sesshafte Bevölkerung zu überfallen, sie von ihrem Land zu vertreibenund Stellvertreterkämpfe für die Regierung auszutragen. Nachdem aus demTschad heraus operierende Rebellen eine Reihe provozierender Überfälle aufRegierungstruppen in Darfur verübt hatten, gab die sudanesische Regierungden Dschandschawid ab dem Jahr 2000 freie Hand, sie stellte zudem, mehroder weniger verdeckt, Unterstützung aus der Luft bereit und lieferte Waffen.Die sudanesische Regierung behauptet, keine Kontrolle über die Dschandscha-wid zu haben, doch gibt es starke Indizien dafür, dass sie sie nach wie vor mitFlugzeugen und Geldern unterstützt.

Die sudanesische Regierung und eine der großen Rebellengruppen in Dar-fur haben 2006 das Darfur-Friedensabkommen (DPA) unterzeichnet, dem diemeisten anderen Gruppen jedoch nicht zugestimmt haben. Nach langwierigenVerhandlungen mit der sudanesischen Regierung hat die Afrikanische Union(AU) eine Friedenstruppe in Darfur stationiert. Die aus gut 7.000 Mann beste-hende Truppe ist unzureichend ausgerüstet und unterfinanziert, es mangelt ihran Mobilität und sie ist de facto nicht einmal in der Lage, ihren Auftrag auchnur insoweit zu erfüllen, dass sie die rund eine Million Flüchtlinge in den La-gern vor Übergriffen der Dschandschawid schützt. Die Soldaten der AU pro-tokollieren zwar, wenn ein Massaker stattgefunden hat, aber sie dürfen nichteingreifen. Die AU wollte ihre Mission deshalb nicht fortsetzen und konntenur mühsam überzeugt werden, das Mandat um ein halbes Jahr bis Mitte 2007zu verlängern.

Die NATO hat in sehr geringem Umfang Ausbildungsmaßnahmen für dieTruppen der AU durchgeführt. Zudem hat es eine geringfügige Unterstützungseitens der NATO und der EU gegeben. Teils ist das Ausbleiben effektiverUnterstützung auch auf den Einfluss der sudanesischen Regierung in der AUzurückzuführen, die sich gegen eine nicht-afrikanische Intervention ausgespro-chen hat, teils ist dies auch dem fehlenden Willen der NATO und der UN zu-zuschreiben. Statt die AU-Truppe umfassend zu unterstützen, haben die west-lichen Länder zugesehen, wie sie versagte und sind deshalb jetzt mit zwei un-angenehmen Alternativen konfrontiert – entweder müssen sie zulassen, dassdie Bevölkerung in Darfur weiterhin leidet, oder sie müssen in eigener Regiekostspielige Operationen durchführen.

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Die Rebellengruppen in Darfur hegen trügerische Erwartungen an die in-ternationale Gemeinschaft. Der Aufstand der Bewegung für Gerechtigkeit undGleichheit (JEM) und der Sudanesischen Befreiungsarmee (SLA) stützt sichnämlich auf die Annahme, dass bewaffnete Gewalt die Regierung des Sudandazu zwingen würde, ihnen in Darfur ähnliche Rechte einzuräumen, wie siedie SPLA im Südsudan errungen hat. Stattdessen reagierte die sudanesischeRegierung aber damit, den Dschandschawid freie Hand zu geben. Die Aufstän-dischen gingen irrigerweise auch davon aus, dass die internationale Gemein-schaft, insbesondere die UN, EU und NATO, ihnen zu Hilfe eilen würden.

Die Rebellenbewegung in Darfur hat sich in den vergangenen drei Jahrenmehrfach aufgesplittert. Die beiden ursprünglichen Kampfgruppierungen, dieJEM (hauptsächlich aus der Ethnie der Fur) und die SLA (hauptsächlich ausder Volksgruppe der Zaghawa), haben sich in mehr als zwanzig Fraktionengespalten, die sich untereinander bekämpfen. Erschwerend kommt hinzu, dasskaum Kontakte zwischen den kämpfenden Gruppen in Darfur und denjenigenExilpolitikern bestehen, die vorgeben, die Gruppen zu führen oder zu reprä-sentieren. Das Darfur-Friedensabkommen, welches unter der Ägide Nigeriasausgehandelt wurde, wird bislang nicht implementiert.

Seit Februar 2006 nahmen die bewaffneten Auseinandersetzungen in Dar-fur wieder zu. Der Befehlshaber der AU-Mission machte die Darfur-Rebellendafür verantwortlich, die nämlich durch Angriffe auf die von der Regierungkontrollierten Städte Shearia und Golo Gegenangriffe der Dschandschawid aufFlüchtlingslager provoziert hätten. Nach unabhängigen Angaben waren es je-doch weiterhin hauptsächlich die mit der sudanesischen Regierung verbünde-ten Milizionäre, die gegen Flüchtlinge und ausländische Hilfsorganisationenvorgingen. Immerhin unterzeichneten am 5. Mai 2006 die sudanesische Regie-rung und eine Fraktion der SLA ein Friedensabkommen in Abuja. Eine Teil-fraktion der SLA unter Abdelwahid al-Nur und die Bewegung für Gleichheitund Gerechtigkeit (JEM) lehnen das Abkommen jedoch ab, da sie umgehendeine Region Darfur schaffen und einen zweiten Vizepräsidenten für Darfureinführen wollen.

Rebellengruppen, die das Friedensabkommen ablehnen, haben sich zursogenannten Nationalen Erlösungsfront (National Redemption Front, NRF)zusammengeschlossen und erklärten den Waffenstillstand für beendet. NeueKämpfe zwangen das Welternährungsprogramm, seine Arbeit ab Juni 2006einzustellen. Seitdem sind etwa 400.000 Menschen von Hunger bedroht. DieDschandschawid hatten bereits unmittelbar nach der Unterzeichnung des Ab-kommens ihre Angriffe wieder aufgenommen. Die sudanesische Regierungentsandte daraufhin zusätzliche Truppen nach Darfur und startete eine seit dem

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MICHAEL ASHKENAZI UND SUSAN HOUGH

28. August 2006 andauernde Offensive in Nord-Darfur, um mit Unterstützungder Minnawi-SLA die Rebellen der NRF zurückzudrängen.

Die Lage in Darfur ist vielfach als Genozid bezeichnet worden. Etwa700.000 der rund 2,1 Millionen Menschen in Darfur sollen sich auf der Fluchtbefinden. Infolge der Überfälle bleiben die Felder unbestellt, die Ernten fallenaus, das Vieh wird gestohlen, Hütten werden verbrannt, die Menschen fliehen,werden entführt oder getötet. Ob die sudanesische Regierung bewusst danachstrebt, die illoyalen ethnischen bzw. religiösen Gruppen teilweise oder gänzlichphysisch zu zerstören, ist umstritten – die UN-Völkermordkonvention knüpftden Genozidbegriff allerdings an eine bewusste Intention. Seit März 2005 er-mittelt immerhin der Internationale Strafgerichtshof gegen Kriegsverbrecherim Darfur-Konflikt. Human Rights Watch hat im Jahr 2006 seine bereits seit2004 erhobenen Vorwürfe erneuert, wonach die sudanesische Regierung inPlanung und Durchführung der Kriegsverbrechen einbezogen sei.

Der Beja-Konflikt

Im Osten des Sudan, zwischen dem Roten Meer und der eritreischen Gren-ze, führt die Volksgruppe der Beja mit Unterstützung durch Eritrea einen bis-lang ergebnislosen Bürgerkrieg gegen die Zentralregierung. Die Beja behaup-ten, entrechtet und dem sudanesischen Staat entfremdet zu sein, und beklagenmangelnde Entwicklung und Förderung. Bislang ist es der sudanesischen Re-gierung gelungen, den Konflikt, der immer dann aufflammt, wenn die Bezie-hungen zwischen dem Sudan und Eritrea sich verschlechtern, unter Kontrol-le zu halten. Der Konflikt könnte jedoch eskalieren, wenn die Verhandlungenzwischen der Regierung und der oppositionellen „Östlichen Front“ zu keinerEinigung führen. Die humanitäre Situation im Osten hat sich zunehmend ver-schlechtert; manche Beobachter meinen, dass sie hier sogar noch schlechter seials in Darfur. Die sudanesische Regierung ist bestrebt, ihre Vorherrschaft auf-recht zu erhalten, indem sie Unterstützer der „Östlichen Front“ auf ihre Seitezu ziehen versucht – durch Patronage, eine Politik des „Teile und Herrsche“und die Aufstellung von Stammesmilizen.

Ausblick

Das Darfur-Friedensabkommen und das „Umfassende Friedensabkommen“für den Nord-Süd-Konflikt sind gegenwärtig gefährdet. Viele Menschen imSüdsudan sind zwar erleichtert über das Ende des Bürgerkrieges, haben aber

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SUDAN

Angst vor erneuten Kämpfen. Im Südsudan hängt sehr viel von dem für 2011angesetzten Referendum ab, in dem über seine zukünftige Staatlichkeit ent-schieden werden soll. Wenn die Mehrheit für die Unabhängigkeit des Südsu-dan stimmt – ein Ausgang, den die sudanesische Regierung für wahrscheinlichhält –, sind neuerliche Kämpfe fast unvermeidlich.

Die Zentralregierung hat nur eine geringe Bereitschaft zur Durchsetzungdes „Umfassenden Friedensabkommens“ und des Darfur-Abkommens gezeigt.Insbesondere das Problem der Grenzfestlegung des Distrikts Abyei mit sei-nen bedeutenden Ölfeldern ist ungelöst. Die sudanesische Regierung ver-stößt damit gegen das Friedensabkommen, das die Einsetzung einer Grenz-kommission für Abyei vorsah, die zu einer unabhängigen, für beide Seitenrechtsverbindlichen Entscheidung kommen sollte. Die Ergebnisse der Abyei-Grenzkommission wurden von der sudanesischen Regierung jedoch verwor-fen. Aber auch das Darfur-Abkommen wird mitnichten eingehalten. Minni Mi-nawi, der Führer einer der Widerstandsgruppen in Darfur, erhielt zwar einenRegierungsposten in Khartoum, doch die Entwaffnung, Demobilisierung undWiedereingliederung der verschiedenen Rebellengruppen in Darfur wurdennoch nicht einmal eingeleitet. Die im Friedensabkommen für Darfur vorge-schriebenen Änderungen in der Khartoum-Regierung wurden ebenso wenigdurchgeführt. Dank ihrer Stellung als Erdölexporteur und unterstützt von Kun-den wie China, Malaysia, der Arabischen Liga und Teilen der muslimischenWelt genießt die sudanesische Regierung weitgehend Sicherheit vor interna-tionalen Militärinterventionen.

Die sudanesische Regierung und die Opposition sind zersplittert. Insbeson-dere die sudanesische Regierung, aber auch die SPLM, benutzt Stellvertreter-Milizen, um ihre Ziele zu erreichen. Die Risse in der sudanesischen Gesell-schaft auf kommunaler Ebene werden dabei absichtlich gefördert. Angesichtsder tiefen ethnischen, politischen, ökonomischen und zum Teil auch ideologi-schen Spaltungen wird es ohne die Herausbildung anerkannter Führungselitenunter den Konfliktparteien kaum Verhandlungsfortschritte geben.

Sicherheit ist für die meisten Menschen im Sudan vorrangig. Politisch undfinanziell sollte deshalb der Aufbau eines funktionsfähigen Rechts- und Voll-zugssystems im Vordergrund stehen. Dazu gehört, dass Polizei, Justiz undStrafvollzugsdienste rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichtet sind. Unter-stützt werden sollten zudem die Kommunalbehörden, besonders in der Finanz-verwaltung, im Polizei- und Justizwesen und bei der Bereitstellung von öffent-lichen Diensten. Alle Regierungsebenen sollten bei der Kleinwaffenkontrolleund beim Ausbau entsprechender Kapazitäten unterstützt werden.

Allen Konflikten auf nationaler Ebene ist die Ausbeutung der Peripherie

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durch die Metropolen eigen. Externe Akteure sollten deshalb sicherstellen,dass die Regierungen in Khartoum und in Dschuba die Entwicklungshilfe nichtfür Zwecke der jeweiligen Metropole monopolisieren. Die EU, die das „Um-fassende Friedensabkommen“ unterstützt hat, sollte sich dafür einsetzen, dassdas Abkommen auch eingehalten wird. Den aufständischen Parteien muss al-lerdings auch deutlich gemacht werden, dass die Hoffnung auf eine einseiti-ge militärische Intervention der EU oder der NATO zu ihren Gunsten unrea-listisch ist. Gegenüber der Khartoum-Regierung stehen nur wenige Optionenzur Verfügung. Die regierende Elite ist fragmentiert, aber keine der Fraktio-nen ist stark genug, aus der Regierung auszubrechen. Öffentlichen und diplo-matischen Druck über die Vereinten Nationen bzw. ihre Vorort-Missionen hatKhartoum kühl zurückgewiesen. Positive ökonomische Anreize bzw. Entwick-lungsangebote sind als Motivation unwirksam, weil die sudanesische Regie-rung über ausreichende Eigenmittel verfügt. Wirtschaftliche Sanktionen könn-ten bestenfalls Druck auf einzelne Regierungsmitglieder ausüben. Möglicher-weise könnte die EU indirekt über die politischen Partner (China und Russ-land) und technologischen Ausrüster der sudanesischen Regierung Druck aus-üben, etwa durch Restriktionen beim Export von Fördertechnologie für Öl. Einumfassendes militärisches Engagement der EU oder der NATO, einschließlichbewaffneter Einsätze gegen die Dschandschawid und andere Rebellengruppen,würde nach vorsichtigen Schätzungen etwa 35.000 Soldaten erfordern, inklu-sive einer robusten Luftkontrolle – eine derzeit unwahrscheinliche Option. DieEU könnte jedoch in Darfur die Sicherheitsunterstützung für die AU bis hinzur Entsendung von Schutztruppen in Nachbarstaaten – Tschad und eventu-ell Uganda – erwägen. Militärisch kann die EU jedoch vor allem die Logistikder AU unterstützen, Ausbildungshilfe anbieten und die Durchsetzung einerFlugverbotszone in Darfur fördern, um die Unterstützung der Dschandscha-wid durch die sudanesische Luftwaffe zu unterbinden.

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4.2. Die Herausforderungen im Kongo beginnen erst

Willem Jaspers

Der Krieg in der DR Kongo begann 1996, als Laurent-Désiré Kabila, Vater desjetzigen Präsidenten Joseph Kabila, versuchte, den damaligen Präsidenten Mo-butu Sese Seko (1965-1997) zu stürzen – eine Rebellion, die militärisch vonRuanda und Uganda unterstützt und durch Flüchtlingsströme aus Ruanda undBurundi angeheizt wurde. Der Aufstand begann im Osten des Landes, ergriffschnell das gesamte Land und erreichte die Hauptstadt Kinshasa, wo Mobutugestürzt wurde. Nachdem Kabila das Präsidentenamt übernommen hatte, nahmdie Gewalt für kurze Zeit ab. Doch Ruanda und Uganda förderten auch unterKabilas Herrschaft verschiedene Rebellionen. Kabila führte zudem die Klep-tokratie fort, die unter dem Vorgänger Mobutu bizarre Ausmaße angenommenhatte. Da sich Kabila mit seinen ehemaligen Verbündeten überworfen hatte, be-gann 1998 die zweite Phase des Bürgerkriegs, in dessen Hochphase Simbabwe,Angola, Namibia, Tschad und Sudan intervenierten, wobei einheimische Re-bellengruppen auf beiden Seiten des Konflikts kämpften. Im Gegenzug für dieMilitärhilfe für Kabila erhielt z.B. Simbabwe Anteile an den DiamantenminenKongos.

Der Kongokrieg ging als „Afrikas erster Weltkrieg“ (1998 bis 2002) in dieAnnalen ein. Das International Rescue Committee schätzt, dass zwischen 1998und 2002 3,3 Millionen Menschen infolge des Krieges gestorben sind.1 Nachlangwierigen Friedensverhandlungen und der Unterzeichnung des sogenann-ten All Inclusive Peace Agreement in Pretoria im Dezember 2002 endete derBürgerkrieg offiziell. Das Pretoria-Friedensabkommen legte fest, dass wäh-rend einer Übergangsperiode eine „1+4“-Struktur eingerichtet werden sollte.Das bedeutete, dass Joseph Kabila und seine Partei den Präsidentenpostenund eins der vier Vizepräsidentenämter erhielten. Zwei weitere Vizepräsiden-ten sollten von den zwei Rebellengruppen, nämlich Jean-Pierre Bembas MLC(Mouvement de Libération Congolais – Befreiungsbewegung des Kongo) undAzarias Ruberwas RCD-Goma (Rassemblement congolais pour la démocra-tie, Kongolesische Sammlungsbewegung für die Demokratie – Goma) gestelltwerden. Der vierte im Bunde sollte mit Zahidi N’Gmoa ein Vertreter der Zivil-gesellschaft sein. Diese Übergangsregierung sollte den Weg für demokratischeWahlen frei machen.

1 B. Coghlan, R. Brennan, et al.: Mortality in the Democratic Republic of Congo, 2006, S. 44-51; www.globalpolicy.org/security/issues/congo/2006/0107survey.pdf (Zugriff: 4.4.2007).

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WILLEM JASPERS

Hintergründe

Mehr als vier Jahrzehnte der Misswirtschaft lassen sich nicht in ein paar Jahrenungeschehen machen. Deshalb ist es unrealistisch zu erwarten, dass der Roh-stoffsektor dem kongolesischen Volk in absehbarer Zeit einen nennenswertenNutzen bringen wird. Erfahrungen anderer afrikanischer Länder zeigen zudem,dass Bodenschätze an sich noch keine Entwicklungsperspektiven bieten undsich eine reiche Ausstattung mit natürlichen Ressourcen sogar negativ auswir-ken kann, wenn sie nicht auf nachhaltige, transparente und verantwortliche Artverwaltet werden. Ein dauerhaftes Engagement der internationalen Gemein-schaft ist notwendig, insbesondere durch die Weltbank und andere Entwick-lungsbanken, die die Regierung bei der Korruptionsbekämpfung unterstützen.Auch die UN-Mission MONUC (Mission des Nations Unies en RépubliqueDémocratique du Congo , die in der DR Kongo stationiert ist, sollte so langebleiben, bis es einen stichhaltigen Nachweis dafür gibt, dass sich die Sicher-heitslage verbessert hat und langfristig investiert werden kann. Letztlich wirddiese Strategie für die UNO kostengünstiger sein als stets auf neue Krisen zureagieren. Angesichts der Aufbruchstimmung seit den Wahlen und einer Be-völkerung, die der jahrelangen Kämpfe und politischen Experimente müde ist,ist zu hoffen, dass die positiven Anzeichen infolge der Wahlen nun nicht anGebermüdigkeit scheitern. Damit die hohen Summen (allein 500 MillionenUS-Dollar an Wahlhilfe), die bereits in die DR Kongo investiert wurden, nichtumsonst sind, sollte die Entwicklungshilfe fortgesetzt werden. Die alltäglicheGewalt besonders in den östlichen Provinzen (Nord-Kivu, Süd-Kivu, Katangaund Orientale), die Präsenz von mehreren Hunderttausend Flüchtlingen unddie miserable Gesundheitsversorgung erfordern nach wie vor große Anstren-gungen der internationalen Not- und Katastrophenhilfe. Darüber hinaus mussder Sicherheitssektor weiter reformiert, die Kriegsökonomie eingedämmt undder Bergbausektor umstrukturiert werden.

Die Sicherheitslage

Obwohl es unwahrscheinlich ist, dass sich die Kämpfe wieder auf das gan-ze Land ausdehnen werden, gibt es nach wie vor Gewalt auf regionaler undlokaler Ebene. So sind lokale Milizen in Ituri weiterhin aktiv, obwohl einigevon ihnen in die nationale Armee eingegliedert wurden. Die Forces démocra-tiques pour la libération de Ruanda (FDLR) – eine Bewegung von Hutus, dienach dem Völkermord in Ruanda entstand – wirken in Nord-Kivu. Berichtevom Februar 2007 warnten vor einer bevorstehenden Konfrontation zwischen

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KONGO

ihnen und Regierungstruppen. Die kongolesische Armee, die Forces armeésde la République démocratique du Congo (FARDC), ist derweil nicht in derLage, für die Sicherheit der Bevölkerung zu sorgen, ja ist sogar oft eher eineGefährdung denn ein Schutz.

Ehemalige Rebellen, Milizen und die Truppen der Regierung Kabila sindim Rahmen des Übergangsprozesses weitgehend in die neue FARDC einge-gliedert worden. Dies ging jedoch langsam und unregelmäßig vonstatten undes gibt große Zweifel an der Ausbildung, der Loyalität und Professionalitätder so integrierten Brigaden, nicht zuletzt, weil sich möglicherweise paral-lele Befehlsstrukturen gehalten haben. Menschenrechtsverletzungen, die von„integrierten“ Kombattanten begangen werden, halten an. Bei Kombattanten,die mit internationaler Hilfe seitens Belgiens, Angolas und Südafrikas einge-gliedert wurden, treten diese Probleme weniger auf als bei solchen, die vonKongolesen ausgebildet wurden. Die Ausrüstung der neuen Brigaden ist man-gelhaft, das meiste stammt aus den Entwaffnungsprogrammen und wird nunweiter genutzt.

Die Truppenstärke der 14 neuen Brigaden scheint viel zu groß für dasverfügbare Budget, aber angesichts der großen Zahl ehemaliger Kombattan-ten, die der integrierten Armee beitreten wollen, anstatt an Entwaffnungs-,Demobilisierungs- und Reintegrationsprogrammen (DD&R) teilzunehmen,gibt es kurzfristig keine andere Lösung als deren Eingliederung in die Streit-kräfte. Mangelnde Mittel, logistische Hindernisse und Verzögerungen bei derAuszahlung des Soldes bzw. das Verschwinden dieser Gelder verschlimmerndie Probleme der Streitkräfte.

Die Wahlen

Mit ungefähr 33 Kandidaten für das Präsidentenamt, 9.000 Kandidaten für die500 Sitze im Parlament, ca. 50.000 Wahllokalen und 25 Millionen registriertenWähler in einem Land ohne nennenswerte Infrastruktur waren die Wahlen imKongo eine organisatorische Herausforderung. Das unabhängige Wahlkomi-tee (Commission Electorale Indépendante) hat hervorragende Arbeit geleistet,wobei ein Großteil des Lobes durchaus auch der Internationalen Gemeinschaftgebührt. Es waren zwei Wahlgänge nötig, da Kabila in der ersten Runde dieMehrheit verfehlte. Eine Stichwahl zwischen ihm und seinem Mitbewerber,Jean-Pierre Bemba, fand gleichzeitig mit den Wahlen der Provinzregierungenam 29. Oktober 2006 statt. Kabila erhielt 58 Prozent der Stimmen, wobei diemeisten seiner Anhänger im östlichen Teil des Landes zu finden waren. Bem-

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ba erhielt 42 Prozent der Stimmen, die fast ausschließlich aus dem Westen,nämlich den Provinzen Kinshasa und Equateur, kamen.

Trotz einiger Zwischenfälle – z.B. ein großes Feuer im Obersten Gerichts-hof während der Überprüfung einer Klage über Wahlunregelmäßigkeiten undeine Schießerei in Kinshasa am 11. November 2006 – verlief die zweite Rundeder Präsidentenwahlen insgesamt friedlich. Nach dem Wahltag hat das Wahl-komitee relativ schnell ein vorläufiges Wahlergebnis bekannt gegeben, wo-durch keiner der beiden Kandidaten die Möglichkeit erhielt, die unsichere Si-tuation auszunutzen.

Trotz der komfortablen zahlenmäßigen Mehrheiten in Nationalversamm-lung (etwa 60 Prozent aller Sitze), Senat und Provinzparlamenten ist der Wahl-gewinner, Kabilas Alliance pour la majorité présidentielle (AMP) eine hetero-gene und zerbrechliche Koalition verschiedener Parteien und Individuen. Dasneue Kabinett besteht aus etwa 60 Ministern und Vizeministern und ist vondaher nur etwas kleiner als die Übergangsregierung, die 72 Minister bzw. Vi-zeminister hatte. Sehr wahrscheinlich wird die neue Regierung zu schwach undgespalten sein, um weitreichende und politisch kontroverse Reformen durch-zuführen.

Der Bergbau

Gold, Diamanten, Zinnstein, Kobalt und Columbit-Tantalit (auch als Coltanbekannt und in der Hochtechnologie verwendet) sind nur einige der natürlichenRessourcen, die im Kongo gewinnträchtig abgebaut werden. Die natürlichenRessourcen sind eine lukrative Geldquelle und zugleich eine Ursache für dieKonkurrenz zwischen den verfeindeten Fraktionen. Bewaffnete Gruppen pro-fitierten vom Abbau von Bodenschätzen. Sowohl Regierung als auch Rebellenverkauften Abbaulizenzen an kleine Bergbauunternehmen, zogen Schutzgel-der ein und besteuerten die Produktion und die Erträge der Erzeuger und Händ-ler. Laurent Kabila hat seinen Marsch auf Kinshasa dadurch finanziert, dasser „Kriegsbeute-Optionen“ an Bergbauunternehmen verkaufte. Später bot dieRegierung Kabila Simbabwe im Austausch für Militärhilfe Holzkonzessionenan.2 Des weiteren traf Kabila eine Abmachung mit American Mineral Fields,die Konzessionen über eine Milliarde US-Dollar für Kobalt und Kupfer erhal-ten hatten.3 Als Kabila das Mobutu-Regime stürzte und nur 14 Monate spätergegen seine eigenen Verbündeten antreten musste, fanden die meisten Kämpfe

2 Global Witness: Timber Resources Fuelling Conflict, London 2002.3 Project Underground: Mineral for Cellphones Aggravates Congo War, London 2001.

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entweder im Umfeld strategischer Punkte (Städte, Handelsrouten) oder dort,wo Bodenschätze abgebaut wurden, statt. Einige Beobachter haben daraus ge-folgert, dass im Kongo allein ein Ressourcenkrieg geführt wurde, in dem Dia-manten, Gold und Holz die Streitobjekte der Krieg führenden Parteien waren.Die verfeindeten Gruppen hatten sich an strategischen Orten festgesetzt undein Kampf um die Kontrolle von Minen, Handelsnetzwerken und Handelsrou-ten begann.

Die natürlichen Ressourcen dienten den politischen Eliten aber nicht nurzur Selbstbereicherung, sondern eröffneten ihnen auch den Zugang zu politi-scher Macht. Um ihre politische Macht zu sichern, mussten die Eliten näm-lich sowohl militärische Allianzen als auch politische Unterstützernetzwerkeaufrechterhalten. Diese Netzwerke existieren immer noch und die Regeln derAnhäufung von politischer und wirtschaftlicher Macht folgen der gleichen Lo-gik wie während des Krieges. Die Vereinbarungen in den Pretoria-Abkommenvon 2002 zur Machtteilung sahen vor, dass die Posten der Gouverneure undderen Vertreter neu verteilt werden, und in der Tat wurden alle bis auf einenersetzt. Freilich fand keine Neuverteilung von niedrigeren Posten statt, sodassalte Netzwerke ihren Einfluss behalten konnten. Die illegale Gewinnung vonRessourcen hält an und seitdem das UN Panel of Experts seinen letzten Berichtveröffentlicht hat, hat sich wenig geändert.4 Die illegale Ausbeutung der Bo-denschätze im Kongo geht weiter und Informationen über Handelsrouten undZielorte für illegal abgebaute Bodenschätze sowie die Produkte, zu denen sieweiterverarbeitet werden, sind schwer zu beschaffen. Verantwortlich hierfürist einerseits die Situation im Kongo und die Unzugänglichkeit der Minen, an-dererseits aber auch die Struktur des internationalen Erzhandels. Produktions-ketten sind intransparent und Kobalt, das aus dem Kongo herausgeschmuggeltwird und sich über den Umweg China in zahnmedizinischen Geräten in Eu-ropa wieder findet, kann kaum an seinen Herkunftsort zurückverfolgt werden.Es wird angenommen, dass der Kongo jeden Tag mehrere Millionen US-Dollardurch illegale Rohstoffexporte verliert.

Perspektiven und die Rolle der Geber

Die künftige ökonomische Entwicklung Kongos wird wesentlich auf derzweckmäßigen Ausbeutung der natürlichen Ressourcen basieren. In den

4 Third Final Report of the UN-Panel of Experts on the Illegal Exploitation of Natu-ral Resources and other Forms of Wealth of the Democratic Republic of the Congo,23 October 2003, www.weltpolitik.net/Regionen/Afrika/DR%20Kongo/Dokumente/index.html (Zugriff: 4.4.2007).

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1980er Jahren machte der Bergbau innerhalb der offiziell erfassten Wirtschaft25 Prozent des Bruttosozialproduktes aus. Bis 2004 war der offiziell registrier-te Anteil auf neun Prozent zurückgegangen.5 Die Kongostrategie der Weltbankist fast ausschließlich auf die schnelle Wiederbelebung des Bergbaus und derForstwirtschaft ausgerichtet.

Dafür sind hohe Investitionen nötig und es wird viel Zeit vergehen, bissich daraus ein Nutzen für die kongolesische Bevölkerung entwickelt. Arbeits-kräfte sind ein Schlüsselfaktor, aber es gibt keine Gewähr, dass die natürlichenRessourcen wirklich dem kongolesischen Volk zugute kommen. Good Gover-nance und die Förderung von Auslandsinvestitionen sind hierfür Vorausset-zung.

Momentan wird wenig auf die Gefahren geachtet, die im Bergbau für dieUmwelt und das soziale Gefüge entstehen. Wenn von Risiken gesprochen wird,sind jedoch eher die für Unternehmen und Regierung gemeint als die für dielokale und regionale Bevölkerung. Ein Beispiel ist die Multilateral InvestmentGuarantee Agency (MIGA) der Weltbank, die eine Risikoversicherung über13,3 Millionen US-Dollar für die kanadische Bergbaufirma Anvil Mining ab-schloss, die Kupfer und Silber in der Nähe der Stadt Kiwa abbaut. Diese Firmahatte die kongolesische Armee im Oktober 2004 logistisch unterstützt. Nach-dem die Armee das Gebiet den Rebellen unter schweren Menschenrechtsver-letzungen entrissen hatte, übernahm sie die Kontrolle über Kiwa. Eine Analyseder Risikobewertung von MIGA belegte, dass der Einfluss des Bergbauvorha-bens von Anvil Mining auf die Konfliktdynamik und die örtliche Bevölkerungnicht berücksichtigt worden war.6 Großen multinationalen Firmen bedeutet dieörtliche Bevölkerung bisweilen wenig.

Um eine langfristige Strategie zur Nutzung kongolesischer Erze und an-derer Ressourcen zu entwickeln und zu implementieren, sollten die Folgenfür den Kongo und die kongolesische Bevölkerung genauso in Betracht ge-zogen werden, wie die für ausländische Firmen. Verbessert werden muss vorallem die Situation der Bergbauarbeiter, die unter erschreckenden und lebens-bedrohlichen Bedingungen in den Gruben tätig sind. Begrüßenswert ist, dassdie DR Kongo der Extractive Industries Transparency Initiative (EITI) beige-treten ist. Das Ziel der von Großbritannien angeführten Initiative besteht darin,die Transparenz im Bergbau durch die Veröffentlichung der Einnahmen undZahlungen zu verbessern.

5 International Monetary Fund: Country report No. 05/373, October 2005, S. 46.6 Compliance Advisor Ombudsman: CAO Audit of MIGA’s Due Diligence of the Dikulu-

hi Copper-Silver Mining Project in the Democratic Republic of the Congo. Final Report,November 2005.

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Allerdings ist es nicht genug, nur die EITI-Prinzipien zu akzeptieren. DerRessourcensektor in der DR Kongo droht in der Schattenökonomie zu verblei-ben und so die Initiativen für Transparenz zunichte zu machen. Abgesehen vonder Projektfinanzierung sollten Geber die Regierung Kabila zur Rechenschaftziehen und sicherstellen, dass die Transparenz-Standards eingehalten werden.

Wie schwierig das ist, zeigte der Versuch der Weltbank, das Bergbaure-gister zu modernisieren.7 Das Bergbauregister befasst sich mit der Dokumen-tation der Anträge für die Exploration und den Abbau von Rohstoffen sowiemit der Vergabe von Lizenzen. Das Reformprojekt scheiterte an Korruption,internen Streitigkeiten und politischen Behinderungen – und zwar trotz Über-wachung durch die Weltbank.

Während des Krieges wurden Förderverträge zwischen Rebellen, der Re-gierung und halbstaatlichen Unternehmen auf der einen Seite und privatenAkteuren auf der anderen geschlossen. Viele dieser Verträge benachteiligtenhalbstaatliche Unternehmen und Staatskasse, während politische und militäri-sche Eliten direkt von ihnen profitierten. Schließlich wurde eine parlamenta-rische Kommission, benannt nach ihrem Vorsitzenden Christophe Lutundula,eingerichtet und von der Weltbank finanziert. Sie sollte Verträge, die zwischen1996 und dem 30. Juni 2003 mit ausländischen Investoren geschlossen wur-den, überprüfen. Ihr Bericht forderte, Verträge zwischen dem halbstaatlichenUnternehmen Gecamines und privaten Investoren neu zu verhandeln. Wich-tige politische Akteure versuchten indes alles, um eine Parlamentsdiskussionüber die Ergebnisse dieses Reports zu verhindern, da sein Inhalt politische Eli-ten belasten könnte, indem er ihre Verstrickung in korrupte Praktiken währendund nach dem Krieg offen legte. Aufgrund der bevorstehenden Wahlen lehntendiese Eliten eine Diskussion des Lutundula-Berichts ab.

Ein weiteres Problem in der Diamantenindustrie und anderen Rohstoffin-dustrien ist die Sicherheit. Der staatliche Betreiber von Diamantenminen, dieMIBA (Minière de Bakwanga), wies einen Rückgang von 80 Prozent der nor-malen Förderung von Juni bis Dezember 2006 aus. Grund dafür waren Konflik-te im wichtigen Bergbaugebiet der Kasai Provinz, wo Bergleute und örtlichebewaffnete Gruppen sich gewaltsam Zugang zu den Minen verschafften, umsie zu kontrollieren. Zu den politischen Hauptziele der Zukunft sollte gehören,den Bergbau zu entmilitarisieren, die Milizen zu kontrollieren und die Schat-tenwirtschaft daran zu hindern, Rohstoffe illegal zu exportieren. Gleichzeitigmüssen die Einnahmen transparent gemacht werden.

7 Nederlands Institute for Southern Africa (NiZA), International Peace Information Service(IPIS) and Fatal Transactions: The State vs. the People. Governance, mining and the transi-tional regime in the Democratic Republic of Congo, Amsterdam 2006.

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Westliche Geber und regionale Akteure, darunter Südafrika und Angola,waren Mitglieder des Comité d’Accompagnement International de la Transiti-on (CIAT), das der Vermittlung internationaler Hilfe diente. Die Unterstützungdurch Geberländer macht mehr als die Hälfte des nationalen Haushalts derDR Kongo aus; neben der Weltbank und der Europäischen Kommission sinddie wichtigsten bilateralen Geber Belgien, Kanada und Frankreich. Verständ-licherweise ist der Kampf gegen die Korruption für Geber besonders wich-tig, aber sie halten sich an Formalien auf und engagieren sich ungern für einegrundlegende Stärkung des kongolesischen politischen Systems.

Interne Kontrollen sind in der Regel effektiver als von außen aufgezwun-gene. Doch in den nächsten fünf Jahren sitzen 500 neu gewählte Volksvertre-ter im Parlament, den meisten von ihnen ist Korruptionskontrolle unbekannt.Internationales Engagement ist nicht nur nötig, um die notwendige Transpa-renz in der politischen Führung und der Bergbauindustrie zu fördern, sondernauch, um die Kontrollmechanismen zu stärken. Untersuchungsausschüsse desParlaments, die Fälle von Korruption und falschem Management behandeln,vergleichbar der Lutundula-Kommission, brauchen mehr Unterstützung. Be-trachtet man Kabilas Praxis in den letzten Jahren, ist es jedoch sehr unwahr-scheinlich, dass er die Hinterlassenschaften schlechter Regierungsführung undKorruption beseitigen wird.

Herausforderungen für die Kabila-Regierung nach denWahlen

Abgesehen davon, dass nun Präsidentschafts-, Provinz- und Parlamentswahlenstattgefunden haben, hat die Kabila-Regierung, die fünf Jahre an der Machtwar, bislang nicht viel vorzuweisen. Viele Übereinkünfte zur Machtteilung ha-ben die Schwäche, dass sie angesichts der Vielzahl an Anforderungen undErwartungen zu Unentschlossenheit und Stillstand führen. Ehemalige Oppo-sitionsparteien tun sich schwer, in der gleichen Organisation zu arbeiten. DieVielzahl an Ministerposten, die nötig sind, um alle Parteien zu befriedigen,kompliziert Entscheidungsprozesse und Kommunikation.

Reintegration von Ex-Kombattanten

Die Truppenintegration sowie die Entwaffnung und Wiedereingliederungvon Kombattanten sind eng miteinander verbunden. Denn alle ehemaligenKombattanten wurden zunächst demobilisiert; sowohl diejenigen, die in die

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KONGO

FARDC integriert werden wollten, als auch jene, die an Entwaffnungs- undReintegrationsvorhaben teilnehmen. Die Ausbildung zu Berufssoldaten unddie Überwindung alter Kommandostrukturen und Loyalitäten erweisen sichjedoch als kompliziert. Sammellager für Exkombattanten dienten bisweilennur der Verwahrung, ohne dass die Kombattanten tatsächlich entwaffnet wur-den. Zurzeit haben nur 14 Brigaden (ungefähr 49.000 Soldaten von insgesamt130.000) den vorgesehenen Integrationsprozess durchlaufen.8 Im Allgemei-nen wird die Qualität der integrierten FARDC-Brigaden als schlecht bis sehrschlecht beurteilt. Falls MONUC jetzt das Land verlassen sollte, wäre die Ar-mee selbst nicht in der Lage, den derzeitigen Sicherheitsstandard zu wahrenund für Stabilität zu sorgen.9

Mehr als 200 Millionen US-Dollar sind bis jetzt für die Entwaffnung undReintegration ausgegeben worden, wobei die Commission Nationale de Désar-mement, Démobilisation et Réinsertion die größte Arbeit geleistet hat. DerenBudget wird von Gebern, darunter vor allem den Niederlanden und Kanada,im Rahmen des Multi-Country Demobilization and Reintegration Programmeaufgebracht. Im September 2006 waren ca. 76.000 ehemalige Kämpfer demo-bilisiert worden; 85.000 standen damals noch auf der Warteliste.

Friedensmissionen in den östlichen Provinzen

Die verbesserte Sicherheitssituation im Osten der DR Kongo ist zum großenTeil auf die MONUC-Mission zurückzuführen. Nachdem die Truppe zu An-fang durch ein unklares Mandat und begrenzte Kapazitäten eingeschränkt war,bedeutete der Wechsel zu einem Mandat nach Kapitel VII der UN-Charta imJahre 2004 die Möglichkeit, aktiver und breiter vorzugehen. Dies hat sich zwarnicht sofort in einer verbesserten Sicherheitssituation niedergeschlagen undMONUC brauchte bis Anfang 2005, um eine strengere Vorgehensweise ein-zuführen. Dennoch zeigten gemeinsame Patrouillen mit den Streitkräften Er-folg. Im Sommer und Herbst 2005 wurden größere Anstrengungen unternom-men, um die restlichen FDLR-Truppen in beiden Kivu Provinzen zu entwaff-nen. MONUC unterstützte Logistik, Aufklärung und Bewaffnung durch An-griffshubschrauber, die kongolesischen Streitkräfte stellten hauptsächlich dieKampftruppen. Im September 2006 verlängerte die UN-Resolution 1711 dasMONUC-Mandat bis zum 15. Februar 2007. Gleichzeitig wurde die Mission

8 Democratic Republic of Congo: Peace Pledge, in: Africa Research Bulletin. Political, Socialand Cultural Series, vol. 43 (12), S. 16901C-16903A.

9 Oxfam International, Nicki Bennett: A fragile future. Why scaling down MONUC too sooncould spell disaster for the Congo, Oxfam Briefing Paper, No. 97, Oxford, February 2007.

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um 300 Infanteristen verstärkt, die von der UN-Mission aus Burundi verlegtwurden. Die UN-Resolution 1711 sah zwar vor, dass MONUC ab 15. Februar2007 verkleinert wird, doch zum Glück wurde das Mandat bis zum 15. April2007 unverändert verlängert. Die Anstrengungen, die FARDC auszubilden undauszurüsten, müssten freilich ausgebaut werden, bevor die MONUC das Landtatsächlich verlassen kann.

Europäische Unterstützung

Allein von ihrem Mandat her gesehen, war die EUFOR-Mission erfolgreich.Ihr Ziel war es, bewaffnete Ausschreitungen in der Hauptstadt während derWahlen zu verhindern und MONUC zu unterstützen, der nur 2.000 Soldatenin der Hauptstadt zur Verfügung standen. Es gab nur gelegentlich Schießerei-en während und nach dem Wahltag. Wenn man jedoch andere Kriterien an-legt, wird man erkennen, dass der EUFOR-Einsatz vor allem symbolischenWert hatte. In Anbetracht der Kosten des Einsatzes – 428 Millionen US-Dollarinsgesamt, 56 Millionen Euro allein für Deutschland – könnte man argumen-tieren, dass der Einsatz europäischer Soldaten nicht gerade kostengünstig war.Ein Ausbau der MONUC-Mission wäre billiger gewesen, war jedoch vom UN-Sicherheitsrat abgelehnt worden.

Auch den geographischen Schwerpunkt der EUFOR kritisierten Beobach-ter, deckte der Einsatz doch nur Kinshasa ab, während die Truppe im östlichenTeil der DR Kongo nötiger gewesen wäre, wo die Situation wesentlich unsi-cherer war. Diese Kritik an der Mission ist aber verkürzt, denn der Auftrag derEUFOR bestand nun einmal darin, eine Eskalation der Gewalt eben in Kins-hasa zu verhindern.

Aufgrund der begrenzten Dauer der Mission war es EUFOR nicht möglich,nachhaltige Wirkungen zu entfalten. Ihr Einfluss endete, als der letzte Soldatdie DR Kongo verließ. Als es am 11. November 2006 zu einer Schießerei inder Nähe der Residenz des damaligen Präsidentschaftskandidaten Jean-PierreBemba kam, hat MONUC die EUFOR-Truppen gar nicht mehr um Hilfe ge-beten. Verstärkung, die aus Gabun eingeflogen wurde, traf erst ein, nachdemdie Kämpfe schon abgeflaut waren und EUFOR ohnehin mit der Evakuierungvon ausländischen Staatsangehörigen befasst war.10

10 Meike de Goede: The Democratic Republic of the Congo. Elections and Beyond. ISS situa-tion report, Dezember 2006.

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KONGO

Zerbrechlicher Frieden

In den östlichen Provinzen gibt es immer noch einzelne Inseln hoher Unsicher-heit. In der Nähe von Goma, der Hauptstadt von Nord-Kivu, liegt das größtePotenzial für eine Eskalation. 2004 brachte der regimekritische ehemalige Ge-neral Laurent Nkunda für kurze Zeit die Stadt Bukavu in Süd-Kivu unter seineKontrolle durch einen Aufstand gegen den von Kinshasa ernannten militäri-schen Kommandeur. MONUC konnte die Stadt nicht beschützen und Nkundaist weiterhin in der Region aktiv. Sofort nach den Wahlen haben ihm erge-bene Truppen kurzzeitig die Kontrolle über die Siedlung Sake übernommen.Zu dieser Zeit beherrschte Nkunda schon einen weiten Teil von Gomas direk-tem Hinterland, Sake war faktisch eine Grenzstadt. Die Grenze war fließendund die Truppen von Nkunda auf der anderen Seite wurden angeblich durchFARDC-Soldaten verstärkt, die aufgebracht waren, weil sie ihren Sold nichterhalten hatten. Die Gewalttaten im November 2006 hingen also weniger mitden Wahlen als mit der Unzufriedenheit von regulären Soldaten und nicht in-tegrierten Kombattanten zusammen.

Der Vorfall in Sake und die Macht, die Nkunda über die Region ausübt,zeigen, wie zerbrechlich der Frieden im östlichen Teil des Landes ist. AktuelleBerichte erwähnen ein Treffen zwischen Nkunda und Regierungsvertretern inKigali/Ruanda, in dem vereinbart wurde, dass zwei von Nkundas Brigaden(laut Nkunda 4.500 bis 5.000 Kämpfer) mit einer gleichen Anzahl an FARDC-Kämpfern in die Streitkräfte eingegliedert werden sollen. Es wird sich zeigen,ob die Regierung diese Zusage halten kann und ob Nkunda zu seinem Wortsteht.

Neuanfang mit alten Fehlern?

Es gibt erste Anzeichen dafür, dass sich die Staatengemeinschaft vom Kongoabwendet. Die Abhängigkeit des Kongo von internationaler Hilfe bleibt frei-lich ein wirksames Druckmittel. Im Jahre 2002 ist das Comité internationald’Accompagnement de la Transition ins Leben gerufen worden, ein internatio-nales Komitee zur Begleitung des kongolesischen Übergangsprozesses, demEngland, USA, Frankreich, China, Russland, Südafrika, Sambia, Gabun, Bel-gien, Kanada, EU und AU angehören. Es hat zwar Einfluss, ihm fehlt aber derpolitische Wille.

Das frühere Primat für Stabilität sollte nach den Wahlen kein Hinderungs-grund mehr dafür sein, klare Entwicklungs- und Reformziele zusammen mitder Regierung Kabila zu formulieren. Da ein Rückfall in die Gewalt zumin-

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dest kurzfristig verhindert worden ist, gibt es Möglichkeiten für ausländischeInvestitionen, vor allem in der Rohstoffindustrie. Aber auch Kinshasa mit sei-ner wachsenden Mittelklasse bei gleichzeitig fehlenden öffentlichen Dienst-leistungen bietet Ansatzpunkte für Investitionen.

Eine demokratisch gewählte Regierung hat nun ihr Amt angetreten. Sieist jedoch mit dem Erbe schlechter Regierungsführung konfrontiert und ihreVersprechungen, die Korruption zu bekämpfen, bleiben Lippenbekenntnisse.Entscheidend wird sein, ob die neue Regierung mit der Korruption und Miss-wirtschaft im Staatsapparat bricht und der Verantwortung gegenüber der kon-golesischen Bevölkerung höhere Priorität einräumt als den Netzwerken derKriegsökonomie.

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4.3. Gewaltkonflikte und Friedensmöglichkeiten amHorn von Afrika

Volker Matthies

Bei der Region Horn von Afrika (mit den Vielvölkerstaaten Äthiopien und Eri-trea, dem zerfallenen Staat Somalia und dem Kleinstaat Dschibuti) handelt essich um eine der kriegsträchtigsten Regionen Afrikas und um einen chroni-schen Krisenherd. Die dominanten Konfliktlagen in der Region manifestiertensich im Jahre 2006 in verschärften Gewaltkonflikten in Teilen Somalias, in derMilitärintervention Äthiopiens in Somalia sowie in dem ungelösten Grenzstreitzwischen Äthiopien und Eritrea, der durch Züge eines Stellvertreterkrieges engmit dem aktuellen Kriegsgeschehen in Somalia verbunden war und ist. Seit ei-nigen Jahren ist die Region auch in den globalen Kampf gegen den transna-tionalen Terrorismus einbezogen worden und gilt seither als ein Hot Spot derWeltpolitik. Auch dieser Anti-Terror-Krieg ist eng mit dem Konfliktgeschehenin Somalia verknüpft. Mit dem Machtzuwachs der Union islamischer Gerichte(UIC: Union of Islamic Courts; später CCIC: Consultative Council of IslamicCourts) im Jahre 2006 kamen im Westen und besonders in den USA Befürch-tungen vor einer „Talibanisierung“ Somalias und einem „zweiten Afghanistan“am Horn von Afrika auf.

Somalia als Epizentrum der Gewaltkonflikte

Wesentliche Ursache des in den 1980er Jahren einsetzenden Bürgerkriegs undStaatszerfalls in Somalia war das hochgradig außenabhängige, exklusive undrepressive Herrschaftssystem des Ex-Präsidenten Barre sowie dessen machtpo-litische Instrumentierung des Clanwesens. Nach der Niederlage Somalias impansomalisch motivierten Krieg gegen Äthiopien (1977/78) zur Rückgewin-nung des Ogadengebiets waren die Autorität und Legitimation des Regimesvollends erschüttert. Bewaffnete Oppositionsgruppen formierten sich und imJahre 1988 brach im (ehemals britischen) Nordwesten des Landes der Bürger-krieg offen aus, der sich nachfolgend auf das ganze Land ausweitete und mitder Flucht Barres aus Mogadischu im Januar 1991 seinen vorläufigen Höhe-punkt fand.

Seither kam es im (ehemals italienischen) Süden Somalias zu vielfälti-gen Kleinkriegen rivalisierender bewaffneter Gruppen untereinander und ge-gen große Teile der Zivilbevölkerung. Zudem formierten sich ein „Kriegsher-

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rentum“ und eine Bürgerkriegs-Ökonomie. Auf dem „entstaatlichten“ Territo-rium Somalias bildete sich eine dynamische Gemengelage von Zonen relativenFriedens und der Normalisierung des Alltagslebens einerseits und Zonen an-haltender Gewalt und Unsicherheit andererseits heraus. Vorherrschender Trendwar die Konsolidierung und Kontrolle von Teilterritorien und staatsähnlichenGebilden durch jeweils dominante Kriegsherren, Milizen, Clan-Allianzen undislamische Autoritäten. In der abgespalteten nordwestlichen „Republik Soma-liland“, dem ehemaligen Britisch-Somaliland, kam es nach 1991 zu einer ei-genständigen Rekonstruktion von Staatlichkeit. Im Nordosten formierte sichseit 1998 die autonome Region Puntland, die jedoch im Unterschied zu Soma-liland keine eigenstaatliche Unabhängigkeit beansprucht.

Wesentliche Gründe für das Scheitern der UN-Friedensmission in denJahren 1992-1995 sowie auch späterer externer Friedensbemühungen wa-ren die Interessengegensätze unter den Somaliern selbst, divergierende Ein-flussnahmen von Regionalstaaten, die Bevorzugung bewaffneter Gruppenzu Lasten der somalischen Zivilgesellschaft, sowie die anhaltende Fixie-rung auf die Rekonstruktion eines somalischen Gesamtstaates. Nach jahrelan-gen vergeblichen Anläufen gelang es im Jahre 2004, eine neue somalische(Übergangs-)Regierung zu etablieren, die sich allerdings schwer tat, in Soma-lia selbst und in der Hauptstadt Mogadischu Fuß zu fassen. Dies gelang erstum die Jahreswende 2006/07 mit massiver äthiopischer Militärunterstützungim Zuge des raschen Sieges gegen die Milizen der UIC.

Die Übergangsregierung (TFG: Transitional Federal Government) ausPräsident, Premier und Parlament ging aus einem zwischen 2002 und 2004 vorallem von Äthiopien forcierten und beeinflussten problematischen Verhand-lungsprozess unter Moderation der kenianischen Regierung im Auftrag der Re-gionalorganisation Intergovernmental Authority on Development (IGAD) her-vor. Es handelte sich dabei um ein überwiegend aus Kriegsherren bestehendesdubioses machtpolitisches Zweckbündnis. Trotz des formellen Clanproporzeswurde und wird die TFG in weiten Teilen Somalias als ein Machtinstrumentder Darod zu Lasten der in der UIC dominanten Hawiye wahrgenommen. Zu-dem war die TFG in sich gespalten, ineffektiv und extrem außenabhängig, ins-besondere von Äthiopien, was maßgeblich zu ihrer Unpopularität in Somaliabeitrug. Nicht zuletzt ihre ständigen Rufe nach einer internationalen Schutz-truppe machten sie in den Augen vieler Somalier zu einem „Papiertiger“ undzu einem Vehikel ausländischer Interessen.

Die UIC stellte ein heterogenes und locker gefügtes Bündnis von Clan-Interessen und religiös-ideologischen Strömungen ohne eine zentrale Organi-sationsstruktur und Führung dar, hervorgegangen aus einem Zusammenschluss

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verschiedener lokaler und regionaler Scharia-Gerichte und deren Milizver-bänden. Zu einem zentralen innersomalischen Machtfaktor wurde sie erstim Jahre 2006. Drei wesentliche Gruppierungen ließen sich im UIC erken-nen: Den größten Anteil hatten lokale/regionale Clan-Autoritäten der in wei-ten Teilen des südlichen und zentralen Somalias einschließlich Mogadischusdominanten Hawiye. Diese repräsentierten im UIC ein moderates, religiös-traditionalistisches und kooperationsbereites politisches Element. Den mi-litanten Flügel der UIC stellte die Shabaab dar, eine jihadistische Clan-übergreifende Gruppierung, deren Führerschaft teilweise Verbindungen zumtransnationalen Terrorismus nachgesagt werden. Shabaab gilt gleichsam alsElitetruppe der UIC. Sie verfügt über eine geheime Untergrundstruktur undkann verdeckt operieren. Politisch-ideologisch verfolgt sie eine militante pan-somalische und panislamische Agenda. Als Bindeglied zwischen den beidenGruppierungen fungierten ehemalige Führer der früheren jihadistisch und pan-somalisch orientierten Al-Itihaad al-Islaami, die 1997 durch grenzüberschrei-tende äthiopische Militäroperationen in ihren Basen in Südwestsomalia zer-schlagen worden war. Als Geistliche und Geschäftsleute förderten diese Vete-ranen vornehmlich das soziale, kulturelle und ökonomische Netzwerk der UICin Gestalt von Moscheen, Schulen und Wohlfahrtseinrichtungen. Insgesamtstellten die radikalen Jihadisten innerhalb der UIC nur eine Minderheit dar, diejedoch besonders gut organisiert, aktiv und einflussreich war und internationaleislamistische Unterstützung genoss. Das Erstarken der UIC insbesondere zwi-schen Juni und Dezember 2006 war nicht nur ihrer militärischen Schlagkraftgeschuldet, sondern vor allem auch dem Macht- und Sicherheitsvakuum imGefolge der Schwäche und Ineffektivität der TFG. Denn die UIC weitete ihrEinflussgebiet weniger durch kriegerische Gewalt als vor allem durch Infiltra-tion, Kooptation und Allianzbildung aus. Ihre große Popularität verdankte sievor allem ihrer Fähigkeit, erstmals seit 16 Jahren wieder ein gewisses Maß anSicherheit und Ordnung herzustellen. Die Unterstützung der USA für die War-lords in Mogadischu sowie Äthiopiens Intervention boten zudem eine günstigeProjektionsfläche für mobilisierende Feindbilder.

Mit der im Dezember 2006 erfolgten offenen Militärintervention (Luftan-griffe und Bodenoffensive) gelang es Äthiopien und den Truppen der TFG,die unmittelbare Bedrohung von Seiten der UIC abzuwehren und es der Über-gangsregierung erstmalig zu ermöglichen, in Mogadischu und in weiten Lan-desteilen Zentral- und Südsomalias Fuß zu fassen. Doch ist mit diesem erfolg-reichen militärischen Vormarsch keineswegs eine nachhaltige StabilisierungSomalias verbunden. Denn die gesellschaftlichen Kräfte und politischen De-fizite der TFG, auf denen die UIC aufbaute und von denen sie ihre Populari-

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tät und Legitimität bezog, sind auch weiterhin vorhanden und relevant. Eben-so sind keineswegs alle Elemente der UIC nachhaltig zerschlagen worden.Dies gilt insbesondere für die weitgehend intakt gebliebene Extremistenorga-nisation der Shabaab, deren Mitglieder im Verein mit anderen unzufriedenenKräften im Lande und in Mogadischu zu einem kämpferischen Vorgehen ausdem Untergrund fähig sind. Mithin sieht sich die TFG samt ihrer äthiopischenSchutztruppe sowohl politischem als auch militärischem Druck ausgesetzt.

Somaliland: eine Insel des Friedens?

Vergleichsweise friedlicher und konstruktiver verlief die Entwicklung imNordwesten, wo sich 1991 die de facto unabhängige „Republik Somaliland“konstituierte. Damit wandelte sich der dortige Staatszerfallskrieg zu einemStaatsbildungskrieg. Denn der Zerfall des somalischen Staates erwies sich hierals konstruktiver Staatszerfall im Sinne einer Chance für neue Staatlichkeit.Vor allem seit 1993 kam es in Somaliland unter Rückgriff auf traditionelleMechanismen der Konfliktschlichtung zu einer friedlichen Transformation derKonflikte, zur Bildung einer legitimierten Regierung und zum Aufbau relativeffektiver administrativ-staatlicher Strukturen. Mit einer Serie von Friedens-und Versöhnungskonferenzen zwischen 1993 und 1997 gelang es, Konflikteeinzudämmen und eine nationale Verfassung auf den Weg zu bringen. Ein Re-ferendum vom Mai 2001 bestätigte mit überwältigender Mehrheit diese Ver-fassung, auf deren Grundlage dann im Dezember 2002 Kommunalwahlen undim April 2003 Präsidentschaftswahlen abgehalten wurden. Im September 2005fanden die ersten Parlamentswahlen statt, die von internationalen Beobachternals weithin korrekt durchgeführt und als Meilenstein der demokratischen Ent-wicklung Somalilands eingeschätzt wurden.

So kam es in Somaliland über die Jahre zu einer Symbiose von mo-dernen und traditionellen Institutionen. Begleitet wurde diese langjährigeadministrativ-politische Konsolidierung des Friedens von einer allmählichenBesserung und Normalisierung der Lebensumstände, ökonomisch gestützt vorallem durch Transferzahlungen aus der Diaspora und durch den Viehexport.Somaliland gilt daher angesichts des weithin gelungenen friedlichen Wieder-aufbaus und im Vergleich zu der von Gewaltkonflikten geprägten Entwicklungim Süden Somalias nicht ganz zu Unrecht als eine Insel des Friedens am Hornvon Afrika.

Allerdings ist die faktisch unabhängige „Republik Somaliland“ trotz die-ser friedlichen und demokratischen Aufbauleistungen bis heute völkerrechtlichnicht anerkannt. Als teilweise problematisch erweist sich angesichts der fixe

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Territorien und Grenzen überlappenden Clanstrukturen die Stützung der staat-lichen Identität und Legitimität der „Republik Somaliland“ auf das Territoriumund die Grenzen der gleichnamigen ehemaligen britischen Kolonie. Dies zeigtsich in Clanstreitigkeiten und Gewaltkonflikten über Grenzregionen zwischenSomaliland und Puntland. Da letzteres eine Eigenstaatlichkeit Somalilands ab-lehnt und sich zu einem einheitlichen somalischen Staatswesen bekennt, hatder Grenzstreit durchaus ein erhebliches Störpotenzial für die Stabilität Soma-lilands. Dies gilt ähnlich auch für pansomalisch und panislamisch inspirierteGewaltakteure, die u.a. für den Mord an vier ausländischen Entwicklungshel-fern in den Jahren 2003/04 in Somaliland verantwortlich waren.

Äthiopien und Eritrea: Vom „heißen Krieg“zum „kalten Frieden“

Der äthiopisch-eritreische Krieg von 1998-2000 überraschte die internationaleÖffentlichkeit. Denn noch bis 1991 waren die Herrschaftseliten beider Länder„Waffenbrüder“ im Kampf gegen das Mengistu-Regime in Äthiopien gewesen.Mittlerweile hat die auf das Horn von Afrika bezogene Konfliktforschung je-doch Einblicke in die komplexen historischen, politisch-diplomatischen, öko-nomischen und sozialpsychologischen Ursachen, Hintergründe und Folgen desäthiopisch-eritreischen Krieges gewonnen.

Kerninhalte des Friedensabkommens von Algier vom Dezember 2000 wa-ren die Einrichtung einer 25 Kilometer breiten Pufferzone entlang der rund 900Kilometer langen Grenze Eritreas mit Äthiopien, der Truppenrückzug beiderLänder aus dieser Zone sowie die Festlegung und Markierung der umstritte-nen Grenze. Ferner stimmten beide Länder der Etablierung einer UN-Missionzur Friedenssicherung zu, der UNMEE (United Nations Mission in Ethiopiaand Eritrea). Doch führte die Präsenz der UNMEE nicht zu einer nachhaltigenEntspannung im äthiopisch-eritreischen Konflikt. Allenfalls kam es zu einemÜbergang vom „Heißen Krieg zum Kalten Frieden“, in dem beide Seiten eineDestabilisierungspolitik und einen Propagandakrieg gegeneinander betriebenund nur wenig kooperativ die Bemühungen der internationalen Gemeinschaftunterstützten.

Die Terminierung der UNMEE war eng an den Abschluss der Markierungder umstrittenen Grenze zwischen Äthiopien und Eritrea gebunden. Die zurKlärung der Grenzfrage gebildete internationale Kommission hatte im Aprildes Jahres 2002 den Grenzverlauf „endgültig und bindend“ geregelt. DieserSchiedsspruch sprach die umstrittene, hart umkämpfte und für beide Seiten

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symbolisch außerordentlich wichtige Stadt Badme Eritrea zu. Die eritreischeFührung sah sich durch diese Entscheidung gegenüber internen Kritikern desKrieges bestätigt und international aufgewertet. In Äthiopien hingegen, wo esschon zuvor (u.a. von Repräsentanten der an Eritrea grenzenden äthiopischenNordregion Tigray) erhebliche Widerstände gegen das Algier-Abkommen ge-geben hatte, führte der „Verlust“ von Badme nun zu einem verstärkten in-nenpolitischen Druck auf die Regierung, den Schiedsspruch der EEBC nichtanzuerkennen. Unter diesem Druck forderte Äthiopien eine „Korrektur“ desSchiedsspruchs, die jedoch von der Eritrea-Ethiopia Boundary Commission(EEBC) und dem UN-Sicherheitsrat zurückgewiesen wurde. Infolge der ab-lehnenden Haltung Äthiopiens und der entsprechenden Frustration auf Sei-ten Eritreas kam es nachfolgend durch äthiopische und eritreische Blockadenund Restriktionen zur Behinderung der UNMEE und der Grenzdemarkierung.Dennoch verlängerte der Sicherheitsrat mehrfach das Mandat der UNMEE (zu-letzt Ende Januar 2007 bei drastischer Reduzierung des Personals für weiteresechs Monate bis Ende Juli 2007), verbunden mit dem Aufruf an beide Streit-parteien, konstruktiv sowohl mit der Grenzkommission als auch mit der UNOzusammenzuarbeiten, einen politischen Dialog miteinander aufzunehmen, ver-trauensbildende Maßnahmen zu ergreifen und ihre Beziehungen untereinan-der wieder zu normalisieren. Doch führten beide Seiten 2006 im großen Stilmilitärische Mobilisierungsmaßnahmen durch. Zudem hatte sich ab Oktober2006 und insbesondere um die Jahreswende 2006/2007 zeitgleich mit den ver-schärften Spannungen in Somalia und dem dortigen bewaffneten EingreifenÄthiopiens auch die militärische Situation in der Pufferzone und in angrenzen-den Regionen durch Truppenbewegungen und Waffentransporte Eritreas undÄthiopiens wieder zugespitzt. Seit vielen Jahren hat das Engagement der UNOnicht dazu geführt, den Status quo zu überwinden. Das Kernproblem des un-gelösten Grenzstreits stellt weiterhin die Weigerung Äthiopiens dar, die Ent-scheidung der Grenzkommission in vollem Umfang und ohne Vorbedingungenumzusetzen. Doch angesichts der regionalpolitischen Bedeutung Äthiopienssind Sanktionen der internationalen Gemeinschaft und insbesondere der USAkaum zu erwarten.

In dem anhaltenden „Kalten Frieden“ zwischen Äthiopien und Eritrea zeigtsich auch die Problematik der bisherigen Bemühungen um eine dauerhafteFriedensstiftung. In der offiziellen Wahrnehmung und Interpretation durch dieUNO gilt der Konflikt zwischen beiden Ländern als ein Grenzkonflikt. Dochist die Grenzfrage eher Anlass als tiefere Ursache des Konflikts. Daher sindvölkerrechtliche Regelungen und die beidseitige Anerkennung des endgülti-gen Verlaufs der Grenze zwar unabdingbar, doch greifen alle Friedensbemü-

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hungen, die allein von der Grenzfrage als dem Kern des Konflikts ausgehen,letztendlich zu kurz. Denn offensichtlich geht es beiden Seiten um weiterrei-chende innen- und außenpolitische Zielsetzungen. Die eritreische Führung willdie staatliche Unabhängigkeit gegenüber Pressionen von Seiten Äthiopiens ab-sichern und dessen Hegemonialanspruch am Horn von Afrika zurückweisen.Zugleich dient die antiäthiopische, patriotische Mobilisierung der Bevölkerungauch der internen Machtsicherung des herrschenden Regimes. Äthiopien wie-derum strebt eine Rolle als unbestrittene politische, ökonomische und militä-rische Hegemonialmacht am Horn von Afrika an und nutzt den Konflikt mitEritrea auch für eine äthiopisch-patriotische Profilierung seiner Regierung, diesich innenpolitisch immer wieder dem Vorwurf des Ausverkaufs nationaler In-teressen ausgesetzt sieht.

Regionale Stellvertreterkonflikte und globalerAnti-Terror-Krieg

Schon lange ist innerhalb des Staatensystems am Horn von Afrika eine Poli-tik der wechselseitigen Einmischung und Destabilisierung zu beobachten, inderen Kontext die vielfältigen Konflikte auch Züge von Stellvertreterkriegenannahmen. Dieses Verhaltensmuster ließ sich auch während des äthiopisch-eritreischen Krieges und im Zusammenhang mit der Krise in Somalia erken-nen. Äthiopien ist zweifellos der Regionalstaat mit den wichtigsten Interes-sen in Somalia. Dem in seinem zentralen Kultur- und Machtraum christlich(-orthodox) geprägten Äthiopien ist ein historisch begründetes generelles si-cherheitspolitisches Interesse an einem schwachen und fragmentierten Soma-lia zuzuschreiben. Äthiopiens Furcht vor einer durch militante Islamisten inSomalia radikalisierten Moslem-Bevölkerung in Äthiopien sowie vor einemwieder belebten Anspruch auf ein „Großsomalia“ und einer von Somalia ausunterstützten Irredenta in Südostäthiopien ist durchaus verständlich. Aus die-sem Grund ging Äthiopien bereits seit Mitte der 1990er Jahre gegen die mi-litante Al-Itihaad-al Islaami vor und unterstützte das abtrünnige Somaliland,das autonome Puntland, innersomalische Oppositionsgruppen und Kriegsher-ren sowie seit 2004 die schwache und von ihm abhängige neue somalischeÜbergangsregierung. Den Machtzuwachs der vom Erzfeind Eritrea unterstütz-ten UIC sah Äthiopien als Bedrohung seiner nationalen Interessen, da sich die-se einer pansomalischen Rhetorik bediente, die Schaffung eines „Großsoma-lias“ propagierte, diversen bewaffneten Oppositionsgruppen innerhalb Äthio-

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piens (u.a. der Oromo und Somali) zur Seite stand und schließlich gar zum„Heiligen Krieg“ gegen Äthiopien aufrief.

Eritrea förderte während des Krieges mit Äthiopien 1998-2000 antiäthio-pische Gruppierungen in Somalia und Südostäthiopien sowie seit 2005/2006die UIC und wiederum Widerstandsgruppen innerhalb Äthiopiens. Durch dasSchüren von Stellvertreterkriegen erhoffte sich Eritrea offenbar die Schaffungeiner zweiten Front im äthiopisch-eritreischen Konflikt, eine DestabilisierungÄthiopiens sowie vor allem dessen Einlenken in der Grenzfrage. Darüber hin-aus mischten sich noch weitere Länder im regionalen Umfeld in die Gescheh-nisse in Somalia zugunsten verschiedener Kontrahenten ein: so u.a. die inenger Verbindung mit den USA stehenden Staaten Uganda und Kenia (alsehemaliger Mentor der TFG und ebenfalls durch pansomalische AnsprücheBetroffener) auf Seiten der TFG (und damit indirekt Äthiopiens); so u.a. dieStaaten Ägypten (Rivalität mit Äthiopien infolge der Nilquellenproblematik)und Saudi-Arabien aus Gründen islamischer Solidarität und zur Eindämmungäthiopischer Hegemonialansprüche auf Seiten der UIC (und damit indirekt Eri-treas).

Bereits seit den terroristischen Anschlägen auf die US-Botschaften in Nai-robi und Dar es Salaam im August 1998 und spätestens seit dem 11. September2001 geriet das „staatenlose“ Somalia in das Visier der Anti-Terror-Koalitionunter Führung der USA. Verschiedenen Gruppen, Organisationen und Per-sonen in Somalia wurde unterstellt, Kooperationspartner des transnationalenTerrorismus zu sein. Im Oktober 2001 verhängte die US-Regierung als ers-te operative Maßnahme Restriktionen gegen ihr verdächtig erscheinende Fi-nanztransfers des für viele Somalier überlebenswichtigen Finanzdienstleistersal-Barakat. Anfang des Jahres 2002 soll die Bush-Administration sogar mili-tärische Operationen gegen Somalia erwogen haben. Seither stehen Somaliaund das Horn von Afrika im Kontext des Anti-Terror-Krieges unter intensiverBeobachtung durch in Dschibuti stationierte Luft- und Seestreitkräfte der USAund ihrer Verbündeten, darunter auch Deutschlands. Äthiopien wurde dabei zueinem strategischen Partner der USA. Seit 2003 verschärften sich die Ausein-andersetzungen (Tötungen, Entführungen) zwischen somalischen Extremistenund ihren von Äthiopien und den USA unterstützten Widersachern. Seit Okto-ber 2004 kann geradezu von einem „Schmutzigen Krieg“ in Mogadischu ge-sprochen werden, der sich seit 2005 weiter intensivierte. Die USA versuchtenAnfang 2006 den Einfluss der Scharia-Gerichte im Norden Mogadischus zukonterkarieren, indem sie ihnen ein dubioses Bündnis von Kriegsherren, die„Allianz für die Wiederherstellung von Frieden und gegen den Terrorismus“entgegenstellten. Als diese Allianz jedoch von den Gerichtsmilizen besiegt und

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aus Mogadischu vertrieben sowie zunehmend auch die Milizen der TFG be-drängt wurden, erwies sich die Eindämmungspolitik der USA als gescheitert.Vor diesem Hintergrund fiel dann wohl Ende 2006 in stillschweigendem Ein-vernehmen mit den USA die Entscheidung Äthiopiens für eine massive offeneMilitärintervention, um dem Siegeszug der UIC ein rasches Ende zu berei-ten. Etliche Quellen deuten darauf hin, dass kleinere Gruppen von amerika-nischen Kommando- und Verbindungssoldaten mit den äthiopischen Truppenvorrückten und als Bindeglied zur US-Basis in Dschibuti moderne Kommu-nikationstechnologie und Aufklärungsdaten nutzbar machten. Im Gefolge derKampfhandlungen griffen die USA auch direkt mit Luftschlägen Stellungenmutmaßlicher Terroristen im südlichen Somalia an.

Fazit und Ansätze zur Deeskalation der Konflikte

Die vorstehende Analyse hat deutlich gemacht, dass der Ursprung und Kernder Krise in Somalia in der Schwäche und Unfähigkeit der TFG lag, eine inklu-sive, repräsentative und legitime Regierung zu formieren. Die Schwäche derTFG erwies sich indes als Stärke der UIC. Deren große Popularität erwuchsvor allem aus ihrer Fähigkeit, ein gewisses Maß an Sicherheit und Ordnungherzustellen.

Regionale Einmischungen und gravierende Fehleinschätzungen der inter-nationalen Gemeinschaft trugen wesentlich zu der dramatischen Eskalation derGewaltkonflikte in Somalia bei. Die starke Bindung der TFG an Äthiopien dis-kreditierte diese in Somalia weithin als eine „Marionette ausländischer Inter-essen“. Während die TFG infolgedessen fast ausschließlich über eine „externeLegitimation“ verfügte, genoss die UIC demgegenüber ein hohes Maß an „in-terner Legitimation.“1 Dennoch unterstützte die internationale Gemeinschaftmit der TFG gerade denjenigen somalischen Akteur, der im Lande selbst diegeringste Akzeptanz und Legitimation fand.

Hinzu kamen fehlgeleitete Wahrnehmungs- und Reaktionsmuster des Wes-tens und insbesondere der USA. Auf den sich im Jahre 2006 abzeichnendenrapiden Machtzuwachs der UIC reagierten namentlich die USA mit einem„terroristischen Generalverdacht“ und einer politisch-militärischen Eindäm-mungsstrategie, hinter der offensichtlich eine übertriebene Furcht vor einer„Talibanisierung“ Somalias und einem „zweiten Afghanistan“ am Horn vonAfrika stand. Doch hat der verschärfte „Gegen-Terrorismus“ der USA wie-derum radikaleren Kräften innerhalb der UIC Auftrieb gegeben, die zuneh-

1 EED info Konflikte und Friedensarbeit, Nr. 32, Bonn, November 2006, S. 5f.

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VOLKER MATTHIES

mend antiwestliche, pansomalische und panislamische Parolen verkündeten.Die unter dem Druck der USA am 6. Dezember 2006 vom Sicherheitsrat derVereinten Nationen verabschiedete Resolution (1725) zur Legitimierung einermilitärischen Intervention (der IGAD/AU, allerdings unter Ausschluss der un-mittelbaren Anrainerstaaten Somalias) zum Schutz der bedrohten TFG bedeu-tete wiederum eine einseitige Parteinahme der internationalen Gemeinschaftim innersomalischen Konflikt. In diesem Sinne könnte man die Eskalation derGewaltkonflikte in Somalia zusammenfassend als eine kontraproduktive Fol-gewirkung des US-geführten Anti-Terror-Krieges am Horn von Afrika anse-hen.

Eine nachhaltige Deeskalation der Konflikte in Somalia und am Horn vonAfrika ist nur möglich, wenn sowohl auf der nationalen als auch auf der re-gionalen und internationalen Ebene koordinierte und konzertierte Maßnahmenergriffen werden.

Die nationale Ebene

In Somalia muss endlich eine wirklich repräsentative, inklusive und effektiveRegierung gebildet werden, da die TFG diesen Anforderungen nie entsprochenhat. Hierzu bedarf es international gestützter und geförderter Vermittlungsge-spräche und Verhandlungsprozesse zwischen der TFG und allen relevanten ge-sellschaftlichen und politischen Kräften in Somalia, insbesondere jedoch mitgemäßigten Repräsentanten der UIC und Clangruppen der Hawiye. Kernpunktmuss dabei neben Sicherheitsfragen und der Machtbeteiligung die Überarbei-tung der Übergangscharta sein. Gemäß dieser Charta soll Somalia ein föderalerStaat sein, doch ist noch unklar, wie sich das Verhältnis der neuen Regierung zubereits bestehenden lokalen und regionalen Macht- und Verwaltungsstrukturenauf dem Territorium des zerfallenen Staates gestalten soll. Dies gilt insbeson-dere im Hinblick auf das faktisch unabhängige Somaliland. Doch sollte eineöffentliche Erörterung der sensiblen (Status-)Frage einer staatlichen Unabhän-gigkeit Somalilands vorerst unterbleiben, um die ohnehin schon schwierigeBildung einer erneuerten TFG nicht noch zusätzlich zu belasten und die Kon-flikte im Süden des Landes nicht auf Somaliland auszuweiten.

Die vom UN-Sicherheitsrat legitimierte und mittlerweile begonnene Sta-tionierung einer (zunächst afrikanischen AU- und womöglich späteren UN-)Friedenstruppe in Somalia (AMISOM: African Union Mission in Somalia)macht nur dann einen Sinn, wenn sie auf einem politischen Prozess der For-mierung einer erneuerten TFG beruht, breite Akzeptanz unter den somalischenKonfliktparteien und in der somalischen Bevölkerung findet sowie klare, be-

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HORN VON AFRIKA

grenzte und realistische Aufgaben zu erfüllen hat. Anderenfalls wird eine sol-che Truppe rasch als „Besatzungsmacht“ wahrgenommen und entsprechendfeindselig behandelt werden, worauf erste Anschläge bereits hindeuten.

Die regionale Ebene

Hier müsste mit einer Mischung von Anreizen und Sanktionen das Musterwechselseitiger Einmischungspolitik und die Logik der Stellvertreterkriegedurchbrochen werden. Von zentraler Bedeutung ist hierfür die möglichst bal-dige friedliche Beilegung des seit Jahren schwelenden (Grenz-)Konfliktes zwi-schen Äthiopien und Eritrea. Hier steht weiterhin die Deeskalation des Kon-flikts, der Dialog zwischen den Kontrahenten und die Markierung der Grenzeauf der Agenda. Im Hinblick auf Somalia müssen zudem auch durchaus be-rechtigte regionale Sicherheitsinteressen, namentlich die Äthiopiens hinsicht-lich seiner territorialen Integrität, zur Kenntnis genommen und berücksichtigtwerden.

Die internationale Ebene

Hier bedarf es der konzertierten und koordinierten Förderung des innersomali-schen Friedensprozesses durch alle relevanten internationalen Akteure, die inder „Somalia-Kontaktgruppe“ (UNO, EU, AU, Arabische Liga, USA, Großbri-tannien, Italien sowie Norwegen, Schweden, Kenia und Tansania) vereint sind.Besondere Bedeutung kommt dabei der AU, der Arabischen Liga, der EU undder UNO zu. Auch Deutschland, das über ausgezeichnete bilaterale Kontaktein der Region verfügt, sollte sich dabei in besonderer Weise engagieren. Fer-ner muss allen ausländischen verdeckten und offenen militärischen bzw. ge-heimdienstlichen Einmischungen und Operationen ein Ende bereitet werden.Auch muss die Waffenzufuhr nach Somalia endlich konsequent eingedämmtwerden, um die Optionen zur Gewaltanwendung für somalische Konfliktak-teure wirksam zu beschneiden. Der Westen und insbesondere die USA müss-ten sich zudem eine differenziertere und weniger alarmistische Einschätzungmöglicher Terrorgefahren am Horn von Afrika zu eigen machen. Bei durchausverständlichen Sorgen vor einer Erstarkung des militanten Islamismus in So-malia ist dringend davor zu warnen, große Teile der islamischen Bevölkerungdes Landes unter einen „terroristischen Generalverdacht“ zu stellen. Denn eineanhaltende Einbeziehung des Horns von Afrika in den globalen Anti-Terror-Krieg läuft auch weiterhin Gefahr, alte Muster der interessen- und machtpoliti-schen Instrumentalisierung und gesellschaftlichen Spaltung zu reproduzieren.Demgegenüber ist die beste Strategie zur Eindämmung realer und potenzieller

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VOLKER MATTHIES

terroristischer Gefahren die Schaffung legitimierter, inklusiver und effektiveradministrativ-staatlicher Strukturen, die Herstellung von Sicherheit und Stabi-lität, die Förderung der Zivilgesellschaft und moderater islamischer Gruppensowie die Verbesserung der Lebensverhältnisse für die somalische Bevölke-rung.

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Zeittafel21.3.2006 – 3.4.2007

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Gliederungsübersicht

1. Vorderer Orient1.1. Irak-Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2991.2. Israelisch-palästinensischer Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . 3011.3. Arabische Liga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3041.4. Maghreb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3041.5. Naher Osten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

2. Europa2.1. Europäische Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3062.2. Deutschland und die Auslandseinsätze der Bundeswehr . . . . . . 3072.3. Nord–, West– und Südeuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3092.4. Osteuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3102.5. Ehemaliges Jugoslawien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312

3. Afrika südlich der Sahara3.1. Afrikanische Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3133.2. Westafrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3133.3. Zentral– und Ostafrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3143.4. Südliches Afrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316

4. Asien und Ozeanien4.1. ASEAN, SCO, SAFTA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3164.2. Mittel– und Südasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3164.3. Ostasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3194.4. Südostasien und Ozeanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320

5. Amerika5.1. CAN, MERCOSUR, ALBA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3215.2. USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3225.3. Mittelamerika und Karibik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3235.4. Südamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323

6. Internationale Organisationen6.1. Vereinte Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3256.2. NATO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3266.3. APEC, G-8-Staaten, Bewegung der Blockfreien . . . . . . . . . . 327

7. Transnationaler Terrorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3278. Internationale Strafgerichtshöfe, Kriegsverbrecherprozesse . . . . 3299. Weltwirtschaft, Ökologie, Entwicklungspolitik . . . . . . . . . . . . . 33110. Rüstung und Abrüstung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332

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ZEITTAFEL

1. Vorderer Orient

1.1. Irak-Konflikt

Im Irak einigen sich die an der Re-gierung beteiligten Parteien nach fastfünfmonatigen Verhandlungen am22.4.06 auf einen neuen Ministerprä-sidenten. Dschawad Al Maliki von derschiitischen Daawa-Partei wird neuerAmtsinhaber.

Ein britischer Militärhubschrau-ber wird am 6.5.06 über Basra abge-schossen.

Am 8.5.06 beschließen die Kur-dische Demokratische Partei (KDP)und die Patriotische Union Kurdist-ans (PUK), eine gemeinsame Regio-nalregierung im Norden des Landeszu bilden. Damit soll der jahrelan-ge, teils gewaltsam ausgetragene, in-nerkurdische Konflikt beendet wer-den. Neuer kurdischer Ministerpräsi-dent wird Nechirvan Barzani von derKDP.

Nach seinem Wahlsieg bezeich-net der neue italienische Ministerprä-sident Romano Prodi am 18.5.06 dieIntervention im Irak als „schweren Irr-tum“ und kündigt den Abzug des ita-lienischen Kontingents an.

Die Regierung von Ministerprä-sident Maliki wird am 20.5.06 vomirakischen Parlament bestätigt. Am31.5.06 verhängt die Regierung denNotstand in der südirakischen StadtBasra.

Durch einen Luftangriff nördlich

von Baquba wird am 8.6.06 Abu Mu-sab Al Zarqawi, der Führer der al-Qaida im Irak, getötet.

In dem im Oktober 2005 begon-nenen Prozess gegen Saddam Husseinwegen eines Massakers in Dudschailim Jahre 1982 fordert der Anklägeram 19.6.06 die Todesstrafe.

Der japanische Ministerpräsi-dent Junichiro Koizumi kündigt am20.6.06 an, die japanischen Einheitenbis zum Juli 2006 abzuziehen.

Ministerpräsident Maliki legt am25.6.06 einen nationalen Versöhnungs-plan vor. Danach sollen die sunniti-sche Bevölkerungsgruppe verstärktpolitisch eingebunden und die mili-tanten Gruppen bekämpft beziehungs-weise amnestiert werden.

Die rumänische Regierung kün-digt am 29.6.06 den Abzug ihrerTruppen aus dem Irak an.

Auch der neue slowakische Mi-nisterpräsident Robert Fico kündigtam 2.7.06 den Abzug der 100 slowa-kischen Soldaten an.

Am 21.8.06 beginnt der zweiteProzess gegen Saddam Hussein. Indiesem Verfahren werden ihm Kriegs-verbrechen in den Kurdengebietenzwischen 1987 und 1988 vorgewor-fen.

Am 3.9.06 gibt die Regierung dieFestnahme von Hamed Dschuma Fa-

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HARDI SCHINDLER

ris Al Suaidi bekannt. Er soll der stell-vertretende Chef der al-Qaida im Iraksein.

Nach einer Vereinbarung zwi-schen der irakischen Regierung undder Führung der Koalitionstruppenvom 7.9.06 beginnt die irakische Re-gierung mit der Übernahme der Kon-trolle über die irakischen Streitkräf-te.

Ministerpräsident Maliki gibtam 3.10.06 sein neues Vier-Punkte-Programm bekannt, mit dem die Ge-walt im Land bekämpft werden soll.So sollen u.a. Sicherheitskommissio-nen in Stadtteilen gebildet, die Koope-ration der Sicherheitskräfte verbessertund eine stärkere Kontrolle der Medi-en durchgeführt werden. Keine Aus-sagen werden darüber gemacht, obund wie gegen die etwa 30 Milizenvorgegangen werden soll.

In seinem ersten Prozess wirdSaddam Hussein am 5.11.06 wegendes Massakers von Dudschail zum To-de verurteilt.

Anlässlich eines Besuchs des syri-schen Außenministers in Bagdad be-schließen beide Staaten am 21.11.06,die diplomatischen Beziehungen wie-der aufzunehmen.

Bei den schwersten Anschlägenseit Beginn der US-Intervention kom-men am 23.11.06 über 160 Menschenums Leben und mehr als 250 wer-den verletzt. Die Opfer sind überwie-gend Schiiten. Bei einem gleichzeiti-gen Angriff von etwa 100 Militantenauf das von einem Schiiten geleitete

Gesundheitsministerium werden zahl-reiche Mitarbeiter entführt.

Die „Iraq Study Group“ unterder Leitung des ehemaligen republi-kanischen US-Außenministers JamesBaker und Republikaners James Ba-ker und des früheren demokratischenVizepräsidenten der Untersuchungs-kommission zu den Anschlägen des11. September 2001 Lee H. Hamil-ton legt am 5.12.06 ihren Bericht vor.Die Lage im Irak sei „ernst und sichverschlechternd“. In den 79 Empfeh-lungen für die US-Regierung wirdein grundlegender Strategiewechselgefordert und unter anderem vorge-schlagen, mit den Nachbarstaaten desIrak Kontakte aufzunehmen und denschrittweisen Abzug der US-Truppenbis Anfang 2008 einzuleiten. Die ver-bliebenen Truppen sollen sich aufdie Ausbildung der irakischen Sicher-heitskräfte konzentrieren. Auch einestärkere Verpflichtung der irakischenRegierung sei notwendig.

Auf einer Versöhnungskonferenzbietet Ministerpräsident Maliki am17.12.06 ehemaligen Mitgliedern derArmee Saddam Husseins sowie derBaath-Partei die Aufnahme in die Si-cherheitsorgane an. Dies könne durcheine Verfassungsänderung ermöglichtwerden.

Nach einem Bericht des Pentagonan den US-Kongress vom 18.12.06hat sich die Sicherheitslage im Irakverschlechtert. Die Zahl der Anschlä-ge sei auf etwa 1.000 pro Woche ange-stiegen. Die Milizen des schiitischen

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Geistlichen Muqtada Al Sadr seiendie gefährlichsten Gegner.

Am 30.12.06 wird Saddam Huss-ein durch den Strang hingerichtet.

Nach Angaben des irakischen In-nenministeriums vom 2.1.07 kamenim Jahr 2006 durch religiös oder poli-tisch motivierte Gewalt 16.273 Men-schen, darunter 14.298 Zivilisten umsLeben. Nach Angaben der UNO wa-ren es etwa 35.000 Menschen.

Bei einer Militäroperation von ira-

kischen und US-Einheiten bei Nad-schaf vom 28.–29.1.07 sollen etwa300 Milizionäre getötet worden sein.Bei den Kämpfen wird auch ein US-Hubschrauber abgeschossen.

Am 21.2.07 erklärt die britischeRegierung, ihre Truppen im Irak biszum Jahresende auf etwa 2.500 zureduzieren. Die dänische Regierungkündigt am gleichen Tag den Abzugihrer 400 Soldaten bis zum August2007 an.

1.2. Israelisch-palästinensischer Konflikt

Am 19.3.06 einigt sich die Hamas aufeine Kabinettsliste unter Ministerprä-sident Ismail Hanija. Nachdem keineÜbereinkunft mit der Fatah erreichtwurde, wird nur die Volksfront zurBefreiung Palästinas (PFLP) an derRegierung beteiligt.

Bei den vorgezogenen Parla-mentswahlen in Israel am 28.3.06 ge-winnen die Kadima-Partei von Minis-terpräsident Ehud Olmert 29 und dieArbeitspartei 19 Sitze in der Knesset.Die Schas-Partei und der Likud kom-men auf je zwölf Sitze.

Das Nahost-Quartett aus UNO,EU, Russland und den USA stellt am7.4.06 die Finanzhilfen für die palästi-nensische Autonomieverwaltung ein.Begründet wird dies mit der Weige-rung der Hamas-Regierung, sich zurAnerkennung Israels, einem Gewalt-verzicht und zur Einhaltung bestehen-der israelisch-palästinensischer Ab-

kommen und Verpflichtungen zu be-kennen.

Bei einem Selbstmordanschlag inTel Aviv am 17.4.06 werden neunMenschen getötet und etwa 60 Per-sonen verletzt. Die Al-Aqsa-Brigadenund der Islamische Dschihad über-nehmen die Verantwortung.

Die Hamas-Regierung gibt am20.4.06 die Bildung einer neuen 3.000Mann starken Sicherheitstruppe be-kannt und ernennt zu deren Chefden Anführer des Volkswiderstands-komitees Abu Samhadaneh. PräsidentMahmud Abbas legt sein Veto ge-gen die neue Truppe ein, annulliertdie Ernennung Samadhadehs und be-fiehlt einen Aufmarsch der ihm loya-len Truppen im Gazastreifen.

In Israel gefangene ranghohe Pa-lästinenser der Fatah, der Hamas, desIslamischen Dschihad, der Palästinen-sischen Befreiungsfront (PLF) und

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der Demokratischen Front für die Be-freiung Palästinas (DFLP) unterzeich-nen am 11.5.06 ein „Nationales Ver-söhnungsdokument“. Die Hamas er-kennt das Dokument jedoch nichtan.

Am 18.5.06 beginnen mehrtägi-ge gewaltsame Auseinandersetzungenmilitanter Gruppen zwischen Fatahund Hamas. Dabei steht die Frageder Kontrolle der Sicherheitskräfte imVordergrund.

Am 25.5.06 findet in Ramallah imWestjordanland eine Konferenz füh-render Vertreter von Fatah und Ha-mas statt. Präsident Mahmud Abbasbetont dabei den Konsens beider Or-ganisationen über einen palästinensi-schen Staat in den Grenzen von 1967ohne israelische Siedlungen (Zwei-Staaten-Lösung). Sollte die innerpa-lästinensische Gewalt jedoch nicht be-endet werden, kündigt er an, ein Re-ferendum über das „Nationale Ver-söhnungsdokument“ und dessen Vor-schläge für eine Zwei-Staaten-Lösungabhalten zu lassen.

Am 9.6.06 ereignet sich eine Ex-plosion am Strand nahe Beit Lahiyaim Gazastreifen. Die Autonomiebe-hörde beschuldigt die israelische Ar-mee, die die Verantwortung jedochablehnt. Die Kassam-Brigaden, dermilitärische Arm der Hamas, kündi-gen daraufhin den seit 16 Monaten be-stehenden Waffenstillstand mit Israelauf.

Als Reaktion auf den fortgesetz-ten Beschuss Israels mit Raketen

fliegt die israelische Luftwaffe am13.6.06 Angriffe im Gazastreifen.

Präsident Abbas und Ministerprä-sident Hanija einigen sich am 14.6.06auf die Integration der Hamas-Milizenin die regulären Sicherheitsorgane.

Am 18.6.06 einigen sich die Mit-glieder des Nahost-Quartetts auf dieZahlung von Hilfsgeldern an die Pa-lästinenser unter Umgehung der Re-gierung der Hamas.

Palästinensische Milizen überwin-den am 25.6.06 die Grenzbefestigungam Übergang Kerem Shalom durcheinen Tunnel und greifen einen israe-lischen Militärposten an. Dabei wer-den zwei Israelis und zwei Palästinen-ser getötet und der Soldat Gilat Shalitwird gefangen genommen. Für seineFreilassung wird die Entlassung pa-lästinensischer Gefangener aus israe-lischer Haft gefordert. Die Kassam-Brigaden und das Volkswiderstands-komitee (PRC) bekennen sich zu demAngriff.

Am 27.6.06 stimmen mit Ausnah-me des Islamischen Dschihad alle po-litischen palästinensischen Organisa-tionen dem „Nationalen Versöhnungs-dokument“ vom 11. Mai 2006 zu.Die darin enthaltene Zwei-Staaten-Lösung impliziert die indirekte Aner-kennung Israels.

Einheiten der israelischen Streit-kräfte rücken am 28.6.06 erstmalsseit ihrem Abzug wieder in denGazastreifen ein und die Luftwaf-fe bombardiert Infrastruktureinrich-tungen. Ziel der „Operation Sommer-

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regen“ ist die Befreiung des SoldatenShalit.

Am 1.7.06 greift die israelischeLuftwaffe das Gebäude der palästi-nensischen Regierung in Gaza-Stadtan. Im Westjordanland werden achtMinister der Hamas-Regierung fest-genommen.

Aus Furcht vor israelischen An-griffen zieht sich die Hamas-Regie-rung am 3.7.06 in den Untergrund zu-rück.

Am 6.7.06 beginnt die israelischeArmee mit der Einrichtung einer Puf-ferzone im nördlichen Gazastreifen.

Die israelische Armee schließt am3.8.06 die Einrichtung einer mehrereKilometer breiten Sicherheitszone imGazastreifen ab.

Die Führung der Fatah strebt am27.8.06 erneut ein Kabinett der natio-nalen Einheit an, wenn die Hamas Is-rael und die mit ihm geschlossenenVerträge anerkennt.

Präsident Abbas bricht am17.9.06 die Gespräche mit der Ha-mas ab, nachdem sich beide Seitennicht auf eine gemeinsame Regierungeinigen konnten.

Am 11.10.06 scheitert ein letz-ter Einigungsversuch zwischen Ha-mas und Fatah.

Israelische Truppen stoßen am18.10.06 in den Gazastreifen vor underrichten Grenzblockaden zu Ägyp-ten.

Einheiten der israelischen Armeebeginnen am 31.10.06 im nördlichenGazastreifen die „Operation Herbst-

wolken“. Damit soll der Raketen-beschuss auf israelisches Territoriumunterbunden werden. Die Operationwird am 7.11.07 beendet.

Nachdem bei einem israelischenGranatenbeschuss am 8.11.06 19 Zi-vilisten, darunter Frauen und Kinder,in Beit Hanun getötet werden, erklärtdie Führung der Hamas, Selbstmord-anschläge wieder aufzunehmen.

Am 27.11.06 verkündet Minis-terpräsident Olmert die Möglich-keit eines „weitreichenden“ Abzugsder israelischen Armee aus demWestjordanland und die Bildung einespalästinensischen Staates. Er „reichedie Hand zum Frieden“. Bedingun-gen seien die Anerkennung Israels,die Einhaltung der geschlossenen Ver-träge, die Freilassung des entführtenSoldaten Shalit sowie die Umsetzungdes „internationalen Friedensplans“.

Die Hamas kündigt am 4.12.06ein Ende der Waffenruhe an.

Der israelische MinisterpräsidentEhud Olmert gesteht anlässlich sei-nes Deutschlandbesuchs am 11.12.06erstmals indirekt ein, dass Israel überAtomwaffen verfüge.

Das Oberste Gericht Israels er-klärt am 14.12.06, dass gezielte Tö-tungen durch israelische Sicherheits-organe nicht prinzipiell gegen israeli-sches und internationales Recht ver-stoßen würden. Über die Rechtmäßig-keit müsse von Fall zu Fall entschie-den werden.

Am 15.1.07 werden vom israe-lischen Bauministerium Aufträge für

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HARDI SCHINDLER

den Ausbau der größten Siedlung imWestjordanland ausgeschrieben.

Die schwersten Kämpfe seit demWahlsieg der Hamas brechen am26.1.07 aus. Politiker von Hamas undFatah werden angegriffen. Die jüngs-ten Gespräche um eine gemeinsameRegierung werden abgebrochen. Nachvier Tagen sind über 30 Menschen ge-tötet, mehrere Dutzend verletzt undetwa 50 Personen entführt worden.

Der Islamische Dschihad verübtam 29.1.07 einen Selbstmordanschlagin Eilat, der drei Menschen das Lebenkostet. Dies ist der erste Anschlag inIsrael seit neun Monaten und der al-lererste in Eilat.

Am 30.1.07 einigen sich Vertre-ter der Fatah und der Hamas un-ter Vermittlung Saudi-Arabiens aufeinen Waffenstillstand. Bei erneutenGefechten zwei Tage später sterbenetwa 20 Menschen.

Im saudi-arabischen Mekka eini-gen sich die Hamas und die Fatah am8.2.07 auf die Bildung einer Regie-rung der nationalen Einheit. IsmailHanija soll Ministerpräsident bleibenund sein Stellvertreter soll aus der Fa-tah kommen. Die Hamas erhält achtMinisterposten, die Fatah sechs undfünf Kabinettsmitglieder sollen unab-hängige Experten sein.

1.3. Arabische Liga

Die Arabische Liga beendet ihr Gip-feltreffen am 30.3.06 ohne konkre-te Ergebnisse. Während zehn der22 Staaten, u.a. Saudi-Arabien undÄgypten, nicht vertreten waren, warder Libanon mit konkurrierenden De-legationen des Präsidenten und desMinisterpräsidenten anwesend.

Auf dem Gipfeltreffen der Arabi-schen Liga bekräftigen die 21 teilneh-

menden Staaten am 28.3.07 die Initia-tive Saudi-Arabiens zur Lösung desNahost-Konflikts aus dem Jahre 2002.Danach soll sich Israel aus den 1967besetzten Gebieten zurückziehen undden 1948 vertriebenen Palästinensernein Rückkehrrecht gewähren. Dafürwürden die Mitglieder der ArabischenLiga Israel anerkennen.

1.4. Maghreb

In dem seit 30 Jahren andauerndenKonflikt um die Westsahara legt dervom marokkanischen König Moham-äed VI. beauftragte Rat am 3.1.07

einen Plan für eine Autonomie un-ter marokkanischer Souveränität vor.Danach soll die Westsahara ein eige-nes Parlament, Regierung und Justiz

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erhalten. Die Widerstandsorganisati-on Polisario fordert weiterhin ein Re-ferendum.

Bei drei Anschlägen in Ägyptenam 24.4.06 werden 22 Menschen ge-tötet und etwa 150 verletzt.

1.5. Naher Osten

In der Türkei brechen am 28.3.06 Un-ruhen in den kurdischen Gebieten aus.Dabei sterben 15 Menschen. Gerüch-ten zufolge wurden die Unruhen vonAbdallah Öcalan, dem Führer der kur-dischen Arbeiterpartei (PKK), der ei-ne lebenslange Haftstrafe verbüßt, in-itiiert.

Nach neuen Auseinandersetzun-gen und Anschlägen im Mai und Juni2006 wird das türkische Anti-Terror-Gesetz ausgeweitet.

Die Freiheitsfalken Kurdistans(TAK), eine Abspaltung der PKK,verüben am 13.9.06 in der osttür-kischen Stadt Diyarbakir einen An-schlag. Zu sechs weiteren Anschlä-gen, die in den beiden Wochen davorverübt worden waren, bekennen sichdie Falken ebenfalls.

Im israelischen Grenzgebiet neh-men Mitglieder der libanesischen His-bollah am 12.7.06 die israelischenSoldaten Ehud Goldwasser und EldadRegev gefangen. Darauf interveniertdie israelische Armee am 12.7.06 imLibanon. Am folgenden Tag wird eineLuft– und Seeblockade über den Liba-non verhängt. Wohnbereiche – vor al-lem Gebiete mit einem hohen Anteilschiitischer Bevölkerung – und Infra-struktureinrichtungen werden großflä-chig bombardiert. Im Gegenzug feuert

die Hisbollah fast viertausend Rake-ten auf Israel ab.

Am 23.7.06 beginnt eine israeli-sche Bodenoffensive.

Am 9.8.06 beschließt das israeli-sche Kabinett die Ausweitung der Bo-denoffensive mit 30.000 Soldaten.

Am 14.8.06 tritt eine Waffenru-he zwischen der Hisbollah und Israelin Kraft. Der 34-tägige Krieg hat auflibanesischer Seite knapp 1.200 To-te und über 4.400 Verletzte gekos-tet. Nahezu eine Million Libanesensind geflohen. Israel beklagt 159 Op-fer, darunter 43 Zivilisten und mehrals 350.000 Flüchtlinge aufgrund derRaketenangriffe der Hisbollah.

Am 7.9.06 beendet die israelischeArmee die Sperrung des libanesischenLuftraums und am folgenden Tag dieBlockade der Küste.

Der Marineeinsatz der Bundes-wehr im Libanon beginnt am 21.9.06.

Nach dem Abzug der israelischenStreitkräfte beginnt die libanesischeArmee am 2.10.06 in den Süden desLandes einzurücken, aus dem sie vor35 Jahren abgezogen war.

Die libanesische Regierung billigtam 13.11.06 die Bildung eines in-ternationalen Gerichts, um den Mordam früheren Ministerpräsidenten Ra-

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fik Hariri vom 14. Februar 2005 zuuntersuchen.

Pierre Gemayel, der christlicheIndustrieminister, wird am 21.11.06ermordet. Der Sohn des ehemaligenStaatspräsidenten Amin Gemayel warein Kritiker Syriens.

Am 1.12.06 beginnen Massenpro-teste der Anhänger von Hisbollah, umdie syrienkritische Regierung unterdem sunnitischen MinisterpräsidentenFuad Siniora zu stürzen.

Ein militanter Generalstreik, dervon der Hisbollah und der Partei desmit der Hisbollah verbündeten Michel

Aoun initiiert wird, findet am 23.1.07statt.

In Paris treffen sich am 25.1.07Vertreter einer internationalen Geber-konferenz. Dabei werden der libane-sischen Regierung Finanzhilfen voninsgesamt 7,6 Mrd. US-Dollar zuge-sagt. Die deutsche Regierung will da-zu 103 Mio. Euro beitragen.

In Kuweit dürfen sich Frauen am28.6.06 erstmals an einer Parlaments-wahl beteiligen. Allerdings gelingt eskeiner Kandidatin, ein Mandat zu er-ringen.

2. Europa

2.1. Europäische Union

Am 23.3.06 billigt die EU den vonden Vereinten Nationen gewünschtenEinsatz von 1.700 EUFOR–Soldatenzur Absicherung der Wahlen im Kon-go im Juli 2006.

Vertreter des Ministerrats, derKommission und des Parlaments derEU einigen sich am 5.4.06 auf denHaushalt für die Jahre 2007–2013.Darin sind Ausgaben von 864,4 Mrd.Euro vorgesehen.

Die Kommission der EU setztam 3.5.06 die Verhandlungen überein Assoziierungsabkommen mit Ser-bien-Montenegro aus. Der Regierungwird mangelnde Zusammenarbeit mitdem Kriegsverbrechertribunal in DenHaag vorgeworfen.

Vom 11.–12.5.06 findet in Wienein Treffen der EU mit Staaten Latein-amerikas und der Karibik statt. Einzentraler Gesprächsgegenstand ist dieNationalisierung der Gasindustrie inBolivien.

Auf dem Gipfeltreffen der EUund Russlands vom 24.–25.5.06 be-schließen die Teilnehmer, ein neuesGrundsatzabkommen über die bilate-ralen Beziehungen zu vereinbaren.

Das Parlament von Estland ratifi-ziert am 9.5.06 den Verfassungsver-trag der EU.

Am 12.6.06 beginnt die EU Bei-trittsverhandlungen mit der Türkeiund Kroatien, nachdem Zypern seinenWiderstand dagegen aufgegeben hat.

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Die Außenminister der EU lei-ten am 12.6.06 die Kongo-Missionein. Zugleich wird ein Assoziierungs-und Stabilitätsabkommen mit Albani-en unterzeichnet.

Am 9.9.06 vereinbaren Vertreterder EU und der Volksrepublik Chinaauf dem EU-Gipfel in Helsinki Ge-spräche über ein Kooperationsabkom-men, in dem unter anderem „die Be-deutung konkreter Schritte im Bereichder Menschenrechte“ betont werdensoll.

Am 26.9.06 veröffentlicht die EU-Kommission ihre Empfehlung, Rumä-nien und Bulgarien zum 1. Januar2007 in die EU aufzunehmen.

Durch einen Boykott Polens kön-nen am 23.11.06 die geplanten Ver-handlungen der EU mit Russlandüber ein neues Partnerschaftsabkom-men nicht stattfinden.

Die Verhandlungen mit der Tür-

kei um die Verwirklichung des „Pro-tokolls von Ankara“ werden am27.11.06 von der EU für gescheiterterklärt. Die Türkei weigert sich, ih-re Häfen und Flughäfen für Zypern-griechische Produkte zu öffnen. Diedamit verbundene Anerkennung derRepublik Zypern wird von der Tür-kei abgelehnt. Sie fordert, erst dieIsolierung Nordzyperns zu beenden,dann würden die türkischen Häfen fürSchiffe der Republik Zypern freigege-ben.

Die EU-Kommission empfiehltam 29.11.06, die Verhandlungen mitder Türkei über acht der 35 Kapitelauszusetzen. Darauf einigen sich dieEU-Außenminister am 11.12.06.

Am 1.1.07 treten Rumänien undBulgarien der EU bei. Zugleich über-nimmt die Bundesrepublik Deutsch-land für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft.

2.2. Deutschland und die Auslandseinsätzeder Bundeswehr

Am 1.6.06 hat Deutschland im Zu-ge des Regionalisierungsansatzes derISAF das Regionalkommando imNorden Afghanistans übernommenund stellt den „Regional Area Com-mander“ in Mazar-e-Sharif.

Der Bundestag stimmt am 1.6.06einer Beteiligung der Bundeswehr ander EU-Mission EUFOR zur Siche-rung der Wahlen im Kongo zu. Einerstes Vorauskontingent der Bundes-

wehr landet am 20.6.06 in Kinsha-sa. Am 18.7.06 ist der Aufmarsch derEUFOR-Truppen, darunter 280 deut-sche Soldaten, abgeschlossen.

Während seines Deutschlandbe-suchs zitiert Papst Benedikt XVI. am12.9.06 islamkritische Aussagen desbyzantinischen Kaisers Manuel II. Pa-laeologos aus dem Jahre 1391, indem dieser das Verhältnis von Religi-on und Gewalt thematisiert. Darauf-

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hin finden in zahlreichen islamischeStaaten Proteste und Demonstrationenstatt.

Am 12.9.06 legt die Bundesregie-rung ein Strategiepapier zur Afghani-stanpolitik vor.

Die Bundesregierung beschließtam 13.9.06 den Einsatz der Bundes-wehr im Nahen Osten. Die deutscheMarine soll sich mit bis zu 2.400 Sol-daten an der UN-Truppe UNIFIL vorder libanesischen Küste beteiligen.Der Bundestag stimmt am 20.9.06dem Kabinettsbeschluss vom 13. Sep-tember 2006 über die Entsendung vonSoldaten in den Libanon zu. DerenHauptaufgabe soll die Kontrolle derlibanesischen Küste und die Unter-bindung des Waffenschmuggels sein.Am 21.9.06 verlässt der Einsatzver-band der Marine Deutschland.

Am 28.9.06 verlängert der Bun-destag das Mandat der Bundeswehrfür den Einsatz in Afghanistan um einJahr. Die maximale Einsatzstärke solldabei um 1.000 auf 1.800 Soldatenherabgesetzt werden.

Am 16.10.06 beginnt der Einsatzan der libanesischen Küste.

Am 25.10.06 verabschiedet dieBundesregierung ihr Weißbuch zurdeutschen Sicherheitspolitik.

Verteidigungsminister Franz JosefJung kündigt am 30.10.06 den sukzes-siven Rückzug der deutschen Solda-ten aus Bosnien-Herzegowina an.

Am 30.11.06 ist das Mandat derKongo-Mission der EUFOR beendet.

Die NATO bittet am 11.12.06 dieBundesregierung um die Entsendungvon Aufklärungsflugzeugen für Af-ghanistan.

Am 6.2.07 werden zwei Deut-sche im Irak entführt. Die Entfüh-rer drohen am 10.3.07 mit deren Er-mordung, falls die deutschen Trup-pen nicht binnen zehn Tagen aus Af-ghanistan abziehen. Doch die Bundes-regierung bleibt unnachgiebig, dennman lasse sich nicht erpressen, so derStaatssekretär im Auswärtigen Amt,und suche stattdessen nach alternati-ven Lösungen.

Das Bundeskabinett beschließtam 7.2.07 bis zu acht Tornado-Auf-klärungsflugzeuge mit maximal 500Soldaten für Afghanistan bereitzustel-len, um die ISAF-Truppen zusätzlichzu unterstützen. Die Bundesregierunglehnt am 17.2.07 eine von der US-Regierung geforderte Erhöhung desdeutschen Engagements über den Tor-nadoeinsatz hinaus ab. Nach länge-ren Auseinandersetzungen mit Probe-abstimmungen stimmt der deutscheBundestag am 9.3.07 dem Einsatzvon Tornado-Aufklärungsflugzeugenin Afghanistan zu. Gegenstimmengibt es in allen Fraktionen.

In einer Internetbotschaft vom11.3.07 werden Deutschland Anschlä-ge wegen des Einsatzes in Afghanis-tan angedroht.

Der Einsatz der Tornado-Flugzeu-ge beginnt am 2.4.07.

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2.3. Nord–, West– und Südeuropa

Bei den Parlamentswahlen in Schwe-den am 17.9.06 siegt das Mitte-Rechts-Bündnis unter Fredrik Rein-feldt über die regierende Koaliti-on aus Sozialdemokraten, Grünenund Linkspartei. Der Ministerpräsi-dent Göran Persson tritt danach alsPartei– und Regierungschef zurück.

Am 26.4.06 bestätigt die inter-nationale Überwachungskommission,dass die Irisch-Republikanische Ar-mee (IRA) grundsätzlich einen „fried-lichen Weg der Politik“ beschrit-ten habe. Kriminelle Machenschaftenwürden nur von Einzelnen betrieben.

Nach einer Unterbrechung vonmehr als drei Jahren findet am 16.5.06die erste Sitzung des nordirischen Re-gionalparlaments statt. Großbritanni-en und Irland haben den im Regional-parlament vertretenen Parteien ein Ul-timatum bis zum 24. November 2006gesetzt um eine handlungsfähige Re-gierung zu bilden.

Am 24.11.06 verlängert die briti-sche Regierung die Frist nochmals biszum 7. März 2007.

Auf ihrem Sonderparteitag be-schließt die Partei Sinn Fein am28.1.07 die nordirische Polizei anzu-erkennen und künftig mit ihr zusam-menzuarbeiten. Ihre bisherige Weige-rung war eines der Hindernisse für dieRegierungsbildung.

In einem weiteren Bericht vom30.1.07 über die paramilitärischenGruppen in Nordirland wird der IRA

erneut bescheinigt, dass die Organisa-tion ein politischer Akteur sei, der aufGewalt verzichtet.

Bei ihrem ersten direkten Zusam-mentreffen am 26.3.07 einigen sichdie Führungen der protestantischenDUP und der katholischen Sinn Feinauf die Bildung einer gemeinsamenRegierung bis zum 8. Mai 2007. Diebritische Regierung hatte den nordiri-schen Parteien eine letztes Ultimatumgesetzt.

Am 10.8.06 verhindern britischeSicherheitsbehörden Anschläge, beidenen Flugzeuge über dem Meer ge-sprengt werden sollten.

Die baskische Untergrundorgani-sation Baskenland und Freiheit (ETA)erklärt am 22.3.06 einen „dauerhaftenWaffenstillstand“. Mit diesem Schrittsoll ein „Anstoß eines demokrati-schen Prozesses“ gegeben werden.Mit dem Waffenstillstand werden un-ter anderem Forderungen nach einemSelbstbestimmungsrecht der Basken,deren Anerkennung als „Volk“ undeine Legalisierung der Batasuna, despolitischen Arms der ETA, gefordert.Dies ist die insgesamt elfte Waffen-ruhe, die die ETA bislang ausgerufenhat.

In Spanien sprechen sich am18.6.06 73,9 Prozent der Katalanenfür das von der Regionalregierungvorgeschlagene Autonomiestatut aus.Unter anderem will sich die Provinzkünftig als Nation bezeichnen.

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Der spanische MinisterpräsidentJosé Luis Rodríguez Zapatero kün-digt am 29.6.06 Verhandlungen mitder ETA an.

Am 30.12.06 sterben zwei Men-schen bei einem Sprengstoffanschlagauf dem Madrider Flughafen. DieETA übernimmt am 8.1.07 die Ver-antwortung, weist die Schuld aberder „repressiven Politik und Aggres-sion“ des Staates zu. Die „bewaffneteAktion“ beende aber nicht den Waf-fenstillstand vom 22. März 2006. Diespanische Regierung beendet darauf-hin alle „Dialoginitiativen“ mit derETA.

Vertreter Gibraltars, Spaniens undGroßbritanniens unterzeichnen am18.9.06 ein Abkommen. Darin sindVerbesserungen der Grenz- und Kom-munikationsverbindungen mit Spani-en, vor allem die gemeinsame Nut-zung des Flughafens von Gibraltarfestgeschrieben.

Am 1.12.06 stimmen 60,2 Prozent

der Wähler in einem Referendum füreine erweiterte Autonomie von Gi-braltar.

In Italien gewinnt das linkslibera-le Oppositionsbündnis „Unione“ un-ter Romano Prodi am 9.4.06 die Par-lamentswahl mit 49,8 Prozent. DasRegierungsbündnis „Casa della Li-bertá“ unter Ministerpräsident SilvioBerlusconi erreicht 49,7 Prozent derStimmen. Wegen des knappen Unter-schieds von 0,07 Prozent oder 24.755Stimmen erkennt Berlusconi die Wahlanfangs nicht an.

Der Präsident der Republik Zy-pern, Tassos Papadopoulos, und AliTalat, der Präsident von Nordzypern,vereinbaren am 8.7.06 regelmäßigeBegegnungen als vertrauensbildendeMaßnahme.

In der Nacht vom 8. auf den9.3.07 reißen griechische Zypriotenein Stück der Grenzmauer in Nikosiaein. Die Aktion soll als Zeichen desguten Willens verstanden werden.

2.4. Osteuropa

Die konservative Demokratische Bür-gerpartei (ODS) erreicht bei den Par-lamentswahlen in Tschechien vom3.6.06 35,4 Prozent der Stimmen.Die regierenden Sozialdemokraten(CSSD) von Ministerpräsident JiríParoubek kommen auf 32,3 Prozent.Wegen des knappen Ergebnisses ziehtsich die Regierungsbildung mehr alssieben Monate hin, bis zwei Oppositi-onsabgeordnete am 19.1.07 die neue

Regierung von Bürgerlichen Demo-kraten, Christdemokraten und Grü-nen unter Ministerpräsident Mirek To-polánek tolerieren und deren Mehr-heit sichern.

In der Slowakei gewinnt die so-zialdemokratische OppositionsparteiSmer-SD die Parlamentswahlen am3.7.06 mit 29,1 Prozent. Die neue Re-gierung unter Ministerpräsident Ro-bert Fico regiert in einer Koali-

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tion mit der nationalistischen Slo-wakischen Nationalpartei (SNS) undder ebenfalls nationalistischen Bewe-gung für eine Demokratische Slowa-kei (LS-HZDS).

In Moldawiens separatistischerRegion Transnistrien wird am 18.9.06ein Referendum über einen Anschlussan Russland abgehalten. Nach Regie-rungsangaben sollen 91,1 Prozent derBevölkerung dafür gestimmt haben.

Bei den Parlamentswahlen in derUkraine am 26.3.06 erreicht die Par-tei der Regionen von Viktor Januko-witsch 30,3 Prozent und der Block Ju-lia Timoschenko erzielt 22,4 Prozent.Unsere Ukraine, die Partei von Prä-sident Viktor Juschtschenko, gewinnt15,1 Prozent der Stimmen.

Die Bemühungen einer Regie-rungsbildung der Orangenen Koali-tion, die den Umsturz im Novem-ber 2004 herbeigeführt hatte, schei-tern endgültig am 22.6.06. Nachdemdie Sozialisten am 7.7.06 ins Lagervon Janukowitsch wechseln, wird die-ser am 3.8.06 neuer Regierungschefin einer Koalition mit Sozialisten undKommunisten.

Am 2.4.07 löst Präsident Juscht-schenko das Parlament auf. Am fol-genden Tag wendet sich das Parla-ment an das Verfassungsgericht underklärt die Auflösung für nichtig.

Nach dem Bericht der OSZE-Beobachtermission vom 20.3.06 wardie Wahl vom Vortag in Weißruss-land nicht demokratisch. Am Wahltag

protestieren bereits etwa 10.000 Men-schen in der Hauptstadt Minsk.

Die russischen Streitkräfte begin-nen am 15.5.06 mit der Schließungdes Stützpunkts Achalkali in Geor-gien. Der Abzug sollte bis Ende2006 abgeschlossen sein. Beide Staa-ten hatten sich im Jahr zuvor auf eineRäumung geeinigt.

Nach der Verhaftung von vier rus-sischen Offizieren am 27.9.06 ver-hängt Russland am 3.10.06 eineBlockade gegen Georgien, mit dervor allem die Verkehrsverbindungenund der Zahlungsverkehr unterbro-chen werden.

Am 7.10.06 wird die regierungs-kritische, russische Journalistin AnnaPolitkowskaja ermordet. Ihre Ermor-dung weise auf eine größere Krise fürdie freie Meinungsäußerung und dieSicherheit von Journalisten in Russ-land hin, so der Menschenrechtskom-missar des Europarats.

Am 1.11.06 wird Alexander Lit-winenko, Ex-Mitarbeiter des russi-schen Geheimdienstes KGB, in einemLondoner Restaurant mit radioakti-vem Polonium vergiftet. Am 23.11.06stirbt er an den Folgen des Giftan-schlags. Kurz vor seinem Tod machter den Kreml für den Anschlag ver-antwortlich. Dieser weist die Vorwür-fe zurück.

Die Führung der separatistischenRegion Südossetien in Georgien lässtam 12.11.06 ein Referendum über dieUnabhängigkeit abhalten. 99 Prozent

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der Wähler sollen dafür gestimmt ha-ben.

Georgien, die Ukraine, Aserbai-dschan und Moldawien verdichten am23.5.06 das Bündnis Guam zur Or-ganisation für Demokratie und wirt-schaftliche Entwicklung, die ihrenSitz in Kiew haben soll.

Der einzige überlebenden Angrei-fer auf eine Schule in der südrus-sischen Stadt Beslan im September2004 wird am 26.5.06 zu lebenslangerHaft verurteilt.

Am 17.6.06 tötet eine Einheitdes Tschetschenischen Innenministe-riums Abdul-Chalim Sadulajew, denPräsidenten des TschetschenischenUntergrunds. Sein Nachfolger DokuUmarow kündigt danach Anschlägeauch außerhalb Tschetscheniens an.

Schamil Bassajew, der Vizeprä-sident des tschetschenischen Unter-grunds, bestätigt am 15.6.06 im Inter-net, den Auftrag zur Tötung des ehe-maligen Präsidenten Tschetscheniens

und Vaters des Amtsinhabers, Ach-mad Kadyrow, gegeben zu haben.

Schamil Bassajew wird am10.7.06 durch den russischen Ge-heimdienst in Inguschetien getötet.Daraufhin bietet die russische Regie-rung am 15.7.06 eine Amnestie bezie-hungsweise ein faires Verfahren fürdie Mitglieder des tschetschenischenWiderstands an. Nach Regierungs-angaben stellen sich bis zum Ablaufder Amnestie am 16. Januar 2007 546Kämpfer.

In einem Bericht von amnesty in-ternational vom 28.11.06 werden Fol-terungen durch russische Sicherheits-kräfte in Tschetschenien angepran-gert. Der Bericht kritisiert auch diefaktische Straffreiheit für Übergriffe.

Am 27.3.07 unterzeichnen Russ-land und Lettland ein Grenzabkom-men, in dem Lettland die gegenwär-tige Grenzziehung anerkennt und aufweitere Ansprüche verzichtet.

2.5. Ehemaliges Jugoslawien

In den seit Februar 2006 unter Ver-mittlung der UNO in Wien laufen-den Verhandlungen über den politi-schen Status des Kosovo erneuern dieserbischen Vertreter den Vorschlag ei-ner weitgehenden Autonomie bei ei-nem Verbleib der Provinz bei Serbi-en.

Am 23.7.06 treffen in Wien erst-mals die Vertreter Serbiens und derKosovo-Albaner direkt aufeinander.

In Serbien stimmen am 29.10.06knapp über 50 Prozent der Wähler fürdie Vorlage einer neuen Verfassung.Darin wird die Provinz Kosovo alsintegraler Bestandteil des Landes be-zeichnet, dem in Zukunft eine weit-reichende Autonomie gewährt werdensoll.

Am 2.2.07 stellt Martti Ahtisaari,der UN-Sondergesandte für das Ko-sovo, einen Plan für einen politischen

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Status der Provinz vor. Die Grundlini-en des nur teilweise veröffentlichtenPapiers sehen für das Kosovo ein ei-genes Parlament, eine eigene Verfas-sung, eigene Sicherheitskräfte und ei-gene Grenzkontrollen vor.

Am 26.3.07 legt Ahtisaari seinenPlan dem UN-Sicherheitsrat vor.

In Bosnien-Herzegowina scheitertam 27.4.06 die Vorlage für Reformender Verfassung von 1995. Die not-wendige Zweidrittelmehrheit im Par-lament wird verfehlt, da nur 26 der 42Abgeordneten dafür stimmen.

In Montenegro stimmen am21.5.06 55,4 Prozent der Wähler fürdie Unabhängigkeit. Für die Annahmedes Referendums waren 55 ProzentJa-Stimmen erforderlich. Am 3.6.06erklärt das montenegrinische Parla-ment die Unabhängigkeit und dasEnde des Bundes mit Serbien. Am17.6.06 erkennt Serbien die Eigen-staatlichkeit Montenegros an.

Bei den Wahlen in Makedonienam 5.7.06 siegt die oppositionelle Par-tei der Nationalen Einheit unter Niko-la Gruevski.

3. Afrika südlich der Sahara

3.1. Afrikanische Union

Während des Gipfeltreffens der Afri-kanischen Union (AU) in Banjul, derHauptstadt von Gambia, wird am3.7.06 das Mandat für die Friedens-truppe in Darfur (African Mission in

Sudan, AMIS) bis Mitte des Jahres2007 verlängert.

Die Afrikanische Union verlän-gert am 18.10.06 das Mandat des Prä-sidenten der Elfenbeinküste LaurentGbagbo um ein Jahr.

3.2. Westafrika

Am 5.7.06 beschließen Regierung undRebellen in der Elfenbeinküste dieEntwaffnung der beiderseitigen para-militärischen Einheiten.

Unter Vermittlung von BurkinaFaso schließen die Regierung unddie Rebellen am 4.3.07 ein Frie-densabkommen. Darin ist unter an-derem vorgesehen, eine gemeinsameÜbergangsregierung zu bilden und dieTruppen der Rebellen in die Armee zuintegrieren.

In dem Konflikt zwischen Nigeriaund Kamerun um die ölreiche Halb-insel Bakassi, einigen sich beide Sei-ten am 12.6.06 auf den Abzug der ni-gerianischen Truppen. Der Internatio-nale Gerichtshof in Den Haag hattedie Halbinsel im Oktober 2002 Ka-merun zugesprochen. Am 14.8.06 be-ginnt Nigeria mit dem Abzug seinerTruppen.

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3.3. Zentral– und Ostafrika

Am 30.7.06 finden im Kongo erst-mals freie Parlaments- und Präsident-schaftswahlen statt. Die Union für De-mokratie und Fortschritt (UDPS), diegrößte Partei des Landes, nimmt nichtteil.

Am 21.8.06 greifen Einheiten derMiliz des Präsidenten Joseph Kabi-la den Sitz des Konkurrenten Jean-Pierre Bemba mit schweren Waffenan. Während des Angriffs befindensich 15 Botschafter im Gebäude.

Ende November 2006 besetzt eineRebellengruppe unter Laurent Nkun-da den ostkongolesischen Ort Sa-ke nahe Goma in Nord-Kivu. Am27.11.06 erobern Truppen der UNO(MONUC) den Ort nach zwei Tagenzurück.

Am 30.11.06 ist das Mandat derKongo-Mission (EUFOR) beendet.

Mit der letzten kämpfenden Re-bellengruppe in der Provinz Ituri imOst-Kongo einigt sich die Regierungam 1.12.06 auf einen Waffenstill-stand.

Joseph Kabila wird am 7.12.06vereidigt, nachdem er die Stichwahlvom 29.10.06 mit 58 Prozent gegenJean-Pierre Bemba, gewonnen hat.Bemba erklärt am 16.11.07, das Wahl-ergebnis nicht anzuerkennen.

Bei Kämpfen in Kinshasa vom22.3.–24.3.07 zwischen Regierungs-truppen und der Miliz von Jean-PierreBemba kommen etwa 500 Menschenums Leben.

Die Regierung von Burundi unddie Rebellen der Nationalen Befrei-ungskräfte (FNL) vereinbaren am19.6.06 eine zweiwöchige Waffenru-he, um Friedensverhandlungen zu er-möglichen.

Vertreter der sudanesischen Re-gierung und einer Fraktion der Suda-nesischen Befreiungsarmee (SLA) ei-nigen sich am 5.5.06 in der nigeriani-schen Stadt Abuja auf ein Friedensab-kommen für Darfur. Die andere Frak-tion der SLA und die zweite Rebel-lengruppe Bewegung für Gerechtig-keit und Gleichheit (JEM) unterzeich-nen das Abkommen nicht.

Vertreter der sudanesischen Re-gierung und Rebellen der Östli-chen Front vereinbaren am 20.6.06ein Waffenstillstandsabkommen, so-wie ein Rahmenwerk für Friedensge-spräche zur Beendigung des latentenBürgerkriegs im östlichen Sudan.

Am 31.8.06 verabschiedet dieUNO die Resolution 1706. Danachsollen bis zu 20.000 Blauhelmsolda-ten nach Dafur geschickt werden. Je-doch hat die sudanesische Regierungdie Entsendung der UN-Truppen bisjetzt abgelehnt.

Seit August 2006 sind weitere250.000 Zivilisten aus Dafur geflo-hen.

Am 13.4.06 findet im Tschad einUmsturzversuch statt. Rebellen derVereinigten Front für den Wandel(FUC) werden mit französischer Hil-

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fe vor der Hauptstadt N‘Djamena zu-rückgeschlagen. Dabei kommen meh-rere Hundert Menschen ums Leben.Daraufhin beendet die tschadischeRegierung am 17.4.06 ihre Beteili-gung an den Verhandlungen über denKonflikt im westsudanesischen Dar-fur. Der Tschad bricht auch die di-plomatischen Beziehungen zum Su-dan ab, dem er die Unterstützung desPutschversuchs vorwirft.

Wegen der Flüchtlingsströme ausSudan kommt es im Tschad vermehrtzu Unruhen. Dabei sterben 2006 meh-rere Hundert Zivilisten und weitere100.000 werden mit militärsicher Ge-walt vertrieben.

Am 25.11.06 besetzen tschadi-sche Rebellen der Union der Kräftefür Demokratie und Wandel (UFDD)die Stadt Abéché. Am folgenden Tagziehen sie wieder ab.

In der somalischen HauptstadtMogadischu brechen am 8.5.06 Käm-pfe zwischen einem von den USA un-terstützten Bündnis aus Kriegsherrenund Milizen der Union der Islami-schen Scharia-Gerichtshöfe aus. Nachetwa zehn Tagen schwerer Kämpfekontrollieren die Islamisten den Groß-teil der Stadt.

Am 23.6.06 schließen die Über-gangsregierung Somalias und die isla-mischen Gerichtshöfe ein Abkommenüber die Einstellung der Kampfhand-lungen und die gegenseitige Anerken-nung. Dennoch dauern die Kämpfean. Im Juni kontrollieren die Islamis-ten vollständig die Hauptstadt. Un-

ter Vermittlung der AU unterzeich-nen die Übergangsregierung und dieIslamischen Gerichtshöfe am 5.9.06ein Friedensabkommen. Vorgesehenist darin die Bildung einer gemeinsa-men Armee und Gespräche über eineMachtteilung.

Milizen der Scharia-Gerichtshöfebesetzen am 25.9.06 die HafenstadtKismayo kampflos.

Im Oktober 2006 besetzen dieSchariamilizen die Stadt Baidoa, denSitz der Übergangsregierung. Darauf-hin schickt Äthiopien 500 Soldatennach Baidoa. Die Gerichtshöfe be-zeichnen dies als Kriegserklärung.

Mit Unterstützung der USA be-ginnt am 24.12.06 die Interventionmehrerer Tausend äthiopischer Sol-daten. Vier Tage später besetzen dieTruppen Äthiopiens und der somali-schen Übergangsregierung die Haupt-stadt Mogadischu.

Am 31.12.06 besetzen die Trup-pen mit Kismayo die letzte von denGerichtshöfen gehaltenen Stadt. Dieäthiopische Armee beginnt am 2.1.07mit der Entwaffnung der Bevölke-rung.

Der Rückzug der äthiopischenTruppen wird am 23.1.07 eingeleitet.

In Uganda beginnen nach dem6.7.06 Verhandlungen mit der Wider-standsarmee des Herrn (LRA) zur Be-endigung des seit 20 Jahren andauern-den Krieges. Ohne die Unterstützungder sudanesischen Regierung wurdedie LRA zunehmend geschwächt.

In der südsudanesischen Stadt Ju-

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ba unterzeichnen Vertreter der Regie-rung und der LRA am 27.8.06 ein

Waffenstillstandsabkommen.

3.4. Südliches Afrika

In Südafrika wird Jakob Zuma, derehemalige Stellvertreter von PräsidentThabo Mbeki, am 8.5.06 vom Vor-

wurf der Vergewaltigung freigespro-chen.

4. Asien und Ozeanien

4.1. ASEAN, SCO, SAFTA

Die ASEAN-Gruppe schließt mit denUSA am 25.8.06 ein Rahmenabkom-men über Handel und Investitionen.Die US-Sanktionen gegen den Mit-gliedsstaat Birma bleiben jedoch be-stehen.

Auf dem Gipfeltreffen der Shang-haier Organisation für Zusammenar-beit (SCO) wird in der Abschlusser-klärung am 15.6.06 als primäres Zielder Kampf gegen Extremismus, Ter-rorismus und Separatismus bezeich-

net. Unter den als Beobachter anwe-senden Staaten Indien, Mongolei, Pa-kistan und Iran bemühen sich die bei-den letztgenannten um eine Aufnah-me in die Organisation.

Die sieben Mitgliedsstaaten derSüdostasiatischen Freihandelszone(SAFTA) einigen sich am 19.4.06auf die schrittweise Reduzierung derZollsätze auf maximal fünf Prozentbis 2016.

4.2. Mittel– und Südasien

Im Konflikt um das iranische Atom-programm gibt die iranische Regie-rung am 11.4.06 bekannt, dass dasLand mit der Urananreicherung durchdie Inbetriebnahme einer Gaszentrifu-ge in Natanz begonnen hat. Der ira-nische Präsident Mahmud Ahmadine-jad erklärt dazu, dass der Iran da-mit dem Kreis der Atommächte an-

gehöre. Die fünf Veto-Mächte desUN-Sicherheitsrats und Deutschland(5+1) unterbreiten dem Iran am 1.6.06ein neues Angebot. Bei einem Ver-zicht auf ein militärisches Atompro-gramm soll die zivile Nutzung derKernkraft des Iran durch die fünf Ve-tomächte und Deutschland gefördertwerden. Die sechs Staaten verlangen

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vom Iran, bis zum 29.6.06 auf ihreVorschläge zu antworten.

Am 31.7.06 fordert der UN-Sicherheitsrat die iranische Regie-rung erneut auf, bis zum 31. August2006 die Urananreicherung auszuset-zen. Am 28.8.06 antwortet die irani-sche Regierung, dass sie zu Verhand-lungen ohne Vorbedingungen bereitsei.

Am 27.8.06 wird im Iran eineSchwerwasseranlage eröffnet.

Nachdem die UNO Sanktionenbeschlossen hat, erklärt die iranischeRegierung am 26.12.06 ihr Atom-programm unvermindert fortführen zuwollen.

Am 23.3.07 werden 15 britischeMarinesoldaten von iranischen Ein-heiten gefangen genommen. Sie sol-len sich in iranischen Gewässern be-funden haben.

In Afghanistan beginnt am15.5.06 die größte Militäroperationder Koalitionstruppen seit der Inter-vention vor fünf Jahren. Die Offensi-ve „Mountain Thrust“ (Vorstoß in dieBerge) wird Ende Juli 2006 beendet.In der südafghanischen Provinz Hel-mand werden am 18.5.06 die schwers-ten Kämpfe mit Einheiten der Talibanseit deren Sturz ausgetragen.

Nach einem Verkehrsunfall ei-nes US-Armeelastwagens mit afgha-nischen Zivilfahrzeugen am 29.5.06kommt es in Kabul zu gewaltsamenAusschreitungen. Einige Tausend De-monstranten versuchen, das Parla-mentsgebäude und den Präsidenten-

palast zu besetzen. Mehr als 20 Per-sonen werden dabei getötet.

Am 1.6.06 hat Deutschland imZuge des Regionalisierungsansatzesder ISAF das Regionalkommandoim Norden Afghanistans übernom-men und stellt den „Regional AreaCommander“ in Mazar-e-Sharif.

Am 31.7.06 übernimmt die ISAFunter britischer Führung sechs Provin-zen im Süden Afghanistans, darunterHelmand, von den US-Truppen.

US-Einheiten beginnen am 3.9.06eine weitere Offensive im Süden desLandes.

Am 8.9.06 werden bei einemSelbstmordattentat auf ein US-Mili-tärfahrzeug in Kabul 18 Menschen ge-tötet.

Vom 30.–31.1.07 findet auf Initia-tive des deutschen G8-Vorsitzes ei-ne hochrangige Koordinierungskonfe-renz für den Wiederaufbau Afghanist-ans statt.

Am 27.2.07 wird auf das US-Militärlager in Bagram ein Selbst-mordanschlag verübt. Dabei gibt eszahlreiche Opfer. Auf der Basis hältsich US-Vizepräsident Cheney zu ei-nem Besuch auf, der unverletzt bleibt.

Die NATO startet am 6.3.07 mitder „Operation Achilles“ ihre geplan-te Frühjahrsoffensive. Bis zu 4.500ISAF-Soldaten und 1.000 afghani-sche Sicherheitskräfte gehen gegendie wieder erstarkten Taliban im Sü-den des Landes vor.

Am 19.3.07 fordert der afghani-sche Präsident Karsai bei seinem Be-

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such in Berlin die internationale Ge-meinschaft auf, mehr für die Aus-bildung afghanischer Sicherheitskräf-te zu tun. Denn das Problem seiennicht die Taliban, sondern „unsere ei-gene Schwäche“, so Karsai.

In der indischen Stadt Mumbaiexplodieren am 11.7.06 sieben Bom-ben in Zügen, die 207 Menschen tö-ten und mehr als 700 verletzen. Da-nach sagt Indien am 16.7.06 die anbe-raumten Friedensgespräche mit Pakis-tan ab.

Indien und Pakistan nehmen am14.11.06 erstmals seit einem Jahr wie-der Gespräche über Kaschmir auf.

Der pakistanische Präsident Per-vez Musharraf macht am 6.12.06 Vor-schläge zur Lösung des Konflikts umKaschmir. Danach sollen Indien undPakistan die beiderseitigen Ansprücheauf Kaschmir aufgeben. Die Regionsolle entmilitarisiert und mit offenenGrenzen autonom werden.

In Nepal beginnt am 6.4.06 einGeneralstreik. Begleitet von Protest-aktionen und Kundgebungen will einOppositionsbündnis von sieben Par-teien damit den seit 14 Monaten auto-kratisch regierenden König Gyanen-dra zum Machtverzicht zwingen. Kö-nig Gyanendra tritt am 21.4.06 zu-rück.

Am 27.4.06 erklärt die Führungder maoistischen kommunistischenPartei Nepals (CPN-UML) eine ein-

seitige Waffenruhe. In dem seit 1996andauernden Bürgerkrieg starben et-wa 13.000 Menschen.

Am 28.4.06 tritt das Parlamenterstmals seit seiner Suspendierung vorvier Jahren wieder zusammen. Nach-dem auch die neue Regierung ei-ne Waffenruhe erklärt hat, einigensich beide Seiten am 4.5.06 dar-auf, Friedensgespräche aufzunehmen.Das Parlament von Nepal ändert am19.5.06 die Verfassung. Danach wirddas Land in einen säkularen Staat um-gewandelt und König Gyanendra for-mell entmachtet. Der Monarch hat da-nach nur noch repräsentative Funktio-nen.

Die seit dem Sturz des Königs re-gierende Sieben-Parteien-Verbindungtrifft sich erstmals 17.6.06 mit denFührern der Maoisten in Katmandu.

Am 8.11.06 einigen sich die Ver-treter der Regierung und der Gueril-la darauf, im Juni 2007 eine verfas-sungsgebende Versammlung zu bil-den. Die Waffen der Rebellen sol-len bis dahin unter UN-Aufsicht ge-stellt und eine gemeinsame Über-gangsregierung gebildet werden. Am21.11.06 einigen sich die Regierungund die maoistischen Rebellen aufeinen Friedensvertrag. Das Abkom-men sieht primär die Entwaffnung derGuerilla und deren Integration in eineneue Regierung vor.

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4.3. Ostasien

Nachdem die Regierung des Tschadam 6.8.06 die diplomatischen Bezie-hungen zu Taiwan abgebrochen undmit der Volksrepublik China diplo-matische Beziehungen aufgenommenhat, erkennen nur noch 24 Staaten Tai-wan an.

Die nordkoreanische Armee führtam 5.7.06 Raketentests durch. Die ja-panische Regierung ruft daraufhin denUN-Sicherheitsrat an und verhängtSanktionen gegen Nordkorea.

Am 9.10.06 führt Nordkoreaeinen unterirdischen Kernwaffentestdurch, den die Regierung sechs Tagezuvor angekündigt hat.

Am 30.10.06 sagt die nordko-reanische Regierung zu, an neuenSechsergesprächen über ihr Atom-programm teilzunehmen. Vom 18.-22.12.06 finden diese nach einer Un-terbrechung von 13 Monaten mit denbeiden Koreas, den USA, Russland,Japan und China statt. Dabei bietendie USA in einem Vier-Stufen-Planerstmals eine Sicherheitsgarantie an,falls Nordkorea ausländische Inspek-toren zulasse und seinen Plutonium-reaktor abschalte und das Atompro-gramm einfriere.

Bei einer weiteren Runde derSechsparteiengespräche einigen sich

die Teilnehmer am 13.2.07 darauf,dass Nordkorea sein Atomprogrammsukzessive beendet. Dafür erhält esÖllieferungen und die Wirtschafts-und Finanzsanktionen sollen aufgeho-ben werden.

Die japanische Regierung ver-schärft am 19.9.06 die Sanktionen ge-gen Nordkorea. Danach werden Gel-der für Nordkorea, die zur Finanzie-rung des Raketenprogramms benutztwerden könnten, gesperrt.

Am 13.10.06 verhängt die japa-nische Regierung weitere Sanktionengegen Nordkorea: es dürfen keinenordkoreanischen Schiffe mehr in ja-panische Häfen einlaufen und die Im-porte aus Nordkorea werden einge-schränkt.

Nach wochenlangen Demonstra-tionen der Opposition unterzeichnetder kirgisische Präsident Kurman-bek Bakijew am 9.11.06 eine neueVerfassung. Zentrale Neuerung istdie Machtreduzierung des Präsidentenzugunsten der Regierung und des Par-laments.

Im Prozess der Annäherung zwi-schen China und Indien werden am19.11.06 ein Grenzübergang geöffnetund ein Energieabkommen geschlos-sen.

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4.4. Südostasien und Ozeanien

Die ersten freien Gouverneurswahlenin der indonesischen Provinz Aceh,seit dem Ende des Guerillakrieges imAugust 2005 finden am 11.12.06 statt.Gewählt wird ein ehemaliger Kom-mandeur der Guerilla. Der Frieden-sprozess ist damit formell abgeschlos-sen.

In Thailand putscht ein „Rat fürVerwaltungsreformen“ der Armee un-ter Sonthi Boonyraratglin am 19.9.06gegen die Regierung von Premiermi-nister Thaksin Shinawatra. Die Jun-ta verhängt das Kriegsrecht, setzt dieVerfassung außer Kraft und löst dasParlament auf.

In Sri Lanka wird der seit 2002bestehende Waffenstillstand seit An-fang 2006 immer wieder gebrochen.

Am 11.5.06 liefern sich Einheitender Sea Tigers (Untergruppe der Li-beration Tigers of Tamil Eelam, LT-TE) ein Gefecht mit Einheiten der sri-lankischen Marine, bei dem etwa 30Beteiligte ums Leben kommen. Am17.6.06 führt die LTTE den schwers-ten Anschlag seit dem Abschluss desFriedensabkommens durch. Die Ar-mee antwortet mit Luftangriffen.

Am 27.11.06 erklärt der Führerder Befreiungstiger Velupillai Prabha-karan den Waffenstillstand für been-det. Die LTTE kämpfe nun wieder füreinen unabhängigen Staat.

Am 26.3.07 bombardieren die so-genannten Air Tigers der LTTE erst-mals einen Militärstützpunkt der Ar-

mee.

Auf den Salomonen treffen am19.4.06 235 australische und neu-seeländische Sicherheitskräfte in derHauptstadt Honiara ein. Sie sollendie andauernden Unruhen beenden.Die mehrtägigen Auseinandersetzun-gen waren nach der Wahl des neu-en Ministerpräsidenten Snyder Riniausgebrochen, dem Korruption undVetternwirtschaft vorgeworfen wer-den. Auch Polizei– und Armeeein-heiten liefern sich Gefechte währendder gewaltsamen Auseinandersetzun-gen. Nach fünf Tagen tritt Snyder Rinizurück.

Am 4.5.06 wird der frühere Mi-nisterpräsident Manasseh Sogavarezum neuen Premier gewählt, womitder Konflikt beendet ist.

Auf den Philippinen wird die To-desstrafe am 24.6.06 abgeschafft.

Nachdem in Osttimor im April2006 etwa 600 Soldaten, das sind na-hezu 40 Prozent der Armee, von Mi-nisterpräsident Mari Alkatiri entlas-sen worden sind, beginnen diese einenAufstand.

Nachdem Außenminister Ramos-Horta am 24.5.06 Australien, Neusee-land, Portugal und Malaysia um mi-litärische Unterstützung bittet, landenaustralische und neuseeländische Sol-daten auf der Insel.

Am 30.5.06 erklärt PräsidentXanana Gusmão einen 30-tägigenAusnahmezustand.

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ZEITTAFEL

Am 26.6.06 übernimmt Minister-präsident Mari Alkatiri die Verant-wortung für die Unruhen und tritt zu-rück. Der Machtkampf mit PräsidentGusmão ist beendet.

Am 1.11.06 schickt AustralienKriegsschiffe zu den Fidschiinseln.

Die Regierung von Premierminis-ter Laisenis Qarase wird am 5.12.06in einem unblutigen Putsch gestürzt.Der Führer des Putsches, ArmeechefForeqe Bainimarama, lässt die Polizeigrößtenteils entwaffnen und verhängtam folgenden Tag den Ausnahmezu-

stand. Am 4.1.07 übergibt Bainimara-ma die Macht wieder an den Präsiden-ten Ratu Josefa Lloilo zurück.

Am 17.11.06 appelliert die Re-gierung von Tonga an Australien Si-cherheitskräfte zur Stabilisierung deröffentlichen Ordnung des Landes zuentsenden. Vorangegangen waren Un-ruhen, Plünderungen und ein An-griff auf das Parlamentsgebäude. Am19.11.06 landen 150 Sicherheitskräf-te aus Australien und Neuseeland aufTonga.

5. Amerika

5.1. CAN, MERCOSUR, ALBA

Venezuela tritt am 22.4.06 aus der An-dengemeinschaft (CAN) aus. Begrün-det wird dies mit den bilateralen Frei-handelsabkommen Perus und Kolum-biens mit den USA.

Die Mitgliedsstaaten (Argentini-en, Brasilien, Paraguay, Uruguay)des Gemeinsamen Markt des Südens(MERCOSUR) nehmen am 5.7.06Venezuela als neues Mitglied auf. Zu-nächst hat Venezuela kein eigenesStimmrecht und die Statuten der Or-ganisation sollen nach und nach bis2014 von dem neuen Mitglied über-nommen werden.

Die zwischen Venezuela und Ku-ba 2005 begonnenen Kooperation derBolivarianischen Alternative für dieVölker unseres Amerikas (ALBA)tritt Bolivien am 29.4.06 bei.

Am 11.1.07 tritt Nicaragua demBündnis bei. Das Integrationsbündnissoll als Alternative zu der von denUSA angestrebten Gesamtamerikani-schen Freihandelszone ALCA entwi-ckelt werden.

Vom 11.–13.5.06 tagt in Wien dervierte EU-Lateinamerika-Gipfel. Ei-ner der Hauptgesprächspunkte sinddie Folgen der Verstaatlichung des Öl-und Gassektors in Bolivien und derenFolgen.

Vom 3.-5.11.06 findet das Tref-fen der Iberoamerikanischen Staatenin Montevideo, Uruguay statt. Spani-en, Portugal, Andorra und 19 latein-amerikanische Staaten thematisierendie Probleme von Migration und Ent-wicklung.

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5.2. USA

In den USA wird am 10.9.06 ein vomSenat in Auftrag gegebener Berichtveröffentlicht. Danach hatte das Re-gime von Saddam Hussein keine Ver-bindungen zu al-Qaida unterhalten.

Am 25.9.06 werden Teile des Na-tionalen Geheimdienstberichts (NIE)veröffentlicht. Darin wird unter ande-rem festgehalten, dass durch die In-tervention im Irak die Bedrohungendurch den internationalen Terrorismusgestiegen seien.

US-Präsident George W. Bushverlängert am 30.9.06 die Sanktionengegen Iran.

Am 17.10.06 unterzeichnet US-Präsident George W. Bush ein Gesetz,nachdem des Terrorismus verdächti-ge Personen vor Militärtribunale ge-stellt werden können. Bei deren Ver-nehmungen können Methoden ange-wandt werden, die bei ordentlichenProzessen nicht gestattet sind.

Bei den Kongresswahlen am7.11.06 in den USA gewinnt die De-mokratische Partei erstmals seit zwölfJahren wieder die Mehrheit im Se-nat und im Repräsentantenhaus. DasHauptwahlkampfthema ist der Kriegim Irak.

Die Baker-Hamilton-Kommissionlegt am 5.12.06 ihren Bericht vor. Die

Lage im Irak sei „ernst und sich ver-schlechternd“. In den 79 Empfehlun-gen für die US-Regierung wird eingrundlegender Strategiewechsel ge-fordert und unter anderem vorgeschla-gen, mit den Nachbarstaaten des IrakKontakte aufzunehmen und schritt-weise den Abzug der US-Truppen bisAnfang 2008 einzuleiten.

US-Präsident George W. Bushlegt am 11.1.07 seine „neue Strategie“für den Irak dar. Darin ist vorgesehen,die Truppen im Irak um 21.500 Mannauf dann 154.000 Soldaten zu verstär-ken. Sie sollen vor allem in Bagdad,wo etwa 80 Prozent der Anschlägestattfinden, und in der Provinz An-bar eingesetzt werden. Darüber hinauswerden einige politische und militä-rische Spitzenfunktionen neu besetzt.Die Demokratische Partei hat dagegenWiderstand angekündigt.

Am 21.2.07 lehnt das US-Reprä-sentantenhaus mit großer Mehrheit ei-ne Aufstockung der Truppen im Irakab.

Am 14.2.07 erlässt US-PräsidentGeorge W. Bush ein Dekret zur Bil-dung von besonderen Militärtribuna-len, vor denen auf Guantánamo Ge-fangene angeklagt werden sollen.

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5.3. Mittelamerika und Karibik

Bei den Präsidentschaftswahlen inMexiko am 2.7.06 erreicht FelipeCalderón, der Kandidat der konser-vativen Partei der Nationalen Akti-on (PAN), 35,9 Prozent. Manuel Ló-pez Obrador, der Kandidat der linkenPartei der demokratischen Revolution(PRD), kommt auf 35,3 Prozent. DerUnterlegene erkennt die Wahl nicht anund ruft zu Protesten auf. Nachdemin 149 von 300 Wahldistrikten nach-gezählt worden ist, weist die Obers-te Wahlbehörde am 5.9.06 endgültigdie Einsprüche gegen das Wahlergeb-nis ab. López Obrador lässt sich den-noch am 16.9.06 als „legitimer“ Prä-

sident ausrufen und am 21.11.06 alsGegenpräsident vereidigen.

Bei der Präsidentschaftswahl inNicaragua wird Daniel Ortega Save-dra, der Kandidat der SandinistischenBefreiungsfront (FSLN), am 5.11.06mit 38 Prozent der Stimmen zum neu-en Präsidenten gewählt. Ortega hattedas Amt bereits zwischen 1985 und1990 inne. Der zweitplazierte Eduar-do Montealegre von der LiberalenPartei erreicht 28 Prozent.

Auf den Niederländischen Antil-len wird Curaçao am 5.11.06 auto-nom.

5.4. Südamerika

Bei der Stichwahl zur Präsidentschaftin Ecuador am 26.11.06 siegt der linkeKandidat Rafael Correa mit 56,7 Pro-zent vor Alvaro Noboa, der 43,3 Pro-zent der Stimmen erhält. Correa willvor allem eine grundlegende Neuge-staltung der staatlichen Institutionenerreichen. Nach seinem Amtsantrittordnet er ohne Absprache mit demParlament ein Referendum über ei-ne verfassungsgebende Versammlungan.

Am 30.1.07 stürmen Anhängerdes neuen Präsidenten das Parla-mentsgebäude.

In Kolumbien siegt der Amtsinha-ber Àlvaro Uribe Vélez bei den Prä-sidentschaftswahlen vom 28.5.06 mit

62 Prozent. Der Kandidat des Links-bündnisses Polo Democrático Alter-nativo (PDA), Carlos Gaviria, kommtauf 22 Prozent der Stimmen. Der Kan-didat der Liberalen Partei erreicht 12Prozent, die Konservative Partei hattekeinen Kandidaten aufgestellt. Damitist das Jahrzehnte alte Machtmono-pol der Liberalen und Konservativengebrochen. Durch die Verfassungsän-derung von 2004 ist Uribe der erstewiedergewählte Präsident in der Ge-schichte des Landes.

Im Juni 2006 wird der Prozessder Entwaffnung von Paramilitärs derSelbstverteidigungskräfte (AUC) ab-geschlossen. Etwa 30.000 Kämpfergaben ihre Waffen ab.

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Am 5.9.06 erklärt sich die Gue-rilla der Revolutionären Streitkräf-te Kolumbiens (FARC) zu direk-ten Verhandlungen mit der Regie-rung für einen Gefangenenaustauschbereit. Prominenteste Gefangene derFARC ist die ehemalige Präsident-schaftskandidatin Ingrid Betancourt.Auch Präsident Uribe erklärt sich am3.10.06 bereit, mit der FARC übereinen Gefangenenaustausch zu ver-handeln. Dafür wolle die Regierungdie Forderung der Guerilla nach ei-ner entmilitarisierten Zone erfüllen.Nachdem die FARC am 19.10.06 inBogota einen Bombenanschlag verüb-te, setzt Präsident Uribe die Gesprä-che aus.

In Peru findet der erste Wahlgangzur Präsidentschaft am 9.4.06 statt.

Die Stichwahl vom 4.6.06 ge-winnt Alán García von der sozialde-mokratischen Apristischen Partei Pe-rus (PAP) mit 55 Prozent der Stimmengegen den linkspopulistischen Gegen-kandidat Ollanta Humala.

Am 15.10.06 werden AbimaelGuzmán, der Gründer und Führer desLeuchtenden Pfades, und seine Stell-vertreterin wegen Mordes und Terro-rismus zu lebenslanger Haft verurteilt.Da deren Verurteilung unter PräsidentFujimori als verfassungswidrig erklärtwurde, war ein neues Urteil notwen-dig.

Am 8.8.06 kündigt der venezo-lanische Präsident Hugo Chávez denAbbruch der diplomatischen Bezie-hungen zu Israel an. Er begründet dies

mit der „faschistischen Aggression imLibanon“.

Anlässlich seines Besuchs in Ve-nezuela unterzeichnet der iranischePräsident Mahmud Ahmadinedschadam 18.9.06 mehrere Abkommen übereine verbesserte bilaterale Zusam-menarbeit. Die „strategische Allianz“beider Staaten soll die Grundlage füreine „Union des Südens“ bilden.

In Bolivien erlässt Präsident EvoMorales am 1.5.06 das Dekret „Hel-den des Chaco“, ein Gesetz zur Ver-staatlichung der Öl– und Gasindus-trie. Am folgenden Tag werden dieEinrichtungen durch das Militär be-setzt. Die Unternehmen werden ge-zwungen, neue Verträge mit der Re-gierung auszuhandeln.

Nach den Verstaatlichungen setztPräsident Morales am 5.6.06 die an-gekündigte Landreform in Gang. Zu-nächst werden 2,5 Millionen HektarLand an Indios und Bauern verteilt.In den kommenden fünf Jahren sol-len weitere 20 Millionen Hektar unge-nutztes Privat– und Staatsland im Zu-ge der „Landnationalisierung“ umver-teilt werden.

Ende Mai 2006 beschließen Bo-livien und Venezuela einen militäri-schen Beistandspakt.

Argentinien reicht am 5.5.06 Kla-ge gegen Uruguay beim Internationa-len Gerichtshof in Den Haag ein. Ar-gentinien will den Bau zweier Papier-fabriken am Rio de la Plata am gegen-überliegenden Ufer von Buenos Airesverhindern.

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Am 20.7.06 stimmt der argenti-nische Kongress einem Regierungs-antrag zu, mit dem Präsident NestorKirchner Anfang August 2006 soge-nannte Supervollmachten erhält, mitdenen er den Staatshaushalt ohne par-lamentarische Zustimmung festlegenbeziehungsweise ändern kann.

In der brasilianischen Stadt SãoPaulo beginnt das „Erste Hauptstadt-

kommando“ (PCC), ein Gangstersyn-dikat, am 12.5.06 mit einer mehrtä-gigen Serie von Anschlägen, Überfäl-len und Aufständen in 80 Haftanstal-ten des Bundesstaats São Paulo. Über100 Tote sind die Folge. Anlass wardie geplante Verlegung des inhaftier-ten Chefs des PCC in ein Hochsicher-heitsgefängnis.

6. Internationale Organisationen

6.1. Vereinte Nationen

Der UN-Sicherheitsrat verabschiedetam 25.4.06 die Resolution 1671, inder die EU ermächtigt wird, eineTruppe in den Kongo zu entsenden.Der Einsatz soll auf vier Monate be-grenzt sein.

Am 28.4.06 stimmt der Haus-haltsausschuss der UNO gegen dieVorschläge des Generalsekretärs KofiAnnan vom Dezember 2004 für eineVerwaltungsreform, die diesem mehrKompetenzen in Finanz- und Perso-nalfragen zuweisen würde. Nament-lich Entwicklungsländer wollen kei-ne Stärkung des Sekretariats zu Las-ten der Vollversammlung.

Montenegro wird am 28.6.06 als192. Mitglied in die Vereinten Natio-nen aufgenommen.

Der Sicherheitsrat verabschiedetam 15.7.06 die Resolution 1695,in der die nordkoreanischen Rake-tentests verurteilt werden. Sanktions-drohungen sind darin nicht enthalten.

Die Vetomächte des Sicherheits-rats und Deutschland, die 5+1, fordernIran am 31.7.06 (Resolution 1696)auf, die Urananreicherung bis zum 31.August 2006 auszusetzen.

Die Resolution 1701 vom 11.8.06fordert die Konfliktparteien im Liba-non zu einem Ende der Gewalt unddie israelischen Streitkräfte zum Ab-zug auf.

Am 31.8.06 beschließt der Sicher-heitsrat mit der Resolution 1706 dieEntsendung von bis zu 20.000 Blau-helmsoldaten in die westsudanesischeRegion Darfur. Die sudanesische Re-gierung lässt die UN-Truppen jedochnicht ins Land.

Im Februar 2007 blockiert Chi-na im Sicherheitsrat Sanktionen gegenden Sudan.

Der Schwede Jan Eliasson, derPräsident der Generalversammlung,legt am 6.9.06 ein Konzept für eineAnti-Terror-Strategie vor. Danach sol-

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len in einer „Kultur des Friedens“ dieRechtsstaatlichkeit und der interkultu-relle Dialog gefördert werden.

Am 13.10.06 wird der Südkorea-ner Ban Kii-Moon zum Nachfolgerdes seit zehn Jahren amtierenden Ge-neralsekretärs Kofi Annan gewählt.

Der Sicherheitsrat verhängt mitder Resolution 1718 am 14.10.06Sanktionen gegen Nordkorea als Re-aktion auf den Raketentest vom9. Oktober 2006. Die Sanktionen be-ziehen sich auf Auslandskonten, Rüs-tungsgüter sowie Reisebeschränkun-gen gegen nordkoreanische Funktio-näre.

Der Kompromisskandidat Pana-ma wird am 7.11.06 für zwei Jahre inden Sicherheitsrat gewählt. Vorange-gangen waren 47 Wahlgänge, in de-nen weder Venezuela noch Guatema-la die notwendige Zweidrittelmehr-heit für den Sitz erreichen konnte.

Am 23.12.06 verhängt der Si-cherheitsrat mit der Resolution 1737Sanktionen gegen Iran.

Ban Kii-Moon tritt am 1.1.07 seinAmt als Generalsekretär an.

Der UN-Sicherheitsrat verschärftam 24.3.07 die Sanktionen gegen Iran.

6.2. NATO

Auf einem Treffen der Außenminis-ter der NATO-Staaten in der bulga-rischen Hauptstadt Sofia vom 27.–28.4.06 wird die Aufnahme neuerMitgliedsstaaten, namentlich Maze-doniens, Kroatiens und Albaniens, be-sprochen. Bulgarien und die USA ei-nigen sich auf die Stationierung von2.500 US-Soldaten auf vier Stütz-punkten im Land.

Wegen der zunehmenden Angrif-fe durch Einheiten der Taliban erklärtdie NATO am 5.6.06, die Truppenstär-ke im Süden Afghanistans auf 6.000Soldaten verdoppeln zu wollen.

Die von der NATO geführte in-ternationale Schutztruppe ISAF über-nimmt am 31.7.06 das Kommando imSüden Afghanistans von den USA.

Auf einer Tagung in Sloweni-en fordert der NATO-Generalsekretär

Jaap de Hoop Scheffer am 29.9.06mehr Flexibilität und mehr Operati-onsfreiheit für die ISAF-Truppen inAfghanistan.

Auf dem Gipfeltreffen der 26 Mit-gliedsstaaten der NATO in der let-tischen Hauptstadt Riga vom 28.–29.11.06 steht der Einsatz in Afgha-nistan im Mittelpunkt der Gespräche.Für das Land soll eine Kontaktgrup-pe mit internationalen Organisationenwie der EU und der UNO gebildetwerden.

Die Teilnehmer stellen die Ein-satzbereitschaft der 25.000 Mann star-ken schnellen Eingreiftruppe (NRF)fest. Schließlich wird den StaatenBosnien-Herzegowina, Monteneground Serbien die Partizipation in demProgramm „Partnerschaft für denFrieden“ in Aussicht gestellt.

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ZEITTAFEL

6.3. APEC, G-8-Staaten, Bewegung der Blockfreien

Die Gipfelkonferenz der 21 Mitglieds-staaten der Asiatisch-PazifischenWirtschaftskooperation (APEC) fin-det vom 17.–19.11.06 in Hanoi statt.Die Hauptgesprächsthemen sind dieWelthandelsbeziehungen, bei denenmultilaterale Beziehungen gestärktwerden sollen. Ein weiterer Aspekt istdie Wiederbelebung der Doha-Rundeder Welthandelsgespräche. Das Zieleiner Freihandelszone der APEC bis2010 wird abgeschwächt.

Das Gipfeltreffen der Mitglie-der der G-8-Gruppe findet vom 15.–

17.7.06 in St. Petersburg statt. Haupt-gesprächspunkte sind die Lage im Na-hen Osten, der internationale Terro-rismus sowie die Weltenergieversor-gung.

Die Bewegung der Blockfreienaus 118 Staaten führt vom 15.–17.9.06 eine Gipfelkonferenz in Ha-vanna durch. In der Abschlusserklä-rung wird die Hegemonialpolitik derUSA und deren Verbündeter kritisiert.Die iranische Regierung erfährt So-lidarität für ihr Atomprogramm. Denneuen Vorsitz übernimmt Kuba.

7. Transnationaler TerrorismusDer Jahresbericht des US-Außenmi-nisteriums vom 28.4.06 über denweltweiten Terrorismus im Jahre 2005berichtet von 11.000 (2004: 651) An-schlägen. Dabei seien 14.600 Men-schen getötet und 24.700 verletzt wor-den. Nahezu ein Drittel der Anschlägeentfiel auf den Irak.

Zacharias Massaoui wird am4.5.06 in den USA zu lebenslangerHaft ohne die Möglichkeit zu vorzei-tiger Entlassung verurteilt. Der An-geklagte saß zwar am 11. September2001 schon im Gefängnis, aber durchsein Mitwissen an den geplanten An-schlägen sei er mitschuldig. Die An-schläge hätten sonst verhindert wer-den können.

Am 11.5.06 legt die Untersu-chungskommission des Innenministe-

riums in Großbritannien ihren Berichtüber die Anschläge in London vom7. Juli 2005 vor. Darin wird unter an-derem festgestellt, dass die Attentäterkeine Verbindung zu al-Qaida gehabthaben.

Am 15.5.06 streicht das US-Außenministerium Libyen von der„Liste der Staaten, die den Terro-rismus unterstützen“. Es sollen wie-der diplomatische Beziehungen auf-genommen werden.

Am 30.5.06 wird die srilankischeOrganisation LTTE von der Europäi-schen Union zur terroristischen Verei-nigung erklärt.

Am 7.6.06 wirft der Sonderer-mittler des Europarats, Dick Marty,14 europäischen Regierungen vor, beider Entführung von Terrorverdächti-

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gen den US-Geheimdienst CIA unter-stützt beziehungsweise dessen Maß-nahmen geduldet zu haben.

Am 9.6.06 wird Belgacem Nawarin Tunesien zu 20 Jahren Haft verur-teilt, weil er seinen Neffen Moham-med Nawar, der im April 2002 einAttentat auf eine Synagoge in Djerbaverübt hatte, dabei unterstützt habensoll.

Am 11.6.06 töten sich zwei gefan-gene Saudi-Araber und ein Jemenit imLager Guantánamo auf Kuba.

Am 29.6.06 erklärt der ObersteGerichtshof der USA die Militärtribu-nale im Lager Guantánamo für rechts-widrig, denn Verdächtige müssten un-ter Einhaltung der Genfer Konventio-nen vor ordentlichen Gerichten ange-klagt werden.

In einem der größten Antiterror-einsätze in Großbritannien werden am10.8.06 23 Personen verhaftet. Durchdie Verhaftungen konnten geplanteAnschläge auf Flugzeuge verhindertwerden, die über dem Meer gesprengtwerden sollten.

Am 31.7.06 werden zwei Bombenin zwei Zügen in Deutschland gefun-den. Die beiden Täter werden am 19.beziehungsweise am 24.8.06 verhaf-tet.

US-Präsident George W. Bush be-stätigt am 6.9.06 erstmals die Exis-tenz von geheimen Gefängnissen derCIA außerhalb der USA. Staaten wer-den nicht genannt. Die CIA bestätigtderen Existenz offiziell am folgendenTag.

In dem Nationalen Geheimdienst-bericht vom 24.9.06, der die Er-kenntnisse der 16 US-amerikanischenAufklärungs- und Nachrichtendiens-te beinhaltet, wird festgestellt, dassdie US-Intervention im Irak die An-schlagsgefahr weltweit nicht verrin-gert hat. Al-Qaida sei nach dem11. September 2001 zwar geschwächtworden, aber die Dezentralisierungdes transnationalen Terrorismus seivorangeschritten.

Der britische Auslandsgeheim-dienst MI 5 gibt in einem Berichtvom 10.11.06 an, seit dem Anschlagauf die Londoner U-Bahn vom 7. Juli2005 fünf größere Anschläge vereiteltzu haben.

Am 15.11.06 beschließen die in-dische und die pakistanische Regie-rung die Bildung eines gemeinsa-men paritätisch besetzten Anti-Terror-Ausschusses. Der Ausschuss soll vorallem Nachrichten austauschen undMaßnahmen koordinieren.

Im Revisionsverfahren gegenMounir Al Motassadeq verurteilt derBundesgerichtshof am 16.11.06 denAngeklagten wegen „Beihilfe zumvielfachen Mord und Mitgliedschaftin einer terroristischen Vereinigung“.Das Urteil verschärft das eines Ham-burger Oberlandesgerichts. Das Straf-maß muss nun ein anderes Oberlan-desgericht feststellen.

Am 29.11.06 erklärt ein US-Bundesgericht die Liste terroristischerOrganisationen, die US-Präsident Ge-

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orge W. Bush im September 2001 er-lassen hat, für verfassungswidrig.

Der deutsche Bundestag billigtam 1.12.06 die Anti-Terror-Datei.

Mounir Al Motassadeq wird am8.1.07 von einem Hamburger Ober-landesgericht zu 15 Jahren Haft ver-urteilt.

Am 11.1.07 tritt in Deutschlandein erweitertes Anti-Terrorgesetz inKraft. Die nach dem 11. September2001 erlassenen Bestimmungen wer-den darin um fünf Jahre verlängertund um zusätzliche Kompetenzen derGeheimdienste ergänzt.

Am 31.1.07 stellt das Amtsge-richt München Haftbefehle gegen 13verdächtige CIA-Mitglieder aus, dieim Januar 2004 an der Entführungvon Khaled el Masri beteiligt gewesensein sollen.

Chalid Scheich Mohammed ge-steht am 15.3.07 die Anschläge vom11. September 2001 geplant zu haben.

Der Australier David Hicks wirdals erster Angeklagter von einem US-Sondertribunal am 1.4.07 zu siebenJahren Haft verurteilt, von denen ernoch neun Monate in seinem Heimat-land verbüßen muss.

8. Internationale Strafgerichtshöfe,Kriegsverbrecherprozesse

Thomas Lubanga, ein ehemaliger Re-bellenführer im Kongo, wird am19.3.06 vor dem Internationalen Straf-gerichtshof der UNO in Den Haagangehört. Er ist der erste Ange-klagte des 2002 etablierten Gerichts.Ihm werden Kriegsverbrechen und dieZwangsrekrutierung von Kindern vor-geworfen. Am 29.1.07 beginnt dasVerfahren.

In Kambodscha stimmt KönigNorodom Sihamoni am 4.5.06 derEinsetzung eines Tribunals zur Ankla-ge der verbliebenen Führer der RotenKhmer zu. Das Tribunal soll im Jahre2007 seine Arbeit aufnehmen.

Am 19.5.06 fordert das UN-Komitee gegen Folter die USA auf,alle Geheimgefängnisse, insbesonde-

re das Lager in Guantánamo auf Ku-ba, zu schließen.

Am 31.5.06 wird im Abschluss-bericht des Internationalen Strafge-richtshofs für das ehemalige Jugosla-wien bestätigt, dass Slobodan Miloše-vic an Herzversagen gestorben ist.

Der Serbe Dragan Zelenovic, demKriegsverbrechen im ehemaligen Ju-goslawien vorgeworfen werden, wirdam 11.6.06 nach Den Haag überstellt.

Am 14.6.06 legt Moreno Ocam-po, der Chefankläger des Internatio-nalen Strafgerichtshofs, einen Berichtüber die Lage in der westsudanesi-schen Provinz Darfur vor. In dem Be-richt sind Aussagen über TausendeGewaltverbrechen dokumentiert.

Charles Taylor, der ehemalige

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Diktator Liberias, wird am 20.6.06von Sierra Leone an den Internatio-nalen Strafgerichtshof in Den Haagüberstellt. Ihm werden Kriegsver-brechen und Verbrechen gegen dieMenschlichkeit vorgeworfen.

Am 20.6.06 wird in Argentini-en erstmals seit der Aufhebung derAmnestie für Verbrechen während derDiktatur ein ranghoher Polizist ange-klagt. Am 6.8.06 wird Julio Simonwegen Entführung und Folter zu 25Jahren Haft verurteilt.

Am 30.6.06 verurteilte das HaagerTribunal den Befehlshaber der bosnia-kischen Truppen in Srebrenica, NaserOric, zu zwei Jahren Gefängnis. Erhatte Mord und Folter von serbischenKämpfern durch seine Truppen nichtverhindert.

Momcilo Krajišnik, der ehemali-ge Präsident des Parlaments der bos-nischen Serben, wird am 27.9.06 vomHaager UN–Tribunal für das ehema-lige Jugoslawien zu 27 Jahren Haftverurteilt. Ihm werden Verbrechen ge-gen die Menschlichkeit zu Beginn desBosnienkriegs vorgeworfen.

Am 26.2.07 stuft der Interna-tionale Gerichtshof im Fall Bosni-en und Herzegowina gegen Serbien-Montenegro die Verbrechen in Srebre-nica als Völkermord ein, sieht aberkeine direkte Verantwortung Serbiens.

Die Staatsanwaltschaft in Argen-tinien beantragt am 26.10.06 einen In-ternationalen Haftbefehl gegen achtiranische Spitzenpolitiker, darunterden ehemaligen Präsidenten Hashemi

Rafsandschani. Ihnen wird vorgewor-fen, im Jahre 1994 die Sprengung desjüdischen Zentrums in Buenos Airesveranlasst zu haben.

Juan María Bordaberry, der von1972 bis 1976 Präsident in Uruguaywar, stellt sich am 18.11.06 den Be-hörden in Montevideo, nachdem zweiTage zuvor ein Haftbefehl gegen ihnausgestellt wurde. Ihm werden Men-schenrechtsverletzungen und die Er-mordung von Oppositionellen vorge-worfen.

Im Berufungsverfahren des UN-Kriegsverbrechertribunals für dasehemalige Jugoslawien in Den Haagwird der bosnische Serben BlagojeSimic am 28.11.06 zu 15 Jahren Ge-fängnis verurteilt. Damit wird seineStrafe um zwei Jahre reduziert.

Am 8.1.07 beginnt vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal für Ruandaim tansanischen Arusha der Prozessgegen Tharcisse Renzaho. Als Präfektder Hauptstadt Kigali soll er beim Ge-nozid von 1994 Mitorganisator vonMassenmorden gewesen sein.

Am 27.02.07 erhebt der IStGHAnklage gegen Ahmed Haroun, densudanesischen Minister für humani-täre Fragen, sowie gegen Ali Abd al-Rahman, einen Führer der Janjaweed-Milizen. Ihnen werden Kriegsver-brechen und Verbrechen gegen dieMenschlichkeit vorgeworfen. SudansRegierung weist die Anklagen zurückund hatte schon vorher eine Ausliefe-rung ausgeschlossen.

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9. Weltwirtschaft, Ökologie,Entwicklungspolitik

Am 1.4.06 treten in Venezuela neueBedingungen für die Ölförderungdurch ausländische Firmen in Kraft.Nach einem Gesetz von 2001 mussder venezolanische Staat mindestens60 Prozent des Kapitals besitzen. DieSteuern auf die Gewinne werden von34 auf 50 Prozent und der Zins für dieFörderung von 16,5 auf 33,3 Prozenterhöht.

Die neun Mitgliedsstaaten desSüdsosteuropäischen Kooperations-prozesses (SOEKP) von Serbien-Montenegro, Kroatien, Bosnien-Her-zegowina, der Türkei, Griechenland,Bulgarien, Albanien, Mazedonien undRumänien beschließen am 3.5.06, ei-ne Freihandelszone für die Region zubilden.

Die russische Regierung kündigtam 9.6.06 an, EntwicklungsländernSchulden von insgesamt 700 Mio.USD zu erlassen.

Am 18.6.06 veröffentlicht die bo-livianische Regierung einen Entwick-lungsplan, nach dem bis 2010 über 12Mrd. USD in Sozial- und Infrastruk-turprojekte investiert werden sollen.

Am 1.7.06 wird der russischeRubel zu einer frei konvertierbarenWährung. Liberalisiert werden auchBeschränkungen des Kapitalverkehrs.Daneben tilgt Russland vorzeitig Aus-landsschulden über 22,3 Mrd. USD.Darunter sind auch die gesamten

Schulden bei Deutschland in Höhevon 8,4 Mrd. Euro.

Am 2.7.06 scheitern die Verhand-lungen bei der Welthandelsorganisa-tion in der sogenannten Doha-Rundezum dritten Mal. Der Umfang der Re-duzierung von Zöllen und Subventio-nen bleibt weiter offen.

Am 27.8.06 zwingt die Regierungdes Tschad die Ölkonzerne Chevron-Texaco und Petronas binnen 24 Stun-den das Land zu verlassen. Ein zentra-les Entwicklungsprojekt der Weltbankim Tschad ist die Mitfinanzierung ei-ner Pipeline nach Kamerun für denExport des tschadischen Öls. Von denErträgen des Staates sollten zehn Pro-zent für zukünftige Projekte angelegtund 80 Prozent für soziale Zwecke in-vestiert werden. Präsident Idriss Dé-by bricht jedoch den Vertrag mit derWeltbank, indem er bereits die erstenGelder aus dem Ölexport für Waffen-käufe nutzt.

Auf der Jahrestagung des Inter-nationalen Währungsfonds und derWeltbank in Singapur vom 17.–20.9.06 werden die Stimmengewich-te von China, Mexiko, der Türkei undSüdkorea erhöht.

Am 30.10.06 legt der britischePremierminister Tony Blair in Londoneine Studie (Stern-Bericht) über diemöglichen ökonomischen Folgen desKlimawandels vor.

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In der kenianischen HauptstadtNairobi findet vom 6.–17.11.06 ei-ne Tagung der 189 Mitgliedsstaatendes Kyoto-Protokolls (Weltklimakon-ferenz) statt. Die Konferenz soll einneues Klimaschutzabkommen vorbe-reiten, da das Kyoto-Protokoll 2012ausläuft.

China und Pakistan unterzeichnenam 24.11.06 in Islamabad 18 Verträ-ge, darunter ein Freihandelsabkom-men. Der bilaterale Handel soll bin-nen fünf Jahren zollfrei sein und dasHandelsvolumen soll von vier auf et-wa 15 Mrd. USD ansteigen.

In Bukarest unterzeichnen am18.12.06 Rumänien, Albanien, Bulga-rien, Bosnien-Herzegowina, Mazedo-nien, Moldawien, Kroatien, Serbien,Montenegro und das durch die UN-MIK vertretene Kosovo ein Zentral-europäisches Freihandelsabkommen(CEFTA). Die entstehende Freihan-delszone soll die bestehenden bila-teralen Freihandelsabkommen erset-zen und die Aufnahme beitrittswilli-ger Staaten in die EU erleichtern.

Am 19.1.07 unterzeichnen dieUSA und Russland eine Vereinba-rung, nach der die Vereinigten Staatendie russischen Bemühungen um eineAufnahme in die WTO unterstützen.

Vom 20.-25.1.07 findet das sieb-te Weltsozialforum, der Gegengipfelder Globalisierungsgegner, in der ke-nianischen Hauptstadt Nairobi statt.

Das diesjährige Weltwirtschafts-forum findet vom 24.1.–29.1.07 inDavos statt. Ein Schwerpunkt derDiskussionen sind die Verschiebungder weltwirtschaftlichen Gewichte,namentlich der Aufstieg der BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indienund China) sowie der Klimawandel,der Krieg im Irak und die globaleEnergiesicherheit.

Am 1.2.07 wird der vierte UN-Klimabericht veröffentlicht. Darinwird betont, dass die zunehmende Er-wärmung der Erde maßgeblich durchdie Verbrennung fossiler Energieträ-ger verursacht ist.

Die USA und Südkorea schließenam 2.2.07 ein Freihandelsabkommen.

10. Rüstung und Abrüstung

Am 27.4.06 vereinbaren Russland undChina, gemeinsame Militärübungenmit den Staaten der Shanghaier Or-ganisation zur Zusammenarbeit (Kir-gistan, Usbekistan, Kasachstan, Ta-dschikistan) abzuhalten. Die Maßnah-men seien nicht gegen andere Staatengerichtet, sondern gegen Terrorismus,

Extremismus, Separatismus sowie dieorganisierte Kriminalität.

Die USA verhängen am 16.5.06ein Waffenembargo gegen Venezue-la. Begründet wird dies mit dessenZusammenarbeit mit Staaten wie Iranund Kuba, die den „internationalenTerrorismus“ unterstützen.

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Am 22.5.06 veröffentlichen US-Medien Pläne der US-Regierung fürein neues Raketenabwehrsystem inPolen und Tschechien, das im Jahre2011 einsatzbereit sein soll.

Die USA und Vietnam schließenam 6.6.06 ein Abkommen zur Militär-kooperation.

In dem neuen Jahrbuch des Stock-holmer Friedensforschungsinstituts(SIPRI) vom 12.06.06 wird ein An-stieg der weltweiten Rüstungsaus-gaben um 33 Prozent auf 950 Mrd.USD für 2005 angegeben. Auf dieUSA entfallen demnach 48 Prozentder Ausgaben. Die größten Rüstungs-exporteure sind weiter die USA undRussland mit einem jeweiligen Anteilvon 30 Prozent.

Vom 27.6.–9.7.06 tagt die UNO-Überprüfungskonferenz zum Akti-onsprogramm zur verschärften Kon-trolle des Handels mit Kleinwaffen.Eine Einigung wird nicht erzielt.

Bei einem nordkoreanischen Ra-ketentest stürzen am 5.7.06 sechsRaketen ins Meer. Die japanischeRegierung ruft daraufhin den UN-Sicherheitsrat an.

Die indische Armee testet am9.7.06 eine atomwaffenfähige Mittel-streckenrakete vom Typ Agni-III.

Am 12.7.06 beantragt das US-Verteidigungsministerium 127 Mio.USD beim US-Kongress, um einekonventionell bestückte Rakete zuentwickeln, die binnen einer Stundejeden Ort der Erde erreichen kann.

Angesichts der nordkoreanischen

Tests kündigt die japanische Regie-rung am 20.7.06 die Stationierungvon US-amerikanischen Einrichtun-gen zur Raketenabwehr an.

Am 22.7.06 vereinbaren Venezue-la und Russland die Lieferung vonRüstungsgütern in Höhe von drei Mil-liarden Dollar.

Am 28.7.06 stimmt das US-Re-präsentantenhaus dem Atomvertragmit Indien zu.

Die Regierungen Usbekistans,Kasachstans, Turkmenistans, Ta-dschikistans und Kirgistans unter-zeichnen am 8.9.06 ein Abkommen,das die Region zur atomwaffenfreienZone erklärt. Davon unberührt bleibtdie zivile Nutzung der Kernkraft.

Aus dem Rüstungsexportberichtder Bundesregierung vom 27.9.06geht hervor, dass im Jahre 2005 Rüs-tungsgüter für 4,2 Mrd. Euro (400Mio. Euro mehr als im Jahr davor)exportiert worden sind. Davon gin-gen 61 Prozent in EU– oder NATO–Staaten. Der Anteil der Rüstungsex-porte beträgt 0,26 Prozent an dendeutschen Gesamtexporten.

In seiner Regierungserklärungvom 29.9.06 erklärt der neue japa-nische Ministerpräsident Shinzo Abe,den Pazifismus aus der Verfassungstreichen zu wollen.

Der japanische MinisterpräsidentAbe erklärt am 10.10.06 als Reaktionauf die nordkoreanischen Atomwaf-fentests vom Vortag, die geplante Ra-ketenabwehr weiter ausbauen zu wol-len.

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HARDI SCHINDLER

Vom 7.–17.11.06 findet in Genfeine Konferenz zur Prüfung des„Übereinkommens über das Verbotoder die Beschränkung des Einsat-zes bestimmter konventioneller Waf-fen, die übermäßige Leiden verur-sachen oder unterschiedslos wirkenkönnen“ statt. Die Teilnehmer könnensich nicht auf ein Verbot von Streu-bomben einigen.

Am 30.11.06 wird die japanische

Agentur für Verteidigung in ein Ver-teidigungsministerium mit Kabinetts-rang umbenannt und aufgewertet. Diejapanische Regierung gibt am 9.1.07die Bildung des Verteidigungsminis-teriums bekannt.

Am 12.1.07 testet die chine-sische Armee erstmals eine Anti-Satelliten-Rakete. Damit ist Chinabefähigt, mögliche Spionagesatellitenabzuschießen.

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Anhang

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Abkürzungsverzeichnis

AA Auswärtiges AmtABM-Vertrag Anti Ballistic Missiles Treaty, Vertrag zur Begrenzung von

RaketenabwehrsystemenAEI American Enterprise Institute for Public Policy Research,

US-amerikanisches ForschungsinstitutALBA Alternativa Bolivariana para los pueblos de Nuestra Améri-

ca, Bolivarianische Alternative für die Völker unseres Ame-rika

ALCA Área de Libre Comercio de las Américas, Gesamtamerika-nische Freihandelszone (engl. FTAA)

AMIS African Union Mission in Sudan, Mission der AfrikanischenUnion im Sudan

AMISOM Afridan Union Mission in Somalia, Mission der Afrikani-schen Union in Somalia

AMP Alliance pour la majorité présidentielle, Allianz der präsi-dentschaftlichen Mehrheit

APEC Asia Pacific Economic Cooperation, Asiatisch-pazifischewirtschaftliche Zusammenarbeit

ARF ASEAN Regional Forum, Regionalforum der ASEANASC ASEAN Security Community, Sicherheitsgemeinschaft der

ASEANASEAN Association of South-East Asian Nations, Vereinigung Süd-

ostasiatischer StaatenASEM Asia-Europe Meeting, Asien-Europa-TreffenAU African Union, Afrikanische UnionAUC Autodefensas Unidas de Colombia, Vereinigte Bürgerweh-

ren KolumbiensBIP BruttoinlandsproduktBMI Bundesministerium des InnerenBMVg Bundesministerium für VerteidigungBMZ Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit

und Entwicklung

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ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

CAN Communidad Andina de Naciones, Gemeinschaft der An-denstaaten

CCIC Consultative Council of Islamic Courts, Rat der islamischenGerichte

CEFTA Central European Free Trade Agreement, Mitteleuropäi-sches Freihandelsabkommen

CIA Central Intelligence Agency, US-GeheimdienstCNOOC China National Offshore Oil CorporationCO2 KohlendioxidCPN-UML Communist Party of Nepal - Unified Marxist-Leninist,

Maoistisch-kommunistische Partei NepalsCSSD Ceská strana sociálne demokratická, Tschechische Sozial-

demokratische ParteiDAC Development Assistance Committee, OECD-Entwicklungs-

hilfekomiteeDFLP Democratic Front for the Liberation of Palestine, Demokra-

tische Front zur Befreiung PalästinasDIW Deutsche Institut für WirtschaftsforschungDPA Dafur Peace Agreement, Darfur FriedensabkommenDRK Demokratische Republik KongoEAC East Asian Community, Ostasiatische GemeinschaftEAS East Asian Summit, OstasiengipfelEEBC Eritrea-Ethiopia Boundary Commission, Eritrea-Äthiopien

GrenzkommissionEITI Extractive Industries Transparency Initiative, Initiative für

eine transparente RohstoffindustrieETA Euskadi Ta Askatasuna, Baskenland und FreiheitEUFOR European Union Force, Streitkräfte der Europäischen UnionEZ EntwicklungszusammenarbeitFARC Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia, Revolutio-

näre Streitkräfte KolumbiensFARDC Forces armées de la République démocratique du Congo,

Streitkräfte der demokratischen Republik KongoFatah Harakat al-Tahrir al-Watani al-Filastini, Palästinensische

BefreiungsbewegungFDLR Forces démocratiques de libération du Rwanda, Demokrati-

sche Kräfte zur Befreiung RuandasFNL Forces Nationales de Libération, Nationale Kräfte für die

Befreiung

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ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

FSLN Frente Sandinista de Liberación Nacional, SandinistischeBefreiungsfront

FUC Front uni pour le changement, Vereinigte Front für den de-mokratischen Wandel

GTZ Gesellschaft für Technische ZusammenarbeitHamas Harakat al-muqawama al-islamiyya, Islamische Wider-

standsbewegungHDR Human Development Report, Bericht über menschliche Ent-

wicklung des UNDPIAEO Internationale Atomenergieorganisation, International Ato-

mic Energy Agency (IAEA)IGAD Intergovernmental Authority on Development, Zwischen-

staatlicher Rat für EntwicklungINF-Vertrag Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty, Vertrag über nu-

kleare MittelstreckenwaffenIPCC Intergovernmental Panel on Climate Change, Zwischen-

staatlicher Ausschuss über KlimaveränderungenIRA Irish Republican Army, Irisch-Republikanische ArmeeISAF International Security Assistance Force, Internationale Si-

cherheitsstreitkräfte in AfghanistanIStGH Internationaler StrafgerichtshofJEM Justice and Equality Movement, Bewegung für Gerechtig-

keit und FreiheitKDP Kurdische Demokratische Partei, Partiya Demokrat a Kurdi-

stanê (PDK)KFOR Kosovo Force, Kosovostreitkräfte der NATOKP Kommunistische ParteiKGB Komitet Gosudarstvennoy Bezopasnosti, Sowjetischer Ge-

heimdienstKSE Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in EuropaKSK Kommando Spezialkräfte der BundeswehrLRA Lord’s Resistance Army, Widerstandsarmee des HerrnLS-HZDS L’udová strana - Hnutie za demokratické Slovensko, Bewe-

gung für eine demokratische SlowakeiLTTE Liberation Tigers of Tamil Eelam, bewaffnete separatisti-

sche tamilische OrganisationMERCOSUR Mercado Común del Sur, Gemeinsamer Markt des SüdensMIBA Société minière de Bakwanga, Bergbaugesellschaft

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ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

MIGA Multilateral Investment Guarantee Agency, MultilateraleGarantie-Agentur für Investitionen

MLC Mouvement de Libération Congolais, Befreiungsbewegungdes Kongo

MONUC Mission de l‘Organisation des Nations Unies en RépubliqueDémocratique du Congo, Mission der Vereinten Nationen inder Demokratischen Republik Kongo

MOOTW Military Operations other than War, nichtkriegerische mili-tärische Operationen

NATO North Atlantic Treaty Organisation, Nordatlantische AllianzNCP National Congress PartyNGO Non-Governmental Organisation, Nichtregierungsorganisa-

tionNIE National Intelligence Estimate, Nationaler Geheimdienstbe-

richtNPT Nuclear Non-Proliferation Treaty, AtomwaffensperrvertragNRF NATO Response Force, NATO-EingreiftruppeNRF National Redemption Front, Nationale ErlösungsfrontNS NationalsozialismusNVV Nuklearer Nichtverbreitungsvertrag, Atomwaffensperrver-

trag (auch NPT)ODS Obcanská demokratická strana, Demokratische BürgerparteiOECD Organisation for Economic Cooperation and Development,

Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung

OSZE Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in EuropaOVCW Organisation für das Verbot chemischer WaffenPAN Partido Acción Nacional, Partei der Nationalen AktionPAP Partido Aprista Peruano, Apristische Partei PerusPCC Primeiro Comando da Capital, Erstes Kommando der

HauptstadtPDA Polo Democrático Alternativo, Pol der demokratischen Al-

ternativePFLP Popular Front for the Liberation of Palestine, Volksfront zur

Befreiung PalästinasPKK Partiya Karkerên Kurdistan, Kurdische ArbeiterparteiPLF Palestine Liberation Front, Palästinensische BefreiungsfrontPLO Palestine Liberation Organization, Palästinensische Befrei-

ungsorganisation

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ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

PNC Palestinian National Council, Palästinensischer NationalratPRC Popular Resistance Committee, VolkswiderstandskomiteePRD Partido de la Revolución Democrática, Partei der demokra-

tische RevolutionPRT Provincial Reconstruction Team, Regionales Wiederaufbau-

teamPUK Patriotische Union Kurdistan, Yaketi Nistimanî Kurdistân

(YNK)RCD Rassemblement congolais pour la démocratie, Kongolesi-

sche Sammlungsbewegung für die DemokratieSAARC South Asian Association for Regional Cooperation, Süd-

asiatische Vereinigung für regionale ZusammenarbeitSAFTA South Asian Free Trade Area, Südostasiatische Freihandels-

zoneSCO Shanghai Cooperation Organisation, Shanghaier Organisati-

on für ZusammenarbeitSEPA State Environmental Protection AdministrationSFOR Stabilisation Force, Stabilisierungsstreitkräfte der NATO in

Bosnien und HerzegowinaSIPRI Stockholm International Peace Research Institute, Stockhol-

mer FriedensforschungsinstitutSLA Sudan Liberation Army, Sudanesische BefreiungsarmeeSmer-SD Smer-Sociálna demokracia, slowakische Sozialdemokrati-

sche ParteiSNS Slovenská národná strana, Slowakische NationalparteiSOEKP Südosteuropäischer Kooperationsprozess, South-East Euro-

pean Cooperation Process (SEECP)SPLA Sudan People’s Liberation Army, Sudanesische Volksbefrei-

ungsarmeeSPLM Sudan People’s Liberation Movement, Sudanesische Volks-

befreiungsbewegungSSDF South Sudan Defence Forces, Südsudanesische Verteidi-

gungskräfteSTART Strategic Arms Reduction Treaty, Vertrag zur Verringerung

der strategischen NuklearwaffenTAK Teyrêbazên Azadîya Kurdistan, Freiheitsfalken KurdistansTFG Transitional Federal Govement, Föderale Übergangsregie-

rungUCK Ushtria Çlirimtare e Kosovës, Befreiungsarmee Kosova

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ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

UDPS Union pour la démocratie et le progrès social, Union für De-mokratie und sozialen Fortschritt

UFDD Union des forces pour la démocratie et le développement,Union der Kräfte für Demokratie und Entwicklung

UIC Union of Islamic Courts, Union islamischer GerichteUNAMA United Nation Assistance Mission in Afghanistan, Unter-

stützungsmission der Vereinten Nationen für AfghanistanUNDP United Nations Development Programme, Entwicklungs-

programm der Vereinten NationenUNEP United Nations Environment Programme, Umweltpro-

gramm der Vereinten NationenUNIFIL United Nations Interim Force in Lebanon, Interimsstreit-

kräfte der Vereinten Nationen im LibanonUNMEE United Nations Mission in Ethopia and Eritrea, Mission der

Vereinten Nationen in Äthiopien und EritreaUNMIK United Nations Interim Administration Mission in Kosovo,

Übergangs-Verwaltungs-Mission der Vereinten Nationen imKosovo

UNMIS United Nations Mission in Sudan, Mission der VereintenNationen im Sudan

UNO, UN United Nations Organization, Organisation der VereintenNationen

UNOMIG United Nations Observer Mission in Georgia, Beobachter-mission der Vereinten Nationen in Georgien

UNOSOM United Nations Operation in Somalia, Operation der Verein-ten Nationen in Somalia

USFK United States Forces Korea, US-Streitkräfte in SüdkoreaVAP Vientiane Action Plan, Vientiane AktionsplanWEU Western European Union, Westeuropäische UnionWHO World Health Organisation, Weltgesundheitsorganisation

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Dr. Michael Ashkenazi, wissenschaftlicher Mitarbeiter am BICC

Semiramis Akbari, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der HSFK

Prof. Dr. Michael Brzoska, wissenschaftlicher Direktor des IFSH

Dr. Matthias Dembinski, Projektleiter bei der HSFK

Dr. Anna Geis, Projektleiterin bei der HSFK

Prof. Dr. Hans-Joachim Giessmann, stellvertretender wissenschaftlicherDirektor des IFSH

Rainer Glassner, Dipl. Geogr., Associated Fellow am INEF

Jan Hanrath, Dipl. Soz. wiss., Associated Fellow am INEF und Zentrum fürKurdische Studien/NAVED in Bonn

Dr. Andreas Heinemann-Grüder, wissenschaftlicher Mitarbeiter am BICC

Dr. Jochen Hippler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am INEF

Susan Hough, M.A., Gastforscherin am BICC

Willem Jaspers, M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter am BICC

Dr. Margret Johannsen, Senior Research Fellow am IFSH

Dr. Sabine Mannitz, Projektleiterin bei der HSFK

Prof. Dr. Volker Matthies, Universität Hamburg und Führungsakademie derBundeswehr

Dr. Oliver Meier, wissenschaftlicher Mitarbeiter am IFSH

Prof. Dr. Harald Müller, Forschungsgruppenleiter und geschäftsführendesVorstandsmitglied der HSFK

Dr. Reinhard Mutz, Senior Research Fellow am IFSH

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VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN

Dr. Conrad Schetter, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Ent-wicklungsforschung in Bonn

Dr. Niklas Schörnig, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der HSFK

Dr. Hans-Joachim Schmidt, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der HSFK

Hardi Schindler, M.A., externer wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FEST

Dr. Bruno Schoch, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der HSFK

Dr. Guido Steinberg, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Wissen-schaft und Politik in Berlin

Dr. Volker Teichert, wissenschaftlicher Referent für Ökonomie an der FEST

Dr. Markus Weingardt, wissenschaftlicher Referent für Friedens- und Kon-fliktforschung an der FEST

Dr. Stefan Wilhelmy, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FEST

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Anschriften der Institute

Hessische Stiftung Friedens- undKonfliktforschung (HSFK)Leimenrode 2960322 Frankfurt/MainDr. Bruno SchochTel.: 069 / 959104 - 0Fax: 069 / [email protected]

Bonn International Center forConversion – InternationalesKonversionszentrum Bonn(BICC)An der Elisabethkirche 2553113 BonnDr. Andreas Heinemann-GrüderTel.: 0228 / 91196 – 0Fax: 0228 / [email protected]

Institut für Entwicklung und Frie-den der Universität Duisburg-Essen(INEF)Geibelstr. 4147057 DuisburgDr. Jochen HipplerTel.: 0203 / 379 – 4450Fax: 0203 / 379 – [email protected]

Forschungsstätte der EvangelischenStudiengemeinschaft (FEST)Schmeilweg 569118 HeidelbergDr. Markus WeingardtTel.: 06221 / 9122 - 0Fax: 06221 / [email protected]

Institut für Friedensforschungund Sicherheitspolitik an derUniversität Hamburg (IFSH)Beim Schlump 8320144 HamburgDr. Reinhard MutzTel.: 040 / 866077 - 0Fax: 040 / [email protected]

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