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Fragile Staatlichkeit und State-building. Begriffe ... · internationale System, sie sind damit die...

Date post: 13-Sep-2019
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Fragile Staatlichkeit und State-building. Begriffe, Konzepte und Analyserahmen. Ulrich Schneckener A. Einleitung: Fragile Staatlichkeit als Problem internationaler Politik 1 In der modernen Staatenwelt erftillt der Staat, zumindest der Theorie nach, eine dop- pelte OrdnungsfunktiOn. Zum einen übernimmt jeder einzelne Staat die Aufgabe, für eine spezifische Bevölkerung innerhalb konkreter Territorialgrenzen die öffentliche Ordnung zu gewährleisten. Zum anderen konstituieren alle Staaten gemeinsam das internationale System, sie sind damit die primären (wenn auch nicht alleinigen) Trä- ger der globalen Ordnung. Schwache, versagende, zerfallende oder gescheiterte Staa- ten -~ allgemeiner formuliert: Formen fragiler Staatlichkeit unterminieren beide Funktionen. Sie verursachen insofern nicht nur Probleme auf nationaler oder regiona- 1er, sondern auch auf internationaler Ebene. In der Tat ist eine Reihe von Staaten de facto nicht in dcr Lage, grundlegende Funktionen und Dienstleistungen gegenüber ihren Bürgern zu erbringen und ihrer Verantwortung und ihren Verpflichtungen als Mitglieder der internationalen Staatengemeinschaft gerecht zu werden. Diese Erkenntnis ist nun keineswegs sonderlich originell schon gar nicht fürjene, die sich seit Jahrzehnten mit Entwickluflgs- und Transformationsgesellschaften bzw. mit Kri- sen- und Konfliktregioflefl befassen. Sie prägten Begriffe wie Quasi-Staaten (Robert H. Jackson), Para-Staaten (Trutz von Trotha), anomische Staaten (Peter Waldmann), Schatten-Staaten (William Reno) oder Netzwerk-Staaten (Jan Köhler/Christoph Zür- chor), um unterschiedliche Aspekte einer mangelhaften oder fehlenden Funktions- und Stcuerungsfähigkeit in zahlreichen Staaten Südost- und Osteuropas, Afrikas, Asiens und Lateinamenkas zu beschreiben.2 Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Fassung des Analysekonzeptes des States at Risk- Projektes (2003-06), das der Autor gemeinsam mit Kollegen und Kolleginnen an der Stiftung Wissen- schaft und Politik (SW1~) durchgeführt hat und in dessem Rahmen 12 Länder untersucht wurden. Siehe dazu: U. Schneckener (Hrsg.), Fragile Staatlichkeit. States at Risk zwischen Stabilität und Scheitern, Studie Nr. 43, 2006, sowie U. Schneckener (hrsg.), States at Risk. Fragile Staaten als Sicherhejis- und EntwicklungSproblcm, 2004, S. 43 (November 2004). 2 Siehe dazu: R.f1. Jackson, Quasi-states: Sovcreignty, I.!üernational Relations and thc Third World, Cambridge 1990; P. Waldmairn, Der anomische Staat. Uber Recht, öffentliche Sicherheit und Alltag in Lateinamerika, 2OO2~ 71 von Trotha, Leviathan 28 (2000), S. 253-279; W. Reno, Shadow States and ihe Political Econorny of Civil Wars, in: M. Berdal/D. Malone (Hrsg.), (irccd and Grievance. Eco— nomic Agendas in (lvii Wars, l3ouldcr 2000, S. 43-69; J. Koehler/C. Zürcher, Institutions and thc Organisation of Stability and Violence, in: dies. (Hrsg.), Potenijais of Disorder. Explaining Violcnce in the Caucasus and in thc Former Yugoslavia, Manchester 2003, S. 219-241. 98
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Fragile Staatlichkeit und State-building. Begriffe, Konzepteund Analyserahmen.

Ulrich Schneckener

A. Einleitung:Fragile StaatlichkeitalsProbleminternationalerPolitik1

In der modernenStaatenwelterftillt der Staat,zumindestderTheorienach,einedop-pelteOrdnungsfunktiOn.Zum einenübernimmtjedereinzelneStaatdieAufgabe, füreinespezifischeBevölkerunginnerhalbkonkreterTerritorialgrenzendie öffentlicheOrdnungzu gewährleisten.Zum anderenkonstituierenalle StaatengemeinsamdasinternationaleSystem,sie sinddamit die primären(wennauchnicht alleinigen)Trä-gerderglobalenOrdnung.Schwache,versagende,zerfallendeodergescheiterteStaa-ten -~ allgemeinerformuliert: Formenfragiler Staatlichkeit unterminierenbeideFunktionen.Sieverursacheninsofernnicht nurProblemeaufnationaleroderregiona-1er, sondernauchauf internationalerEbene.In der Tat ist eineReihevon Staatendefacto nicht in dcr Lage, grundlegendeFunktionenund Dienstleistungengegenüberihren Bürgernzu erbringenund ihrer Verantwortungund ihren VerpflichtungenalsMitglieder der internationalen Staatengemeinschaftgerecht zu werden. DieseErkenntnisist nunkeineswegssonderlichoriginell — schongarnicht fürjene,diesichseit Jahrzehntenmit Entwickluflgs- undTransformationsgesellschaftenbzw.mit Kri-sen-und Konfliktregioflefl befassen.Sie prägtenBegriffe wie Quasi-Staaten(RobertH. Jackson),Para-Staaten(Trutz von Trotha),anomischeStaaten(PeterWaldmann),Schatten-Staaten(William Reno)oderNetzwerk-Staaten(JanKöhler/ChristophZür-chor), um unterschiedlicheAspekteeinermangelhaftenoder fehlendenFunktions-und Stcuerungsfähigkeitin zahlreichenStaatenSüdost- und Osteuropas,Afrikas,AsiensundLateinamenkaszu beschreiben.2

Bei diesemBeitraghandeltessichumeinegekürzteFassungdesAnalysekonzeptesdesStatesatRisk-Projektes(2003-06),dasderAutor gemeinsammit Kollegenund KolleginnenanderStiftung Wissen-schaftund Politik (SW1~) durchgeführthat und in dessemRahmen12 Länder untersuchtwurden.Siehe dazu: U. Schneckener(Hrsg.), Fragile Staatlichkeit.Statesat Risk zwischen Stabilität undScheitern,Studie Nr. 43, 2006, sowie U. Schneckener(hrsg.), Statesat Risk. Fragile StaatenalsSicherhejis-und EntwicklungSproblcm,2004,S. 43 (November2004).

2 Siehe dazu: R.f1. Jackson,Quasi-states:Sovcreignty,I.!üernationalRelationsand thc Third World,Cambridge1990;P. Waldmairn,DeranomischeStaat.UberRecht,öffentliche Sicherheitund Alltagin Lateinamerika,2OO2~ 71 von Trotha,Leviathan28 (2000), S. 253-279;W. Reno,ShadowStatesandihe Political Econornyof Civil Wars, in: M. Berdal/D. Malone(Hrsg.), (irccd and Grievance.Eco—nomic Agendasin (lvii Wars, l3ouldcr 2000, S. 43-69; J. Koehler/C. Zürcher, Institutions and thcOrganisationof Stability andViolence,in: dies.(Hrsg.),Potenijaisof Disorder.ExplainingViolcncein the Caucasusandin thc FormerYugoslavia,Manchester2003,S. 219-241.

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Im sichcrheitspolitischenund strategischenDenken westlicher Industrienationenspieltejedoch das Phänomenfragiler Staatlichkeitsystematischnur eine geringeRolle — und wenn, dann allenfalls im Kontext von »humanitärenInterventionen«.StaatszerfallgaltausdieserPerspektivealseinProblemmit primär lokalenundregio-nalenFolgen,insbesonderefür dieBevölkerungvor Ort, daspunktuellauchein mili-tärischesEingreifenvon außenerforderlichmachte(wie z.B. in Somalia 1992,Haiti1994 und Ex-Jugoslawien1992-95),aberim Regelfall der Entwicklungspolitikundder humanitärenhilfe überlassenwerden konnte. Diese Wahrnehmunghat sichinfolge der Terroranschlägevom 11. September2001 dramatischverändert.Keineernst zu nehmendesicherheitspolitischeAnalyse oder Strategieverzichtetauf denHinweis, dassfragile StaatenGeflihrdungenfür die eigeneSicherheitbedeutenkön-nen. Die VerbindungzwischenbeidenThemenist zwareherindirekt: Die AttentätergehörteneinemtransnationalenTerrornetzwerkan, dasseinen(temporären)Hauptsitzin Afghanistan hatte, einemjener, zumal im Westen, vergessenenfailed states.Gleichwohl scheintdie Botschaftvon 9/11 eindeutig:Wenn lokale Problemlagenwie etwain Afghanistan— überlangeZeit ignoriertundsiehselbstüberlassenwerden,könnendarausglobaleRisikenerwachsen.In diesemSinnevollzog dieamerikanischeRegierungin ihrerNationalenSicherheits-strategie(September2002)einensicherheitspolitischenParadigmenwechsel:»Ame-rica isnow threatenedlessby conqueringstatesthanwe areby failing ones«,3heißtesdarin. Nicht mehrmilitärisch starkeStaatengeltendanachals primäre Gefahr,son-dernjene,die vom innerenZerfall bedrohtsindoderdiesenProzessbereitsdurchlau-fen haben.In der EuropäischenSicherheitsstrategie(Dezember2003)wird dasPro-blemzerfallenderStaaten(»failedstates«)ebenfallsals einezentraleBedrohungderinternationalenSicherheitbezeichnet,die »die globale PolitikgestaltunguntergräbtunddieregionaleInstabilitätvergrößert«.Dies gelteumsomehr,je stärkersiehdieseHerausforderungmit anderenBedrohungenwie deminternationalenTerrorismus,derorganisiertenKriminalität und der Proliferation von Massenvernichtungswaffenverbinde.4In beidenDokumentenwird Staatsversagenbzw. StaatszerfallalsmittelbareodergarunmittelbareBedrohungfür dieSicherheitderUSA bzw.derEU formuliert. Obgleichsie im Grundsatzübereinstimmen,habenbeideStrategiepapierewedereinen umfas-sendenAnsatz zum Umgang mit fragilen Staatenanzubietennoch lassensie einegemeinsameStrategieerkennen.DasDokumentder US-Regierungsetztbei derPro-blembewältigungnotfalls auf unilaterale,präventiveAktivitäten zum Schutz vonamerikanischenInteressen,die EU-Strategiehingegenaufeinen— ehervage formu-lierten »effektivenMultilateralismus«.Allerdings ist schondie Analyseselbstfrag-würdig, denn sie reduziertdie Thematikeinseitig auf Bedrohungsaspekle.FragileStaatenperse sindaberkeineBedrohungim eigentlichenSinne,sondernsie wirkenvielmehr als begünstigenderFaktor für mögliche Bedrohungenandererund fast

3 SieheTheNationalSecurityStrategyofthe United StatesofAmcrica, Washington,D.C., Sept.2002,<http://www.whitehouse.gov>,5. 1.

4 Siehe Rat der EuropäischenUnion, EuropäischeSicherheitsstrategie.Ein sicheresEuropain einerbesserenWelt, Brüssel,12.12.2003,<http:/!www.consiliurn.europa.eu>,S.4—5.

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noch wichtiger sieerschwerendie Lösungvon zentralen,globalenSicherheitspro-blemen.Sie stelleneinRisiko dar,ausdciii konkreteBedrohungenhervorgehenodersich verstärkenkönnen,die sich möglicherweisewiederumgegendie USA, EuropaoderandererichtenundinsoferneineglobaleDiniensionentfalten.5DieserPerspektivefolgt weitgehendder BerichtA moresecureworld, dendas vornGeneralsekretärder VereintenNationen(VN), Kofi Annan,eingesetztehochrangigeExpertengremium(High Level Panel) im Dezember2004 vorgelegthat. In demDokument werden sechs »Bedrohungseluster«identifiziert: (1) wirtschaftliche,soziale und ökologischeBedrohungen,(2) zwischenstaatlicheKonflikte, (3) inner-staatlicheKonflikte, (4) Prohiferationnuklearer,radiologischer,biologischerundche-mischerWaffen, (5) Terrorismussowie (6) transnationalorganisierteKriminalität.6Im Unterschiedzu denbeidenSicherheitsstrategienderEU undderUSA werden»fai-ling« und »failedstates«nicht gesondertalsBedrohungaufgelistet.Die Autorenkom-menaufdasProblemfragilerStaatenvielmehrindirektzu sprechen:Letztlich,soihreThese,werdekeinesdergenanntenSicherheitsproblemegelöst,wenndasPhänomenschwacher,versagenderodergar gescheiterterStaatlichkeitvon der internationalenGemeinschaftweiterhin ignoriertodernicht konsequentgenugadressiertwerde. Die-serZusammenhanglässtsich an einpaarBeispielenleicht illustrieren:Einesubstan-tielle Aids- und Seuchenbekämpfungoder eine wirksameKatastrophenvorsorgeistohne staatlicheStrukturenkaum möglich; die Bekämpfungvon Armut und einegerechtereVerteilungvon RessourcensetzenebenfallseinenstaatlichenRahmenvor-aus;dieEindämmungvon organisierterKriminalität, dieUnterbindungdernichtstaat-liehenVerbreitungvonNuklearmaterialoderdieBekämpfungtransnationalerTerror-netzwerkebedürfen— nicht nur, aberauch— staatlicherKontrollmechanismenundZwangsmittel;dieBeilegungvon RegionalkonfliktenundBürgerkriegenist unmittel-barverknüpftmit der SchaffunglegitimerstaatlicherStrukturen.Mit dieserAnalyseerweistsiehder Bericht desHigh Level Panelals deutlichumfassenderundproble-madäquaterals die beidenSicherheitsstrategien.Die zitiertenDokumentezeigen:Die Debatteumfailedstatesist zwar nicht neu,siewird abermit einer neuenDringlichkeit geführt. Dabei hat sich der Schwerpunktoffenkundigvon einer bis dato eher entwicklungspolitischgeprägtenhin zu einersicherheitspohitischenBetrachtungsweiseverlagert.Was (fälschlicherweise)oftmalsfür lowpolitics gehaltenwurde,erhältnundenStempelhighpolitics. Im KernwardasThemaStaatszerfalljedochimmerschonbeides— sowohleinEntwicklungs-alsauchein Sicherheitsproblem.Unter modernenVorzeichenist eine stabilesoziale,ökono-mische,politischeund kulturelle EntwicklungeinerGesellschaftohne einenstaatli-ehenRahmennur schwervorstellbar,desgleichenbirgt die Abwesenheitdesstaatli-ehenGewaltmonopolsdie GefahreinesdauerhaftenBürgerkriegsundderdamit ver-

5 Zur Unterscheidungvon Bedrohungund Risiko sieheC. Daase,InternationaleRisikopolitik. Ein For—schungsprogrammrür den sicherheitspolitischenParadigmenwechsel,in: ders./S. Feske!I.Peters(Hrsg.), InternationaleRisikopolitik. I)cr Umgangmit neuenGefahrenin den internationalenBezie-hungen,2002,5. 9-35.

6 Zur sicherheitspolitischenAnalysesiehetlnitedNations,A More SecureWorld: OurSharedRespon-sibiliry. Report.ofthe Secretaty-(ieneral‘slligh-level Panelon Threats,ChallengesandChange,NewYork 2004, 5. 23-54.

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bundenenKonsequenzenfür andereStaaten.Trotz Globalisierungundder wachsen-denBedeutungniehtstaatlicherAkteure ist derStaatnachwie vor daszentrale,wennauchnicht einzigeOrdnungsmodell.Das wird auch darandeutlich,dassselbstjene,die die AuflösungeineskonkretenStaatespropagieren(z.B. RebellenoderSeparati-sten),diesnicht tun,weil siedie IdeedesStaatesperseablehnen,sondernweil siedieGründungeineseigenen,neuenStaatesanstreben.InsoFernliegt dasProblemnicht inder Tatsache,dassseit Beginndes20. Jahrhundertsin mehrerenWellen (nach 1918,nach 1945, nach 1989) ausexistierendenStaatsgebildenimmerwiederneueStaatenhervorgegangensind, sondernin derQualitätderStaatlichkeitselbst.Die Herausfor-derungentstehtdurchLänder,in denenvon einergeordnetenStaatlichkeitund damitvon einerzuverlässigenWahrnehmungvon nationalenund internationalenAufgabennicht odernicht mehrdie Redeseinkann. SolcheStaatensindaufgrundneuerer,ver-stärktseitEndederneunzigerJahrewahrgenommenerProblemlagenmehrundmehrin denBlick derinternationalenFriedens-und Sicherheitspolitikgeraten.Dabei wirddeutlich,dassdieseEntwicklungenkeinesfallsausschließlichaufdie gravierendstenFälle von Staatszerfallbeschränktsind, in denenStaatlichkeitpraktischnicht mehrexistiert— wie etwa Somalia,Afghanistanoderdie DemokratischeRepublikKongo.Siebetreffenvielmehr,wennauchin unterschiedlicherIntensität,eineReihevonLän-dern, die in Teilbereichenüber staatlicheStrukturenverfügen,derenStaatlichkeitjedoch»aufderKippe«steht.Mit anderenWorten:Die Konzentrationaufdiebekann-ten »worstcases«wird der Problematikkeinesfallsgerecht.Es ist vielmehrnotwen-dig, bei der Analyseein breiteresSpektruman fragilen Staatenin denBlick zu neh-men,insbesonderedann,wenn manpräventivgegensich abzeichnendeoder bereitsstattfindendeErosionsprozessevorgehenwill.

B. Zum Konzeptvon Staatlichkeit

DerBegrifffragile Staatlichkeitimpliziert, dassessowohlempirischalsauchkonzep-tionell nicht-fragile, dasheißt stabile,intakte oder konsolidierteFormenvon Staat-hichkeit gebenmuss.Mit anderenWorten: Die Vorstellungvon fragiler Staatlichkeitist notwendigerweiseabgeleitetvon Konzeptionen,dieihrenUrsprungnicht zuletztinder europäischenPhilosophieund Soziologiedes Staateshaben.Die GrundlagefürdieAnalysevon Staatlichkeitist demzufolgedermoderne,neuzeitlicheStaat,wie ersich zunächstin Europaim Laufe des 17. und 18. Jahrhundertsherausgebildethat.Dabei kann in Anlehnungan Max WeberzwischenpolitischemVerbandund Staatunterschiedenwerden,das heißt, politischeGemeinwesensind nicht zwingendaufAttributevon Staatlichkeitangewiesen,sondernkönnenauchin andererFormexistie-ren.DaszentraleDistinktionsmerkmalist für Weberjedochdas»Monopoldeslegiti-menphysischenZwangs«,dasnur der moderneTerritorialstaatbeansprucht.7In der(deutschen)staatsrechtlichenLiteratur wird seit der AllgemeinenStaatslehrevonGeorgJellinek(1895)beider DefinitiondesStaatesvon drei Elementenausgegangen:

7 Vgl. S. Bretter,Der Staat.Entstehung,Typen, Organisationsstadien,1998,5. 18 fl

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Staatsgebiet,Staatsvolk(Staatsbevölkerung)undStaatsgewalt.Mit anderenWorten,dermoderneStaatkonstituiertsichdurchdenAnsprucheinerZentralgewaltundihresApparatsauf politisch-institutionelleKontrolle über ein spezifisches,abgrenzbaresTerritorium und die dort lebendeBevölkerung.DieseZentralgewalt,als Verkörpe-rungdesStaatesundGarantderOrdnung,beanspruchtdamit SouveränitätnachInnen(vis-ä-vis denBürgernundderGesamtgesellschaft)undnachAußen(vis-a-visexter-nenAkteuren).In derPraxisderinternationalenBeziehungenundausderPerspektivedes Völkerrechtsbedarfjedochein Staatder Anerkennungdurchandere,um über-hauptnach InnenundnachAußensouveränhandelnzu können.Nebendie De-facto-Staatlichkeit— verkörpertdurchdie drei Elemente— tritt daherdie De-jure-Staatlich-keit, die siehaufdie internationaleAnerkennungbezieht.Für die formaleExistenzvon Staatlichkeitist der De-jure-Aspektsogarwichtiger als die faktischeStaatlich-keit, da das politische Gemeinwesennur durch diese AnerkennungdiplomatischeBeziehungenunterhaltenundbeispielsweiseMitglied internationalerOrganisationenwerdenkann.In derTat handeltessichbeieinerReihevonpostkolonialenStaatenumDe-jure-Konstrukte,denenwesentlicheempirischeVoraussetzungenfehlen. Gleich-zeitiggibt esstaatsähnlicheGebilde,diejedochauspolitischenGründenkeineumfas-sendeinternationaleAnerkennungfinden (z.B. Transnistrien,Abehasien,Somaliland,Kosovo,Nordzypem).Damit sindjedochnurMinimalki-iterien für Staatlichkeitgenannt.Insbesonderein derOECD-Welt,abernicht nur dort, hat sich in denfünfziger, sechzigerund siebzigerJahrendes20. Jahrhundertsein Profil von Staatlichkeitentwickelt, das siehnebendemGewaltn-ionopolalsAusdruckstaatlicherSouveränitätnochausanderenDimen-sionenvon Staatlichkeitzusammensetzt.Dazu zählenvor allem der demokratischeVerfassungsstaat,derRechtsstaat,derVerwaltungsstaatund der Sozial-bzw. Wohl-fahrtsstaat.8ModerneStaatlichkeitumfasstinsofern ein breitesSpektruman politi-schenInstitutionen,dasüberdenengerenBereichdesStaatsapparatsundderExeku-tive (inklusive Polizeiund Armee)hinausreichtunddieLegislative(Parlamente,Par-teien), die Judikative (Gerichtswesen)und den gesamtenVerwaltungsbereichein-schließt.Danebenkönnenauchstaatlichgeprüfte Bildungseinrichtungen,Kranken-häuseroderöffentlich-rechtlichverfassteMedienals ElementestaatlicherOrdnungaufgefasstwerden.HinzukommenjenachStaatsautbauInstitutionenundAkteureaufder lokalenund regionalenEbene(Kommunal-und Bezirksverwaltungen,Kominu-nalparlamente,Provinzgouverneureetc.). Darüberhinauskonimt es auchvor, dassstaatlicheEinrichtungenbestimmteFunktionenan zivilgesellsehaftlicheoderprivateAkteure delegieren,die damit Verantwortung für das Gemeinwesenübernehmen.Insoferngilt eszwischendemStaat,verkörpertdurcheineRegierungundeinenbüro-kratischenApparatundverstandenalsAkteur im engerenSinne,undStaatlichkeitalsfunktionalemBegriff, bei demesum dieErfüllungbestimmter,gemeinwohlorientier-ter Aufgaben,um dasZustandekommenund dieDurchsetzungvon Entscheidungen,uni die Bereitstellungvon Ressourcensowie um einen politisch-rechtlichenOrd-

8 SieheD. Grimm (Ilrsg.), Staatsaufgahen,1996.

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nungsrahmengeht,zu unterscheiden.NachdieseniVerständnistragennicht nur staat-liche AkteurezurStaatlichkeitbei, sondernebenauchandereAkteure.Die BezugnahmeaufdashistorischentwickelteOECD-Profil gehtnotwendigerweisemit einer normativen,durchausproblematischenGrundorientierungeinher, da hierimplizit oderexplizit Maßstäbeangelegtwerden,die, soeinehäufiggeäußerteKritik,nur schwerin andereWeltregionenübertragbarseien.9Allerdings lässt sichbei derErforschungvon Phänomenenfragiler Staatlichkeit eine normative Ausrichtungkaumvermeiden:Diesgilt nicht nur für FragenderpolitischenOrdnung(Demokratie,Rechtsstaatlichkeitetc.),sondernauchfür ganzelementareBereiche:Dassein Staatbeispielsweisefür die SicherheitseinerBürger Sorge tragensoll, ist offenkundigkeineausderAnalysegewonnene,sondernzunächsteinenormativbegründeteForde-rung, über die man geteilterAnsicht sein kann. Darüberhinauslassensich einigeGründenennen,warum es durchausSinn macht,das sogenannteOECD-Modcll alsAusgangspunktfür dieAnalysezugrundezu legen:ErstenshatsichdasobenskizzierteStaatsmodellauchin derOECD-Weltnur allmäh-lich, unterRückschlägenundKrisen,herausgebildetundist erstin derzweitenHälftedes 20. Jahrhundertszu seinervollständigenAusprägunggekommen,zunächstinNordamerika,West- und Nordeuropa,dann in den siebzigerJahrenin Südeuropa(Spanien,Portugal,Griechenland),in denachtzigerJahrenin Teilen Lateinamerikassowie Ostasiensund in denneunzigerJahrenin Mittel-, Ost- und Südosteuropa.IndiesemSinnehandeltsichzwarum daswestlicheModell desdemokratischenRechts-und Wohlfahrtsstaats,das aber, empirisch betrachtet,keinesfallsallein auf seinenhistorischenUrsprungsraumfestgelegtist, sondernsiehauchin anderenRegionenalsdaserfolgreichereModell durchgesetzthat.Zweitensbestehtbis heuteeineerheblicheVarianz bei derAusgestaltungvon Staat-lichkeit innerhalb der OECD-Welt, das heißt, es gibt trotz aller Gemeinsamkeitenkeine allgemeingültigeBlaupause,nachder Staatlichkeitorganisiertwird. SelbstimKernbereichdes Staates,bei der Gewährleistungöffentlicher Sicherheit,geltenvonLand zu Land unterschiedlicheMaßstäbeund Regelungen.Ahnliches gilt für denAufbauderpolitischenOrdnung,zum Beispiel für die Wahl desDemokratiemodellsoder für denUmfangdes Sozialstaats.Diese Ileterogenitätinnerhalbder westlichenWelt wirdjedochin derDebattenur seltenzurKenntnisgenommen.Drittensmussmanfeststellen,dassesheuteweltweit kaumnochGesellschaftengibt,die ausschließlichaufderBasisvormoderner(tribaler, traditionaler)Strukturenorga-nisiert sind, welche als Anknüpfungspunktefür ein alternativesModell in Fragekämen.Auf lokaler Ebeneund in abgeschiedenenGemeinschaftenmag es solcheOrganisationsformengeben;grundsätzlichistjedochdie außereuropäischeWelt, imPrinzipseitderKolonialzeit,von einempolitischenundwirtschaftlichenModernisie-rungsprozesserfasst, der eine Rückkehr zur Vormodernenur schwervorstellbarmacht. In der Realität finden sich vielfach eher hybride Formen, die »westliche«Elementein derStaatsführungmit traditionalenzu verbindenversuchen.Im Ergebnis

9 Für eine Konzeptionalisieningder OECD-Staatlichkeitsiehe vor allem den RahmenaniragdesSonderlorschungsbereichs»Staatlichkeitim Wandel«(SEB 597),UniversitätBremen,2002.

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führt dieseKonsteliationnicht seltenzu erheblicheninnergesellsehaftlichenAusein-andersetzungenzwischenwestlich-orientiertenund traditionalen,orthodoxenoderfundamentalistisehenKräften.Geradein einemsolchenSpannungsfeldkommenkon-kun-ierendenormativeAnsprücheins Spiel,zu denensich externeAkteureverhaltenmüssen.ViertensbedeutetdieHerleitungvon elementarenStaatsfunktionenausdemOECD-Modell nicht notwendigerweise,dassdamit ein absoluterMaßstabverbundenist. Esist vielmehrmöglich,durchdenVergleichvon Fälleneinen relativenMaßstabzu ent-wickeln, undzwarin zweierleiHinsicht:ZumeinensinddieanalysiertenLänderrela-tiv fragil im Verhältniszueinander.Zum anderenkönnendie verschiedenenstaatli-chenFunktionengegeneinandergewichtetwerden.So niagzumBeispieldasGewalt-monopolin einemLandX verglichenmit denübrigenFällennochrelativ intakt sein,wohingegenstaatlicheDienstleistungenkaumnocherbrachtwerdenoderdie politi-scheLegitimitätäußerstschwachist.Fünftensstellt sich dieFrage,ob ausSichtderdeutschenodereuropäischenAußen-,Sicherheits-und Entwicklungspolitikernsthaftein anderesModell zugrundegelegtwerden kann. Sollen beispielsweisedemokratischeSpielregelnoder ElementevonRechtsstaatlichkeitalsZielsetzungenausgeschlossenoder relativiertwerden,weil sieals »westlicheImporte« gelten?Dies würde bedeuten,dassman — ungeachtetderhistorischenErfahrungenbei der Ausbreitung des OECD-Modells — bestimmteGesellschaftenprinzipiell für nicht fähig hält, nachhaltigeStrukturenzu entwickeln,obwohl in den meistenLändernverschiedeneAkteure, oftmals im WiderspruchzudenaktuellenMachthabern,genaudiesedemokratischenundrechtsstaatlichenSpiel-regelneinfordern.Die Haltung,anderendasPotentialzu einerdemokratischenEnt-wicklung abzusprechen,wäre ebensopaternalistischundrealitätsfern,wie die Uber-zeugung,der»Westen«müsseanderenWeltregionenseineVorstellungen»überstül-pen«.DasProblemscheintdaherwenigerdienormativeOrientierunganbestimmtenZielenzu sein,alsvielmehrdieFragenachdemgeeignetenWegunddenangemesse-nenMitteln, um diesezu erreichen.Hier gibt esin der Tatkeine einfachenAntwortenoder Blaupausen,die sich ohneweiteresvon einerRegionaufeineandereübertragenließen.

C. Drei KernjiinktionendesStaates

Fälle von fragiler Staatlichkeitzeichnensich in ersterLinie dadurchaus,dassstaatli-che Institutionenihre Steuerungsfähigkeitin zentralenAufgabenbereichenverlorenhabenoderabernur unzureichendentwickeln konnten. Es handeltsich um Staaten,derenInstitutionennicht odernicht mehrin derLagesind,bestimmteelementareLei-stungengegenüberihrer Bevölkerungzu erbringen.Um die unterschiedlichenFor-menundDimensionenfragilerStaatlichkeitanalysierenzu können,musszunächsteinMaßstabentwickeltwerden.Zu diesemZweck sollen drei Funktionenvon Staatlich-keit unterschiedenwerden,die den KernbereichmodernerStaatlichkeitausmachen:

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Sicherheit,Woh//ährtund Legitimität/Rechtsstaatlichkeit.‘0G rundsätzlieh gilt, dasseinenachhaltigeKonsolidierungdieserstaatlichenFunktionennur dannzu erwartenist, wenn alle drei entwickeltwerden.DieserAnsatzgehtüberdieKonzentrationaufdaszweiFelloselementareGewaltmonopolhinausundführt dazu,dassauchautoritäreoder semi-autoritäreRegime (wie z.B. Nordkorea,Kuba, Syrien, Turkmenistan,Usbekistanoder Weißrußland) als fragile Staaten bezeichnet werden können,obgleich sie landläufig — zum Teil unter Verweis auf ihr Militärpotential — als»starke«Staatengelten.DieseRegimevertilgenzwar in der RegelübereinegewisseStabilität, da sie, wenngleichunter AnwendungdrakonischerMaßnahmen,in derLage sind,dasGewaltmonopolauszuüben.SieweisenjedocherheblicheDefizite imBereichder politischenOrdnungoder der staatlichenDienstleistungauf, die keineVerbesserungenerwartenlassen,sonderneher einen schleichendenoder abruptenStaatszerfall(z.B. nachdemTod oderSturzdesDiktators).Deshalbist Regimestabi-lität nicht gleichzusetzenmit Staatsstabilität. Im Gegenteil: Das FortbestehenbestimmterRegimeist in vielen FällenehereineGefahrfür Staatlichkeit,dasie selbstdurchautoritäre,feudaleoder klientelistischeStrukturendie GrundlagendesStaatesuntergraben.Bei jederder drei Funktionengibt eseine Reihevon Indikatoren,anhandderensichderGradanErosionvon Staatlichkeitmessenlässt. Dabeiwird teilweiseaufquanti-tative Daten(z.B. des HumanDevelopmentIndex, desFreedomHouseIndex, derWorld BankGovernanceIndieatorsoderdesCorruptionPereeptionsIndex),teilweiseauffallspezifische,qualitativeAussagenzurückgegriffen.Um vom Zerfall oderWeg-fall einer Funktion zu sprechen,müssenallerdings mehrere Indikatoren negativbewertetwerden.Sicherheitsfunktion:EineelementareFunktiondesStaatesist die GewährleistungvonSicherheitnachinnenundaußen,insbesonderevonphysischerSicherheitfür die Bür-ger.KerndieserFunktionist daherdieKontrolle einesTerritoriumsmittelsdesstaat-lichen Gewaltmonopols,dassich in der DurchsetzungeinerstaatlichenVerwaltungzur Kontrolle von Ressourcenunddem VorhandenseineinerstaatlichenArmeebzw.Polizei zur Befriedunglokaler Konflikte und Entwaffnungprivater Gewaltakteureausdrückt.AllerdingsdarfdasGewaltmonopolnicht missbrauchtundzu einerGefahrfür die Mehrheit der Bürgeroder für bestimmteBevölkerungsgruppenwerden.UmDefizite in dieserFunktion feststellenzu können,werdenden FallstudienfolgendeIndikatorenzugrundegelegt:(la) Gradan Kontrolle überdasgesamteStaatsgebiet;(Ib) Grad an Kontrolle der Außengrenzen;(le) anhaltendeoder wiederkehrendegewalttätigeKonflikte (z.B. Separatismus);(Id) Zahl und politischeRelevanznicht-staatlicherGewaltakteure;(1e) ZustanddesstaatlichenSicherheitsapparats;(11) Höhe

1 0 SieheauchJ. Milliken/K. Krause, StateFailure, StateCollapseandStateReconstruction:COUCCpIS,LessonsandStrategies,in: dies.(Hrsg.),StateFailure,CollapseandReconstruction,Oxfordu.a.2003,5. 1-24; dort werden»security,representationandwelfare~< als die drei Kernfunktionendes Staatesbezeichnet.Im UnterschieddazugehtderBremerSEB »Staatlichkeitim Wandel«von vier Dirnen-sionenaus:Ressourcendimension,Rechtsdimension,Legitimationsdimensionund Wohl fahrtsdimen-sion, sieheSFB 597 »Staatlichkeitim Wandel«,UniversitätBremen,2002.

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und Entwicklung der Kriminalitätsratcn;(1 g) Grad der Bedrohung,die von staatli-chen Organenfür die physischeSicherheitder Bürger ausgeht(z.B. durch Folter,Massaker,Deportationen).Wohlfihrts/itnktion: Im ZentrumdieserFunktionstehenstaatlicheDienst-undTrans-ferleistungenunddieMechanismenderVerteilungwirtschaftlicherRessourcen— bei-desin der RegelfinanziertüberStaatseinnahmen(Zölle, Steuern,Gebühren,Abgabenetc.).Die Wohlfahrtsfunktionbetrifft insofenidiegesamteStaatstätigkeitaufdenFel-dernderSozial-undWirtschaftspolitik,derBeschäftigungs-,Bildungs-,Gesundheits-und Umweltpolitik sowiedesAufbausundderErhaltungderöffentlichenInfrastruk-tur. Als Indikatorenfür den Verlustbzw. denMangel staatlicherSteuerungskompe-tenzin diesenBereichenwerdenberücksichtigt:(2a) Gradder TeilhabebestimmterBevölkerungsgruppenan wirtschaftlichenRessourcen;(2b) anhaltendewirtschaftli-che und/oderwährungspohitischeKrisen(z.B. Krise desRentenstaats);(2c) HöhederSteuer-oder Zolleinnahmen;(2d) Höhe und Verteilung der Staatsausgaben;(2e)Höhe der Außenversehuldung;(21) Kluft zwischenArm und Reich (z.B. geringestaatlicheUmverteilung,Stadt-Land-Gefälle);(2g) Arbeitslosigkeits-bzw. Erwerbs-quote,(2h) ZustanddermenschlichenEntwicklung(14D1-Entwicklung);(2i) ZustandstaatlichersozialerSichcrungssysteme;(2j) ZustandderInfrastruktur,desBildungs-und Gesundheitswesens;(2k) Vorhandenseinsignifikanter ökologiseherProbleme(z.B. Grundwassermangel).Legitimitäts- und Rechtsstaatsfunktion:DieserBereichumfasstFormender politi-schenPartizipationundderEntscheidungsprozeduren(Input-Legitimität), dieStabili-tät politischerInstitutionenund die QualitätdesRechtsstaats,des Justizwesensundder öffentlichenVerwaltung.Zu diesemBereich gehörendamit Fragender politi-schenOrdnungund des Regimetyps,wobei zwischenautoritären,halb-autoritären,minimal-, formal-demokratischenund liberal-demokratischenRegimenunterschie-denwerdenkann.“ FolgendeIndikatorenwerdenhier verwendet:(3a)Umfangpoli-tischerFreiheiten(u.a. Meinungs-,Versammlungsfreiheit);(3b) Gewährungpoliti-scherPartizipationsrechte(u.a. aktives/passivesWahlrecht,Konkurrenzum Amter);(3c) Umgang mit der politischen Opposition; (3d) Ausmaßvon Wahlfälsehungenoder Wahlbetrug,(3e) Grad an politischerTeilhabebei bestimmtenBevölkerungs-gruppen(z.B. Minderheiten);(31) ExistenzschwerwiegenderMensehenrechtsverlet-zungen(z.B. Folter); (3g) AkzcptanzdesRegimesbzw.derpolitischenOrdnung;(3h)GradderUnabhängigkeitderJustizbzw. keine GewährungrechtsstaathicherVerfali-ren; (3i) Ausmaßvon Selbstjustiz;(3j) Zustandder öffentlichen Verwaltung; (3k)Ausmaßan KorruptionundKhientelismus.

11 Vgl. M. Ottaway, DemocracyChallenged.The Rise of Semi-Authoritarianisrn,Washington,I).C‘.,2003, 5. 14-19. Ottaway verstehtunter halb-autoritärenRegirnen jene Regierungen,die bereitsSchritte zur Liberalisierung und Demokratisierungunternommen,diese aber wieder rückgängiggemachthaben.Typisch flur solcheFälle sind der Rückgriff aufWahimanipulationodererheblicheEinschränkungenbei Wahlen. Beichelt differenziert zwischen minimal-, formal- und liberal-demokratischenRegimen,die sich zwarallesamtdurch»freie« Wahlenauszeichnen,aberüberunter-schiedlicheFreiheitsgradeund Formen der Partizipation verfiigen. Nur unter den beiden letztge-nanntenRegimetypenkönnenWahlendaherauchals »fair« gelten,vgl. 11 Beic/ielt, DemokratischeKonsolidierungim post—sozialistischenEuropa.Die Rolle derpolitischenInstitutionen,2001, 5. 28—35.

106

D. Typenvon Staallichkeit

Die Einordnungder Ländersoll durch eineTypologieerleichtertwerden.Diesebautauf dendrei Staatsfunktionenauf, wobei sich die Zuordnungprinlär danachrichtet,wie derjeweiligeStaatin der Sicherheitsfunktionabschneidet.DaszentraleArgumentfür dieseGewichtungist, dassohneein einigermaßensicheresUmfeld in denbeidenanderenBereichenkeine oder keine dauerhafteEntwicklungsperspektivebesteht—gemäßdemMotto »keineEntwicklung ohneSicherheit«.Insofernstellt die Gewähr-leistungvon SicherheiteineelementareVoraussetzungfür diebeidenanderenBerei-che dar.Nimmtmandanndie FunktionenWohlfahrtundLegitimität/Rechtsstaatlicli-keit in den Blick, zeigensicherheblicheVarianzeninnerhalb einesTyps, die alszusätzlicheAnhaltspunktedienenkönnen,um die StabilitäteinesLandeszu beurtei-len. Bei der Bewertungsoll zwischen»vollständigerfüllt« (+), »einigermaßenerfüllt«(+1-), »ansatzweiseerfüllt« (-1+) und»kaumbzw.nicht erfüllt« (-) unterschiedenwer-den.Grundsätzlichwird allerdingsvon einerWechselwirkungzwischendenStaats-funktionenausgegangen.Dabei gibt es sowohl positive als auchnegativeVerstär-kungseffekte. Beispielsweisedürften gravierendeDefizite in den beiden anderenFunktionenunmittelbareRückwirkungenaufdie Sicherheitslagehaben.Ein Staat,derin denBereichenWohlfahrtund/oderLegitimität negativbewertetwird, wird kaumeineindeutigesPlus im Sicherheitsbereichaufweisenkönnen,daKonflikte zwischenStaatsführungundGesellschafteinerseitssowiezwischengesellschaftlichenGruppenandererseitsunvermeidlichsind. Das gilt auch umgekehrt:In einem Land, in demetwadiewirtschaftlicheEntwicklung relativ positiv ist, kann die Sicherheitsfunktionnicht vollständigversagthaben.Auf dieserBasisergebensich vier Grundtypenoder Konfigurationenvon Staatlich-keit. Bei denTypen 2 und 3 handeltes sich um Variantenfragiler StaatlichkeitimeigentlichenSinne,währenddie Typen 1 und4 eherdie EndpunkteeinesSpektrumsrepräsentieren:‘2

1. Konsolidiertebzw.sich konsolidierendeStaatlichkeit(consolidatedbzw. conso/i-dating states):Bei diesemTyp handeltes sich um Länder, bei denenalle dreiFunktionen im wesentlichenintakt sind und dies bereitsüber einen längerenZeitraum.DazugehörendieDemokratienin denwestlichenIndustrieländern,aberauchjeneStaaten,dieerstseitMitte derneunzigerJahreOECD-Mitgliedergewor-den sind (z.B. Südkorea,Polen, Ungarn, TschechischeRepublik, Slowakei).Hinzu kommteineReihevon Nicht-OECD-Ländernwie CostaRica, Chile, Uru-guay,Taiwan,Südafrika,die baltischenStaatenoderSlowenien,die trotz verein-zelter Krisen auf einem erkennbarenKonsolidierungskurssind. Diese Staatenbefindensich zumeistin einem Transformationsprozessvon einem autoritären

12 FürähnlichgelagerteTypologiensieheG. Erdmann,ApokalyptischeTrias: Staatsversagen,Staatsver-fall und Staatszerfall.StrukturelleProblemederDemokratiein Afrika, in: P. Bendel/A. Croissant/F.W. Rüb (I-Irsg.), Demokratie und Staatlichkeit. Systemwechselzwischen Staatsreforrn undStaatskollaps,2003,5. 267-292;Milliken/Krause(FN 10‘); R. Rotberg(1 lrsg.), StateFailureandStateWeaknessin a Time of Terror,Washington,DC.,2003, 5. 2-10; T Debiel/D. Reinhardt,Nord-SüdAktuell 18 (2004),5. 525-538.

107

Regimehin zu einemdemokratischenVerfassungsstaatmit marktwirtschaftlichenStrukturenoderhabendiesenProzessbereitserfolgreichabgeschlossen(siehevorallem Südeuropa,Mitteleuropa,teilweiseauchLateinamerikaundOstasien).Ins-gesamtlässtsich feststellen,dasseszu Beginndes21. Jahrhundertsin absolutenZahlenmehrkonsolidierteStaatengibt alsje zuvorin derGeschichte.

2. SchwacheStaatlichkeit (weakstates%DieserTyp ist dadurchcharakterisiert,dassdasstaatlicheGewaltmonopolnochweitgehendoderleidlich existiert, allerdingsDefizite beiderWohlfalirts- undloderbei derLegitimitäts-undRechtsstaatsfunk-tion bestehen.Beispiele sind Staatenim Afrika südlich der Sahara(Eritrea,Ghana),in Lateinamerika(Peru,Venezuela),in Zentralasienund in Südosteuropa(Mazedonien,Albanien),die in beidenBereichenteilweise erheblicheProblemehaben.DieseZuordnunggilt auch für die meistenarabischenbzw. islamischenStaatenwie Saudi-Arabien,Ägypten, Jordanienoder Iran. In dieser Kategoriebefindensichnicht wenigehalb-autoritäreundautoritäreRegime,diezumeistfüreinegewisseStabilitätin Kombinationmit der Erbringungbestimmterelementa-rer Dienstleistungensorgen,aber ebenüber eine schwacheLegitimationsbasisverfügen,kaumrechtsstaatlicheStrukturenbesitzenundzumeistauchim BereichderWohlfahrtstarkeDefizite aufweisen.

3. VersagendeoderverfallendeStaatlichkeit(failing states):Bei diesemTyp handeltes sich um Staaten,bei denen das staatliche Gewaltmonopolund damit dieGewährleistungvon Sicherheitstarkbeeinträchtigtist, währendsiein eineroderinbeidenanderenFunktionennocheinegewisseSteuerungsfähigkeitbesitzen.Bei-spiele wärenhier Kolumbien,Sri Lanka,die Philippinen, Indonesien,Moldovaoder Georgien.Die RegierungendieserStaatensindnicht in derLage, ihr gesam-tesTerritorium und/oderihreAußengrenzenzu kontrollieren,undmüssensichmiteinerhohenZahl anprivatenGewaltakteurenauseinandersetzen.Gleichwohl sindandereBereichenocheinigermaßenintakt: In Sri Lanka gilt dies zum Beispielsowohlfür staatlicheMaßnahmenim Wohlfahrtsbereichalsauchfür diedemokra-tischeundrechtsstaatlicheStruktur.Wie dieBeispieledeutlichmachen,handeltessich bei demhier beschriebenenTypushäufigum (formal-)demokratischeStaa-ten,die mit separatistischenTendenzenundlodereinemhohenGradan Kriminali-tät (wie etwa Kolumbien)zu kämpfen haben.Allerdings fallen auchautoritäreRegimewie in Nepal undim SudanunterdieseKategorie,dieebenfallsTeile desStaatsgebietsnichtkontrollieren,aberdennochübergewisseSteuerungspotentialegeradeim BereichstaatlicherDienst-undTransferleistungenverfügen,diezumin-destTeilen derBevölkerungzugutekommen.

4. Gescheitertebzw. zerfalleneStaatlichkeit(failed bzw. collapsedstates):Bei die-semTyp ist keine derdrei Funktionenmehrin nennenswerterWeisevorhanden,so dassmanvon einemvölligen Zusammenbruchoder Kollaps von Staatlichkeitsprechenkann. Diese Situation ist allerdings nicht gleichbedeutendmit ChaosoderAnarchie;an die Stelleeinerstaatlichentritt vielmehreineandere,von nicht-staatlichenAkteureii etablierteOrdnung,die sich zumeistaufGewaltund Unter-drückunggründet.Aktuelle Beispielehierfür sind Somalia(seit 1992), Afghani-

staii, DR Kongo (seit 1997), Liberia, SierraLeone,Irak (seit2003)und Haiti (seit 1108

1

2003/04). ZeitweisegehörtenauchAngola (1975-2002),Bosnien (1992-1995),Tadschikistan(1992-1997)und der Libanon (1975-1992)in diese Kategorie.InjedemFall ist die Zahl derStaaten,diesich zumindestzeitweise in dieseKate-gorieeinordnenlassen,ehergering.EinenSonderfallstellenjeneStaatendar,diein neueStaatenzerfallen sind. Hier führt der Staatszerfallletztlich zur Staatsbil-dung.Dieskannüberwiegendgewaltfreiundeinvernehmlichablaufen(wie in derSowjetunion1991, der Tschechoslowakei1993 und in Äthiopien/Eritrea 1991)oderaberin einenmilitärischenKonflikt münden(wie in Jugoslawien1991-1995,Pakistan/Bangladesch1971).

Die Theselautetnun, dassdie StabilitäteinesLandesvon Typ 1 zu Typ 4 sukzessiveabnimmtund dasinnergesellsehaftlicheGewaltniveau der Gradan Unsicherheitzunimmt.Dassolltejedochnicht zu falschenSchlussfolgerungenführen:ErstenssagtdieseThesenurwenigüberdasGewalt-undKonfliktpotential innerhalbeinerGesell-schaftaus,dennesist durchausvorstellbar,dassin einem»schwachen«Staatim Prin-zip einhöheresKonilikipotential herrschtals in einem»versagenden«oder»geschei-terten« Staat,ohnedassdiesbisherzu offenerGewaltgeführthat. Zweitensist dieTypologie nicht als Stadienmodellmisszuverstehen,wonachalle StaatenbestimmteStufenzu durchlaufenhaben.Es ist ohne weiteresmöglich, dassLänderbeispiels-weisevon Typ 2 direkt zu Typ4 übergehenoderumgekehrt.

Tabelle1: Typenvon Staatlichkeit

Sicherheit WohljQihrt Legitim

I?echtsstaat

KonsolidierteStaatlichkeit + + oder±/- + oder±/—

SchwacheStaatlichkeit +1— N.N. N.N.

VersagendeStaatlichkeit —1+ N.N. N.N.

GescheiterteStaatlichkeit

Erläuterungen:1- Funktion wird erfüllt±1 Funktion wird leidlich erfüllt

/1- Funktion wird nur ansatzweiseerfülltFunktionexistiertnicht odernicht mehr

N.N. alle Kombinationendenkbar

E. DestabilisierendeFaktorenfür Staatlichkeit

Für fragile Staatlichkeitgibt eskeine singuläreErklärung.Die Erosionvon Staatlich-keitwird von einerReihevon Faktorenbeeinflusstundbegünstigt,derenGewichtungsichvon Fall zu Fall unterscheidet.Um diewesentlichenUrsachenfragiler Staatlich-keit zu erforschen,sind quantitativeund qualitativeVorgehensweisendenkbar.Beider ersten Variante bemiiht man sich, auf der Basis umfangreicherDatensätze

1(Y)

bestimmteErklärungsvariablendurchstatistischeVerfahrenzu isolieren.DiesenWegbeschrittbeispielsweisedie StateFailure TaskForce (1994-2003)der UniversityofMaryland,USA. Auf der Grundlagevon 127 Fällenwurdendrei zentraleVariablenherausgefiltert,die am stärkstenStaatszerfallbegünstigen.‘3Das Ergebnis lautetzusammengefasst:Jewenigerein Staat in denWeltmarktintegriert ist (»tradeopen-ness«),jehöherdieKindersterblichkeitist (als Indikatorfür Lebensbedingungen)undje fragiler die Demokratisierungsbemühungensind, desto größerdas Risiko desStaatszerfalls.‘4Beim qualitativenAnsatz,derhier verfolgt werdensoll, dient dersystematischeVer-gleich von Fallstudiendazu,typischeVerlaufsformenundFaktorendesStaatszerfallsherauszuarbeiten.Dazuist esallerdingsnotwendig,die Fallstudienin einerWeisezuorganisieren,dassstetsdasgleicheSetan FaktorenaufseineBedeutsamkeitim kon-kretenFall hin überprüftwird, dennnur so lassensich im Ergebnisdierelevanterenvon wenigerrelevantenEinflussfaktorentrennen.Um die Vielzahl an Faktorenzuordnen,soll (1) zwischenStruktur-,Prozess-undAuslösefaktoren‘5und(2) zwischeninternationaler/regonaler‘ nationalerund substaatlicherEbeneunterschiedenwer-den.

(1)• Strukturfaktoren (auch »root causes«oder »backgroundfactors«genannt)sind

jeneBedingungen,diesichausdennatürlichenGegebenheiteneinesLandes(z.B.der Existenzvon Bodenschätzen,denklimatischenVerhältnissen)und langfristigwirksamenpolitischen,kulturellenoder sozio-ökonomisehenStrukturmerkmalenergeben(z.B. kolonialesErbe,multiethnischeBevölkerung,demographischeEnt-wicklung,Einflussvon Groß-undRegionalmächten).

• Prozessfaktoren(auch»aggravatingfactors« oder »accelerators«genannt)sindjeneBedingungen,die innerhalbeinesüberschaubarenZeitrahmens(5-10 Jahre)dieErosionvon Staatlichkeitin Gangsetzenundvorantreiben.Im Unterschiedzuden Strukturfaktorenliegt hier die Betonung stärker auf dem Verhalten derAkteure(insbesonderederEliten) selbst:Wie reagierensieaufinterneundexterneKrisen,wie verarbeitensiediese?Beispielefür ProzessfaktorensinddiepolitischeInstrumentalisierungvon sozialerUnzufriedenheit,die Politisierungund Polari-sierung von ethnisch-kulturellenDifferenzen, die Zunahme von politischem

13 SieheStateFailureTaskForce,StateFailure TaskForceReport:PhaseII Findings,in: EnvironmentalChangeand SecurityProjectReport5 (Sommer1999),5. 49-72, und dies.,PhaseIII Findings(Sep-tembcr 2003) <www.cidcrn.umd.edu/inscr/stfail/SFTF%2Ophase%2011I%20Report%2OFinal.pd>.Die hoheFallzahl erklärt sich dadurch,dasssich TaskForceprimär an »Ereignissen«(und nicht anl>rozessen)orientiert hat. JederPutschbzw. Putschversuchwurde einzelnkodiert, so dassmancheLändermehrfachauftauchen.

14 DieseAussagenwerdennochweiterpräzisiert: Bei Ländern,deren Indikator flur »tradeopenness«überdemglobalenDurchschnittliegt, ist die Wahrscheinlichkeitvon Staatsversagennur halbso großwie beijenenrnit unterdurchschnittlichenWerten.Liegt die KindersterblichkeitüberdemMittelmaß,ist die Wahrscheinlichkeitdreimal so hoch wie bei Fällen unterhalbdessen.Bei Staaten,die sich imProzessderDemokratisierungbefinden,wird die WahrscheinlichkeitdesStaatszerfallsdreifachhöhereingeschätztals bei konsolidiertenDemokratienoder Autokratien. Als weitere sekundäreFaktorenwerdengenannt:hoherAnteil anJugend in derGesellschaft,die DauerdesRegimes,der Grad derUrbanisierungsowieethnischel)ominanzoderDiskriminierung.

15 Vgl. V Matthies,Krisenprävention.Vorbeugenist besserals heilen,2000,5. 37 f.

1 1 0

Extremismus,von Repressionen,von Misswirtschaftund Korruption, von lokalenSeparatismen,die wachsendePrivatisierungvon Gewalt, der Einfluss regionalerWirtschaftskrisen.

• Auslösefaktoren(auch»triggering factors«,»triggeringevents«oder »triggers«genannt)sind jene Ereignisse,die innerhalbwenigerTage oder Wochen einenabruptenWandelauslösen.Sie könnenzwardasErgebnislängerfristigerEntwick-lungensein,entfaltenabereineeigenekatalytischeWirkung. Darunterfallen etwaMilitärinterventionenvon außen,MilitärputscheundRevolutionen,derAusbrucheinesBürgerkriegs,massiveUnterdrückungsmaßnahmen(wie z.B. Massakerander Opposition),soziale Unruhen,grenzüberschreitendeFlüchtlingsströmeundHungersnöte.

(2)• InternationaleundregionaleEbene(Makroebene):Hiergehtesum dasVerhältnis

zwischen dem jeweiligen Staat und seinem internationalenbzw. regionalenUmfeld. Auf dieserEbenestehendieAktivitätenexternerAkteure(z.B. derGroß-oderRegionalmächte)sowieweltpolitischeundregionaleEntwicklungenim Mit-telpunkt,von derenAuswirkungenderuntersuchteStaatjedochmassivbetroffenist.

• Nationale Ebene(Mesoebene):Hier steht das Verhältnis zwischen Staat undGesellschaftbzw. zwischengesellschaftlichenGruppierungenim Vordergrund.Eine wesentlicheRolle spieltdabeidasVerhaltender Eliten.

• SubstaatlicheEbene(Mikroebene):Hier gehtesum dasVerhältniszwischenStaatund substaatlichenAkteuren wie etwa Regionen,Kommunen oder einzelnen,lokalenBevölkerungsgruppen.

Kombiniertmandie beidenDifferenzierungen,so ergibtsicheineMatrix ausdrei maldrei Feldern,diedieBandbreitevon möglichenEinflussfaktorenabbildetundstruktu-riert (sieheTab. 2). Im Zentrumder Analysedürfte dasFeld Prozessfaktoren/Natio-nale Ebenestehen.Die Ausgangshypotheselautet,dassinsbesonderedas Verhaltenund die Entscheidungender Eliten (Regierungwie Opposition)eine maßgeblicheRolle beiderErodierungoderKonsolidierungvon Staatlichkeitspielen.EinezentraleFrageist dabei,wie sichstrukturelle,potentielldestabilisierendeFaktorenin koiikretepolitischeEntscheidungenübersetzen— zum Beispiel durch die Politisierungethni-scherDifferenzen.JenachFall kommenweitereFaktorenausdenanderenFelderninsSpiel, mal ist derEinflussderinternationalen,mal derdersubstaatlichenEbenegrö-ßer, mal habenStruktur-, mal Auslösefaktoreneine besondereBedeutung,um dieErosionvon Staatlichkeitzu erklären.Die Tabellesoll dazudienen,denjeweiligenFall einzuordnenund die relevantenWirkkräfte zu gewichten.

111

Tabelle2: DestabilisierendeFaktorenfür Staatlichkeit

Strukturfaktoren Prozessfaktoren Auslösefaktoren

Inter-nationale!regionaleEbene

GradderEinbindungin die Weltwirtschaft

• InstabilitätderRegion/fragileStaatenim regionalenUmfeld

• Einfluss andererStaa-ten(Großmacht,frü-hereKolonialmachtoderRegionalmacht)

• Bürgerkriege im re-

gionalen Umfeld

• Aktivitäten transna-

tionaler Gewaltnetz-

werke

. Wirtschaftskrisen in

Nachbarstaaten

• ökologische Degra-

dierung der Region

Militärinterventionvon außenAuswirkungenexter

ner FinanzkrisenrapiderPreisverfall

bei RohstoffenFlüchtlingsströmeZustrom von Waffen

. AuswirkungenvonNatur- und Dürre-

katastrophen

NationaleEbene

• »ererbte« Strukturen

(z.B. koloniale, vor-

koloniale oder impe-

riale Strukturen)

• multiethnisehe Bevöl-

kerungsstruktur

• demographische Fak-

toren (Geburtenrate,

Kindersterblichkeit,

Anteil an Jugendli-

chen)

• Ressoureenknappheit

bzw. strukturelle Un-

gleiehverteilung von

Ressourcen

• krisenanfällige Ren-

tenökonomie

• Einfluss traditioneller

Formen der Herr-

schaft (Clan-Struktur,

Rolle von Chiefs,

patriarehialisehe

Strukturen)

• Erfahrungen aus vor-

angegangenen Kon-

flikten

• rapide Absenkung des

Lebensstandards

politische Instrumen-

talisierung sozialer

Unzufriedenheit

• Politisierung ethni-

seher Differenzen

Zunahme des politi-

sehen Extremismus

(inklusive Repres-

sion)

• Unterdrückung oder

Diskriminierung be-

stimmter Gruppen

• Zunahme von Korrup-

tion und Klientelis-

mus

• Privatisierung von

Gewalt

geseheiterte bzw.

stagnierende Demo

kratisierung

Zunahme ökologi

seher Probleme

(z.B. Wassermangel)

raschemaehtpolitiseheVeränderung(Putseh,Umsturz,Rebellion)massiveUnterdrükkungderOpposition(Massaker,Verhaftungenetc.)rapideVersehleehterungderwirtschaftliehenLage(sozialeUnruhen,Plünderungen)Hungersnot,EpidemienAusbrucheinesBürgerkrieges

Sub-staatlicheEbene

Zentrum-Peripherie-Gegensätze(z.B.Landflucht)

• lokaleUngleichheitenregionalebzw. lokaleIdentitäten

• wachsende Kriminali-

tät in Städten

Zunahme lokaler Ge-

waltakteure

. ethniseher Separatis

mus

lokale Machtkämpfe

lokale Unruhen(riots)lokale bzw. regionaleNaturkatastrophenbzw. Ernteausfälle

112

N

F. »Stabilisatoren«:Washiiltfragile Staatenleidlich stabil?

Die Analyse von Defiziten und ihrer möglichen Ursachenergibt jedoch iiur einunvollständigesBild. Dennfragile Staatenerweisensiehoftmals trotznegativerIndi-katorenalserstaunlichstabil, wennauchaufniedrigemNiveau. Die zu konstatieren-den Defizite an Staatlichkeitmögendabeiüber JahrzehnteBestandhabenund sichsogarvonZeit zu Zeit krisenhaftverschärfen,ohnedassesjedochletztlich zumvölli-genZusammenbruchjedwederFunktionenkäme.Andersformuliert: Nicht alleswasfragil ist oderwirkt, zerfällt auch.Ein Charakteristikumvon Fragilität ist geradeeingewisserGradanStabilität,dergleichwohlstetsdurchKrisen,Konflikte oder externeSchocksgefährdetist.Worin bestehennun solche»Stabilisatoren«?Insbesonderedie herrschendenElitenhabeneine Reihe von Strategienund Mechanismenentwickelt, die zwar einerseitsdem Machterhaltdienen,andererseitsaber auch die FunktionsfähigkeitstaatlicherStrukturenin Maßenaufrechterhalten.SelbstunterwidrigstenBedingungenexistie-renaufdieseWeise»InselnderOrganisationsfähigkeit«(ChristophZürcher).‘6Stabi-lisierendeEffekte versprechensich dieAkteure in der Regel unteranderemvon fol-gendenPraktiken,die nicht seltenauchmiteinanderkombiniertwerden:

• derbewussteEinsatzvon Patronage-und Klientclpolitik, die Etablierungneopa-triominalerStrukturen,zumeistverbundenmit einemSystemdesZugangszu Res-sourcenundAmtern, dasexklusiv von dereigenenKlientel genutztwerdenkann,um aufdieseWeiseGefolgschaftzu organisierenundabzusichern;

• die Kooptation von bestimmtenGruppen(z.B. Stämmen,ethnischenGruppen,Minderheiten)bzw. die punktuelleEinbeziehungvon Oppositionskräftenin diedominierendenHerrschaftsstrukturen;

• die Entwicklung von informellen oder formellen Konzeptender Machtteilung(power-sharing),die unterschiedlichengesellschaftlichenKräften denZugangzuwirtschaftlichenRessourcenundzu politischerTeilhabeermöglichen;

• die Mobilisierung von traditionalenStrukturen(z.B. von Verwandtschaftsbezie-hungen oder Clans) und von informellen Formen der Seibstorganisation(z.B.Nachbarschaftshilfe,Netzwerke),um elementareFunktionenaufrechtzuerhalten;

• die AnwendungrepressiverMittel, um oppositionelle Kräfte zu unterdrückenbzw. einzuschüchternund um politische EntscheidungengegenWiderständedurchzusetzen.Zumeistist diesverbundenmit einementsprechendenSicherheits-apparatbzw.einerstarkenStellungderArmee,die sichalsHüterderöffentlichenOrdnungversteht;

• dasEinleiten von vorsichtigenReformenin bestimmtenBereichen,um aufdieseWeiseInteressengruppenzufriedenzu stellen,ohneallerdingseinetiefgreifendeModernisierungdesStaatesin Angriff zu nehmen;

• die Optimierung von externenZuflüssen und die Abschöpfung »politischer«Renten(z.B. aufgrunddergeostrategischenLageeinesLandes),die wiederumzurKlientelpolitik bzw. zur internenUmverteilunggenutztwerdenkönnen.

16 C. Ziircher, InternationalePolitik 60 (2005), S. 13—22.

113

Solche Strategienverheißenjedochnach allen Erfahrungenkeine nachhaltigeEnt-wicklung, sondernsind oftmals eherTeil desProblems.Die entscheidendeFrageistdaher, ob und inwieweit es gelingt, diese Praktikenzu transformierenoder gar zuüberwinden,ohnegleichzeitiginnergesellschaftlicheProblem-undKonfliktlagen zuverschärfen,sodassdieohnehinprekärenstaatlicheStrukturengefährdetwerden.DieschwierigeAufgabebestehtdarin, im Einzelfall jene»Stabilisatoren«zu identifizie-ren, die weitergefördertwerdensollten oderan die künftige Reformenzur Stärkung

von Staatlichkeitanknüpfenkönnten.

G. Akteure:ChangeAgens,Status-quo-Kräfteund»Störer«

Ein weitererAnalyseschritt,derunerlässlichist, um dieMöglichkeitenexternerInter-vention realistischeinschätzenzu können, ist eineEinordnungderlokalenAkteureund eineBeurteilungderKräftekonstellationen.Dabei stellensich folgendeFragen:WelcheVorstellungenvon Staatlichkeithabendie Akteure?Wer ist anReformenzurStärkungstaatlicherStruktureninteressiert?Wer hingegenprofitiert von derSchwä-chedesStaatsapparates?Wer befördertregelrechtdie schleichendeoderabrupteEro-sion von Staatlichkeit?ÜberwelcheMachtressourcenverfügendiejeweiligenKräfte,um ihreZiele durchsetzenzu können?Inwieweit könnensieaufUnterstützungin derBevölkerungrechnen?Auf wen solltensich externeAkteurekonzentrieren,wenn esum die Stärkungvon Staatlichkeitgeht?Vor diesemHintergrundsoll in AnlehnunganTobiasDebielundUlf Terlinden‘7ana-lytisch zwischendrei KategorienvonAkteurenunterschiedenwerden:

• ChangeAgents:Hierbeihandeltessich umgesellschaftlicheKräfte, dieaufWan-del setzen;sie wollen, dasssichdie Zuständeändern,und erhoffendadurchdieLagedes Landesinsgesamtzu verbessern.Ihnengehtesum die BeseitigungvonMissständenunddie ReformstaatlicherStrukturen.Sowohlder InhaltalsauchderUmfang solcher Veränderungenkönnen unter den Change Agents durchausumstrittensein,dasiehunterdiesemBegriff einrelativ heterogenesSpektrumvonGruppierungenfassenlässt,innerhalbdessenunterschiedlicheVorstellungenüberStaat und Gesellschaftmiteinanderkonkurrieren. Gemeinsamist ihnen aberzumeist eine kritische Haltung gegenüberden amtierendenMachthabern.ZudiesemSpektrumzählen dahernicht nur westlich orientierte Reformpolitiker,sondernje nach Fall auch Beamteausder Staatsbürokratie,Generäle,Oppositi-onspolitikerverschiedenerCouleur,Vertreter derZivilgesellschaft,Journalisten,Intellektuelle etc.

• Status-quo-Krüfte:Daruntersind Akteurezu verstehen,die Veränderungenbzw.Reformprozessenskeptisch,ambivalent oder gar ablehnendgegenüberstehen.Dabei handeltes sich einerseitsum Kräfte, die vom Statusquo profitieren und

17 Vgl. 77 Debiei/U. Terlinden, 1>romoting Good Govemancein Post-Conflict Societies,(iTZ, 2005(I)iscussionI>aper), 5.5—7. Sieunterschcidenin ähnlicherWeisezwischen»relorrners«,»prescrvers«und »spoilers«.

114

einenVerlust an Macht, Einkommen,Prestigeoder Statusfürchtenmüssen,undandererseitsumjene,die bei konkretenReformeneineDestabilisierungdesLan-des befürchten.Als typische Status-quo-Kräftedürfen Personengelten, die imbestehendenSystemihre politischeKarrieregemachthaben,ob in der Exekutive,in denParteienoderin derWirtschaft.HinzukommenAkteure,die faktischin derLage sind, Veränderungenzu blockieren,da sie übereine entsprechendeVeto-machtverfügen.Diesekann sehrunterschiedlicheQuellen habenund sich bei-spielsweiseaufverfassungsrechtlicheBestimmungen,aufinstitutionelleRegelun-genoderaufmachtpolitischeRessourcenstützen.Als Blockiererkönneninsofern— je nach politischem System — sehrunterschiedlicheAkteure auftreten: derKönig/Präsident/Regierungschef,dieParlamentsmehrheit,dieArmeeführung,dieFührerbestimmterParteienoderGruppenetc.

• Störer (ispoilet): UnterdieseKategoriefallenjeneKräfte, die aktiv beschlossenebzw. beabsichtigteReformenzurStärkungderStaatlichkeitstörenodersabotierenmit demZiel, denProzesszu verzögernodergänzlichzumAbbruchzu bringen.‘8Bei diesenGruppierungenhandeltes sich nicht seltenum radikaleund militanteKräfte, die sich entwedervon den Entscheidungenausgegrenztfühlen oder abergrundsätzlichkein Interesseam AufbauundErhalt staatlicherStrukturenhaben,dasie beispielsweiseihre lokale Machtpositionausbauenwollen, separatistischeProjekteverfolgenoderkriminelle Aktivitäten unterhalten.Zu dentypischenStö-rern gehören daher insbesonderenichtstaatliche Gewaltakteure,aber unterUmständenauch religiöse oder traditionale Autoritäten und externe Akteure(Nachbarstaaten,transnationalekriminelle Netzwerkeetc.), die ein InteresseanderDestabilisierungdesLandeshaben.

Im Einzelfall dürftesichdieZuordnungnicht immereinfachgestalten:Erstensverhal-tensichdie Akteuremöglicherweiseje nachFunktionsbereich(Sicherheit,Wohlfahrt,Legitimität/Rechtsstaatlichkeit)unterschiedlich.‚Sie plädierenzum Beispiel in einemBereichfür Wandel,treten aberin einem anderenals Status-quo-Kraftoder gar als»Störer« auf. Zweitens muss man berücksichtigen,dass sich das Verhalten derAkteureüberdieZeit möglicherweisewandelt.Wer in einerbestimmtenpolitischenKonstellation noch als Blockierer gilt, mag unter verändertenUmständeneineReformkraftdarstellen.Drittensgibt esoftmals innerhalbeinesAkteurs (Regierung,Partei,Ministerialbürokratieetc.) verschiedeneStrömungen.ViertensmussmandierhetorischeEbeneunddieHandlungsebeneunterscheiden.InsbesondereVertreterderExekutivesind daringeübt,gegenüberwestlichenGebernals»Reformer«aufzutretenundnachinnendenWandelzu blockieren.Trotz dieserAmbivalenzenist die DarstellungderAkteurskonstellationein wesentli-cherAspekt,wennesumdie Fragegeht, ob undwie State-building-Aktivitätengege-benenfallsvon außenunterstütztwerdenkönnen.Besonderswichtig ist es dabei zuuntersuchen,ob und welche Koalitionen sich zwischen verschiedenenAkteuren

18 ZumSpoiler-KonzeptsieheS.JSiedman,InternationalSecurity22 ~1997), 5. 5-53; U. Schneckener,Warum manchedenFriedennicht wollen? Eine SoziologiederStörenfriede,in: J. Calließ(hrsg.),Zivile Konlliktbearbeitungim SchattendesTerrors,2003,5. 61-80.

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abzeichnenund ob und unterwelchenBedingungenesbeispielsweisegelingenkann,Status-quo-Kräftefür Veränderungenzu gewinnen.Umgekehrtkann die Analyseauchzeigen,dassnicht jeder ChangeAgent ein sinnvoller Partnerfür eineZusam-menarbeitdarstellt,zumBeispieldann,wenner zu rascheundradikaleReformenfor-dertund/oderpolitischrelativ isoliert agiert.In wiederumanderenFällenwird esnot-wendigsein,sichernsthaftmit den interesseneinzelner»Störer«auseinanderzu set-zen und zu versuchen,diese durch Angebote in den Prozesseinzubeziehenoderwenigstenszu neutralisieren.

1-1. State-buildingstattNation-building

State-buildingzielt aufdie nachhaltigeStärkungstaatlicherStrukturen,Institutionenund Steuerungskapazitäten.Es ist dahernicht identischmit Nation-building.Währendsich State-buildingprimär aufdie staatlicheEbeneund die politischenAkteurekon-zentriert,wird unterNation-buildingoftmals in umfassenderWeisediegesellschaftli-cheEntwicklungalsGanzesverstanden,vor allemdie Herausbildungeinerwie auchimmer verstandenennationalenIdentität.‘9 BeideProzessegehörenletztlich zusam-men: Ein politischesGemeinwesengerät in erheblicheSchwierigkeiten,wenn sichTeile der Gesellschaftnicht mit ihm identifizierenund in der FolgeentwedereineneigenenStaatfordern (Separatismus)und/oderaberdie Verteilungvon Macht, Res-sourcenoderChancenalsungerechtempfinden.UmgekehrterscheintuntermodernenVorzeicheneinegesellschaftlicheEntwicklungohne staatlichenRahmenkaumvor-stellbar. State-buildingkann insoferneinen Beitragzum Nation-building leistenundumgekehrt.Gleichwohlstelltsich dieFrage,welcherderbeidenProzessedurchexterneInterven-tioneneherbeeinflusstwerdenkann.Hier wird die Thesevertreten,dassdie Erfolgs-aussichtenexternerAkteureeherim BereichdesState-buildingals desanspruchsvol-lerenNation-buildingliegendürften.Ein von außenunterstütztesState-buildingmussdabei an zwei Punkten ansetzen:Einerseitsgilt es, die Bereitschaftder lokalenAkteurezu fördern,sich ampolitischenGemeinwesenkonstruktivundkoopcrativzubeteiligen,und andererseitskommt esdaraufan,ihreFähigkeitzuverbessern,dienot-wendigenMaßnahmenzur Stärkungvon Staatlichkeitauchdurchführenzu können.State-building-Aktivitätenführen allerdings — zumindestkurz- und mittelfristig —

nicht zwingendzu einemMehr an Stabilität. Siekönnengeradebei schwachenoderversagendenStaaten sogar genau das Gegenteil provozieren, da nicht seltenbestimmteMechanismen,Strukturenoder Institutionenaufgegebenwerdenmüssen,

19 Zur Debatteum »Nation-building~<sieheJ. Hippler (Hrsg.), Nation—Building. Ein Schlüsselkonzeptfür friedliche Konthiktbearbeitung?,2004. Dieses Konzept wurde bereits in den fünfziger undsechzigerJahredes20. Jahrhundertsim Kontext von Modernisierungstheorienkontroversdiskutiert.Im Mittelpunkt standdabei die Transformationvon traditionalenGesellschaftenin »moderne«,staatlich verfassteNationen. Im angelsächsischenSprachgebrauchwerden»INation-building« und»State-building~<jedochoftmalsauchsynonymverwendet,siehez.B. J. Dobbinsu.a.,America‘sRolein Nation-Building. From(liermauvto Iraq, SantaMonica, Cal., 2003.

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die noch in Teilbereichenfür einegewisseStabilitätsorgen.In diesemSinnekönnendrei Stufenvon State-buildingunterschiedenwerden,diejeweils eigeneFormenderInterventionnachsichziehen(sieheTab. 3):Stufe] StabilisierungstaatlicherStrukturen: Im ZentrumderAktivitäten in diesem

Bereichstehtdie Stabilisierungund StärkungbestehenderStrukturenund Institu-tionen. Ein Regimewandelist dabeiin derRegelnicht erforderlich,sonderndie In-terventionsmaßnahmenkonzentrierensich darauf, lokale Eliten dabei zu unter-stützen,Missständezu beseitigenund Erosionsprozessezu stoppen.Diese Kon-stellationbetrifft in ersterLinie Staaten,die sich bereitsin einem, wenn auchun-vollständigenDemokratisierungsprozessbefinden,dervonaußenweitergefördertwerdenmuss.

Stu/~2—ReformstaatlicherStrukturen:DerAkzent liegt hieraufder Transformationund AusgestaltungexistierenderstaatlicherStrukturenund Institutionen.Es gehtum elementareWeichenstellungen,die letztlich den Charakterder Institutionenund des Staatesverändern.Dies schließtdie Möglichkeit einesRegimewandelsmittel-oderlangfristigein, in manchenFällenmagdiesersogardieVoraussetzungdafür sein, um den notwendigenUmbauprozessvorantreibenzu können. DieseForm desvonaußenunterstütztenState-buildingbetrifft die meistenFälle fragilerStaatlichkeit, insbesondereaber Länder, denenein umfassenderDemokratisie-rungsprozessnochbevorsteht.

Stufe3—(Wieder-.)Au/baustaatlicherStrukturen:Die weitestgehendeVarianteist derAufbauunddie GründungstaatlicherStrukturenund Institutionen,die zuvornichtodernicht in dieserFormbestanden.Von einersolchenSituationsindin ersterLi-nie Nachkriegsgesellschaftenbetroffen,bei denenim ZugedesKonflikts nahezusämtlicheStrukturenzusammengebrochensind,aberauchStaaten,in denenwe-sentlicheElementevon Staatlichkeitnicht mehrexistierenoder nochnie existier-ten.Zumeist ist derkompletteAufbaugleichbedeutendmit einemRegimewandel,dadie bis dahinagierendeFührungpolitisch diskreditiertist.

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Tabelle3: Stufenvon State-building

Stabilisierung > Stabilisierung und Stärkung bestehender Institutionen und

Strukturen, Regimewandel nicht erforderlich

>- Wirtschafts- und Finanzhilfen, Förderung lokaler Kapazitä

ten, Stärkung des Sicherheitsapparats (z.B. Polizei, Grenz

truppen) und der Strafverfolgung, Förderung von MR-Stan

dards, Anti-Korruptionsmaßnahmen, Förderung politischer

Partizipation etc.

Beispiel: EU-Stabil isierungs- und Assoziierungsabkommen mit

Staaten Südosteuropas

Reform > Reform, Transformation und Ausgestaltung existierender

staatlicher Strukturen und Institutionen, Regimewandel mit

telfristig möglich

> Reform des Sicherheitssektors, Polizeireform, Verfassungs

reform, Wahlrechtsreform, Förderung der Demokratisierung,

Verbesserung der MR-Lage, makro-ökonomische Reformen

etc.

Beispiel: Ohrid-Friedensabkommen in Mazedonien (2001)

(Wieder-)Aufbau > Aufbau und Gründung staatlicher Strukturen und Institutio

nen, die zuvor nicht oder nicht in dieser Form bestanden; Re

gimewandel ist hier die Regel und zumeist eine notwendige

Bedingung

> Etablierung von Polizei- und Streitkräften, Aufbau des Justiz-

und Gerichtswesens, von politischen und administrativen

Strukturen, Förderung der Zivilgesellschaft, Schaffung unab

hängiger Medien etc.

Beispiel: Internationale Aktivitäten im Kosovo (seit 1999)

und Bosnien (seit 1996)

1. State-buildingalsMehr-Ebenen-Politik

Unabhängigdavon,welcheForm desState-buildingbzw. welchekonkretenMaßnah-menergriffen werden,mußmansich vergegenwärtigen,dassesbeim internationalenState-buildingum Govemance-Leistungenim RahmeneinerkomplexenMehr-Ebe-nen-Politikgeht(multi-levelgovernance),bei dermindestensvier Interaktionen-Ebe-nenunterschiedenwerdenkönnen,die nicht voneinanderunabhängigsind, sondernsichgegenseitigbeeinflussen:erstensdie Interaktionzwischenden lokalenAkteuren(bzw. Konfliktparteien), zweitensdie Beziehungenzwischenden lokalen und denexternenintervenierendenAkteuren, drittens die Interaktion der externenAkteureuntereinanderund viertensdie BinnenstrukturdesjeweiligenexternenAkteurs,sprichdie EbenedernationalenHauptstädtebzw. derHauptsitzeder internationalenOrgani-sationen (z.B. »New York-Ebene«, »Brüssel-Ebene«,»Washington-Ebene«oder

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»Berlin-Ebene«),aufderesebenfallserheblichenKoordinationsbcdarfzwisehendenRessorts,Abteilungenund, gegebenenfalls,Mitgliedstaatengibt. Um erfolgreichesState-buildingbetreibenzu können,müssendieseEbeneneinigermaßensinnvoll auf-einanderabgestimmtseinundineinandergreifen. Diesgilt umsomehr,je größerundumfangreicherdasinternationaleEngagementist. Doch die Realitätsiehtin derRegelandersaus:Aufjeder dergenanntenEbenenverläuftderpolitischeProzessnachande-ren Kriterien, Prioritätenund zeitlichenHorizonten.Die Sachzwängeund Handlungs-logiken zum Beispiel, unter denenexterneAkteure vor Ort arbeitenmüssen,sindzumeistandere,alsjene,die in denjeweiligenHauptstädtenund l-lauptsitzengelten.Nicht seltenklafft dahereine»Lücke«zwischenjenen,die mit denSchwierigkeitenvorOrt konfrontiertsind,undjenen,diein denRegierungszentralenbzw. deninterna-tionalenBürokratiendienotwendigepolitische,personellebzw. finanzielleUnterstüt-zung für das State-building organisierenmüssen. Für Letztere spielen oftmalsGesichtspunkteeineRolle, die mit derkonkretenLage vor Ort relativ wenig zu tunhaben.Als entscheidungsrelevanterweisensichbeispielsweisefolgende Erwägun-gen: Gibt estraditionelleBeziehungenzu dembetroffenenLand?Gibt es regionaleBezügeodereinegeographischeNähe‘?Gibt eseineintensiveBerichterstattungin denwestlichenMedien?EngagierensichandereAkteure?Gibt eseigenewirtschaftliche,geopolitischeodersicherheitspolitischeInteressen?

J. Fazit undAusblick

Mit demVerweisaufdie Mehr-Ebenen-Struktursind bereitseineReihevon Proble-men und Dilemmata des State-buildingangedeutet,die sowohl im Verhältnis vonlokalen und externenAkteurenals im VerhältnisderexternenAkteureuntereinandereineerheblicheRolle spielen— wie etwaFragenvon »ownership«,die Ambivalenzvon Konditionaliät, der Umgangmit akutenoderpotentiellenspoiler-Aktcuren,derUmgangmit rent-seeking-Verhalten,ProblemederKoordinationundKohärenzsowieder Legitimität externerAkteure. Ungeachtetdieservielfältigen SchwierigkeitenistdieAlternative,sich vonKrisenregionenundProblemenfragiler Staatlichkeitfernzu-halten, für die internationaleGemeinschaftweder realistischnoch wünschenswert.Die Option desDisengagementbedeutetletztlich,dassman in bestimmtenTeilenderWelt die Entwicklungenmehrodermindersich selbstüberlässt,auf die Gefahrhin,dasssich die Zuständedramatischverschlechtern,Krisen und Kriege wahrscheinli-eher werdenund weitere Länder in den Sog desStaatszerfallsgeraten.Die Folgewärennicht nureinewachsendeZahl humanitärerKatastrophen,sondernaucherheb-liche sicherheitspolitischeProbleme— regionalwie international.Staatund Staatlichkeitsind damit nachwie vor zentraleKategoriendes politischenDenkensund Handels,trotzdervielfältigenProzessevon Globalisierungund »Schat-tenglobalisierung«.Denn: DieseProzessemachenStaatlichkeitkeineswegsobsolet,sondernstellendie staatlichenAkteure auchin derOECD-Welt— vor neueAnfor-derungenund Anpassungszwänge.Diesenkönnensie umso ehergerechtwerden,jemehr sie über entsprechendrobuste Strukturen und Institutionen verfügen. Genau

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diesefehlenjedochin weitenTeilenderWelt, viele Staatensind damit für die negati-ven Effekte von Globalisierungs-und Entgrenzungsprozessenbesondersanfällig,ohne gleichzeitig die positiven Effekte für ihre Gesellschaftennutzbarmachenzukönnen.State-buildingist insofernauch ein Beitrag zu einerglobalenStruktur- undOrdnungspolitik,die im Kern aufeinegerechtereVerteilung von Chancenund Res-sourcenabzielt.

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