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Freiherr vom Stein

Date post: 09-Jan-2017
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Die Bauernbefreiung

(Relief am Steindenkmal in Berlin)

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K L E I N E B I B L I O T H E K D E S W I S S E N S

LUX-LESEBOGENNATUR- UND KULTURKUNDLICHE HEFTE

O T T O Z I E R E R

Freiherr vom SteinVORKÄMPFER

DER BÜRGERFREIHEIT

VERLAG SEBASTIAN LUXMURNAU • MÜNCHEN • INNSBRUCK . BASEL

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13. Oktober 1806...

Das Licht liegt trübe und vom Nebel gedämpft auf dem BerlinerResidenzplatz. Trotz der vorgerückten Vormittagsstunde brennenin den Ministerialbüros, die sich in den Seitenflügeln des könig­lichen Schlosses befinden, die Kerzen.

Der Minister für Handel und Finanzen, Freiherr vom und zumStein, ein gedrungener, dunkel gekleideter Mann von fünfzig Jah­ren, ist an eines der schmalen Fenster getreten. Vor dem mit Aktenund Briefschaften bedeckten Schreibtisch seitlich der Fensternischesitzt in einem hochlehnigen Polsterstuhl der Besucher, FreiherrLudwig von Vincke, der aus Hannover herübergekommen ist.Vincke, ein Freund aus den Tagen, da Stein von Minden und Mün­ster aus die westfälischen Lande dem preußischen Staate anzuglie­dern hatte, ist viel jünger als der Minister — vielleicht ein Dreißiger.

Wieder stellt Vincke die bedrückende Frage: „Wie soll das wei­tergehen, Exzellenz? Welchen Ausweg sehen Sie?"

Der Minister blickt auf den Schloßplatz hinab, wo sich vor einemfrischen Maueraraschlag die Menschen drängen. Sicherlich ist esdie traurige Kundmachung, daß vor drei Tagen Seine KöniglicheHoheit, Prinz Louis Ferdinand, der Neffe Friedrichs des Großen,bei einem Gefecht nahe Saalfeld den Reitertod gefunden hat. LouisFerdinand, das war noch der Tatkräftigste und Kühnste von allenim Königshaus. Einer, der für Neuerungen und Reformen zugäng­lich gewesen, der aber leider völlig ohnmächtig war. Nun ist ertot. Dieser Kampfgeist und Haudegen wird fehlen, wenn bald diein Thüringen aufmarschierten Heere des Preußenkönigs und Na­poleons zum Entscheidungskampf antreten werden.

Freiherr vom Stein wendet sich dem Freunde zu. Er zeigt eingroßflächiges, offenes Gesicht, die dunklen Augen spiegeln Geistund Temperament wider.

„Sie fragen, wie es weitergehen soll, Vincke? Es steht fest, daßwir geschlagen werden. Preußen hätte eingreifen müssen, als dastapfere Österreich noch im Abwehrkampf gegen den Diktator stand.Damals konnte man Hoffnung haben. Da wir aber abseits blieben,hat Napoleon sich in aller Ruhe ein Jahr lang auf diesen Kriegvorbereiten können. Jetzt ist es so weit, Vincke: Vom Rhein, vonBöhmen, von Süddeutschland her sind die französischen Armeengegen Preußen angerückt. Es kann nicht gut gehen."

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„Steht es wirklich so schlimm, Exzellenz?" Der Besucher willes nicht glauben. „Es ist noch kein Menschenalter her, daß diePreußen unter Friedrich dem Großen der Heeresmacht halb Eu­ropas erfolgreich widerstanden haben. Wäre es nicht möglich, daßsich dieses Wunder wiederholen könnte?"

„Ja , wenn wir mit der Entwicklung Schritt gehalten hät ten",entgegnet der Minister. „Aber die Truppe ist auf dem Stand ge­blieben, den sie unter dem Alten Fritz hatte, Bewaffnung, Aus­rüstung und Taktik sind veraltet, die Führung verkalkt und pen­sionsreif. Sehen Sie sich nur diesen Herzog von Braunschweig an,der die preußische Armee in Thüringen kommandiert: ein Greisvon einundsiebzig Jahren und ein Kommißzopf, wie er im Buchesteht. Wie will sich dieser alte Mann gegenüber Napoleon behaup­ten, der seit zehn Jahren von Sieg zu Sieg quer durch Europa eilt?Steht nicht die Übermacht auf Napoleons Seite, verfügt er nichtüber kampferfahrene, fanatisierte Soldaten, und besitzt er nichtin Überfülle die Waffen, die uns fehlen?"

„Wie wird das enden, Exzellenz?"„Ich gebe die Hoffnung nicht auf, Vincke. Ja, ich sehe bei allem

Unglück sogar noch einen Segen. Napoleon schafft uns, wozu wirselber nicht fähig waren: ein einheitliches Deutschland. Wie vieleKleinfürstentümer sind durch einen Federstrich des Korsen vonder Landkarte verschwunden und haben größeren Staaten Platzgemacht! Zudem wirkt sich die Anwesenheit der Franzosen nichtnur in Unterdrückung und Gewalt aus, sie verbreiten auch dieIdeen einer neuen Zeit unter uns: den Drang nach Freiheit undGleichheit, die Forderung auf Beseitigung der überalterten Stan­desvorrechte und auf Mitwirkung aller Bevölkerungsschichten impolitischen Leben. Das ist ja einer der Gründe für die Erfolge ihresSiegeszuges: daß nämlich ein begeistertes Volksheer wider die Söld­nerscharen unserer Feudalfürsten steht. Es gibt eine Hoffnung:Wir müssen uns dem neuen Geist angleichen, um den Franzmän­nern den Wind aus den Segeln zu nehmen."

Vincke hebt warnend die Stimme: „Exzellenz sind sehr revolu­tionär gesinnt. Ich glaube nicht, daß Seine Majestät der König vonPreußen auf diesem Wege mitgehen wird ." /

„Sie haben völlig recht, Vincke! Ich habe mich in eine nichtleichte Sache eingelassen. Dem preußischen Staat kann mit Flickennicht mehr geholfen werden. Man müßte ihn neu bauen — abertun Sie das mit Männern, wie jenen, die Friedrich Wilhelm III .sich zu Ratgebern gewählt hat!",

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„Ich weiß, man spricht im ganzen Lande über die unfähigenund erstarrten Räte Seiner Majestät. Dieser Haugwitz und Kök-k e r i t z . . . "

Freiherr vom Stein unterbricht seinen Besucher. „Es ist nochviel schlimmer, als Sie ahnen, Vincke!" sagt er. „Hier in meinemMinisterium laufen täglich die Berichte darüber ein, wie das Volkauf die gefahrvolle Lage reagiert. Die Bauern — leibeigene Guts­untertanen ohne jede politische Bildung und auch ohne Interesse aneinem Staat, der nur der Staat ihrer Herren ist — weisen den Fran­zosen die Wege, faihren ihnen Fourage und Geschütze und dienenjeder Macht mit der gleichen Ergebenheit. Die Bürger stehen spöt­tisch am Wegrand und freuen sich offenbar darüber, daß das ver­haßte Militär nun Prügel bekommen soll."

„Und was kann man dagegen tun, Exzellenz?"„Es ist zu spät für wirksame militärische Aktionen, aber es ist

noch nicht zu spät für die Erneuerung des Staatswesens. Als ichAnno 1804 das Ministerium übernahm, galt eine meiner erstenDenkschriften der Forderung, daß den Provinzen eine gewisseSelbstverwaltung und Ständevertretung gewährt werden solle, da­mit der Bürger wieder zum Staatsbewußtsein erwache. ,Eine wohl­tätige, auf Verfassung und gesetzliche Ordnung sich gründendeVerbindung zwischen Untertan und Regierung. . . knüpft festerans Vaterland und Gemeinwohl . . .' Und noch am 26. Septemberdieses Jahres — also vor knapp drei Wochen — gab ich einen Be­richt an den König, um ihn zur Einführung einer allgemeinen,gleichen Einkommensteuer zu bewegen, die dem Volke das Gefühlder gleichmäßigen Belastung aller Staatsangehörigen gäbe. Ichschrieb: ,Es beweist von Seiten der Regierung das Zutrauen zurMoralität und Vaterlandsliebe der Nation, das sie verdient.' — Aberwas ist aus all meinen Bemühungen und Eingaben geworden?"

Erbittert gibt der Freiherr sich selber die Antwort: „Nichts . ..Der Hof schweigt, Königin Luise besänftigt und beschwichtigt, ob-schon sie insgeheim manche meiner Ideen teilt; der König aber — beeinflußt von seinen kurzsichtigen Räten — verharrt in Mißtrauenund Ablehnung. Dieser Staat fordert von seinen Untertanen völligeErgebenheit, und trotzdem traut er ihnen nicht. Er ist ein Obrig­keitsstaat, und so sind seine Bürger eben gleichgültige Knechte.Wie dürfte er erwarten, daß sie ihn wirklich verteidigen? Ichwünschte nur, der Kriegsgott gäbe diesem Preußen eine so gründ­liche Lehre, daß es sich endlich auf sich selber besinnt. Da: LesenSie selbst, ob ich nicht versucht habe, die Dinge des Regierungs-

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Systems zu ändern. Der Erfolg war Schweigen und erneutes Miß­trauen."

Zornig tritt der Minister an einen Aktenschrank und entnimmtihm eine mit roten Handbemerkungen versehene Denkschrift, dieer vor dem Besucher ausbreitet. Vincke beginnt zu lesen.„Berlin, den 26./27. April 1806.

. . . Der preußische Staat ist eine ziemlich neue Zusammensetzungvieler einzelner, durch Erbschaft, Kauf, Eroberung zusammenge­brachter Provinzen .'. .

Da der preußische Staat keine Staatsverfassung hat, so ist esum so wichtiger, daß seine Regierungsverfassung nach den rich­tigen Grundsätzen gebildet wird . . .

Friedrich Wilhelm III. regiert unter dem Einfluß . . . des Gra­fen von Haugwitz und des königlichen Freundes, des GeneralsKöckritz. Mit diesen verhandelt, beratschlagt, beschließt der Re­gent, und seine Minister führen lediglich die Beschlüsse dieserHerren a u s . .

Der Monarch selbst lebt in einer gänzlichen Abgeschlossenheitvon seinen Ministern, er steht mit ihnen weder in unmittelbarerGeschäftsverbindung, noch in der des Umgangs, noch in der derKorrespondenz. Folge dieser Lage ist die Einseitigkeit in seinenEindrücken und in den Beschlüssen, die er f a ß t . . . "

Die Denkschrift, die sich in den weiteren Abschnitten in scho­nungsloser Weise mit der Unfähigkeit und charakterlichen Frag­würdigkeit der königlichen Günstlinge beschäftigt, fordert ein mo­dernes, voll verantwortliches Regierungssystem.

„Es ist demnach notwendig, daß eine unmittelbare Verbindungzwischen dem König und den obersten Staatsbeamten — den Mini­stern — wieder hergestellt werde, daß die Personen, welche denVortrag der Staatsgeschäfte zur Entscheidung durch den Könighaben, gesetzlich und öffentlich hierzu berufen . . . und mit dervollen Verantwortlichkeit versehen werden . . ."

In einem Nachsatz richtet Freiherr vom Stein die warnendenWorte an den König, daß ein Staat, der sich nicht dem Geist derneuen Zeit anpasse, „sich entweder auflöst oder seine Unabhängig­keit verliert und daß in ihm die Liebe und Achtung seiner Unter­tanen ganz verschwinden . . ."

Freiherr von Vincke blickt nach der Lektüre der Denkschriftüberrascht auf. Seine Blicke sind voll Bewunderung auf den älte­ren Freund gerichtet.

„Und die Wirkung, Exzellenz?" sagt er.

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Stein macht eine wegwerfende Bewegung. „Nichts — ich bin seit­her mit des Königs erhabenen Räten tödlich verfeindet. Sie werdenmich wohl bei Gelegenheit aus dem Amt befördern."

*

Auf dem Schloßplatz entsteht Unruhe, laute Rufe ertönen, manhört das Klappern von Pferdehufen. Beide Männer stehen am Fen­ster. Drunten sieht man einen staubbedeckten Husarenoffizier ab­sitzen und mit der Depeschentasche auf das Portal des Schlosseszueilen.

„Es wird Botschaft aus Thüringen sein", meint der Ministerkurz. „In Thüringen geht Kaiser Napoleon einem seiner größtenSiege und Preußen den dunkelsten Tagen seiner Geschichte entgegen.Nun liegt alles in Gottes Hand."

Der Zusammenbruch

Auf dem thüringischen Kriegsschauplatz drängt alles zur Ent­scheidung.

Napoleon igt in Jena eingetroffen und hat noch am gleichen Tagedie Lage erkundet. Er hat sofort die Bedeutung der Jenaer Höhen­züge erkannt — des „Windknollen" und des „Landgrafenberges".Wenn es gelänge, Artillerie auf diese Höhen zu schaffen, wäre fürdie kaiserlichen Truppen die Schlacht soviel wie gewonnen.

Es findet sich sogleich ein diensteifriger Führer, der den Fran­zosen einen auf der Karte nicht verzeichneten Ziehweg weist; inder Nacht vom 13. zum 14. Oktober werden die Batterien hinauf­transportiert. Die ganze Nacht wird auf der Höhe geschanzt. DerKaiser überwacht persönlich die Befestigungsarbeiten.

Bauern von Kospeda und Lützeroda, zwei Dörfern auf der nörd­lichen Talseite des Landgrafenberges, kommen ins preußischeHauptquartier und berichten von dem, was auf dem Berge obengeschieht und daß zahlreiche Geschütze hinaufbefördert werden.Aber die preußischen Stabsoffiziere sind nicht gewohnt, auf dasGeschwätz von leibeigenen oder gutsuntertänigen Bauern zu hören.Kriegführen ist schließlich das Geschäft des Adels, und der ge­meine Mann hat sich in dieser Hinsicht aller Zurückhaltung zu be­fleißigen.

In der Nacht vom 13. zum 14. Oktober schläft man im preußi­schen Hauptquartier zu Kapellendorf in dem sicheren Bewußtsein,

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daß man anderntags eine ehrenhafte und siegreiche Bataille schla­gen werde. Die Wachtfeuer der preußischen Armee lodern weithinsichtbar in die Nacht. Hoch über ihnen, auf dem Landgrafenberge,wandern Lichtpunkte hin und her. Doch gegen Morgen erlöschendie Feuer und Fackeln.

Nebel fällt in dichten Schwaden über Kuppen und Hochflächen.Der Tag löst sich grau und milchig vom Rande der Nacht.

*

Als sich gegen sechs Uhr früh der Nebel zu heben beginnt, sehensich die Preußen beiderseits von Feindtruppen überflügelt. DieKorps Bernadotte-Soult und Augerau-Ney haben die preußischeArmee in die Zange genommen. Die Batterien auf dem Landgrafen­berg beginnen ihr vernichtendes Feuer über sie auszuschütten.

Trotz des gewaltig rollenden Kanonendonners beharrt der befeh­lende General Hohenlohe in seinem Hauptquartier zu Kapellendorfbei d'er einmal gefaßten Meinung, daß noch keine Gefahr bestehe.Die jüngeren Offiziere können ihm zunächst nicht einmal den Be­fehl zur Gefechtsbereitschaft der Truppen abringen. Der Generalverbringt die folgenden Stunden, in denen bereits ganze Regimen­ter hoffnungslos untergehen, mit der Abfassung von Berichten fürden königlichen Hof.

Als ihm gegen neun Uhr morgens die Katastrophe deutlich wird,verliert er völlig den Kopf und befiehlt den Rückzug, der in wirreAuflösung übergeht.

Große Reitermassen der Franzosen tauchen tief in den Flan­ken auf, noch kämpfen einzelne preußische Korps. Da aber jederZusammenhang und jede Führung fehlen, werden auch sie in dieallgemein einsetzende Flucht hineingerissen.

Der Nebel ist jetzt gewichen, und strahlendes Herbstwetter brei­tet sich über dos Schlachtfeld. Haltlos und verloren ziehen diepreußischen Regimenter nach Westen und Norden davon.

Um die gleiche Stunde entscheidet sich auch das Schicksal derpreußischen Nordarmee bei Auerstedt. Der alte Herzog von Braun­schweig wird durch einen Kopfschuß schwer verwundet. Auch diegeschlagene Nordarmee gerät in den Strudel der dahinflutendenSüdarm oe.

Gneisenau sagt später von diesem Tag: „Zum Unglück geselltesich die Schande . . ." Denn nun erweist sich die Hohlheit destönernen Riesen. Die zerschlagenen Reste des Preußenheeres, vordem einst ganz Europa gezittert hatte, treiben wie Wrackstücke

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nordwärts, überall folgen die langen Linien der gegnerischen Rei­terei, die Fliehenden zu fangen oder niederzuhauen. Nur wenigeRegimenter gehen mit Ehren unter.

Fahnen, die bei Fehrbellin, Hohenfriedberg und Leuthen ruhm­reich geflattert hatten, .werden kampflos den Verfolgern übergeben;Bataillone, deren Name in den Annalen von Roßbach oder Torgauverzeichnet sind, liefern kampfmüde ihre Waffen ab. Divisionenkapitulieren vor Kompanien. Die Kommandeure der festen Plätzedes Landes, der Zitadellen, Arsenale und Festungen, schicken denfranzösischen Siegern Abordnungen entgegen, die Kapitulation an­zubieten.

In den Städten geschieht fast überall das gleiche: Die wohl­habende Bürgerschaft denkt in der Furcht vor Zerstörungen, vorBrand und Plünderung nur noch an ihr augenblickliches und höchstpersönliches Wohl. Wie sollten die Bürger auch an einem Staatinteressiert sein, der in ihnen fast nur noch gehorchende Unter­tanen, Steuerzahler und Kanonenfutter gesehen hat. Was bedeutenfür solche Menschen Begriffe wie Preußen oder Deutschland oderVaterland ?

Haus, Landbesitz, Familie — das allein sind Tatsachen! DerStaat — das ist nur ein Wort , das man fürchtet, weil es sich meistin Form von Steuer- und Dienstforderungen kundtut. Für diesenStaat eines absolut regierenden Königs rührt sich kaum eine Hand.

Kaiser Napoleon rückt inzwischen mit fliegenden Adlerstandar­ten gegen die Hauptstadt Berlin vor, aus der König Friedrich Wil­helm III. mit seiner Gemahlin Luise und einem kleinen Gefolge inRichtung Ostpreußen geflohen ist. Am 21. Oktober erreicht derKaiser Potsdam, das Herz Preußens.

Ehrfurchtsvoll steht er in der Gruft Friedrichs des Großen. Dochseine Ergriffenheit hindert ihn nicht, Hut und Degen, Orden undSchärpe des Toten als Trophäen nach Paris zu senden. Großzügigbedient er sich aus den Kostbarkeiten des Schlosses Sanssouci. Danngibt der Kaiser Marschall Davoust Befehl, Berlin zu besetzen.

Die Hauptstadt des Königreichs nimmt die Kunde von Jena-Auer-stedt mit Bestürzung, aber ohne echte Erschütterung entgegen. DieBürger — zu rein passivem Gehorsam erzogen — betrachten dieWinkelzüge und politischen Handelschaften des Hofes durchausnicht als ihre eigene Angelegenheit, und mancher freut sich überdie Mißerfolge und Demütigungen, welche die hochmütigen Be-

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amten in dieser Stunde erfahren. Eine gewisse Spießbürgerlichkeitund Engstirnigkeit muß einer Generation eigen sein, die weder amGemeinde- noch am Staatsleben irgendeinen Anteil nehmen kann.Bezeichnend ist die Mitteilung des Gouverneurs von Berlin, desMinisters Grat Schulenburg-Kehnert, die in diesen Tagen an allenStraßenecken angeschlagen wird: „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht 1 Der König hat eine Bataille verloren, aber der König und seineBrüder leben . . ."

Ja — so ist es: Nur der König hat eine Schlacht verloren, nichtdas Volk! Was geht es die Bürger und Bauern an, wenn sich dievornehmen Herren schlagen. Vielleicht ist es nicht einmal so übel,wenn die Franzosen kommen! Versprechen sie nicht neue, frei­heitliche Gesetze, allgemeine Gleichheit der Bürger, Abschaffungder adligen Vorrechte?

Freilich gibt es in diesen Oktobertagen auch getreue Untertanen,die aus patriotischer Erregung oder aus jugendlicher Abenteuerlustdem Eroberer Widerstand leisten wollen. Als sich aber eine Gruppevon jungen Freischärlern beim Gouverneur Schulenburg meldenläßt, weist er ihnen ärgerlich die Tür und verbietet den Hitzköp­fen jede Aktion; denn was würde aus der Weltordnung, wenn mandem „Pöbel" auf politischem und militärischem Gebiete selbstän­diges Handeln zugestände! Bedeutete das nicht die Zustimmung zuden Forderungen der Französischen Revolution?

Der gleiche Gouverneur Schulenburg flieht Hals über Kopf ausder Hauptstadt, als die Franzosen auftauchen. Er unterläßt es, dieSchätze des Königsschlosses in Sicherheit zu bringen. Auch der ge­samte Geschützpark fällt unversehrt in die Hände Napoleons, derdas Zeughaus bis obenhin gefüllt vorfindet. Hätte nicht der Mi­nister für Zoll-, Fabrik- und Wirtschaftswesen, der Reichsfrei­herr vom Stein, den Kopf oben behalten und die Sicherung deröffentlichen Kassen veranlaßt, so würde den Franzosen auch dasgesamte Bargeld des Staates zugefallen sein. Stein hatte die Kas­senbestände rechtzeitig über Stettin nach Königsberg verbringenlassen.

Am 27. Oktober zieht Kaiser Napoleon feierlich in Berlin ein.Es ist ein Triumphmarsch blitzender Bataillone und ratternder Ar­tillerie. Der Kaiser reitet inmitten seiner Marschälle, gefolgt vonder Garde der Bärenmützen, durch das Brandenburger Tor in dieStadt.

Die Berliner stehen als Zuschauer dicht gedrängt an den Stra­ßenrändern. Es ist ein Schauspiel, das sie sich gerne ansehen. Als

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gefangene Offiziere eines preußischen Regimentes dahergeführtwerden, hört man aus der Menge spöttische Zurufe. Berlin, das solange unter dem Hochmut des adligen Offizierskorps und unterdem eisernen Griff des Militärs gelitten hat, macht sich Luft.

Das Land findet sich sehr rasch in die neuen Verhältnisse. DieBeamtenschaft überbietet sich in Beweisen ihres Eifers und dientdem neuen Herrn mit der gleichen Ergebenheit wie vordem dem Kö­nig. Nirgends stößt Napoleon auf Widerstand, nirgendwo werdenihm Geheimnisse verborgen oder Hilfsquellen vorenthalten. Esbildet sich ein Bürgerkorps, das seine Dienste freiwillig der Be­satzung zur Verfügung stellt. Königstreue Beamte werden als Ver­räter gebrandmarkt, da sie angeblich die Verständigung gefährden.

Kaiser Napoleon ist jedoch nicht als Freiheitsbringer und Re­former gekommen. Schon zeigt sich das Antlitz des Eroberers, erbefiehlt und fordert. Das französische Recht erweist sich als daseiner fremden, beutegierigen Macht.

Es wird offenbar, daß die Berliner Schlösser und Museen ausge­plündert werden sollen; die Figurengruppe vom Brandenburger Tormuß nach Paris übersiedeln, wohin schon die vergoldeten Bronze­rosse des Markusdomes von Venedig verbracht worden sind; feind­liche Generäle brandschatzen in Privathäusern und Villen, derSoldat stiehlt bei den Bauern und in den Bürgerhäusern. Gewalt­taten bleiben ungerächt, und der Steuerzahler erschrickt bis insMark, als er die Höhe der geforderten Kriegsentschädigungen undSonderabgaben erfährt.

Dabei sieht es aus, als würde dieser Zustand ewig währen.Am 8. November 1806 erscheint ein Dekret, das Preußen in vier

Verwaltungsbezirke nach französischem Muster einteilt. Die Waageder Politik schwankt zwischen Verhandlungsbereitschaft und demWillen zur Weiterführung des Krieges. Preußens Schicksal scheintso oder so besiegelt zu sein. Der Staat Friedrichs des Großen hataufgehört zu bestehen . . .

Stein wird hinausgeworfen... '

Auf der Flucht nach Ostpreußen hat das Königspaar sich inSchnee und Eis über die Kurische Nehrung nach der entferntestenStadt des Königreiches, nach Memel, gerettet. Königin Luise, eineenergische und sehr patriotisch gesinnte Frau, versucht vergeblich,ihren Gemahl zu kraftvollem Handeln fortzureißen. Friedrich Wil-

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heim III. , ein Großneffe Friedrichs des Großen, ist indes nicht derMann, der den Widrigkeiten des Schicksals standzuhalten ver­möchte. Der König hat zwaf die höchste Auffassung von seinerköniglichen Sendung und Majestät, aber seine an Engherzigkeitgrenzende Peinlichkeit, sein immer waches Mißtrauen und seineständige Furcht vor den Ideen der Revolution lähmen all sein Han­deln. Schmeichler und Großtuer des Hofstaates finden bei einemsolchen Herrscher allzu, leicht Gehör.

Inmitten eines Chors von Hofschranzen und Angebern, die demKönig in den Osten gefolgt sind, bewegt sich jener Minister für dasZoll- und Wirtschaftswesen, Freiherr vom Stein, der als einzigerleitender Mann in der Stunde der höchsten Bedrohung seines Kö­nigs Mut und Umsicht bewiesen hat.

Stein ist als Sproß eines reichsfreiherrlichen Geschlechts in Nas­sau am 26. Oktober 1757 geboren worden. Nach dem Besuch derUniversität Göttingen ist er als Referendar am Reichskammerge­richt zu Wetzlar tätig gewesen, an dem fünf Jahre vorher Goetheeinige Zeit Dienst getan hat.

Nach ausgedehnten Reisen, die ihn das ganze Unglück des ster­benden Deutschen Reiches erleben ließen, führte ihn seine Bewun­derung für Friedrich den Großen und für Preußen in das Amt einespreußischen Bergrates zu Wetter in der Grafschaft Mark. Seinväterlicher Freund, der preußische Minister Heinitz, sorgte da­für, daß der begabte und verläßliche Beamte bald weiter empor­stieg. Schon 1797 war er Oberpräsident zu Minden und 1802 inMünster. Zwei Jahre vior der Katastrophe Preußens war er alsMinister für Wirtschafts- und Finanzfragen ins Kabinett des Kö­nigs berufen worden.

Der ständige Umgang mit Männern der Wirtschaft und der auf­wachsenden Industrie hat Stein erkennen lassen, daß dieser preu­ßische Staat, der von seinen Untertanen unbeschränktes und oftgenug ungerechtfertigtes Vertrauen fordert, den Bürgern abergrundsätzlich mißtraut, reformiert werden müsse.

Die Nation ist gelähmt. Das Volk und seine schöpferischen Kräfteliegen brach, niemand aus der Beamtenschaft denkt daran, sichder bewährten Tüchtigkeit der Bürger, Bauern, Kaufleute undTechniker zu bedienen; ihr Streben nach Mitwirkung am gemein­samen Schicksal wird mit höchstem Mißbehagen zurückgewiesen.

Stein hatte schon einige Zeit vor der Katastrophe zu reformie­ren versucht und war an den König mit mancherlei Denkschrif­ten herangetreten. Für Stein war die Zeit des stummen Gehorchens

Aus einer Denkschrift Steins zur >-12 üe hördenreforra (aus dem Jahre 1307)

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und Regiertwerdens vorüber, es war notwendig, die Nation zurtätigen Anteilnahme am allgemeinen Geschick zu erziehen und auf­zurufen.

Mit solchen Ideen, die in einem Staatswesen mit unbeschränk­ter Hoheitsgewalt fast revolutionär wirken mußten, traf Steinauf den leidenschaftlichen Widerstand der königlichen Räte. SeineAufgabe wurde durch seinen Charakter erschwert, der zu Schroff­heit und Unnachgiebigkeit neigte und nur selten zu jener „sanften,ehrerbietigen Form" bereit war, die ihm Königin Luise im Um­gang mit dem König empfohlen hatte. Er verletzte zuweilen denmonarchischen Stolz seines Souveräns, indem er ihn seine reichs-freiherrliche Unabhängigkeit und seine geistige Überlegenheit füh­len ließ.

Scharnhorst, einer der modern denkenden Generäle, der mit vie­len seiner Gedanken mit Stein einigging, warnte ihn einmal vorsolcher Schroffheit. Aber der Freiherr antwortete: „Glauben Sie,daß ich das nicht weiß? Aber wenn ich nicht so wäre, dann wäreich nicht mehr wert als ein altes Weib!"

Auch die Beamten seines Ministeriums, häufig Angehörige deralteingesessenen Gutsbesitzer- und Adelsfamilien Preußens, be­kamen oft genug Steins Zorn zu spüren. Einem dieser bezopftenHerren schrieb er: „Ew. Wohlgeboren sind durch Ihre alle Ge­setze der Vernunft und einer liberalen Erziehung beleidigende Tor­heit ein Gegenstand des Hasses derjenigen geworden, die das Un­glück haben, mit Ihnen im Dienstverhältnis zu stehen. In Ihreminhumanen Betragen kommt ein gänzlicher Mangel an Legalität,die eine Folge Ihrer mangelnden Gesetzeskenntnis und eines an-maßlichen Hochmutes sind, zum Vorschein. Sie haben keinerleiKenntnisse in den Wissenschaften und beschränken sich bei IhrerAmtsführung lediglich auf Formelkram und Starrhei t . . ."

Daß der Empfänger eines derartigen Briefes — ein hochgebore­ner märkischer Junker und Ministerialrat — künftig nicht zu denFreunden des Freiherrn vom Stein zählen würde, mochte begreif­lich sein.

Als der Freiherr — weit über seine eigentlichen Amtsaufgabenhinausschießend — dem König abermals Denkschrift auf Denk­schrift über die notwendigen inneren Reformen des Staates zulei­tet, setzen seine Gegner den Hebel zu seinem Sturze an. Sie nen­nen ihn einen Umstürzler und einen Totengräber des Thrones. Der

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König — stets voller Argwohn gegenüber seinen Mitarbeitern — ant­wortet auf Steins Vorschläge schroff und mit harten Worten.

Freiherr vom Stein beantwortet am Abend des 3. Januar 1807von Königsberg aus das königliche Schreiben:

„Da Höchstdieselben mich für einen ,widerspenstigen, trotzigen,hartnäckigen und ungehorsamen Staatsdiener ansehen, der, auf seinGenie und seine Talente pochend, weit entfernt das Beste desStaates vor Augen zu haben, nur durch Eigensinnigkeit geleitet,aus Leidenschaft und persönlichem Haß handelt' . .. und ich gleich­falls überzeugt bin, daß . . . dergleichen Staatsbeamte am alier-nachteiligsten und gefährlichsten für die Zusammenhaltung desGanzen wirken. . .', so muß ich Euer Königliche Majestät ummeine Dienstentlassung bitten, der ich hier entgegensehe, da ichunter diesen Umständen meinen Vorsatz, nach Memel zu gehen,aufzugeben genötigt bin."

Schon tags darauf kommt aus dem nahen Memel eine Kabinetts­order des Königs: „Da der H. Baron v. Stein unter gestrigem Datosein eigenes Urteil fällt, weiß ich nichts hinzuzusetzen."

Der Freiherr ist aus dem preußischen Staatsdienst entlassen.Er begibt sich über Stettin, Berlin in das heimatliche Nassau zu­rück. Unter den Höflingen und alten Exzellenzen am MemelerHof herrscht eitel Freude.

Die Faust Napoleons . . .

Nach Steins Entlassung geht es mit dem ßeststaat Preußen wei­ter bergab. Friedrich III. hat den patriotisch gesinnten Herrn vonHardenberg als Außenminister berufen, aber der Krieg schlägtdem neuen Mann die letzten Karten aus der Hand. Kaiser Napo­leon fegt am 14. Juni 1807 bei Friedland die verbündete preu­ßisch-russische Armee vom Boden Ostpreußens.

Bei den Friedensverhandlungen in Tilsit versteht es Rußland,auf Kosten seines bisherigen Verbündeten den Kopf aus der Schlingezu ziehen, während Preußen „nur mit Rücksicht auf den Zaren"auf einem äußerst beschnittenen Staatsgebiet und unter der har­ten Aufsicht Napoleons fortbestehen darf.

Zu allen Demütigungen, zu Gebietsabtretungen und drückendenGeld- und Sachleistungen fügt Napoleon noch die Forderung aufsofortige Entlassung des angeblich englandfreundlichen MinistersHardenberg. Als man dem Kaiser eine Liste mit den Namen von

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Männern vorlegt, die als Nachfolger in Frage kommen, tippt ermit dem Finger auf den des Freiherrn vom Stein und befiehlt:„Nehmt den, das ist ein geistreicher Mannt" Napoleon hält Herrnvom Stein für politisch ungefährlich, da er sich bisher ausschließ­lich mit Dingen der inneren Reform befaßt habe.

Zwei Briefe Hardenbergs erreichen den Freiherrn in Nassau undrufen ihn in den preußischen Staatsdienst zurück. Stein antwor­tet: „In diesem Augenblick des allgemeinen Unglücks wäre es sehrunmoralisch, seine eigene Persönlichkeit in Anrechnung zu brin-g e n . . . "

Trotz seiner angegriffenen Gesundheit und der üblen Erfahrun­gen mit dem König sagt Stein sogleich zu.

Als er im September 1807 sein Amt als leitender Minister an­tri t t — wieder ohne irgendwelche Sicherungen gegen die könig­liche Willkür — findet er ein fast hoffnungslos zerrüttetes Staats­wesen vor.

In einer Klausel des Tilsiter Friedensvertrages ist festgelegt, daßdie Räumung des unglücklichen Preußens erst nach der völligenBezahlung der Kriegsentschädigung erfolgen soll. Der König flehtden Sieger in einem eigenhändigen Schreiben an, die Zahlungennach den bescheidenen Möglichkeiten des ausgebluteten und seinerHilfsmittel beraubten Landes zu bemessen; es sei völlig ausge­schlossen, eine Kriegssteuer von 140 Millionen zu bezahlen. Trotzdieses beschwörenden Schreibens läßt Napoleon am 4. Oktober 1807alle preußischen Staatseinkünfte beschlagnahmen. Es wird klar,daß der Kaiser der Franzosen durch immer neue und höhere For­derungen den preußischen Staat zu ruinieren und für immer inAbhängigkeit zu halten versucht.

Was hilft die allerstrengste Sparsamkeit, die der königliche Hofund seit der Amtsübernahme durch den Freiherrn vom Stein auchdie Verwaltung sich auferlegen. Das goldene Tafelservice Fried­richs des Großen wird eingeschmolzen, der Diamantenschmuck derKönigin wird verkauft, die königliche Familie verzichtet auf einDrittel ihrer Einkünfte.

Doch den Hauptteil der Lasten haben die Bürger und Bauernzu tragen und durch Steuern und Sonderabgaben aufzubringen,während die Besatzungstruppe das Geld bei Bällen, Paraden, Ge­lagen und Festen mit vollen Händen vergeudet. Diese zu natio­nalem Zorn aufreizenden Vorgänge bringen alle patriotischen Ge-

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Reichsfreiherr vom Stein

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fühle in Wallung, das Volk erwacht aus seiner Gleichgültigkeitund legt die neutrale Rolle des Zuschauers ab, die es noch wäh­rend der Ereignisse des Jahres 1806 an den Tag gelegt hat.

Die Zeit ist nie reifer für durchgreifende Reformen gewesen alsjetzt. Wenn jemals die Dinge des Staates verändert und moderni­siert werden können, so ist jetzt die Stunde gekommen.

Freiherr vom Stein beginnt ohne zu zögern mit seinem Erneue­rungswerk.

Das große Reformjahr 1807/08. . .

Der neue Staatsmindster hat eine Mappe mit längst vorbereite­ten Erlassen mit nach Memel gebracht, wo die preußische Regie­rung seit einiger Zeit residiert. Er versammelt unverzüglich eineAnzahl Mitglieder des preußischen Kabinetts um sich, soweit erin ihnen geeignete Mitarbeiter bei seinem Werke sieht. Auch Offi­ziere, die sich für die neuen Ideen aufgeschlossen gezeigt haben,werden herangezogen.

In der kleinen Amtsstube des Landgerichts, in dem Stein seinHauptquartier aufgeschlagen hat, treffen sich die Reformer: ne­ben Stein der Oberpräsident Theodor von Schön, der Geheime Fi­nanzrat Johann August Sack und Johann Wilhelm Süvern, derneue Leiter der Kultusangelegenheiten, ein Professorenkollege deskürzlich verstorbenen Philosophen Immanuel Kant. Unter den an­wesenden Offizieren ragen Scharnhorst, Gneisenau und Boyen her­vor. Den Dreispitz im Arm umstehen sie aufrecht den Schreib­tisch des Freiherrn. Im Hintergrund wartet diensteifrig mit demBlock und Stift in der Hand der getreue Assessor Koppe, dem esbeschieden sein wird, noch eine sehr bedeutende, wenn auch ver­hängnisvolle Rolle im Lebensdrama Steins zu spielen.

Der Freiherr, nunmehr mit weitgehenden Vollmachten des Kö­nigs versehen, wendet sich an die Versammelten:

„Meine Herren, es ist nötig, dieser gedemütigten und in ihremKerne verwundeten Nation wieder Mut, Selbstvertrauen und Wi­derstandswillen einzuflößen. Nationale Freiheit läßt sich nur miteinem freien und aufrechten Volke gewinnen. Ich denke, wir soll­ten alles tun, eine Nation von echten Männern und staatsbewuß­ten Bürgern zu schaffen. Dazu erscheinen mir folgende Maßnahmenvordringlich. Bitte, hören Sie mich an ! "

Ein beifälliges und gespanntes Raunen geht durch die kleineGesellschaft, als Stein seinen Reformplan entwickelt.

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„Aufhebung der persönlichen Leibeigenschaft in der preußischenMonarchie . . . Durch ein Edikt soll die persönliche Leibeigen­schaft mit ihren Folgen, insbesondere dem sehr drückenden Ge­sindedienstzwang, aufgehoben werden. Die aus dem dinglichen Be­sitz fließenden Verpflichtungen des Bauernstandes bleiben unver­ändert.

Verwandlung der Domänenbauern in Ost- und Westpreußen infreie Eigentümer.

Bildung städtischer Gemeinden durch eine Städteordnung, ver­sehen mit dem Wahlrecht ihrer Magistrate und der Befugnis, ihreinneren Angelegenheiten selbst zu ordnen, um den Gemeindegeistund das Interesse an den Gemeindeangelegenheiten zu wecken undzu unterhalten . . .

Die Militärkommission möge sofort Grund zu einer Reihe vonEinrichtungen legen, die ich nachfolgend aufführe:

Aufhebung der Bestrafung der Soldaten mit dem Stock.Allgemeine Wehrpflicht wie in Frankreich, damit nicht mehr

wie bisher der Kriegsdienst nur auf den untersten Klassen ruhe,damit wir von der Werbung unabhängig werden und die Dienst­zeit abkürzen können.

Wissenschaftliche Ausbildung der Offiziere an Kriegsakade­mien wie in Frankreich und Aufstiegsmöglichkeiten für Offizierelediglich nach dienstlicher Tüchtigkeit — nicht mehr nach Ge­burt und Adelsbrief!

Auch der innere Geschäftsbetrieb des Kabinetts wird eine Ver­änderung erfahren. Meine Herren, ich habe Seiner Majestät vor­geschlagen und die allerhöchste Zustimmung erfahren, daß meinMinisterium ein Fach-Ministerium sein soll, besetzt von den best­geeigneten Fachleuten. Der lange Verwaltungsweg wird fortanwesentlich abgekürzt werden, weil sich Seine Majestät allergnä-digst bereiterklärt hat, künftig mich selbst, den Minister GrafGolz und Oberst Scharnhorst als Kriegsminister wöchentlich vier­mal zum Vortrag zu empfangen."

Herr vom Stein blickt von seinem Manuskript auf und fügt hin­zu, daß neben den angeführten Reformen eine gründliche Erneue­rung des Behördenapparates einhergehen müsse. Eine wahre Her­kulesarbeit stehe bevor . . .

Bereits acht Tage nach der Amtsübernahme Steins erscheint dasnachmals berühmt gewordene Oktoberedikt über die „Bauernbe­freiung'1.

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Die wichtigste Bestimmung dieser Memeler Verordnung, die vom9. Oktober datiert ist, lautet:

„Jeder Einwohner unserer Staaten ist ohne alle Einschränkungin Beziehung auf den Staat zum eigentümlichen und zum Pfand­besitz unbeweglicher Grundstücke aller Art berechtigt. . ."

Welch ein Fortschritt! War es doch bisher so, daß bestimmteLändereien nur von Adligen in Besitz gehalten werden durften.Gewisse Stände — persönlich Unfreie, Tagwerker, Landarbeiteroder Gutsuntertänige — hatten bisher kein Recht, städtischen,staatlichen oder herrschaftlichen Grund zu kaufen oder zu erben.Anderseits war bürgerlicher, unadliger oder bäuerlicher Bodennur mit Schwierigkeiten für den Adligen zu erwerben. Die stren­gen Standesvorschriften fesselten den Edelmann an die Tätigkeitals Gutsherr oder — die jüngeren Söhne — an die Offiziers- oderBeamtenlaufbahn.

Ein anderer Abschnitt des Steinschen Erlasses verfügt deshalb:„Jeder Edelmann ist ohne allen Nachteil seines Standes befugt,

bürgerliche Gewerbe zu treiben, und jeder Bürger und Bauer istberechtigt, aus dem Bauern- in den Bürgerstand und aus dem Bür­gerstand in den Bauernstand zu treten."

Weithin fallen die Schranken zwischen den Ständen, und auchdie niederen Stände wissen nun, was sie zu verteidigen haben.

Ein weiterer Paragraph bestimmt:

„Mit dem Martinitage 1810 hört alle Gutsuntertänigkeit inUnseren sämtlichen Staaten auf. Nach dem Martinitag 1810 gibtes nur freie Leute, so wie solches auf den Domänen in UnserenProvinzen schon der Fall i s t !"

Freilich — eines bleibt die Bauernbefreiung Steins noch schuldig:Der aus persönlicher Dienstpflicht und Gutsuntertänigkeit befreiteBauer wird Pächter oder Taglöhner auf dem Boden, der nach wievor dem Gute gehört. Er ist zwar persönlich frei — aber die Knuteder Not und die Kette des Hungers zwingen viele zurück in diealte Tätigkeit des Landarbeiters oder Pächters auf fremder Erde.Die Neuverteilung des Bodens auf den Großgütern des Ostens läßtauf sich warten. Dennoch bedeutet das Fallen der mittelalterlichenFesseln einen gewaltigen Schritt nach vorne in das neue Jahr­hundert.

Dieser Tat folgt bald schon die Einführung der städtischen Selbst­verwaltung. Die Pläne Steins sehen auch die Eigenverwaltung für

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Dorf- und Landgemeinden vor — aber das Schicksal wird ihm nichtsoviel Zeit lassen, auch diese Reform noch durchzuführen.

An Hardenberg schreibt Freiherr vom Stein am 8. Dezember 1807von Memel aus:

„Man muß die Nation daran gewöhnen, ihre eigenen Ge­schäfte zu verwalten . . .

Die Menschen müssen an selbständiges Handeln und Entschei­den langsam gewöhnt werden, sie sollen erst die Schule der Ge­meindeselbstverwaltung durchmachen, ehe sie darangehen kön­nen, große nationale Interessen zur Diskussion zu stellen . . ."

Es ist, als sehe der Freiherr am fernen Ufer der Zeiten bereitsdie freie Demokratie eines Volkes heraufsteigen, das seine staat­lichen Schicksale selbst mitbestimmt. Aber er ist kein wilder Re­volutionär, der diesen Idealzustand von heute auf morgen erzwin­gen will. Er weiß, daß man Menschen, die seit Jahrhunderten inder Abhängigkeit von Obrigkeiten und Behörden gehalten wordensind und die daran gewöhnt waren, den Rocksaum der Herren zuküssen und vor jeder Uniform strammzustehen, nicht schon mitder Verantwortung für Entscheidungen belasten kann, denen siecharakterlich und bildungsmäßig noch nicht gewachsen sind.

Demokratie bedeutet für Stein zunächst einmal Erziehung zumpolitischen Denken, und politische Bildung beginnt für ihn imkleinsten Kreise: bei der Gemeindearbeit. Indem er den Bürgernkünftig die Wahl des Stadtrates und Bürgermeisters, die Besetzungder städtischen Ämter überläßt, gibt er ihnen ein weites Feld frei,aus dem dereinst eine bessere und vom Verständnis aller Staats­bürger getragene Ordnung erwachsen kann.

Diesen Erlassen fügt sich die Neuordnung der Staatsbehördenals notwendige Ergänzung an. Stein lehnt jede obrigkeitliche Ein­mischung in die Selbstverwaltung des Landes und der Städte ab;auch verabscheut er den Beamtenzopf, der lediglich nach Formu­laren und Akten regiert. Er will freie Menschen als Träger derÄmter. Vorwärtskommen soll künftig nur der Tüchtige und Ge­eignete, nicht der gut Empfohlene, bestens Verwandte oder Hoch­adlige. Auch in die Stuben der Behörden soll frischer Wind undfreiheitliches Denken einziehen.

Während diese Reformen allmählich Gestalt annehmen und dasLeben der Nation von Grund auf neuformen, erfährt auch das gei­stige und sittliche Leben des preußischen Volkes seine Läuterungund Erhebung. Der Übermut und die Last der französischen Be-

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Satzung haben Preußen aufgerüttelt. Jetzt, da sich unter dem Mi­nisterium Steins alle Dinge zum Besseren wandeln, weiß der preu­ßische Bürger wieder, auf welcher Seite einzig seine Zukunft liegt.

Im Jahre 1806 hatten weite Kreise, denen die Bevorzugung desAdels und des Militärs, das überhebliche Beamtentum und die Un­freiheit des Obrigkeitsstaates verhaßt gewesen sind, den Unter­gang des Königreichs mit stiller Befriedigung angesehen. Das na­menlose Elend, das der Feind ins Land gebracht hat, verwandeltsie. Das geistige Leben Preußens regt sich und gewinnt an Kraft.

Viele Bestrebungen in dieser Epoche der Erhebung sind indes­sen Erscheinungen einer Zeit, die zutiefst aufgewühlt ist. IhreKraft wird mit den hochgehenden Wogen der Napoleonischen Tageverebben und nur die trübe Fracht nationalistischen Fanatismus indie Zukunft tragen.

Anders die Taten des Freiherrn vom Stein, der maßvoll undweitblickend die Eroberer nicht nur mit Haß und Patriotismusbekämpft, sondern sie dadurch schlägt, daß er die Vorzüge derFranzösischen Revolution und der Napoleonischen Zeit für seinenStaat wirksam macht und eben damit den bisherigen Trägern dermodernen Ideen, den Franzosen, den Grund für ihr weiteres Ver­bleiben im Lande nimmt.

Assessor Koppe hat P e c h . . .

Die Durchführung der Steinschen Reformen geht von März 1808

an nur noch zäh und stockend voran. Gewisse Adelskreise Preu­ßens widerstreben; auch die Franzosen — voran ihr unersättlicherFinanzgewaltiger Daru — erschweren den Fortschritt, da sie dempreußischen Staate kaum mehr die Mittel zum Fortbestand lassen.Immer wieder muß der Freiherr zu demütigenden Verhandlungenmit Daru nach Berlin kommen, aber er erreicht von dem hoch­mütigen Statthalter Napoleons fast nichts. Die Franzosen brau­chen mehr Geld als je; denn im Frühjahr 1808 ist in Spanien derVolkskrieg gegen Napoleon ausgebrochen, und Truppen- und Rü­stungstransporte strömen unablässig zur Pyrenäenhalbinsel.

So bleibt der politische Himmel recht dunkel. Rußland ist un­durchsichtig. Zar Alexander hat den einstigen preußischen Ver­bündeten fallen lassen und dafür freie Hand in Finnland und inden östlichen Balkanländern erhalten. Auch die umfassende Han­delssperre gegen alle englischen Einfuhren — die Kontinental-

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sperre, die Napoleon verhängt hat — macht sich bemerkbar. DerMangel an Kolonialwaren, Eisenwaren und Textilien zerrüttet dasWirtschaftsleben. Zwar scheint sich in Österreich ein letzter Wi­derstand anzubahnen, aber alles ist noch recht ungewiß.

Stein ist im Mai aus Berlin zurückgekehrt und sieht nun ange­sichts der leeren Staatskassen und der ständigen Eingriffe der Be­satzungsmacht sein Reformwerk ernstlich gefährdet. Eine Ände­rung der Verhältnisse erhofft er nur noch von der sich vorberei­tenden Erhebung Österreichs. Geheime Briefschaften gehen vonMemel und Königsberg quer durch die französisch besetzten Ge­biete an den Leiter der österreichischen Politik, den Grafen Sta­dion. Hinter verschlossenen Türen finden Konferenzen mit Scharn-horst und Gneisenau statt.

Stein ist überzeugt, daß Deutschland nur durch Deutsche ausden Klauen Napoleons gerettet werden könne. Die unselige Ent­zweiung Preußens und Österreichs soll in einem gemeinsamen Be­freiungskampf und zugunsten eines erneuerten Deutschen Reichesüberwunden werden.

Aber an dieser Frage scheiden sich die Geister. Zu den Gegnern,die das revolutionäre Reformwerk Steins bekämpfen, treten jetztauch die Vorsichtigen und die gegen Österreich mißgünstig Ge­sinnten. Die Opposition gegen den Freiherrn wächst.

Im August 1808 trifft ihn ein erster Schicksalsschlag. Sein eifri­ger Mitstreiter, Oberpräsident Sack, hat eine geheime Rundver­fügung an die Behörden erlassen, in der er zum passiven Wider­stand gegen die Besatzungsmacht auffordert. Das Schreiben wirddem Statthalter Napoleons zur Kenntnis gebracht, und Sack mußentlassen werden.

So geht es nicht weiter! Man kann einen neuen Staat erst auf­bauen, wenn man unbehindert von fremden Einflüssen bleibt.

Mitte August 1808 weilt Freiherr vom Stein in dem mecklen­burgischen Seebad Doberan. Von dort richtet er einen Brief anden Fürsten Wittgenstein, den ehemaligen preußischen Gesandtenbeim Kurfürsten von Hessen. Er hofft, durch seine Vermittlungfür Preußen eine Anleihe des hessischen Staates zu erhalten.

Temperamentvoll äußert er sich in diesem Briefe, den AssessorKoppe überbringen soll, auch über die politische Lage. Er schreibtunter anderem:

„Die Erbitterung nimmt in Deutschland täglich zu, und es istratsam, sie zu nähren . . .

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Die spanischen Angelegenheiten machen einen sehr lebhaftenEindruck und beweisen handgreiflich, was wir längst hätten ver­muten sollen. Es wird sehr nützlich sein, sie möglichst auf vor­sichtige Art zu verbreiten. Man sieht hier den Krieg Napoleonsmit Österreich als unausbleiblich an. Dieser Kampf kann überdas Schicksal Europas entscheiden, also auch über unseres. Wel­chen Erfolg erwarten Ew. Durchlaucht? Es ließen sich jetztdie Pläne, die wir für Winter 1807 hatten, verwirklichen.. ."

Diese Pläne bestanden in der Entfesselung eines Volksaufstandesgegen die Besatzungsmacht. . .

Der brave Assessor Koppe, der den Franzosen als Kurier desStaatsministers vom Stein wohlbekannt ist, verläßt Berlin auf derTegeler Chaussee. Hinter der Bannmeile ist die Straße von Gen­darmen besetzt, der Kurier wird abgefangen, seiner Briefschaftenberaubt und zunächst in Spandau festgesetzt.

Herr vom Stein erfährt zunächst nichts vom Schicksal seinesSekretärs, den die Franzosen sofort nach Paris bringen lassen. Dortbenutzt Außenminister Champagny den erbeuteten Brief Steins,um die preußische Friedensdelegation zu erpressen und ihre Unter­schrift unter die Anerkenntnis der Kriegsschulden zu erzwingen.

In Kreisen der preußischen Regierung herrscht über die Unter­zeichnung der Friedensbedingungen höchste Bestürzung. Doch eheman in Königsberg die Ursache für den raschen Abschluß erfährt,trifft dort die Nummer des „Moniteur" — des Napoleonischen Re­gierungsblattes — vom 8. September ein, in der folgende sensa­tionelle Notiz zu lesen ist:

„Ein preußischer Assessor namens Koppe, wurde als politi­scher Agent entlarvt. Da Marschall Soult ihn verhaften ließ,ist man in den Besitz seiner Papiere gekommen, unter denensich die Urschrift des nachstehend abgedruckten Briefes befand.Wir glauben ihn veröffentlichen zu müssen, denn solche Schrei­ben sind die Ursachen für Gedeihen oder Sturz von Reichen. Erenthält die Absicht des preußischen Ministers vom Stein. Manwird den König von Preußen beklagen müssen, ebenso unge­schickte wie verderbte Minister zu haben . . ."

Der Brief Steins an den Fürsten Wittgenstein ist in vollem Wort­laut dem Artikel des „Moniteur" beigefügt.

Dieser Blitzschlag aus heiterem Himmel ändert alles. Freiherr

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vom Stein weiß, daß seine Tage gezählt sind, und der König weißes auch. Nur ein Jahr lang hat Stein an der Erneuerung Preußensund an der Formung der neuen Ordnung arbeiten können.

Wenn Napoleon zu alledem bisher geschwiegen hat, so geschiehtdas offenbar nur, um die Haltung des preußischen Königs zu prü­fen. Herr vom Stein beschwört in diesen letzten Tagen seiner Amts­tätigkeit, die ihm noch geschenkt sind, den König, den Geist sei­nes Reformwerks und seiner Politik zu retten. In einem Schrei­ben vom 12. Oktober 1808 wirft er weitere neue revolutionäreGedanken ins Spiel: Er stellt fest, daß der eben unterzeichneteFriede unerfüllbar sei und schlägt vor, die Nation über die großeEntscheidung ihres Schicksals selbst zu hören. Hinsichtlich deräußeren Politik rät er dazu, „List gegen Verruchtheit und Schläuewider Gewalttätigkeit" zu setzen, Napoleon durch Versprechun­gen und Gesten zu beruhigen, sich jedoch heimlich mit Österreichzu verständigen und das g a n z e Deutschland zum Widerstandaufzurühren.

Aber all diese gefährlichen Pläne wird der Freiherr nicht mehrselber einleiten und durchführen. Das Unglück Koppes hat ihn ausder Bahn geworfen. Er muß seinen Rücktritt einreichen. Am 24. No­vember 1808 entläßt ihn der König.

Der Emigrant

Am 5. Dezember verläßt Freiherr vom Stein Königsberg undbegibt sich nach Berlin, wo ihn seine Familie erwartet. Aber Na­poleon will nicht nur den Sturz des verhaßten Ministers, er for­dert mehr. Aus Madrid, wohin der Aufstand der Spanier den Kai­ser gerufen hat, trifft das Ächtungsdekret ein:

1. Der genannte Stein, welcher Unruhe in Deutschland zu er­regen suchte, wird zum Feind Frankreichs erklärt.

2. Die Güter, welcher besagter Stein besaß, sollen beschlagnahmtwerden.

3. Besagter Stein soll in Person überall, wo man seiner habhaftwerden kann, von unseren Truppen oder denen unserer Al­liierten ergriffen werden . . .

Der Kaiser ist entschlossen, den Unruhestifter sofort erschießenzu lassen; aber nicht alle seine Untergebenen denken ähnlich rach­süchtig. Der französische Gesandte in Berlin, Graf St. Marsan,

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läßt dem gestürzten Minister durch einen Vertrauten mitteilen,wie es um seine Angelegenheiten stehe und daß er ihm den drin­genden Rat gebe, Preußen auf schnellstem Wege zu verlassen.

Der Freiherr nimmt überstürzten Abschied von seiner Familieund ergreift die Flucht. Unter dem Namen Karl Frucht schlägter sich nach Schlesien durch, wo er zunächst auf dem Gut einesFreundes untertaucht. Von Gut Buchwald aus schreibt er eine ersteNachricht an seine Gattin.

„Ich habe wegen Müdigkeit und Kälte meine Versprechen, Dirvon Sagan aus, meine liebe Freundin, zu schreiben, nicht erfüllenkönnen, melde Dir aber nun, daß ich diesen Morgen um 10 Uhrbei unseren Freunden ankam . . .

Die Nacht war sehr schön, die Witterung milde, der Himmelbald bewölkt, bald erleuchtet, die Natur still und feierlich, unddie zahlreichen Wohnungen der Menschen, durch die man reiste,ruhig. Und eine solche Nacht und solche Umgebungen geben derSeele eine Stimmung, die alles Menschliche, und sei es auch nochso kolossaliseh scheinend, auf seinen wahren Wert zu bringen be­reit ist. Mir fiel ein, daß wir die Schleiermachersche Neujahrs­predigt den ersten Tag dieses Jahres gemeinsam lasen, über das,was der Mensch zu fürchten habe und was nicht zu fürchten sei,daß mir dies als eine passende Vorbereitung zu den darauf fol­genden Ereignissen s c h e i n t . . . "

Bei Dunkelheit und auf Nebenwegen überschreitet Stein am11. Januar die österreichische Grenze. Sein Ziel ist das freie Prag.

Friedrich Gentz, einer der tatkräftigsten Vorkämpfer gegen Na­poleon, empfängt den Flüchtling in der böhmischen Hauptstadtmit einer Huldigung:

„Alle, die noch wissen, auf welchen Wegen Heil und Rettungzu finden wären, . . . verehren in Ew. Exzellenz den Patriarchen . . . und Ich meinerseits erkläre, daß, wenn es mir heute gelänge, Ew.Exzellenz die Diktatur — im altrömischen Sinne des Wortes — über alles, was zur Rettung Deutschlands zu tun wäre, übertragenkönnte, so wollte ich morgen, zufrieden mit diesem Tagewerk,diese Welt verlassen . . ."

Aber nur die stürmischen Männer der Freiheit sprechen so. Dieösterreichische Regierung in Wien begegnet dem Emigranten mitMißtrauen und verweist ihn in das abgelegene Brunn. Schon jetzt,während Österreich den abermaligen Krieg gegen Napoleon vorbe-

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reitet, zeigt sich, daß die Fürstenhäuser zwar die Vertreibung derFranzosen, nicht aber die neue soziale und politische Ordnungwünschen.

Bis zum Juni 1812 bleibt Stein — abseits der Ereignisse, überunermüdlich Briefe und Denkschriften verfassend — in Böhmen.Dann folgt er einer Einladung des Zaren Alexander I. nach Ruß­land. Immer mehr wird der geborene Hessen-Nassauer und Wahl­preuße zum Deutschen, niemals verliert er das Idealbild eineskünftigen deutschen Vaterlandes aus den Augen, auf das er seineReformideen übertragen sehen möchte. Am 1. Dezember 1812schreibt er an den Grafen Münster:

,,Es ist mir leid, daß Ew. Exzellenz in mir den Preußen (ver­muten und in sich den Hannoveraner entdecken. Ich habe nur einVaterland, und das heißt Deutschland. Da ich nach alter Verfas­sung nur ihm und keinem besonderen Teile Deutschlands angehöre,so bin ich auch nur ihm und nicht einem Teile desselben von gan­zem Herzen ergeben. Mir sind die Fürstenhäuser in diesem Augen­blick großer Entwicklungen vollkommen gleichgültig. Es sind nurWerkzeuge. Mein Wunsch ist, daß Deutschland groß und starkwerde . . . um sich zwischen Frankreich und Rußland behaupten zukönnen. Das ist im Interesse ganz Europas. Doch dies kann nichtauf dem Wege alter, verfaulter Form geschehen . . . "

In diesen Gedanken, die der alte Brausekopf und geradlinigeFreiherr so offen ausspricht, liegen die tieferen Gründe verborgen,warum ein so verdienter und großartiger Mann wie Stein später — als sich der Untergang der Großen Armee in Rußland und schließ­lich der Sturz Napoleons vollzieht, als die Freiheitskriege tobenund die Nation zu einem neuen Frühling zu erwachen scheint — kaum in ein verantwortliches und tatsächlich wirksames Amt be­rufen wird. Man fürchtet seine Tatkraft und seine Ziele. In sol­chen Ideen liegt die Erklärung dafür, weshalb Stein — der Be­freier der Bauern, der Schöpfer der modernen Selbstverwaltungder Gemeinden, der Mitschöpfer der Allgemeinen Wehrpflicht, derReformator des Regierungs- und Verwaltungsapparates und dermaßvolle und kluge Schrittmacher einer beginnenden Demo­kratisierung des alten Obrigkeitsstaates — künftig nur noch aufungefährlichen Posten auftaucht. In Petersburg ist er Berater desZaren ohne jegliehes Amt, dann Gründer einer russisch-deutschenLegion, bei der Vertreibung Napoleons aus Deutschland wird erVorsitzender des Zentralrates für die Verwaltung der freigekämpf­ten Gebiete. Vom siegreichen Einmarsch in Paris 1814 kehrt er

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ohne Amt nach Berlin zurück, und ohne Amt nimmt er als Sach­verständiger am Wiener Kongreß teil, um dann ins Privatleben zu­rückzukehren.

Aber auch als Privatmann ist er noch ein Beweger der Dinge.In Frankfurt am Main wird unter seinem Vorsitz 1819 die „Ge­

sellschaft für Deutschlands ältere Geschichtskunde" gegründet,deren Hauptaufgabe die Sammlung und Herausgabe der deutschenGeschichtsquellen aus der mittelalterlichen Kaiserzeit in den ,,Mo-numenta Germaniae Historica" werden soll.

In der Politik spielt Freiherr vom Stein nur noch eine geringeRolle. 1823 wird er westfälischer Delegierter des Landtags, Vor­sitzender der westfälischen Landessynode und 1827 ehrenhalberpreußischer Staatsrat. Doch er besitzt keinerlei wirksamen Ein­fluß auf einen deutschen Staat, kein Ministerium, keinen Platz,von dem aus er den Hebel zur verstärkten Durchführung peinerReformideen ansetzen könnte.

Hat er nicht in seinem Brief an Graf Münster geschrieben: »Mirsind die Fürstenhäuser in diesem Augenblicke großer Entwick­lungen vollkommen gleichgültig"?!

Hat er nicht den besten Gedanken der Revolution, der Selbst­bestimmung der Bürger, ja sogar dem Entscheidungsrecht des Vol­kes über sein Schicksal, zum Durchbruch verhelfen? Kann eineWelt der Rückschrittlichkeit, die nun die wankenden Throne wie­der zusammenkittet und die Völker wieder unters obrigkeitlicheJoch zu beugen sucht, eine Welt der neuerstarkten Fürstenhäu­ser und Exzellenzen, der Generäle, Gutsbesitzer, Junker und Ho­heiten, die soeben die opferbereite Jugend Europas um die Er­gebnisse ihres Freiheitskrieges geprellt hat, kann eine derartigeWelt einen Reformer vom Format eines Freiherrn vom Stein ansSteuer rufen? Ihn — dem Fürstenhäuser wenig und die Nationvieles, dem Adelsprivilegien nichts und die Selbstbestimmung allesbedeuten?

Steins Reformwerk in Preußen ist von seinem Nachfolger Har­denberg einigermaßen abgerundet worden, doch über das Befrei­ungsjahr 1814 hinaus geht der Fortschritt nur noch zäh und zö­gernd weiter. Aber andere Länder greifen seine Gedanken auf. Dievon Stein vorgesehene Ablösung der Grundlasten, die Bodenreformund die Einführung des Selbstverwaltungsrechtes der ländlichenGemeinden werden zu seinen Lebzeiten jedoch nicht mehr ver­wirklicht; der Kampf um die volle demokratische Mitbestimmungdes Volkes dauert noch fast ein Jahrhundert.

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Rufer in der Wüste . . .

Eine der letzten erhaltenen Schriften Steins ist ein Brief an seineTochter Henriette vom 10. April 1831. In Frankreich tobt wiedereinmal eine Revolution, auf die rückständige Herrschaft der Bour-bonen folgt das „Bürgerkönigrum". Aber wie so häufig in der Ge­schichte, sucht die neue Regierung das Augenmerk des Volkes vonden ungelösten inneren Problemen na*h außen abzulenken. Haß­volle Worte fallen gegen Deutschland. Als er die Freiheit seines Va­terlandes erneut von Westen her bedroht sieht, schreibt der Frei­herr :

„Es handelt sich weder um Preußen, noch um Österreich, nochum Bayern, noch um die Fürsten von Reuß-Greuz oder die Für­sten von Schwarzburg-Sondterhausen, es handelt sich um die Na­tion: um die Unabhängigkeit Deutschlands!"

Er — der aus einem dVr letzten reichsfreien Geschlechter derRitterschaft entstammt — trägt tief im Herzen, von aufrechten,freiheitsbewußten Ahnen überkommen, das Sehnsuchtsbild desechten Ritters: das einige, in Freiheit lebende Deutschland. Unddiesem Ideal träumt er nach bis zum Ende.

Mitte Juni 1831 erkrankt Stein an heftigem Fieber. Da erim vierundsiebzigsten Lebensjahre steht, befürchtet man dasSchlimmste. Er selber weiß, daß sein Ende nahe ist. Sein Lebenist erfüllt. „Ich gestehe", schreibt er kurz vor seinem Tode, „daßich meinen Heimgang wünsche, und mich zu ihm vorzubereiten, istmein ernstes, wichtigstes Geschäft." Sieben Tage nach Ausbruchder Krankheit endet ein Lungenschlag das Leben des Reichsfrei­herrn. In dem Dorffriedhof von Frucht, in der Nähe von Nassau,wohin man den Toten von seinem Sterbeort Kappenberg überführthat, wird ihm der Grabstein gesetzt:

Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein

geboren den 27ten Oktober 1757

gestorben den 29ten Juni 1831

ruhet hier.

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Der Letzte seines über sieben Jahrhunderte

an der Lahn blühenden Rittergeschlechtes:

demütig vor Gott, hochherzig gegen Menschen,

der Lüge und des Unrechts Feind,

hochbegabt in Pflicht und Treue,

unerschütterlich in Acht und Bann,

des gebeugten Vaterlandes ungebeugter Sohn,

in Kampf und Sieg Deutschlands Mitbefreier.

Ich habe Lust abzuscheiden

Und bei Christo zu sein.

Urnschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky

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Page 35: Freiherr vom Stein

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IM FALLE EINES FALLES...


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