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FORUM sozial - DBSH

Date post: 03-Oct-2021
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FORUM sozial DIE BERUFLICHE SOZIALE ARBEIT Solidarität in der Sozialen Arbeit Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e. V. Tariffähige Gewerkschaft Mitglied der IFSW (International Federation of Social Workers)
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Page 1: FORUM sozial - DBSH

FORUMsozia lDIE BERUFLICHE SOZIALE ARBEIT

Solidaritätin derSozialenArbeit

Deutscher Berufsverbandfür Soziale Arbeit e. V.

Tariffähige GewerkschaftMitglied der IFSW (International Federation of Social Workers)

Page 2: FORUM sozial - DBSH

22 Inhalt Impressum

2011

ist die Zeitschrift des DBSH

HerausgeberDBSH – Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e. V.Rungestraße 22–2410179 BerlinTel.: (0 30) 40 05 40 12Fax: (0 30) 40 05 40 13E-Mail: [email protected]: www.dbsh.de

Redaktion Forum sozialWilfried Nodes (Redaktionsleitung)Reithohle 9, 74243 LangenbrettachTel.: (0 79 46) 9 44 02 87Fax: (0 79 46) 9 44 02 89E-Mail: [email protected]

Unsere Anzeigenannahmesiehe RedaktionE-Mail: [email protected]: www.forum-sozial.de

ISSN 1433-3945

RedaktionPeter Albers (AL), Frank Eger (FE), Sven Leimkühler (SL),Friederike Lorenz (FL), Friedrich Maus (FM), Wilfried Nodes (WN) (v. i. S. d. P.), Marianne Pundt (MP), Gabriele Stark-Angermeier (Redaktion DBSH INTERN) (GS)

Regelmäßiger AutorMichael Leinenbach (ML)

Die redaktionelle Bearbeitung des Titelthemas erfolgtedurch Wilfried Nodes.

Endredaktion Wilfried Nodes

Art Direction/Bildredaktionpress office sabine kuhnE-Mail: [email protected]

Titelbild zusammengestellt von Sabine Kuhn

Weitere Bildbeiträge vonEuropäische Union, Karin Jung by www.pixelio.de,Florian Kempter, Verena Kühn, Wilfried Nodes, schemmi by www.pixelio.de, Tobias Zinser

CopyrightDie in FORUM sozial veröffentlichten Beiträge und Abbildungensind urheberrechtlich geschützt. Übersetzung, Nachdruck,Vervielfältigungen sowie die Einspeicherung, Verarbeitung und Nutzung in elektronischen Systemen – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung der Redaktion (wird, wenn möglich, erteilt).Von einzelnen Beiträgen oder Teilen von ihnen dürfen nur einzelneKopien hergestellt werden.Namentlich gekennzeichnete Beiträge und Anzeigen geben nicht immer die Meinung des Herausgebers wieder. Eine Zensur von Anzeigen findet über den presseüblichen Rahmen (Ablehnungsexistischer, rassistischer und verfassungsfeindlicher Anzeigen) hinaus nicht statt. Für unverlangt eingesandte Manuskripteund Fotos übernehmen wir keine Haftung.

FORUMsozia lDie Berufliche Soziale Arbeit

Solidarität in der Sozialen Arbeit

9 Die Saarbrücker Erklärung

15 Reaktionen auf die Saarbrücker Erklärung

WILFRIED NODES – INTERVIEW MIT MICHAEL LEINENBACH18 „Wer sich einsetzt, setzt sich aus.”

MECHTHILDE SEITHE22 Jeder kämpft für sich allein?

SABRINA SLAWINSKI27 Bildungsstreik 2009: Studierende Sozialer Arbeit solidarisieren sich

FRIEDRICH MAUS30 Soziale Arbeit braucht Solidarität

HANS-JÜRGEN DAHME, NORBERT WOHLFAHRT33 Eigenverantwortung statt Solidarität

PETER HERRMAN 31 Solidarität – Fordern statt Fördern

THOMAS SCHUMACHER35 Soziale Arbeit als beruflich geleistete Solidarität – Gesellschaftliche und ethische Implikationen

TOBIAS ZINSER41 Solidarität als berufsethische Verpflichtung – ein Blick nach Brasilien

FRANK BETTINGER 44 Soziale Arbeit in Zeiten der „Neuerfindung des Sozialen“

CARSTEN MÜLLER46 Community Organizing – ein Mittel zur Re-Politisierung der Sozialen Arbeit im aktivierenden Sozialstaat?!

WALTER HÄCKER50 Die eingetragene Genossenschaft ARBEIT ZUERST, das solidarische Unternehmen für Zeitarbeit und Kooperation

WILFRIED HOSEMANN 53 Inklusion oder Solidarität?

Page 3: FORUM sozial - DBSH

Forum SOZIAL SONDERAUSGABE

3Solidarität in der Sozialen Arbeit

VorwortSehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

die Bundesmitgliederversamm-lung des DBSH hat auf ihrer Sit-zung am 24. April 2010 auf Antragdes geschäftsführenden Vorstan-des sowie des Funktionsbereiches„Fach-, Sozial- und Gesellschafts-politik“ die „Saarbrücker Erklä-rung“ – (Gegen die Fortsetzungder Spaltung der Gesellschaft –Abschied vom Sozialstaat nichtmit dem DBSH) beschlossen.

Ich bin hoch erfreut, Ihnen dieSaarbrücker Erklärung heute zurVerfügung stellen zu können.

Die Federführung zur Erstellung oblag Friedrich Maus, Mitglied im geschäfts-führenden Vorstand (GfV) sowie Leiter des Funktionsbereiches „Fach-, Sozial-und Gesellschaftspolitik“, und Wilfried Nodes (Pressesprecher und Redak-tionsleiter von Forum SOZIAL).Dem Redaktionsteam gehörten weiterhin Hille Gosejacob-Rolf (Ehrenvorsit-zende des DBSH) sowie Karoline Zaha (DBSH Bayern) an.

Gerade in der derzeitigen Zeit der Sparbeschlüsse im staatlichen Bereich – öffentlichen Dienst bei Bund, Ländern und Gemeinden, aber auch bei Kirchenund anderen Wohlfahrtsverbänden und Trägern ist es wichtig, dass sich dieSoziale Arbeit positioniert und die Anwaltschaft für die betroffene Zielgruppeübernimmt. Die Saarbrücker Erklärung wird somit aktueller denn je.

Wir würden uns freuen, wenn Sie die vorliegende „Saarbrücker Erklärung“Ihren Gremien, Kolleginnen und Kollegen zur Verfügung stellen würden.Gerne nehmen wir auch Anregungen entgegen. Bitte senden Sie diese an [email protected]

Mit freundlichen GrüßenMichael Leinenbach – 1. Vorsitzender der DBSH

Die Saarbrücker Erklärung

Gegen die Fortsetzung der Spaltung der Gesellschaft – Abschied

vom Sozialstaat nicht mit dem DBSH

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4 Solidarität in der Sozialen Arbeit

Zahl der von Armut betroffenen oder bedrohten Men-schen wächst immer weiter.Die Bundesagentur für Arbeit zählte im Februar 20106,2 Mio. Erwerbslose, hinzu kommen 1,6 Mio. Men-schen in Beschäftigungsmaßnahmen und solche, diesich in prekären Beschäftigungsverhältnissen befin-den und trotz Erwerbseinkommen als arm gelten oderdie als Ehegatten keine Lohnersatzleistungen bekom-men, obwohl sie arbeiten wollen. Denn acht bis neunMio. Erwerbslosen stehen leider nur 480 000 gemel-dete offene Stellen gegenüber. Zugleich verfestigtsich die Langzeitarbeitslosigkeit auf hohem Niveau. Die Reform des Wohlfahrtsstaates und die damit ver-bundene Umwandlung in den „aktivierenden Sozial-staat“ führten zu einer weiteren Verschärfung der Si-tuation. Die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Ar-beitslosenhilfe wurde in den 90er Jahren unter derrot-grünen Regierung neben anderen Maßnahmen als„Agenda 2010“ eingeführt und sollte unter dem Mot-to „Fördern und Fordern“ neue Arbeitsplätze schaffen.Tatsächlich zugenommen aber hat nur die Zahl vonNiedriglohn-Arbeitsverhältnissen, die ein auskömm-liches Leben nicht ermöglichen. Hartz IV, Eigenbetei-ligungen und Einschränkungen in der Gesundheits-versorgung und Veränderungen in der Arbeitsweltsind vor allem für das untere Drittel der Gesellschaftzu einem Lebensrisiko geworden.Vor einigen Jahren noch galt der demographischeWandel (bei allen damit verbundenen Problemen) alsChance zur Beseitigung der Langzeitarbeitslosigkeit.Nunmehr aber zeigt sich, dass schlechte Bildungs-situation und mangelnde Förderung von Jugendlichentrotz zukünftig verbesserter Arbeitskraftnachfragenicht zu einem Absenken der Erwerbslosigkeit führenwird. Auch hat sich die Hoffnung nicht erfüllt, überNiedrigstlöhne zusätzliche und „einfache“ Arbeits-plätze zu schaffen. Trotz dieser Situation unterbliebenausreichende Investitionen und notwendige Reformenim Bildungssystem.

Während Leistungen und soziale Dienste zur Förde-rung von Menschen in Notlagen zunehmend ein-geschränkt wurden, erfreuen sich Banken und Kapi-talgesellschaften bis heute an Subventionen in Milliardenhöhe und an der Rücknahme von sozialenVerpflichtungen gegenüber der Gesellschaft.Dass in Deutschland auf dem Rücken von Langzeit-arbeitslosen, Menschen in prekären Lebensverhältnis-sen, armen Menschen, Kindern und Jugendlichen zugunsten von Vermögenden und Kapitalbesitzern Politik gemacht wird, hat nicht nur eine finanzielleDimension. Es wird darüber hinaus ein Klima derAngst vor einem möglichen eigenen sozialen Abstiegerzeugt bzw. verfestigt, das von den eigentlichen Ursachen und Verursachern der ökonomischen Kriseablenkt.

Bewertung der AusgangslageEin Drittel der Bürger lebt in einer prekären Lebens-situation oder ist von Armut bedroht. Die Finanz- undWirtschaftskrise wird mit großer Wahrscheinlichkeit

Wie immer in Wirtschaftskrisen oder bei „klam-men“ öffentlichen Kassen werden auch aktuellMenschen diffamiert, die auf Hilfe angewiesensind. Sofort wird eine Diskussion über deren angeb-lich mangelnde Motivation zur Arbeit und die zuhohen Sozialleistungen angestoßen, an der sichauch Spitzenpolitiker beteiligen.

Nachstehend einige Äußerungen„Es scheint in Deutschland nur noch Bezieher von Steu-ergeld zu geben, aber niemanden, der das alles erarbei-tet. (...) Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstandverspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein. An einem solchen Denken kann Deutschland scheitern“, schreibt Außenminister und FDP-Chef Guido Wester-welle im Februar 2010 in einem Beitrag für „Die Welt“.

„Nach 11 Jahren staatlicher Umverteilung droht derganz normale Steuerzahler zum Sozialfall zu werden.“(Guido Westerwelle, FDP-Bundesvorsitzender)

„Leistung muss sich wieder lohnen.“ (G. Westerwelle)

„Die Erhöhung von Hartz IV war ein Anschub für dieTabak- und Spirituosenindustrie“, erklärt der Vorsitzen-de der CDU/CSU-Nachwuchsorganisation Junge Uni-on, Philipp Mißfelder, im Februar 2009.

„Ehe jetzt einer im 20. Stock sitzt und den ganzen Tagnur fernsieht, bin ich schon fast erleichtert, wenn er einbisschen schwarz arbeitet“, gab der damalige BerlinerFinanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) im Februar 2008 inder N24-Sendung „Links-Rechts“ über soziale Proble-me, die sich aus der Arbeitslosigkeit ergeben, zu Pro-tokoll.

„Wenn Sie sich waschen und rasieren, finden Sie aucheinen Job.“ Der damalige SPD-BundesvorsitzendenKurt Beck zu einem Arbeitslosen bei einem Wahl-kampftermin im Dezember 2006.

„Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mitSolidarität rechnen. Es gibt kein Recht auf Faulheit inunserer Gesellschaft!“ Bundeskanzler Gerhard Schrö-der (SPD) zitiert in Bild-Zeitung im April 2001.

„Mehr Eigenverantwortung des Einzelnen, weniger so-ziale Hängematte“, fordert der damalige Vorsitzendeder Unions-Bundestagsfraktion, Wolfgang Schäuble(CDU), in der „Bild“ im Oktober 1994.

„Wir können die Zukunft nicht dadurch sichern, dass wirunser Land als einen kollektiven Freizeitpark organisie-ren“, erzählte der damalige Bundeskanzler HelmutKohl (CDU) bereits im Oktober 1993 in einer Regie-rungserklärung zum Standort Deutschland.

Tatsächlich aber sind die Einkommen in Deutschlandnoch nie so ungerecht verteilt gewesen wie heute:Während Vermögende und Bezieher höherer Einkom-men in den letzten 15 Jahren steuerlich entlastetwurden und deren Realeinkommen stiegen, mussten„Normalverdiener“ und insbesondere Menschen, dieauf staatliche Transferzahlungen angewiesen sind,immer weitere Einkommenseinbußen hinnehmen. Die

ZU DEN PHOTOS

Solidarität heißt fremde Men-schen kennen zu lernen, um füreine gemeinsame Idee einzu-treten und auf die Straße zugehen. Das bisher weltweitgrößte Straßenprojekt fand am18. Juli 2010 auf 60 km zwi-schen Dortmund und Essenstatt. Rund 3 Millionen Men-schen gingen beim „STILL-LEBEN RUHRSCHNELLWEG” aufdie A 40, um sich mit demNächsten an einen Tisch zu set-zen und mit ihm ins Gesprächzu kommen – ein Mega-Eventder Kulturhauptstadt EuropaRUHR.2010.

Photos © 2010 Sabine Kuhn

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FORUM sozial SONDERAUSGABE

5Positionen

deren Situation weiter verschlechtern und die Zahlder Armen ansteigen lassen. Weltweit hat die Fi-nanzkrise ca. 64 Mio. Menschen in Armut gebracht. Während die Banken, mit Milliarden Steuergelderngestützt, weitermachen, als wäre nichts geschehen, haben Suppenküchen und Lebensmittelausgabestel-len Hochkonjunktur. Rechtsansprüche auf Hilfe undUnterstützung werden eingeschränkt, stattdessenwird auf bürgerschaftliches Engagement verwiesen –Almosen statt Rechte scheint die Devise zu lauten.

Erfreulicherweise hat das Bundesverfassungsgericht –ganz unabhängig von der Frage, welche Folgen es fürdie Höhe der Unterstützungsleistungen haben wird –das Sozialstaatsgebot in unserer Verfassung bestätigt.Ungerührt von diesem Urteil geht es den Protagonis-ten aus Politik und Wirtschaft, wie etwa der indus-triegeförderten „Initiative Neue Soziale Marktwirt-schaft“ weiter um ein Umdefinieren von Sozialstaatund Menschenwürde. So wird noch immer behauptet,dass bisherige staatliche Transferzahlungen für Er-werbslose nicht zu leisten und nicht notwendig seien. Dabei waren bereits die jetzt angegriffenen „Hartz-IV-Gesetze“ und die damit verbundenen RegelsätzeFolge und Symbol des neuen „neoliberalen Paradig-mas“. Mit dem Satz „Eine Gesellschaft gibt es nicht, esgibt nur Individuen.“1 hat die ehemalige englischePremierministerin Margaret Thatcher die Veränderungdeutlich gemacht. Mit dem Durchsetzen dieses An-satzes in Europa wurden staatliche Leistungen pri-vatisiert, soziale Dienstleistungen in marktfähige Waren verwandelt und soziale und gesellschaftlicheRahmensetzungen abgebaut – „Deregulierung“, „mehr Eigenverantwortung“, „freier Markt“, „weniger Staat“und damit verbundenes „Wirtschaftswachstum“ be-schreiben die Zauberformel für ein Politikprojekt, dasdas Gemeinwesen und damit die steuerzahlenden Un-ternehmen von Sozialkosten entlasten und damitWachstum und Wohlstand ermöglichen sollte.

„Die Zunahme unterbezahlter, prekärer Arbeit vor dem Hintergrund von Erwerbsarmut und anhaltender Massenarbeitslosigkeit, der Abbau der Systeme dersozialen Absicherung und die damit verbundene Um-wandlung des kollektiven Anspruchs auf staatlicheErsatzleistungen bei Erwerbs- und Mittellosigkeit indie individuelle Pflicht zur Aufnahme einer bezahltenTätigkeit und damit ein Mittel zur Durchsetzung derentsozialisierten Lohnarbeit als Normalarbeitsver-hältnis des neuen Proletariats in den städtischenDienstleistungssektoren …“2 sind Auswirkungen die-ses „neoliberalen Politikprojekts“.

Die Versprechen wurden nicht eingehalten: Das eherbescheidene Wirtschaftswachstum der vergangenenJahre hat lediglich zu einer größeren Schere zwischen„Arm“ und „Reich“, nicht aber zu einem nachhaltigenWachstum der Erwerbsbeschäftigung geführt. Darü-ber hinaus hat der „Markt“ umfassend versagt, derStaat musste und muss noch immer mit Milliarden-subventionen dort eingreifen, wo Verluste „soziali-siert“ wurden.

Folgen für die Soziale Arbeit Mit der Ökonomisierung aller Lebensbereiche solltedas neoliberale Menschenbild des Homo oeconomicuszur Grundlage menschlichen Handelns werden. DiesesMenschenbild blieb nicht ohne Wirkung auf die Soziale Arbeit. Orientierte sich zum Beispiel die frühe-re Sozialhilfe an Teilhabe und Würde des Menschen,geht es nunmehr nur noch um die Zielvorstellung derErwerbsfähigkeit, während Fragen der sozialen Ge-rechtigkeit und der Menschenwürde ins Abseits ge-stellt wurden. Wer nicht arbeitet3, wer nicht in diesePhilosophie passt, wird sanktioniert, hat kein Rechtauf ein Dach über dem Kopf, auf Unterstützung undHilfe. Wenn etwa im Jahr 2009 36 000 Jugendlichekeinerlei Unterstützung mehr erhielten und ihnen Obdachlosigkeit drohte, sind die Folgen (z. B. Krimina-lität) absehbar.

Zunehmend werden soziale Dienstleistungen, die vonder öffentlichen Hand finanziert und meist von freienTrägern im Auftrag angeboten werden, „marktwirt-schaftlich“ gesteuert. Sie sollen möglichst „billig“sein. Darunter haben zunächst die Beschäftigten imBereich der Gesundheitsversorgung, in der Pflege undin der Sozialen Arbeit zu leiden: Arbeitsverdichtung,prekäre Beschäftigungsverhältnisse, mangelnde Mög-lichkeiten im beruflichen Wirken, eine exorbitanteZunahme psychosozialer Erkrankungen und oft früh-zeitiger Berufsausstieg sind häufige Folgen. Immerweniger Menschen sind bereit, in niedrig bezahltenPflege- und Sozialberufen tätig zu werden.

Bereits heute deutet sich ein Mangel an ErzieherInnenund Pflegekräften an, der in die Hunderttausendegeht. Dadurch wird sich die Bildungs- und Betreu-ungssituation für Kinder und Jugendliche, für Famili-en, für alte Menschen, Behinderte und Hilfebedürftigeweiter verschlechtern. Soziale Arbeit ist heute zuneh-

FUSSNOTEN1 Margaret Thatcher, zitiert in Ambros Weibel, Solidaritätin der Depression in „Die Ta-geszeitung“ vom 16. 11. 2009,Seite 12

2 Wacquant Loic, Bestrafender Armen, Verlag Barbara Bu-drich Opladen & FarmingtonHills, MI 2009, S. 27

3 Und damit ist die reine Er-werbsarbeit gemeint. Dabei istes völlig unbedeutend, ob dasEinkommen durch Erwerbsar-beit zur Deckung der Lebens-haltungskosten ausreicht. Eswurde und wird zwar häufigdarüber diskutiert, den Begriff„Arbeit“ weiter zu fassen. Diesegeschieht in mehr oder weni-ger akademischen und theo-retischen exklusiven Diskus-sionszirkeln in unterschied-lichen gesellschaftlichen Grup-pen. Eine wirkliche Auswirkungauf die öffentliche Definitionhaben diese Diskussionennicht.

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mend weit entfernt von der Möglichkeit, nachhaltigzu helfen. Vielfach wird sie nur noch als Feuerwehrtätig. Die Folgen zeigen die vielen Fälle von Kindes-missbrauch, die immer größere Zahl von Jugend-lichen, die den Anforderungen von Schule und Berufnicht mehr gerecht werden können, sowie die injüngster Zeit wieder zunehmende Wohnungslosigkeit.Das Vorhandensein Sozialer Dienste gleicht oftmalsnur noch einem Symbol zur Beruhigung von Politikund Öffentlichkeit.

Vergleiche mit Großbritannien oder den USA zeigendie sich daraus ergebenden Konsequenzen: UnsichereStraßen und Stadtteile, Zunahme von Kriminalität, ein ausuferndes und teures Polizei- und Justizwesen,Ausbau privater Sicherheitsdienste, vernachlässigteInfrastruktur, Skandale in der öffentlichen Jugend-hilfe und im Gesundheitssystem, Menschen und Notauf der Straße, Altersarmut und zugleich der Rück-gang privaten Konsums. Deutschland steht – imVergleich – noch am Anfang dieser Entwicklung.Letztlich aber werden die Konsequenzen hieraus sehrviel teurer: ethisch und volkswirtschaftlich.

Soziale Arbeit hat immer zum Erhalt des sozialen Friedens in unserem Land beigetragen und damit aucheinen großen Beitrag zum Aufstieg Deutschlands alsWohlfahrtsstaat zur führenden Wirtschaftsnation ge-leistet. Nun sehen wir die Gefahr, dass der sozialeFrieden gefährdet ist. Der Deutsche Berufsverband fürSoziale Arbeit (DBSH) kann und will nicht untätig zu-schauen, wenn ein Drittel der Gesellschaft ausgeglie-dert und zunehmend in ihren Möglichkeiten der Teil-habe beschnitten wird. Denn als Profession, die sichgerade im Armutsbereich beruflich engagiert, erlebenwir in den vielen sozialen Tätigkeitsfeldern die Proble-me und Notlagen sehr deutlich.Deshalb begrüßen wir die Bestätigung des Prinzipsder Menschenwürde als Grundlage für das Handelndes Staates, so wie sie dem Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts zu entnehmen ist. Wir hoffen auf einebreite gesellschaftliche Diskussion über Armut, Chan-cen- und Verteilungsgerechtigkeit, über Menschen-würde und Teilhabe.

Beiträge zur DiskussionAuf einige Aspekte der Lebenssituation von Men-schen, die von Armut betroffen sind, soll im Folgen-den beispielhaft eingegangen werden:

� Der DBSH geht davon aus, dass für ca. 10 bis 15Prozent aller jetzt Erwerbslosen auf Dauer keine Arbeitsmarktperspektiven bestehen, weil sie für dengewandelten Arbeitsmarkt entweder nicht die not-wendigen gesundheitlichen Voraussetzungen oder dienotwendigen Möglichkeiten zum Kompetenzerwerbmitbringen.

� Trotz Erwerbstätigkeit sind 1,3 Mio. Menschen aufZusatzleistungen des SGB II angewiesen. Ein Lohnsys-tem aber, das auf staatliche Subventionen von Arbeitbaut, ist als Raubbau an dem Sozialstaat zu werten.

� Ein nicht geringer Anteil von Langzeitarbeitslosenist nur deswegen arbeitslos, weil die Grundlage einerausreichenden Qualifikation fehlt. Immer noch wer-den durch unser Bildungssystem Kinder und Jugend-liche aus armen Haushalten massiv benachteiligt. Vorallem Jugendliche, die keinen Schulabschluss erreichthaben, finden keine Arbeit. Sie brauchen qualifizierteFörderung – gleichwohl wurden entsprechende Quali-fizierungsprogramme in den vergangenen Jahren zu-nehmend verkürzt oder ganz gestrichen.

� Der große Anteil von Sozialleistungsbeziehern sinddie Alleinerziehenden, die sich um ihre Kinder küm-mern und deswegen keine Erwerbsarbeit aufnehmenkönnen. Es fehlt nach wie vor an Betreuungsplätzenfür Kleinkinder, Kinder im Vorschulalter und Schul-kinder.

� Hinzu kommt, dass Erwerbslose über 45 Jahren nurnoch sehr schwer einen Arbeitsplatz auf dem erstenArbeitsmarkt finden.

� Die Zahl der Sozialleistungsbetrüger ist wesentlichgeringer, als die Diskussionsbeiträge aus Politik undWirtschaft vorgeben. Gegen Sozialleistungsbetrügermuss vorgegangen werden. Die notwendigen gesetz-lichen Regelungen sind vorhanden. Von Einzelfällenauf die große Mehrheit der Langzeitarbeitslosen zuschließen und die große Mehrheit von Arbeitslosenunter den Gesamtverdacht des Betrugs zu stellen, istunseriös und populistisch. Der Vorwurf, die entsprechenden Institutionen wür-den nicht hart genug gegen Sozialleistungsbetrügervorgehen, wird nicht deswegen wahrer, weil er oft genannt wird. Das Gegenteil ist der Fall. Die Jobcenterschaffen zum Teil sehr bewusst „Sanktionsfallen“ –etwa wenn vorgegeben wird, wöchentlich 25 Bewer-bungen zu schreiben oder für den immer gleichenVortrag Anwesenheitspflicht eingeführt wird. In manchen Bezirken wird von den Sozialgerichten dieHälfte aller angefochtenen Sanktionen als rechtswid-rig verworfen. Der klassische Leistungsbetrug, alsoSchwarzarbeit, das Verschweigen anderer Einkünfteoder Arbeitsverweigerung ist eine Ausnahme. Bei In-Kraft-Treten von Hartz IV ging man noch davon aus,dass ein Drittel der Betroffenen aus dem Leistungs-bezug bei der Vermittlung eines Ein-Euro-Jobs „aus-steigen“, weil sie bereits beschäftigt sind oder nichtarbeiten wollen. Tatsächlich war das Gegenteil derFall – der Ein-Euro-Jobs entwickelte sich vor allem amAnfang als „Renner“.Verbale Entgleisungen und das Hochspielen des sozia-len Leistungsbetruges sind nicht nur aus diesemGrund skandalös: In der Bundesrepublik werden ge-schätzte 450 Milliarden Euro Schwarzgeld gehortet,Steuerbetrug selbst scheint ein Volkssport für die„Leistungsträger“ zu sein.

� Arme werden diskriminiert und in vielen weiterenBereichen benachteiligt. Ein Beispiel: Studien habenbewiesen, dass Arme gesundheitlich benachteiligtsind und im Durchschnitt eine um sieben Jahre ver-kürzte Lebenserwartung haben.

6 Solidarität in der Sozialen Arbeit

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FORUM sozial SONDERAUSGABE

Unsere Forderungen für mehrsoziale Gerechtigkeit und Teilhabe Vor dem Hintergrund der Expertise unserer Professionfordern wir ein neues integriertes Armutsbekämp-fungskonzept, das Fragen der Einkommensverteilungebenso mit einschließt wie Bildungs-, Sozial- undWohnungspolitik. Im Einzelnen fordern wir

� einen gesellschaftlichen Diskurs unter Beteiligungder Armen in unserem Land über die Fragen von Men-schenwürde, Chancen-, Verteilungs- und Teilhabe-gerechtigkeit. Der DBSH sieht dabei sehr wohl, dassdie bisherigen Steuereinkünfte nicht ausreichen, um (soziale) Infrastruktur und ein Leben in Würde füralle Menschen zu bewahren.

� die Schaffung eines langfristigen Armutsbekämp-fungskonzeptes für Deutschland, in dem neben der Sicherung der materiellen Existenz auch verbesserteBildungschancen, eine gute Gesundheitsversorgung,menschenwürdige Entlohnung von Erwerbsarbeit undpolitische Teilhabe für die Schwachen im Land ermög-licht werden.

� eine soziale Politik, die sich frei macht von demDiktat der Finanz- und Güterwirtschaft, und die denMarkt reguliert, wenn Menschen durch Markthandelnbenachteiligt, ausgegrenzt und missbraucht werden.

� bessere Teilhabemöglichkeiten an Bildung für Men-schen mit niedrigen und niedrigsten Einkommen. DerStaat muss gerade für die Kinder aus prekären Haushal-ten bereits im Vorschulalter mehr zur sozialen und kog-nitiven Förderung investieren. Dazu sind verbesserteRahmenbedingungen für die Förderung, Erziehung undBetreuung von Kleinkindern und zusätzliche Förde-rungsmaßnahmen für Kinder aus benachteiligten Fami-lien notwendig. Dabei darf es nicht zu einer Verschu-lung und zur alleinigen Ausrichtung auf intellektuelle

Leistungsfähigkeit von Kindern kommen. Wir benötigensoziale und kreative Menschen, um die Zukunftsproble-me bewältigen zu können. Der DBSH lehnt paternalisti-sche Familienkonzepte ab. Die Lösung liegt nicht in Na-turalleistungen für Kinder und nicht allein in Förderkur-sen, vielmehr muss die Erziehungskompetenz der Eltern– und dies auch materiell – gefördert werden. Wenn inder Sozialen Arbeit von „sanktionierten Kindern“ ge-sprochen wird, weil die Väter eine Leistungskürzungvom Jobcenter erhalten haben, so ist dies beschämend.

� eine Öffnung bzw. Durchlässigkeit der verschiede-nen Ausbildungsabschlüsse im Sinne eines „lebens-langen Lernens“, die es ermöglicht, weitere höhereAbschlüsse zu erwerben.

� die Abschaffung einer klassenorientierten Schul-und Bildungspolitik. Die Trennung der Schulsystemebereits ab dem 5. Schuljahr muss aufgehoben werden.Es gilt, die Ressourcen der Kinder zu wecken und zufördern. Dazu brauchen wir einen kindbezogenen, individuelleren und leistungsdifferenzierenden Unter-richt im Klassenverbund. Durch soziale Unterschiedebestimmte Benachteiligungen müssen im Bildungs-system durch entsprechende Förderangebote aufge-fangen werden. Wir brauchen eine generelle Lernmit-telfreiheit.

� mehr Förderung gerade für junge Menschen, die imbisherigen Schulsystem benachteiligt waren. Die ver-schärften Sanktionsmöglichkeiten für Jugendliche imSGB II-Bezug lehnen wir ab, weil sie zum Leben aufder Straße und zur Kriminalität führen.

� eine verstärkte Investition der öffentlichen Hand –in Jugendzentren, Jugendbildungsarbeit und Jugend-sozialarbeit. Junge Menschen brauchen Entwick-lungsräume und professionelle Unterstützung, auchabseits der Schule.

7Positionen

Am 24. April verabschiedeten die Delegierten auf der Bundesmitgliederversammlung in Saarbrücken die Saarbrücker Erklärung.

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� den Erhalt der guten Standards des SGB VIII. DieForderungen des Städtetages nach einer Reform desSGB VIII sehen wir als weitere Einschnitte der Rechtevon Kindern und Jugendlichen an.

� eine Generalrevision des SGB II. Individuelle Be-darfe und die Form der Förderung sollten sich an derfrüheren Sozialhilfe orientieren. Die Regelsätze sind zu erhöhen und haben sich an den tatsächlichen Ver-brauchswerten zu orientieren. Sie müssen Ausgabenfür Bildung und Teilhabe beinhalten. Das Instrumentder Ein-Euro-Jobs ist abzuschaffen. Es ist, ebenfallswie in der früheren Sozialhilfe, durch differenzierendeAngebote zur Arbeitserprobung zu ersetzen – aus-reichend müssten hier 100 000 Plätze sein (statt600 000 Ein-Euro-Jobs). Stattdessen benötigen wir ei-nen „geschützten Arbeitsmarkt“ für diejenigen, die aufDauer nicht erwerbswirtschaftlich zu integrieren sind.Hierzu sind mindestens 500 000 Stellen zu schaffen.

� das Instrument der Sanktionen nur noch bei Leis-tungsbetrug, Arbeitsverweigerung und bei mangelnderMitwirkungsbereitschaft einzusetzen – wobei eineMitwirkungsbereitschaft nur für solche Maßnahmen zufordern ist, die tatsächlich für die Förderung der Er-werbsaufnahme notwendig und sinnvoll sind.Wir benötigen zugleich einen Qualifikationsschutz beider Arbeitsvermittlung, dieser ist so zu gestalten, dassMindestlöhne eingehalten und die erworbene Quali-fikation um nicht mehr als um eine Stufe abgesenktwerden darf.

� transparente Wettbewerbsbedingungen auf dem„Sozialen Markt“. Ausschreibungen für soziale Dienst-leistungen müssen Vorgaben zur Qualifikation dereinzusetzenden Fachkräfte enthalten und den Einsatzvon „Subunternehmen“, d. h. prekär beschäftigten so genannten Honorarkräften, ausschließen. Darüberhinaus ist das Vorhandensein einer tarifvertraglichenRegelung zur Grundlage zu machen. Als Orientie-rungsrahmen sollte der TVöD dienen.

� die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns.Die Höhe des Mindestlohns muss ein menschenwür-diges Leben gewährleisten und „armutsfest“ sein.

� für die Krankenversicherung eine solidarische Bür-gerversicherung, die nicht nur Löhne, sondern alleEinkommensarten einbezieht – insbesondere Vermö-genseinkünfte und die Einkommen von privat Ver-sicherten, damit sich besser Verdienende nicht mehrweitgehend von den Kosten von Lebensrisiken frei-stellen können.

� BezieherInnen von staatlichen Transferleistungen(SGB II und XII) grundsätzlich von Zuzahlungen für dieLeistungen der gesetzlichen Krankenversicherung zubefreien.

� bezogen auf die Rentenversicherung ein nachhal-tiges System der Kostenbeteiligung außerhalb von Erwerbseinkommen zu entwickeln, das für einen aus-reichenden Ausgleich ausbleibender Beiträge in Folgeder demographischen Entwicklung und bei Erwerbs-losigkeit und Erwerbsunfähigkeit sorgt.

� eine Reaktivierung des sozialen Wohnungsbaus imöffentlichen Besitz, die insbesondere das Wohnen inbenachteiligten Stadtteilen und Regionen für diejeni-gen Menschen sichert, die bisher dort leben, weil sieauf bezahlbare Mieten angewiesen sind.

� die Einführung einer Vermögenssteuer. Der Sozial-staat kann seinen Aufgaben nur gerecht werden, wenner seine Einkommensbasis verbessert. Deutschland giltmittlerweile als Land mit eher niedriger Besteuerung.Besteuert werden sollen Vermögen über einem Wert(bei einer vierköpfigen Familie) von 500 000 Euro desdarüber hinaus gehenden Betrages. Darüber hinausbenötigen wir eine Reform der Erbschaftssteuer.

� den Spitzensatz der Einkommenssteuer wieder auf dasNiveau früherer Jahre (47 oder 53 Prozent) anzuheben.

� die Abschaffung des Ehegattensplittings zuguns-ten einer steuerlichen und von der Einkommenshöheunabhängigen Förderung von Eltern, die Erziehungs-aufgaben übernehmen.

� Steuerschlupflöcher zu schließen.

� die Besteuerung von Spekulationsgewinnen ausAktiengeschäften und die Besteuerung von Boni beiInkassogeschäften.

Wir unterstützen � Bestrebungen, die sich gegen eine zunehmendePrivatisierung von gesellschaftlich relevanten Dienst-leistungen wenden.

� die Anstrengungen gesellschaftlicher Gruppen, diesich für eine bessere Ausstattung der öffentlichenKassen, für eine gerechtere Besteuerung finanzwirt-schaftlicher Transaktionen, hoher Einkommen undvon Vermögen einsetzen.

� die Bestrebungen für einen einheitlichen Sozial-tarifvertrag für den Bereich der sozialen Dienstleis-tungen. Um qualitativ gute soziale Dienste anzu-bieten, braucht es motivierte und gut ausgebildeteMitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die auch entspre-chend entlohnt werden. Die tariflichen Regelungender Träger müssen auch von den Kostenträgern aner-kannt werden.

� die Einhaltung tariflicher Standards. Diese sind vonden Kostenträgern zur Grundlage von Auftragsver-gaben zu machen.

Wir arbeiten gerne mit an einem nachhaltigen Armutsbekämpfungskonzeptfür Deutschland, in dem es nicht nur um die materiel-le Existenzsicherung gehen darf, sondern um Bil-dungs-, Chancen- und Verteilungsgerechtigkeit, umGesundheit und Menschenwürde. Wir fordern die Kolleginnen und Kollegen auf, sich vorOrt für eine gerechtere Gesellschaft zu engagierenund sich dem Stammtischgeschwätz mutig entgegenzu stemmen. �

8 Solidarität in der Sozialen Arbeit

Page 9: FORUM sozial - DBSH

Hoffnung auf EntscheidungsträgerIch freue mich und danke Ihnen für Ihre Erklärung. Eswäre sehr schön, wenn die Mahnungen von den Ent-scheidungsträgern gehört und berücksichtigt würden.

PROF. DR. ENGELKE

Appelle nutzen nichtsMit großem Interesse habe ich heute die „SaarbrückerErklärung“ des DBSH gelesen. Mich überzeugen Appelleund Absichtserklärungen an die Politik oder an die eige-ne Profession allerdings schon lange nicht mehr. DieWut, der Frust und die Enttäuschung der KollegInnen inder Sozialen Arbeit muss jetzt endlich kanalisiert, aufdie Straße und unter das Volk gebracht werden.Schon viel zu lange haben uns Politiker und Funktionäreder Wohlfahrtsverbände an der Nase herumgeführt undunseren Berufsstand durch fortwährende drastische Finanz- und Lohnkürzungen ausbluten lassen. Wir Sozialarbeiter und Sozialpädagogen sind doch zu„handzahmen Lachnummern“ geworden, weil wir dieewig Duldsamen und Genügsamen sind. Wo bleibendenn der Aufschrei und das Aufbegehren innerhalb unserer Profession? Einfach so weiter machen wie bisher, mit immer Weni-ger (Geld) versuchen, immer bessere Qualität zu erzielen– dass wird von uns erwartet. Damit muss endlichSchluss sein! Wenn nicht, wird eine drastisch weiter

steigende Armut und zunehmende soziale Ungerechtig-keit unsere berufliche Zukunft bestimmen, und die Poli-zei wird uns dabei hilfreich unterstützen müssen, wennunsere eigenen Klienten uns aus lauter Wut und Ver-zweiflung „an die Wäsche gehen“ wollen.

Übrigens, um etwas zu provozieren: Schon seit mehre-ren Jahren sind viele Sozialarbeiter und Sozialpädago-gen (natürlich unfreiwillig) dabei, sich selbst in Armut zuüben. Wer das nicht glaubt, sollte sich einmal mitprekären Beschäftigungsverhältnissen bei Sozialarbei-tern und Sozialpädagogen befassen, die heute fastschon die Regel sind. Das sind miserabel honorierteArbeitsverhältnisse unter erbärmlichen Arbeitsbedin-gungen, die einer akademischen Profession unwürdigsind. Ich spreche da leider aus eigener langjährigerErfahrung!

Anmerkung: „Hilfe“ ist doch längst zur Marktware ver-kommen! Soziale Arbeit wird doch schon z. B. bei denAusschreibungen der Bundesagentur für Arbeit in sogenannten Einkaufzentren wie auf einem Basar ver-hökert.Das funktioniert nach dem Prinzip „Geiz ist geil“. Insolchen Maßnahmen werden dann häufig von „FreienTrägern“ die miesesten Gehälter gezahlt und die übels-ten Befristungen angeboten. An den Hochschulen fürSoziale Arbeit wurden die Fachsprache und das Denkenvon Bankern und Betriebswirten übernommen. Der

Forum SOZIAL SONDERAUSGABE

9Positionen

Schon seit mehreren

Jahren sind viele Sozial-

arbeiter und Sozial-

pädagogen (natürlich

unfreiwillig) dabei, sich

selbst in Armut zu üben.

Reaktionenauf die Saarbrücker Erklärung

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„Sozialarbeiter als Manager“, ausgestattet mit einemFachjargon, angefüllt mit Anglizismen, um der wichti-gen Bedeutung Nachdruck zu verleihen. Dabei soll derAnschein erweckt werden, dass „Hilfe“ „gemanagt“ wer-den muss. Das klingt zunächst gut, ist es aber bei nähe-rer Betrachtung nicht. Menschen sind eben keine Ware,sie lassen sich eben nicht wie tote Gegenstände verwal-ten. Unsere Klienten werden damit sozusagen zu reinen„Kostenverursachern“ degradiert, und „Hilfe“ verkommtsomit automatisch zu einer Marktware mit einemerhöhten Einsparpotenzial. Demzufolge übernehmenSozialarbeiter (Sozialmanager) immer stärker die Rolleeines Verwalters und Kontrolleurs ständig sinkenderstaatlicher Leistungen.

Sollen wir wirklich darauf hoffen und warten, bis dieReichen und Superreichen in unserem Land sich dazuerbarmen, ihren längst fälligen Beitrag zum Gemein-wohl zu leisten? Werden wir in Zukunft jedes noch sounsoziale Sparpaket unserer Regierung regungslosschlucken?Es ist endlich an der Zeit, aufzubegehren und zu bewei-sen, dass es ohne unsere tägliche Arbeit in diesem Landnicht mehr so sicher und lebenswert sein wird.

RAIMUND JANSSEN (Dipl.-Soz.Päd.)

Danke! PROF. DR. RUDOLF SCHMITT

Trotz Erfolges zu alt für Arbeit?Ihre „Saarbrücker Erklärung“ begrüße ich.Seit über 13 Jahren erwerbslos, habe ich nach einem mirselbst besorgten Computerlehrgang 2002/2003 vomSozialamt Chemnitz im Alter von 54 Jahren schriftlichbekommen: „...aus Altersgründen sowie fehlendenAngeboten erfolgt keine Vermittlung in Arbeit! Akte wirdarchiviert.“

2006 war ich dann für einen „Ein-Euro-Job“ zu alt.

Im vergangenen Jahr wurde mir eine Kommunal-Kombiangeboten, was aber dann von der neuen sächsischenRegierung abgeschafft wurde. Der neueste Clou: Am 31. März 2010 wurde mir eine Stelle als „Assistent derGeschäftsleitung“ im Stadtvorstand der Linken ange-boten, wo aber bereits am 15. März Bewerbungsschlusswar.Seit über 10 Jahren helfe ich Jugendlichen in Deutsch-land ehrenamtlich bei der Lehrstellensuche. … Ende2006 hat sich Herr Müntefering in einem Schreiben fürmein Engagement bedankt. Im Jahr 2009 wurde ich als „Botschafter 2009“ von www.verbundnetz-der-waerme.de ausgezeichnet und am 8. Mai erfolgte die Übergabe des Botschafterbriefes in Chemnitz(http://petope.beepworld.de/chemnitzer.htm). Vom 21.bis 24. Mai 2009 war ich auf Einladung der sächsischenStaatskanzlei Teilnehmer der Bürgerdelegation desFreistaates Sachsens zu den Feierlichkeiten „60 JahreBundesrepublik Deutschland“ in Berlin.

Lehrstellen-Service Schreyer

GÜNTER SCHREYER

Maßnahmen kündigenDie von Ihnen getroffenen Feststellungen, dass sich dieGesellschaft immer mehr spaltet und von einem Sozial-staat außer im Grundgesetz keine Rede mehr sein kann,sind vollkommen richtig.Ich selbst bin seit Beginn der Montagsdemonstrationenin diesen und in den dort wirkenden Sozialen Bündnis-sen aktiv, wohl mehrfach auch arbeitssuchend, aber nievon Hartz IV betroffen. Von Beginn an habe ich immerwieder darauf hingewiesen, dass diese unsozialenGesetze nie gegen die Langzeitarbeitslosen gerichtetwaren. Im Gegenteil, soweit mir bekannt, haben dieseGesetze den Staat mehr Geld gekostet als die vorherigeMethode der Verwaltung der Arbeitslosigkeit.Die Hartz-Gesetze bilden eine Einheit mit den damitverbundenen Beschimpfungen und Verunglimpfungender betroffenen Menschen. Erst durch diese Verun-glimpfung der Menschen, deren einziges „Vergehen“ esist, keine Arbeit zu haben, war es möglich, die Arbeiterund Angestellten, die noch in Lohn und Brot sind, derartzu disziplinieren, dass aus ihnen derartige Lohnsummenfür die Unternehmen herausgepresst werden konnten.Seit dieser Zeit sind die Milliardäre und Multi-Millionäresehr zahlreich geworden. Die Familie Albrecht konntez. B. von 2000 bis 2005 ihr Vermögen von 9000 Mio. auf„nur“ 36 000 Mio. erhöhen. Der Otto-Konzern ver-größerte sein Vermögen im Krisenjahr 2009 um 5400Mio., hat also jeden Tag 15 Mio. dazu bekommen.Im Zusammenhang mit dieser Gesetzgebung haben sichaber auch Firmen gegründet bzw. sind auf den Zug aufge-sprungen, die selbst an diesen Gesetzen sehr gut verdienenkonnten. Leider mussten wir feststellen, dass die Sozialver-bände, die Caritas und andere kirchliche Träger über dieHartz-Gesetze, obwohl menschenverachtend, nicht bösewaren – fanden sie doch „billigst“ Arbeitskräfte und be-kamen dazu noch Geld dafür, diese zu beschäftigen. DieseSozialverbände und die Kirchen haben durch diese Zwei-schneidigkeit viel Vertrauen verloren.Allein aus dem Grund ist ein Aufruf, wie der obenerwähnte, richtig – nur muss er mit klaren Positionengegen die Sklavenarbeit verbunden werden. Schmeißtdoch dieser Regierung und ihren Vasallen den Dreck,den sie wollen, vor die Füße, kündigt alle Maßnahmender Agenturen für Armut, mit denen sie nur die Statistikzu schönen beabsichtigen. Damit würde ein gewaltigesProtest-Potenzial in Gang gesetzt – ein Potenzial, washelfen würde, diese Schieflage zu korrigieren.

WASSENAR

Politisches Verständnis fehltin der Sozialen ArbeitVielen Dank für die sehr gute Erklärung des DBSH in Bezug auf die Kürzungen im sozialen Bereich.Ich vermisse in der gesamten Sozialen Arbeit bisher politisches Verständnis über den eigenen kleinen Teller-rand der verschiedenen Einrichtungen, in denen dieKollegen arbeiten, hinaus.Der Sparzwang führt auch dazu, dass es angekündigteArbeitsverdichtungen gibt, die es vorher auch schon gab,

10 Solidarität in der Sozialen Arbeit

Page 11: FORUM sozial - DBSH

die nun aber eben angekündigt werden. Die Folge wirdsein, dass Depressionen zunehmen, ebenso wie die Burn-out-Gefahr der in der Sozialen Arbeit Tätigen wächst.Ich werde im September bei einer gemeinnützigen GmbHanfangen zu arbeiten – und würde mich gern in die Ham-burger Politik des DBSH einmischen –, zumal ich das Ein-mischen durch meine Tätigkeit als Betriebsrat gewöhnt bin.

GERD GÜNTHER

Sozialarbeit nichts wert?Eine Erklärung ist o. k., aber hat mit Sicherheit in diesemdysfunktionalen System kein Gehör zu erwarten. Ich bin diese Privatisierung und den Missbrauch meiner eigenen Arbeitskraft in prekären Verhältnissen so satt.Es wurde genug geredet. Man kann sich schämen durchseine Arbeitskraft den ganzen Mist zu unterstützen. Ich will auf die Straße mit euch und für eigene Rechteeintreten.Sozialarbeit ist in dieser Gesellschaft nichts wert. Sozial-arbeiter kommen nur in die Schlagzeilen, wenn Kinderverhungern … und dann? Keiner spricht von der Überar-beitung der Sozialarbeiter, die ihr Bestes geben undmehr!! Unsere Stille legitimiert dieses kranke asozialeSystem und wir unterstützen diesen kranken Mist lautlos.Die zuständigen Minister sind dann immer so schreck-lich entsetzt und fordern und versprechen, dass es bes-

ser wird. – So als hätten die nix Schlimmes getan oderwas damit zu tun. Sondern der einzelne Sozialarbeiterwar nur Schuld. Sich selbst entlassen sie aus der Verant-wortung, wir Sozialarbeiter machen es aber auch ein-fach und praktisch!

Das ist ja nur ein Beispiel von vielen!!!!

Ich bin so wütend. Aber wohin damit? Meine Klientenunterstütze ich und stärke sie für ihre Rechte einzu-treten. Und wir Sozialarbeiter, wann kämpfen wir dennauch für uns?

Wir schwächen uns durch Duldsamkeit und Demut. Wann sind wir denn auf der Straße und sorgen für me-diales Interesse?

Wo sind denn die Fachhochschulen?

Wieso kriegen Verkäufer und Krankenpfleger medialeAufmerksamkeit und wir nicht?

Ich habe auf Missstände in unserem Beruf ausführlichund mehrfach durch Briefe an Medien hingewiesen,dabei fachlich argumentiert und versucht die Aufmerk-samkeit zu erreichen. Unsere Berufsgruppe ist nichtrelevant, offenbar.

B. SMITS

Danke… für die Saarbrücker Erklärung!!!!!!!!! HELLI �

„Ich bin so wütend. Aber

wohin damit? Meine

Klienten unterstütze ich

und stärke sie für ihre

Rechte einzutreten. Und

wir Sozialarbeiter,

wann kämpfen wir denn

auch für uns?”

Forum SOZIAL SONDERAUSGABE

11Positionen

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Page 12: FORUM sozial - DBSH

„Wer sich einsetzt, setzt sich aus.“1

INTERVIEW MIT DEM 1. VORSITZENDEN DES DBSH, MICHAEL LEINENBACH WILFRIED NODES

12 Solidarität in der Sozialen Arbeit

Für mich bedeutet Soli-

darität z. B. das Leben in

Gemeinschaften, das

gemeinsame Einsetzen

für Ziele, die Wahrung

von Akzeptanz und Tole-

ranz, die Einbindung in

Gruppen, ohne seine

eigene Interessen immer

in den Vordergrund zu

stellen, sowie die Förde-

rung und Unterstützung

von Schwächeren.

� FS: Michael, vor dem Hinter-grund Deines beruflichen Status alsBeamter aus gesehen, müsstest DuDich zur Verwirklichung Deiner ei-genen Interessen gewerkschaftlichkaum engagieren. Gleichwohl bistDu gerade im gewerkschaftlichenBereich sehr aktiv und setzt Dichimmer wieder für das solidarischeMiteinander aller KollegInnen ein.Welchen Stellenwert hat für Dichganz persönlich der Begriff der„Solidarität“?

MICHAEL LEINENBACH: Ich werdeoft gefragt, warum ich denn einenGroßteil meiner Freizeit und Ur-laubszeiten für Aktivitäten imBerufsverband einbringe und alsBeamter für Tarifverhandlungenkeine Freistellung erhalte. In einerFort- und Weiterbildung in Syste-mischer Therapie und Beratungnahm gerade die Biographiearbeiteinen großen Stellenwert ein.

Aufgewachsen bin ich im eherkath. geprägtem Arbeitermilieu imSaarland. Meiner Familie war esvon Beginn an wichtig, dass ichsoziale Kompetenzen erlerne. Sowurde ich parallel zum Eintritt indie Schule in die kirchliche Ju-gendarbeit sowie die Kindergruppedes örtlichen Jugendrotkreuzeseingebunden, später übernahm ichhier Leitungsfunktionen. Dabeigehörten die Übernahme von Ver-antwortung und solidarischesHandeln zusammen.

Daneben konnte ich im Mann-schaftssport (als Kind war ich in ei-ner Handballmannschaft) bereitsfrüh erlernen, was Teamgeist be-deutet und wie wichtig es ist, ge-meinsam für eine Sache einzutre-ten. Auch erlernte ich das Spielender Trompete und war als Jugend-licher und junger Erwachsener inzwei Musikvereinen aktiv. In allden Gruppen waren die Werte Gemeinschaft, Kameradschaft undSolidarität wichtige Grundlagendes Miteinanders. Ich möchte dies an einem Beispiel nochverdeutlichen. Mein Musiklehrer

war Arbeiter und unterrichtetemich kostenlos in seiner Freizeit.Ihm war nicht ein persönlicher Ge-winn wichtig – sonst hätte er sichden Unterricht ja bezahlen lassenkön-nen –, vielmehr sah er sich alsTeil einer Gemeinschaft und nahmseinen Platz innerhalb der Gruppeim Rahmen der Nachwuchsgewin-nung ein.

� FS: Gab es so etwas wie einSchlüsselerlebnis von erfahrenerSolidarität?

MICHAEL LEINENBACH: In meinemweiteren Werdegang absolvierteich eine Bäckerlehre, die ich alsGeselle abschloss. An die Lehreanschließend folgte der zweiteBildungsweg. Ich hatte mich füreine Schulform entschieden, in dernur Schüler aufgenommen wur-den, die bereits über eine Berufs-ausbildung verfügten. Kurz nachunserer Einschulung wurde unsmitgeteilt, dass wir zu wenigSchüler seien und dass daher dieKlasse aufgelöst werden müsse.Vielleicht war es unsere Erfahrung,die wir in unseren Berufsausbil-

FUSSNOTE1 Zitat von Friedrich Schor-lemmer

dungen gemacht hatten, die unsdazu brachte, uns solidarisch ge-gen diese Entscheidung zu stellen.Im Ergebnis wurden wir weiter be-schult.

Ich denke, dass meine persönlicheBiographie einen ersten kleinenEinblick zu meiner Haltung zumThema „Solidarität“ aufzeigt. Fürmich bedeutet Solidarität z. B. dasLeben in Gemeinschaften, das ge-meinsame Einsetzen für Ziele, dieWahrung von Akzeptanz und Tole-ranz, die Einbindung in Gruppen,ohne seine eigene Interessen im-mer in den Vordergrund zu stel-len, sowie die Förderung und Un-terstützung von Schwächeren.

� FS: Oft hört man, dass Sozial-arbeiter sich um alles kümmern, nurnicht um ihre eigenen Interessen.Sozialarbeiter sind nur in geringemMaße gewerkschaftlich und/oderberufspolitisch organisiert. Unter-suchungen bestätigen die hohe Be-deutung der Motive „Hilfe“ und dieMöglichkeit zur Kreativität für ihreberufliche Tätigkeit. Stehen dieseMotive der Solidarität der Sozial-arbeiter entgegen?

MICHAEL LEINENBACH: Ich glaube,dass das Problem an anderer Stel-le verursacht ist. Ich möchte nocheinmal an meine Biographie an-knüpfen. Beim Jugendrotkreuzhatten wir in unserer Gruppe ge-meinsame Ziele und Interessenund gingen gemeinsame Wege.Das wichtigste Ziel war die Ge-meinschaft und somit auch dieSolidarität.

Übertrage ich diese Erfahrungennun auf mein Studium, so muss ichheute feststellen, dass die in derHochschule lehrenden Professio-nen Werte wie „Gemeinschaft“bzw. „Solidarität“ nicht wirklichals eine Grundlage der ProfessionSoziale Arbeit verstanden haben.Im Gegenteil, jede Professionstand für sich, jede Professionkonkurrierte mit der anderen, jedeProfession grenzte sich ab.

Page 13: FORUM sozial - DBSH

FORUM sozial SONDERAUSGABE

13Praxis

Leider hat die Umstel-

lung der Studiengänge

auf Bachelor und Master

nicht die erhoffte Ver-

besserung gebracht –

im Gegenteil.

Jede dieser Professionen, die imBereich der Sozialen Arbeit lehren,hat eine eigene professionsbezo-gene Sozialisation mit den damitverbundenen Werten. Ein gemein-samer Wertekodex ist meist nichterkennbar. Und genau hier seheich die erste Schwierigkeit im Sys-tem: Da an den Hochschulen fürSoziale Arbeit immer noch über-wiegend Angehörige anderer Pro-fessionen lehren, kann das be-schriebene Gemeinschaftsgefühloder nennen wir es „Wir-Gefühl“nicht entstehen.

� FS: Was wäre Deine Alternative?

MICHAEL LEINENBACH: Grundsätz-lich sollte ein Studium der Sozia-len Arbeit breitgefächert aufge-baut sein. Zugleich aber muss den Studieren-den eine Identifikation mit demBeruf und der Berufspraxis ermög-licht werden. Leider hat die Um-stellung der Studiengänge auf Bachelor und Master nicht die er-hoffte Verbesserung gebracht – imGegenteil. Erfolgte in den Diplom-studiengängen die Vermittlung ei-nes generalistischen Zugangs zurSozialen Arbeit, und hatte die Pra-xisphase noch eine wesentlicheBedeutung im Erlernen der not-wendigen sozialen und metho-dischen Kompetenzen, so wurdendiese Grundlagen zur Bildung ei-nes Professionsverständnisses und-gefühls durch die neuen Stu-diengänge über Bord geworfen.

� FS: Ist die Ausbildungssituationwirklich allein verantwortlich für dasfehlende berufspolitische Bewusst-sein? Der Mensch wird ja nicht nurdurch die Ausbildung geprägt.

MICHAEL LEINENBACH: Viele Kolle-ginnen und Kollegen arbeiten mitKlienten, die am so genanntenRand der Gesellschaft stehen. Vonaußen betrachtet (z. B. aus einerVerwaltung) wiederum erfolgt ei-ne Beurteilung der Tätigkeit nachArbeitsgebieten. Teile der Tätig-keiten werden als schick beurteilt– andere wiederum nicht. Oftmalsstehen gerade SozialarbeiterInnenaufgrund dieser Beurteilungskrite-rien und ihrer Tätigkeitsfelder inder Beurteilung in diesen Syste-

men gleichfalls am Rande oder erleben die Betonung scheinbarbesonders attraktiver Handlungs-felder. Und so liegt es nahe, sichals „Therapeut“, „Schuldnerbera-ter“ usw. von der „normalen“ Sozi-alarbeit abzugrenzen.

Ein weiterer Baustein, der der Ent-wicklung einer Solidarität derGruppe der in der Sozialen ArbeitBeschäftigten im Wege steht, istdie Ausrichtung auf die „Subsi-diarität“. Als Mitarbeiter einer Ver-waltung mit einer französischenStädtepartnerschaft lernte ich diefranzösische Struktur zu schätzen.Im Gegensatz zum deutschen Sys-tem baut das französische Systemauf einer zentralen Struktur auf,so dass sowohl Ausbildung alsauch Tätigkeiten in verschiedenenBezirken vergleichbar sind. Infolgeunserer Gesetzgebung überneh-men soziale Leistungen und Diens-te entsprechend des Subsidiari-tätsprinzips verschiedener Trägerder Wohlfahrtspflege, Kirchen, privaten Dienstleistungsbetriebeoder auch staatlichen Stellen. Fürdie Beschäftigten der Sozialen Ar-beit entstehen somit gleich meh-rere Ebenen, über die sie zu inter-nen Konflikten und evtl. zum Aus-leben von Solidarität gelangen.

Ich versuche diesen Spannungs-bogen am Beispiel einer Familien-hilfe aufzuzeigen. Eine Kollegin/ein Kollege kann hier eine Be-schäftigung sowohl in staatlichenStellen, der freien Wohlfahrtspfle-ge oder sonstigen Einrichtungenerhalten. Solidarität wird von der/dem Beschäftigten dann gleichauf mehreren Ebenen abverlangt.Einerseits soll die/der Beschäftigtesich mit den direkten Kolleginnenund Kollegen des Trägers solida-risch zeigen, gleichwohl erwartenaber auch Beschäftigte im glei-chen Arbeitsfeld bei anderen Trä-gern diese Solidarität. Als dritteVariabel kommt dann u. a. die Er-wartung der Solidarität mit derProfession in Gänze dazu. Gehenwir nun davon aus, dass die/derBeschäftigte in unterschiedlichenWertsystemen arbeitet (kirchlicheund staatliche), so kann die Ver-ortung für die entsprechende Per-son recht schwierig werden.

Gleichfalls muss davon ausgegan-gen werden, dass die Träger ihrer-seits eine Erwartungshaltung vonihrem Personal haben, dass diesessich mit den jeweiligen Leitbildernidentifiziert. Ich möchte an dieserStelle das Sprichwort zitieren, dasda lautet: „Allen Menschen rechtgetan ist eine Kunst – die niemandkann.” Geht man nun davon aus,dass ein/e BerufsanfängerIn neu in einer Einrichtung zu arbeitenbeginnt, so wird sie/er bereits zuBeginn mit einer Vielzahl von di-vergierenden Erwartungshaltun-gen (z. B. des Trägers, der KollegIn-nen beim gleichen Träger, der Kol-legInnen im gleichen Handlungs-feld, der KollegInnen innerhalb derSozialen Arbeit, den Gewerkschaf-ten und Verbänden usw.) konfron-tiert. Parallel dazu muss die/derBeschäftigte sich um ihre/seineeigene materielle Absicherung,ihren/ seinen Werdegang, ihre/sei-ne Karriere kümmern.

� FS: An welcher dieser Erwar-tungshaltungen soll sich die neueKollegin/der neue Kollege nun ori-entieren?

MICHAEL LEINENBACH: Aus dem ge-werkschaftlichen Bereich möchteich ein kurzes Beispiel aufzeigen,wie eine Verortung einfacher aus-fallen kann. Nehmen wir die Steu-ergewerkschaft. Eine neue Kolle-gin/ein neuer Kollege beginnt dieAusbildung im Finanzamt. AlleKolleginnen und Kollegen dort ge-hören der gleichen Gruppe an, siearbeiten im Finanzamt. Die Ziel-setzungen sind identisch, die Arbeitsanforderungen können mit-einander verglichen werden, auchim konkreten Austausch mit Be-schäftigten anderer Dienststellenbzw. Verwaltungssitze wird schnelldie Gemeinsamkeit gefunden. Viel schwieriger ist dagegen dieSituation in der Sozialen Arbeit:Nehmen wir den Tarif. In den letz-ten Tarifverhandlungen zum Sozi-al- und Erziehungsdienst war derDBSH durch seine Mitgliedschaftim dbb in dessen Verhandlungs-kommission vertreten. Gleichzeitigsaßen in dieser Verhandlungskom-mission aber auch drei Fach-gewerkschaften, die überwiegend

Page 14: FORUM sozial - DBSH

14 Solidarität in der Sozialen Arbeit

Lehrer vertreten, sowie eine Fach-gewerkschaft für den öffentlichenDienst, in der sich Kolleginnen undKollegen der Sozialen Arbeit or-ganisieren. Was geschieht also?Analog des Lehrbetriebes an denHochschulen ist auch die Vertre-tung der Profession im Tarif einStück weit fremdbestimmt.Wenn also nur eine geringe undindividuelle Möglichkeit besteht,eine Identifikation mit dem Be-rufsbild der Profession schon rechtfrüh in der Berufslaufbahn zu er-reichen, wird eine spätere Identifi-kation äußerst schwierig. Ich kanndaher verstehen, warum für vieleKolleginnen und Kollegen eine Ori-entierung sehr schwierig ist.

� FS: Der DBSH bietet den Vorteilder Bezugnahme nicht nur auf ge-werkschaftliche Fragen, sondernbindet diese in einen Zusammen-hang von Berufs- und Sozialpolitikein. Aber gleichwohl bleibt der er-hoffte Mitgliederanstieg aus. Unddie, die sich organisieren, suchensich noch immer eher ver.di als denDBSH aus?

MICHAEL LEINENBACH: Es liegt aufder Hand, dass eine Kollegin/einKollege, an die/den unterschied-liche Erwartungshaltungen ge-richtet werden, sich für die ein-fachste Variante einer Solidaritätentscheidet oder in Gänze auf eine Solidaritätsgruppe verzichtet.Noch schwieriger kann es für diePerson werden, sich für eine be-rufspolitische Gruppe zu entschei-den, in der dann auch noch ein ei-genes Wertesystem herrscht, andem sich die Einzelperson orien-tieren muss. Die dadurch mög-licherweise entstehende innereZerrissenheit mag nicht jede/raushalten. Auch hier möchte ich ein konkre-tes Beispiel anbringen. Eine Kolle-gin/ein Kollege arbeitet auf einerStelle (staatlich oder bei freiemTräger) und sieht in einem konkre-ten Fall eine strukturell bedingtesoziale Not. Entsprechend Absatz2 Satz 2.3 der BerufsethischenPrinzipien des DBSH muss die Kol-legin/der Kollege wie folgt han-deln: „Die Mitglieder des DBSHhaben den beruflichen Auftrag, die

strukturell bedingten Ursachen so-zialer Not zu entdecken, öffentlichzu machen und zu bekämpfen.“Was kann die Kollegin/der Kollegenun tun, wenn die Dienststelle/Be-schäftigungsstelle ihm ein solchesHandeln untersagt? Wie reagiertdie Person in einem solchen Span-nungsfeld? Wie kann hier Solida-rität, und wenn, von wem einge-fordert werden?

� FS: Diesen und ähnliche Kon-flikte und Fragen haben wohl vieleder KollegInnen. Wie hilft mir da dieMitgliedschaft im DBSH weiter?Und wäre es nicht geschickter,wenn sich der DBSH als die Orga-nisation beschreibt, in der sich dieorganisieren, die sich diesen An-sprüchen stellen wollen?

MICHAEL LEINENBACH: Hier kannich mich immer nur wiederholen.Das Markenzeichen des DBSH unddie Grundlage jeglichen Handelnsim Verband ist für mich, demGrundgesetz folgend „Die Würdedes Menschen ist unantastbar“,die Achtung jedes Einzelnen undsomit die Ethik, aus der sich das„Leitbild des DBSH“ ableitet: die„Berufsethischen Prinzipien“. DiesePrinzipien sind in den wesent-lichen Bereichen des Verbandes, inBerufs-, Fach-, Sozial- und Ar-beitspolitik die Basis unseres Han-delns und unserer Visionen.Damit kann gleich zweifach eineBasis geschaffen werden: Für dieSoziale Arbeit wird eine Haltungund Selbstverpflichtung geschaf-fen, das berufliche Handeln ent-sprechend zu reflektieren, Nutzerund Gesellschaft wiederum kön-nen sich auf die damit verbundeneQualität verlassen.Das offene Gespräch über dieseSelbstverpflichtung, die damit ver-bundene Überprüfung der beruf-lichen Handlungsaufträge und diemöglicherweise darauf aufbauen-de Entwicklung gemeinsamen,auch politischen Handelns – daskann nur der DBSH bieten.

� FS: Der Handlungsauftrag „Hel-fen“ ist mit politischen Interessenverbunden. Diesen Interessen ist dieeigene professionelle Expertise ent-gegenzusetzen. Diesem Ansatz ist

der DBSH jetzt mit seiner „Saar-brücker Erklärung“ gefolgt. Worinsiehst Du die besondere Qualität derSaarbrücker Erklärung?

MICHAEL LEINENBACH: Die Saar-brücker Erklärung beruht auf ei-nem Beschluss der Bundesmitglie-derversammlung und wird somitwesentlich von den Mitgliederndes DBSH mitgetragen und kannauf eine breite Akzeptanz zurück-greifen. Die Erklärung hat ver-schiedene Ebenen: Zunächst wirdder politische Rahmen dargestellt,in dem sich Soziale Arbeit, ins-besondere in den letzten Jahren,bewegen muss. Wir zeigen dieKonsequenzen einer Sozialen Ar-beit, die sich nach den Gesetzender Ökonomie und nicht an derWürde des Menschen orientiert.Dann stellen wir eine Reihe rechtkonkreter fachlicher Forderungen,insbesondere zur Bekämpfung derArmut, und stellen zugleich auchForderungen auf, um der Umver-teilung von „unten“ nach „oben“ein Ende zu setzen.

Die besondere Qualität aber liegtdarin, dass wir zugleich auch For-derungen zum beruflichen Statusaufstellen. Denn nur, wenn dieSoziale Arbeit als solche und ihreBerufsrollenträger anerkannt sind,dann findet auch unsere fachlicheExpertise Gehör. Und dazu gehörtauch eine Verbesserung der Ein-kommenssituation.

Eine weitere Forderung ist, dassdas konkrete berufliche Wirkenfachlich zu bewerten ist und nichtüber Dienstanweisungen und fi-nanzielle Vorgaben, die faktischeine erfolgreiche Arbeit unmöglichmachen, behindert werden darf.Die Saarbrücker Erklärung solltedaher nicht nur unter monetärenGesichtspunkten gesehen werden.Viel grundsätzlicher erscheint esmir, die dort getätigten Aussagenunter den Begrifflichkeiten der„Würde“ und der „Haltung“ zubetrachten, die als Anforderungauch an die Profession selbst zuverstehen sind.

� FS: Viele KollegInnen berich-ten über wachsende bürokrati-sche Zwänge, die Arbeitsverdichtung

Page 15: FORUM sozial - DBSH

FORUM sozial SONDERAUSGABE

15Praxis

Meine zentrale Bot-

schaft an alle Akteure

der Sozialen Arbeit lau-

tet daher: Wenn wir

nicht weiter die Rolle

der Klagenden behalten,

sondern aktiv am Pro-

zess mitwirken wollen,

müssen wir uns aktiv in

die Handlungsprozesse

einbringen.

nimmt zu, und als neuer Trend wach-sen Tendenzen zur Präkarisierung …

MICHAEL LEINENBACH: SozialeArbeit findet in unterschiedlichwahrgenommenen Wirklichkeitenstatt, sowohl was die Situation der jeweiligen Zielgruppen angeht als auch in Bezug auf die eigeneberufliche Situation.Viele Kolleginnen und Kollegen,die sich mit Erwartungen undKommentaren an den DBSH wen-den, kritisieren die jeweils eigeneSituation. Und oft hören wir denSatz: Wenn der DBSH das verän-dert, dann werden wir auch Mit-glied. Manchmal gewinnt man denEindruck, dass zu wenig differen-ziert und geglaubt wird, wir könn-ten alle Probleme stellvertretendlösen. Tatsächlich aber macht es inder persönlichen Betroffenheitschon einen Unterschied aus, obsich über das Ausbleiben der Ein-gruppierung in die S 14 beklagtwird, oder ob Sozialarbeiter, wiebei der Caritas in Berlin, nur nochnach Zeitarbeitstarifen beschäf-tigt werden.

Es ist notwendig, über den Teller-rand der eigenen Betroffenheithinaus zu blicken, nach dem Ge-meinsamen zu suchen und daswirklich Wichtige herauszufinden.Der DBSH kann nicht alle The-men zugleich angehen und mussSchwerpunkte setzen. Von Fried-rich Schorlemmer stammt dasZitat: „Wer sich einsetzt, setzt sichaus“, das sich wunderbar alsMetapher für die Soziale Arbeitwerten lässt.

Dieses Aushalten aber brauchtKraft und Mut, die ein/e jede/r vonuns täglich im Handlungsfeld derSozialen Arbeit erbringen muss.Dies gilt umso mehr, wenn es umunsere eigenen Interessen geht.Gleichzeitig birgt es die Chance,dass eine Veränderung durch das„Einsetzen“ eintreten kann. Undwie immer in „Kämpfen“ bzw. derMöglichkeit des Erreichens ge-meinsamer Ziele ist eine Solida-rität von allen Akteuren gefordert.Nur wenn sich die Handelndenhierüber im Klaren sind, wird eingemeinsames Auftreten ermög-licht und auch die von Dir an-

gesprochene Präkarisierung imArbeitsfeld eingedämmt werdenkönnen.

� FS: Was wäre Deine Vision fürdie nächsten zehn Jahre – bezogenauf die Soziale Arbeit und den Ver-band?

MICHAEL LEINENBACH: Als das zen-trale Thema des DBSH sehe ich inden nächsten Jahren den Aufbaueines Netzwerks aller professions-bezogenen Gruppen. Wir wollendiese Verbände einladen, sich ander Entwicklung einer starken Pro-fessionsvertretung zu beteiligen.Als Vision für den DBSH sehe ichdie Weiterentwicklung von diesemals Dach für alle Gruppen und Or-ganisationen, die sich in speziellenFragmenten der Sozialen Arbeitbewegen. Mit der Bündelung derKompetenzen könnte so eine Mei-nungsführerschaft für die SozialeArbeit aus der Profession herausentstehen. Der DBSH hat in seinerStrukturdebatte und Satzungs-änderung diesbezüglich bereitsdurch die Einführung der „Korpo-rativen Mitgliedschaft“ die Wei-chen so gestellt, dass eine solcheBündelung der Kräfte – ohne dassunterschiedliche Gruppen und Or-ganisationen ihre jeweilige Eigen-ständigkeit und Unabhängigkeitverlieren – auch möglich ist.Ein solches Sprachrohr der Sozia-len Arbeit hätte dann auch dieMöglichkeit, sich intensiver in diesozial- und professionspolitischenDebatten einzubringen und ent-sprechendes Gehör zu finden.

Im Ergebnis soll keine öffentlicheDiskussion und keine Berichter-stattung über soziale Leistungenund Dienste erfolgen, ohne dassdie unabhängige Expertise derProfession abgerufen wird. Dannwird es auch gelingen, dass unsereGesellschaft wieder sozialer undgerechter wird.

� FS: Was ist Deine zentraleBotschaft an die Beschäftigten derSozialen Arbeit?

MICHAEL LEINENBACH: Hier möchteich mit einem kleinen Beispielbeginnen. Stellen wir uns einenChor vor, der sich auf einen grö-

INTERVIEWDas „E-Mail-Interview“ führteWilfried Nodes mit MichaelLeinenbach, 1. Vorsitzender desDBSH.

ßeren Auftritt vorbereitet. Stellenwir uns nun auch noch vor, dassdie Akteure dieses Chores die un-terschiedlichen Gruppen, Organi-sationen und Verbände im Feld derSozialen Arbeit darstellen. Wennich mir nun vorstelle, dass dieunterschiedlichen Gruppen imChor der Sozialen Arbeit gleich-zeitig und unkoordiniert ihrejeweils eigenen Lieder zu singenbeginnen, dann kann man sichvorstellen, dass das Konzert füralle Beteiligten – ob Akteure oderZuschauer – nicht wirklich alsGenuss gewertet werden kann.

Meine zentrale Botschaft an alleAkteure der Sozialen Arbeit lautetdaher: Wenn wir nicht weiter dieRolle der Klagenden behalten,sondern aktiv am Prozess mitwir-ken wollen, müssen wir uns aktivin die Handlungsprozesse einbrin-gen. Um ein solches Sich-Einset-zen und daher auch Sich-Ausset-zen gut überstehen zu können, be-darf es der Bündelung der Kräfteinnerhalb der Sozialen Arbeit unterdem Dach in einem gemeinsamenHaus, dass die jeweilige Individua-lität der einzelnen Gruppen infachlicher Ebene ermöglicht.

Um diese zu erreichen, ist eineRückbesinnung auf den Berufs-stand, eine bewusst wahrgenom-mene ethische Verpflichtung undsomit die Entwicklung einer ent-sprechenden Haltung, die jeweilsdie Würde des Menschen alsHandlungsmaxime für die SozialeArbeit in den Mittelpunkt rückt,von Nöten. �

Page 16: FORUM sozial - DBSH

Soziale Arbeit ist bekanntlich einerseits eine Instanz,die das gesellschaftliche System stabilisieren hilft,aber gleichzeitig auch eine politische Kraft, die mitBlick auf die gesellschaftlich induzierten Problem-lagen von Menschen im kapitalistischen Gesell-schaftssystem eine kritische Sicht auf die gesell-schaftlichen Verhältnisse entwickelt (vgl. z. B. Böh-nisch et al. 2005, S. 103), politisch aktiv werden unddie Menschen befähigen kann, sich gegen das Systemund seine Zumutungen zur Wehr zu setzten.

Das Verständnis der Sozialen Arbeit als politischeKraft schlägt sich in ihren ethischen Grundhaltungenund ihrem Aufgabenverständnis nieder: in der Partei-lichkeit (mit der Klientel) und in der Solidarität (mitGleichgesinnten). Es verknüpft das berufliche und (so-zial-)politische Handeln auf verschiedenen Ebenenmiteinander.

Parteilichkeit für die Klientel der Sozialen Arbeit istdas Bemühen – trotz des immer auch bestehendengesellschaftlichen Auftrages –, sich im Sinne desMandates für die Menschen, für deren Bedürfnisseund Bedarfe einzusetzen und mit ihnen zusammenderen Interessen zu verteidigen – im Zweifel auch ge-gen die Interessen des Systems (vgl. z. B. Thiersch1993, S. 13). In jüngster Zeit gerät die Parteilichkeitimmer mehr in Verruf und wird als unwissenschaftlichund nicht mehr zeitgemäß kritisiert.

Solidarität bedeutet, sich mit anderen Menschen zu-sammen für die gemeinsamen Interessen einzusetzen,sich dabei gegenseitig zu stützen und gemeinsamgegen die Verhältnisse zu kämpfen, die diesen Inte-ressen im Wege stehen. Sie kann sich auf unter-schiedlichen Ebenen umgesetzt werden.

1. Zum einen bedeutet sie das politische Engagementfür soziale Gerechtigkeit. Hier geht es um die Frage,ob und wieweit die Profession an der Gestaltung desSozialen und an der Schaffung von Solidarität mit-wirken kann, will und muss (vgl. z. B. Lange/Thiersch2006, S. 217).

2. Dieses Verständnis von Sozialer Arbeit als einer ge-sellschaftspolitischen Kraft, war zumindest in den70er Jahren im Zuge der Kritik an der damaligen vor-herrschenden sozialarbeiterischen Praxis durchausverbreitet. Heute ist ein solches Verständnis von So-zialer Arbeit aber fast vergessen.

Im engeren Sinne bedeutet Solidarität für Sozial-arbeitende den gemeinsamen Einsatz der Berufsgrup-pe für berufs- und fachpolitische Interessen derProfession, z. B. für eine angemessene Bezahlung oderz. B. für die Sicherstellung der für qualifizierte SozialeArbeit erforderlichen Arbeitsbedingungen. Dieser wä-re gerade angesichts der zunehmenden Deprofessio-nalisierung und Prekarisierung der Sozialen Arbeitbitter notwendig.

16 Solidarität in der Sozialen Arbeit

Jeder kämpft für sich allein?Gedanken zur Notwendigkeit der (Wieder)Entdeckung der Solidarität in der Sozialen Arbeit

MECHTHILD SEITHE

Page 17: FORUM sozial - DBSH

Die Solidarität innerhalb der Berufsgruppe war selbstin den 70er Jahren nicht besonders ausgeprägt. Zwarwurden Kooperation, Teamarbeit und Vernetzungs-arbeit unter sozialen Fachleuten hoch gehalten. Ge-meinsame Aktivitäten, z. B. um eine bessere tariflicheEingruppierung durchzusetzen, gehörten aber nie zuden zentralen Tugenden oder Praktiken der Profession.

Im Folgenden soll zunächst in aller Kürze den Hinter-gründen für das zunehmende Verschwinden der ethi-schen Grundhaltungen in unserer Profession nach-gegangen werden. Im Anschluss möchte ich die Frageaufwerfen, wie es um die heutigen Sozialarbeitendenbestellt ist: bestehen überhaupt noch Ansätze undChancen für ein Verständnis der Sozialen Arbeit, beidem Parteilichkeit und Solidarität unverzichtbareGrundhaltungen darstellen?Der Aspekt der berufs- und fachpolitischen Solidaritätinnerhalb der Profession Soziale Arbeit wird in denweiteren Überlegungen dabei im Vordergrund stehen.

Parteilichkeit und Solidarität sindkeine NächstenliebeDer Berufsgruppe der Sozialarbeitenden wird als Be-rufsmotivation immer wieder so etwas wie „Nächs-tenliebe“ unterstellt. Die Vorstellung von SozialerArbeit als selbstlose Nächstenliebe steckt tatsächlichauch heute noch in vielen Köpfen, auch in denen derSozialarbeitenden selber. Parteilichkeit ist jedoch etwas ganz anderes alsNächstenliebe. Sie bedeutet das Partei-Ergreifen fürSchwächere, und zwar aus der ethischen Überzeu-gung heraus, dass diesen Schwächeren Unrecht ge-schehen ist oder geschieht. Ihr Mangel an Ressourcenist keine individuelle Eigenschaft und schon gar keinindividuelles Versagen, sondern stellt eine soziale Be-nachteiligung dar, die nicht zu akzeptieren ist. Die Vorstellung, Soziale Arbeit sei letztlich professio-nell ausgeübte Nächstenliebe, ist aber vor allem auchdafür mitverantwortlich, dass sich die Sozialarbeiten-den seit jeher scheuen, für ihre eigenen Rechte undBedarfe aktiv einzutreten. Wer anderen selbstlos hel-fen will, so wird offenbar immer wieder gefolgert, dersollte dabei keine Absichten für sich selber verfolgen.Die Befreiung der Sozialen Arbeit von der hartnäcki-gen Ideologie der selbstlosen Nächstenliebe, die Her-leitung der ethischen Prinzipien Parteilichkeit undSolidarität aus ihrer sozialpolitischen Tradition undaus den Werten der Aufklärung würden eine bessereBasis für die Berufsgruppe darstellen, wenn es darumgeht, ihre ethischen Werte gegen die heutigen neo-liberalen Forderungen und Vorstellungen zu vertei-digen und abzugrenzen.

Der Verlust des professionellenKerns der Sozialen ArbeitEin weiterer wichtiger Hintergrund für die mangelndeSolidarität innerhalb der Berufsgruppe ist die Tat-sache, dass sich die Einheitlichkeit, das Gemeinsame,das Verbindende in der Sozialen Arbeit immer mehr

aufzulösen scheint in der unübersichtlichen Fülle ver-schiedenster Arbeitsfelder, Organisationsformen, Pro-duktionsformen, Anstellungsträger usf. BestimmteMethoden und Techniken, vorgegebene konkrete Ziel-vorgaben oder Wirkungsmodelle, Programme undZielgruppenaufträge stehen im Vordergrund und ver-weisen die Profession mit ihren fachlichen Kompeten-zen und ethischen Werten in den Hintergrund.

Der fachlich-ethische Kern der Sozialen Arbeit, ihrCharakter als kommunikativer, interaktiver Prozess,der Menschen bei der Bewältigung ihres Alltags un-terstützen soll, verschwindet so immer mehr (vgl. z. B.Galuske 2003). Ein gemeinsames Verständnis SozialerArbeit, das als Grundlage für eine mögliche Berufs-identität dienen kann, ist für viele nicht mehr nach-vollziehbar und greifbar. Sozialarbeitende in der Pra-xis haben deshalb große Schwierigkeiten, in der Kol-legIn, die vielleicht in der gleichen Stadt, aber ineinem ganz anderen Arbeitsfeld, bei einem anderenTräger, in einem völlig anderen Aufgabenfeld und un-ter anderen Zielvorgaben tätig ist, die BerufskollegInzu erkennen und eine Ziel-, Haltung und Interessen-gleichheit mit ihr auszumachen.

Es wäre vor allem die Aufgabe der Hochschulen, die-sen allen sozialarbeiterischen Aufgaben und Tätigkei-ten innewohnenden Kern der Profession wieder ver-stärkt zu vermitteln, die spezifischen Kompetenzender Sozialen Arbeit zu vermitteln und bewusst zu ma-chen sowie deren Verteidigung gegen nichtprofessio-nelle Absichten und Vorstellungen konkret und aktivzu erarbeiten. Wenn die Soziale Arbeit sich als Ganzesmit gemeinsamen Interessen wahrnehmen könnte,hätte sie eine wichtige Voraussetzung geschaffen für ein politisches Selbstverständnis und auch für die Entstehung und Ausübung von Solidarität unter-einander.

Die neoliberale Umkremplung undihre Folgen für das Verständnis vonParteilichkeit und SolidaritätInzwischen hat der Neoliberalismus als die derzeitherrschende und gesellschaftlich verordnete Ideologiedie Soziale Arbeit, wie ja auch die Gesellschaft ins-gesamt, mehr verändert, als wir es uns mitunter ein-gestehen wollen.Ein Verständnis von Parteilichkeit für sozial Benach-teiligte und Schwächere liegt dieser Ideologie unddiesem Staat grundsätzlich fern, denn diese setzt dieAnnahme voraus, dass bestimmte individuelle Proble-me gesellschaftliche Ursachen haben (können) undsomit eine gesellschaftliche Verantwortung für derenLösung besteht. Die je individuelle Schuldzuweisungdes aktivierenden Staates macht Parteilichkeit nichtnur scheinbar überflüssig, sondern auch „gefährlich“,weil sie angeblich die Eigeninitiative der Einzelnenschwächt (vgl. z. B. Nolte 2004).Der „alten Parteilichkeit“ wird zudem der Geruch vonIrrationalität und Unprofessionalität angehängt. Sieist angeblich heute der Dienstleistung gewichen (Lutz

FORUM sozial SONDERAUSGABE

17Theorie

Es wäre vor allem die

Aufgabe der Hochschu-

len, diesen allen sozial-

arbeiterischen Aufgaben

und Tätigkeiten inne-

wohnenden Kern der

Profession wieder ver-

stärkt zu vermitteln.

Page 18: FORUM sozial - DBSH

2008). Soziale Arbeit wird zudem zunehmend zueinem technischen, angeblich personenneutralen Ver-fahren der Verhaltensänderung. Die alte Vorstellung von einer Liebestätigkeit SozialerArbeit aber hat der aktivierende Staat von der profes-sionellen Sozialen Arbeit abgetrennt und der privaten,persönlich motivierten Barmherzigkeit anempfohlenund überlassen (vgl. Bütow/Chassé/Hirt 2008, S. 231;Spindler 2007, S. 31; Böhnisch et al. 2005, S. 238).

Mit der Solidarität macht der Neoliberalismus erst recht kurzen ProzessDort, wo jeder für sich alleine zu sorgen hat, wo jederfür die Risiken seines Lebens alleine einstehen mussund wo Versagen und Not allein die Schuld des Ein-zelnen ist und bleibt, da sind Solidarität und poli-tisches Engagement geradezu kontraindiziert.Nur die heimelige und für den Staat kostenfreie Wär-me des sozialen Nahraumes darf das Gesicht derMenschlichkeit und Solidarität zeigen. Die Nutzungder Bürgerbewegungen und die Aktivierung der sozia-len Nahräume bedeuten – ähnlich wie die Barmher-zigkeit, die die Parteilichkeit ersetzen soll – das Ab-

schieben der Solidarität ins Private, Zufällige und vorallem Unpolitische (vgl. z. B. Heite 2008, S. 113,114).Der Solidarität innerhalb der Berufsgruppe schließlichverabreicht der Neoliberalismus scheinbar den letztenDolchstoss: Aus Solidarität wird Konkurrenz undWettbewerb, aus Netzwerkarbeit ist längst eine Mo-dernisierungsmethapher für mehr Effizienz geworden,aus Solidarität unter Gleichen, z.B. gegenüber demArbeitgeber, wird die Solidarität mit dessen Unter-nehmen und seinem wirtschaftlichen Wohlergehen,von dem ja die eigene Existenz abzuhängen scheint. Auch unter BerufskollegInnen steht – und so soll esauch sein – jeder und jede für sich alleine und damitauch gegen alle anderen.

Gewerkschaftliche oderberufspolitische Organisation –wozu soll das gut sein?Es ist eine bekannte, wenn auch angesichts der kon-kreten Berufssituation schwer zu begreifende Tat-sache, dass Sozialarbeitende heute mehr denn jeberufspolitische oder gewerkschaftliche Organisie-rung für sich nicht in Betracht ziehen. Der durchschnitt-liche Organisationsgrad der Sozialarbeitenden inDeutschland bei Gewerkschaften und Berufsverbän-den überschreitet nicht einmal die 10-Prozent-Marke.Warum?Bei unseren Veranstaltungen im Fachbereich im ver-gangenen Sommersemester, bei denen Studierendemit Gewerkschaftlern und DBSH-VertreterInnen überaktuelle Fragen ins Gespräch kamen, zeigte sich eineunglaubliche Unwissenheit über zentrale Zusammen-hänge solidarischen Handelns. Die Studierenden waren nicht nur erstaunt über dieihnen offensichtlich völlig neuen Informationen inBezug auf berufspolitische und gewerkschaftlicheOrganisationen: „Das hatten wir nicht in der Schule“(ja warum eigentlich nicht!!??). Sie hatten vor allemgroße Schwierigkeiten, den Sinn einer Organisierungzu verstehen: „Warum sollte ich denn da beitreten?Ich trete doch auch sonst nicht in jeden Verein ein.”Solidarität wird offenbar von vielen auch als unnützangesehen oder der alten Selbstlosigkeitsideologieverdächtigt: „Was nutzt mir das dann? Was gehenmich die andern an. Ich muss mich um mich und mei-ne Familie kümmern!“

Groß aber war immerhin das Staunen darüber, dasssich z. B. mit dem DBSH jemand wirklich für ihre In-teressen einsetzte und den Wert ihrer Arbeit ange-messen einschätzte. Am Abend vorher hatte bei eineranderen Veranstaltung eine Vertreterin der Arbeits-agentur die im Osten derzeit üblichen Bruttogehältervon 1500,00 Euro für SozialarbeiterInnen verteidigt:„Mehr können sie heute eben nicht erwarten.” Undhier, beim DBSH, war nun tatsächlich jemand, der diese unmöglichen Verhältnisse offen und deutlichanprangerte und als unerträglich geißelte. Das war eine neue, wichtige Erfahrung für viele Anwesende.Aber kurz darauf folgte die reichlich blauäugige Frage

Solidarität wird offenbar

von vielen auch als

unnütz angesehen oder

der alten Selbstlosig-

keitsideologie verdäch-

tigt: „Was nutzt mir

das dann?”

18 Solidarität in der Sozialen Arbeit

Page 19: FORUM sozial - DBSH

„Können Sie denn – gesetzt den Fall ich trete ein –dafür sorgen, dass ich an meiner jetzigen Arbeitsstel-le mehr Geld bekomme?“ Und als das verneint wurde,kam der enttäuschte Kommentar: „Aber was bringt es mir denn dann?“ Dass es bei der gewerkschaft-lichen oder berufspolitischen Organisierung nichtdarum geht, eine Dienstleistung zur Durchsetzung dereigenen Interessen zu kaufen, dass es vielmehr da-rum geht, selber für die eigenen Rechte einzutreten, schien für die Studierenden keineswegs klar zu sein.Ein DBSH-Mitglied stellte aber schließlich richtig:„Ich weiß, dass die Organisation nicht von heute aufmorgen meine Situation verändern kann. Aber wennman jetzt nicht anfängt, was dagegen zu tun, wird esdoch immer schlimmer. Und mir persönlich geht esbesser, seitdem ich weiß, ich tue was, ich lasse mirnicht mehr alles gefallen. Und ich weiß jetzt auch,dass ich dabei nicht alleine bin. Und wenn wir nochmehr werden, dann werden wir auch irgendwannVeränderungen erreichen!“Ich bin mir nicht sicher, aber ich hatte den Eindruck,dass diese Aussagen bei vielen der Anwesenden zwarauf blankes Staunen, bei einigen aber auf großes In-teresse stieß und dort der Beginn einer neuen Er-kenntnis gewesen sein kann.

Wie steht es um das aktuelle politische Selbstverständnis derSozialarbeitenden?Als ich 1993 an einer ostdeutschen Hochschule meineArbeit aufnahm, sagte ein Student, der im Seminarsoeben eine Kommilitonin hemmungslos vor allen an-deren bloßgestellt hatte, zu seiner Verteidigung:„Aber das ist doch jetzt so! Jetzt heißt es doch: jeder

gegen alle. Wir leben doch jetzt in einer Ellenbogen-gesellschaft, oder etwa nicht?“ Ich war schockiert.Aber er hatte völlig Recht.

Vor einigen Wochen fragte ich eine Studentin, ob siesich für eine Prüfung in einer Lerngruppe vorbereitetund ob ihr das etwas gebracht hätte. Ich erhielt zurAntwort: „Eigentlich nicht. Die anderen haben ja nurversucht von meinem Wissen zu schmarotzen. Dahabe ich gesagt: Leute lest doch selber die Bücher!“Und sie hatte der Gruppe den Rücken zugekehrt. Esherrscht unter den Studierenden wie wohl unter denPraktikerInnen der Sozialen Arbeit eine zunehmendeTendenz zur Entsolidarisierung. Außerdem herrscht eine große Bereitschaft, sich anunprofessionelle und prekäre Arbeitsbedingungen an-zupassen.

Hintergrund hierfür ist zum einen eine große Angstschon bei unseren StudentInnen, bei Nichtanpassungden eigenen Arbeitsplatz zu verlieren. In der Praxissind die Erfahrungen ja auch entsprechend: Wer denMund aufmacht, steht in Gefahr rausgeworfen zuwerden.

Ein anderer Hintergrund ist sicherlich auch die gesamtgesellschaftlich induzierte Bereitschaft zurpassiven Hinnahme von prekären Lagen und dieNichtwahrnehmung und Nichtreflexion der gesell-schaftlichen Ursachen für diese Entwicklungen. Vor diesem Hintergrund muss es wohl gesehen wer-den, dass die in unserer Hochschule gezielt und inten-siv geforderte Auseinandersetzung mit den aktuellenproblematischen Entwicklungen in unserer Professionvon vielen Studierenden zunächst als sehr belastend,als deprimierend erlebt wird. Sie verstehen oft nicht,

FORUM sozial SONDERAUSGABE

19Theorie

LITERATURBöhnisch, L./Schröer, W./Thier-sch, H. (2005): Sozialpädago-gisches Denken. Wege zu einerNeubestimmung. Weinheim2005

Bütow, B./Chassé, K.A./Maurer,S. (2006): Soziale Arbeit zwi-schen Aufbau und Abbau.Transformationsprozesse imOsten Deutschlands und dieKinder- und Jugendhilfe. Wies-baden 2006

Galuske, M. (2008): Fürsorg-liche Aktivierung – Anmerkun-gen zu Gegenwart und ZukunftSozialer Arbeit im aktivieren-den Staat. In: Bütow, B./Chassé,K.-A./Hirt, R. (Hrsg.): SozialeArbeit nach dem Sozialpäd-agogischen Jahrhundert. Posi-tionsbestimmungen SozialerArbeit im Post-Wohlfahrts-staat. Opladen 2008, S. 9 ff.

Heite, C. (2008): Soziale Arbeitim Kampf um Anerkennung.Professionstheoretische Per-spektiven. Weinheim 2008

Lange, D./Thiersch, H. (2006):Die Solidarität des SozialenStaates – Die Solidarität desreformierten Sozialstaates. In:Böllert, K./Hansbauer, P./Han-senjürgen, B./Langenohl, S.(Hrsg.): Die Produktivität desSozialen – den sozialen Staataktivieren. Sechster Bun-deskongress Soziale Arbeit.Wiesbaden 2006, S. 211 ff.

Lutz, Roland: Perspektiven derSozialen Arbeit. In: Aus Politikund Zeitgeschichte (APuZ) 12–13/2008.

Nolte, P. (2004): GenerationReform. Jenseits der blockier-ten Republik. Schriftenreiheder Bundeszentrale für politi-sche Bildung. Bonn 2004

Spindler, H. (2007): Sozialar-beit und der Umgang mit derArmut. Eine alte Aufgabe imneuen Gewand. In: FORUM so-zial 3/2007, S. 29 ff.

Thiersch, H. (1993): Struktu-rierte Offenheit. In: Th. Rau-schenbach u. a. (Hrsg.): Dersozialpädagogische Blick. Wein-heim 1993, S. 11 ff.

Page 20: FORUM sozial - DBSH

Die Idee, sich zusammen

zu tun, liegt auch für

die eher Kritischen und

Sensibilisierten in weiter

Ferne. Die Vorstellung

vom Individuum, das

selber und alleine für

sich kämpfen muss,

steckt in allen Köpfen

und Poren.

20 Solidarität in der Sozialen Arbeit

Autorin

PROF. DR. MECHTHILD SEITHEist seit 1983 Hochschullehre-rin an der FH Jena. Davor arbeitete sie 18 Jahre in derPraxis, u. a. im Bereich Erziehungsberatung und imJugendamt (Krefeld, Rem-scheid, Wiesbaden). Von Hausaus ist sie Psychologin, hatwährend ihrer Praxiszeit imRahmen einer Externen-prüfung in Frankfurt a. M.das Diplom als Sozialarbeite-rin abgelegt.

Schwerpunkte der Lehr-tätigkeit und Forschungsind u. a.:Hilfen zur Erziehung, Ökono-misierung und aktivierenderStaat, Beratung mit nicht-motivierter Klientel.

warum wir sie als HochschullehrerInnen in ein solchesDilemma verwickeln wollen: „Wenn die Praxis dochheute anders tickt, wenn die lebensweltorientierteSoziale Arbeit gegenwärtig nicht gewünscht undnicht bezahlt wird, wozu soll man sie dann noch ler-nen oder gar verteidigen?“Dennoch ist es uns gelungen, vielen Studierenden dieAugen zu öffnen, sie für die Probleme zu sensibilisie-ren und den Wunsch bei ihnen zu wecken, sich denneoliberalen Anforderungen nicht kampflos zu er-geben. Aber selbst solche Studierende, die verstandenhaben, mit welchen Problemen sie demnächst in derPraxis konfrontiert werden, die die gesellschaftlichenHintergründe begriffen haben und die nicht mehr be-reit sind, sich einfach anzupassen, selbst die ent-wickeln keine Vorstellungen und Ideen für eine ge-meinsame Gegenwehr. Die Idee, sich zusammen zutun, liegt auch für die eher Kritischen und Sensibili-sierten in weiter Ferne. Die Vorstellung vom Indivi-duum, das selber und alleine für sich kämpfen muss,steckt in allen Köpfen und Poren.

Und dennoch bin ich inzwischen davon überzeugt,dass ein elementares Bedürfnis nach Solidarität be-steht, und rudimentäre, vielleicht auch erst einmalnaive Vorstellungen über mögliche Solidaritätsschrit-te innerhalb der Berufsgruppe vorhanden sind. Es gibtdurchaus das Bedürfnis bei Studierenden wie Prakti-kerInnen, einen Weg für sich zu finden, der es ihnenermöglicht, den beruflichen Zumutungen und neo-liberalen Herausforderungen nicht mehr hilflos aus-geliefert zu sein. Sie suchen nach Möglichkeiten,nicht ganz alleine zu sein bei ihrem Versuch, derAnpassung im Berufsleben zu entgehen. Was sie sichdenn wünschen würden für die Anfangszeit im Beruf,in der neuen Stelle, in einer fremden Stadt, habe ichunsere frisch gebackenen SozialarbeiterInnen gefragt.Die Antwort war eigentlich viel versprechend: „Wirhoffen, dass wir an unserem neuen Arbeits- und Lebensort ein paar Leute finden werden, die genauwie wir diese Probleme sehen. Mit denen möchten wir uns dann zusammensetzen, austauschen und unsirgendwie gegenseitig unterstützen.“Solche Vorstellungen sind ein Anfang. Man sollte sieernst nehmen. Sie sind die Chance, die ergriffen undweiterentwickelt werden könnte.

Was wäre zu tun? Was könnte das solidarische Bewusstsein in derBerufsgruppe wecken?Voraussetzungen für eine (Re-)Politisierung und (Re-)Solidarisierung der sozialarbeiterischen Zunft sind

1. die Erkenntnis, dass die gegenwärtigen Problemeder Klientel sowie die der Profession von Menschengemacht und keine unabwendbaren Naturgewal-ten sind,

2. die Bereitschaft sich zu wehren, für die eigenenInteressen und Rechte einzusetzen und sich nichtanzupassen, sich nicht treiben zu lassen, sei es ausPragmatismus, aus Faulheit oder aus Angst,

3. die Bereitschaft und Fähigkeit, sich mit Menschengleicher Interessenlage und gleicher Gesinnungzusammen zu tun und gemeinsam gegen die be-stehenden Missstände anzugehen.

All diese Voraussetzungen sind heute bei den meis-ten Studierenden und PraktikerInnen nicht oder nur sehr begrenzt gegeben. Solche Erkenntnisse, solchesWissen, solche Erfahrungen sind in unserer gegen-wärtigen Gesellschaft offenbar weitgehend verschüt-tet, ausgelöscht oder sie werden auch gezielt ver-heimlicht und verhindert.Es gilt, sie neu zu schaffen und zu vermitteln. Diessind die aktuell anstehenden Aufgaben für die Ge-werkschaften, den Berufsverband und für die Bil-dungseinrichtungen. Für die Studierenden liegt einegroße Chance und damit auch eine große Verantwor-tung bei den Hochschulen.

Dabei geht es um folgende Vermittlungsinhalte:

� Informationen über Möglichkeiten der Organisie-rung und über Interessenvertretungen,

� Sensibilisierung für die aktuellen gesellschaft-lichen Problemlagen und ihre Hintergründe, Auf-klärung über und Reflexion der politischen Zusam-menhänge,

� Anregung zur Auseinandersetzung mit der Frage,ob man sich diesen Entwicklungen wehrlos unter-ordnen will oder ob man bereit ist, diese Anpas-sung zu verweigern.

Darüber hinaus aber ist es unbedingt notwendig, denBetroffenen Erfahrungen mit Solidarität und mit ge-meinsamem politischen Handeln zu ermöglichen. Essollte versucht werden, an den konkreten Bedürfnis-sen nach Solidarität anzusetzen, an dem Wunsch, sich mit Gleichgesinnten und gleich Betroffenen zu-sammensetzen und austauschen sowie stützen zukönnen.Viele Studierende wie PraktikerInnen müssen ganzelementar erst einmal wieder erfahren, was solida-risches Handeln ist, was ihnen das bringt, wie es gehtund funktioniert. Das kann innerhalb einer (berufs-)politischen Organisation geschehen, solch eine Grup-pe kann aber zunächst auch ganz spontan und per-sönlich zustande kommen. Entscheidend ist, dass esfür die Sozialarbeitenden einen Ort gibt, an dem dieProbleme ausgesprochen, nach ihren Ursachen ge-fragt und Strategien für Lösungen entwickelt werdenkönnen. Ein Ergebnis dieser gemeinsamen Überlegun-gen könnte sicher auch der Entschluss sein, sich durchden Beitritt zu einer Gewerkschaft oder zum Berufs-verband weitere Ressourcen zu sichern und mehrSchlagkraft und Stärke zu verschaffen. So verstandenwäre der Beitritt zur Organisation dann nicht dervermeintliche Einkauf einer Interessenvertretungs-Dienstleistung, sondern er wäre der Erkenntnis ge-schuldet, dass so ein Zusammenschluss die Kräftebündelt, Ressourcen stärkt und im Sinne einer großen,starken Selbsthilfegruppe die eigene Durchsetzungs-kraft um ein Vielfaches erhöht. �

Page 21: FORUM sozial - DBSH

Nach der zehnjährigen Erprobungs-phase des Bologna-Prozesses undder damit verbundenen Einfüh-rung des Bachelor-/Master-Sys-tems häuften sich im Jahr 2009 anden Hochschulen die Anzeichenvon Überforderung und Stress. Eingroßer Teil der Überlastung resul-tierte daraus, dass eine Vielzahl anPrüfungen in den Studiengängeneingeführt wurde. Es entstand im-mer mehr die Gewissheit, dass dieneuen Bachelor- und Masterstu-diengänge auf rein wirtschaftlicheKriterien (schneller, kontrollierterStudienabschluss) reduziert wur-den, statt einer umfassenden Bil-dung Genüge zu tun. Der Wegfallpraxisorientierter Studienanteileführte darüber hinaus zu einemgeringerwertigen berufsqualifizie-renden Abschluss.

Diese Wahrnehmung der Studie-renden stand in deutlichem Ge-gensatz zu den Äußerungen derdamaligen Bundesbildungsminis-terin Annette Schavan: „Wir wol-len in ganz Europa eine attraktive

Ende 2009 rund 820 Studierendein Bachelor-, Master- und weiter-bildenden Studiengängen imma-trikuliert.Der Bildungsstreik wurde inBraunschweig maßgeblich vonStudierenden Sozialer Arbeit mit-gestaltet. Eine Gruppe Studieren-der der Fakultät fand sich im„Arbeitskreis Solidarisierung &Besetzung“ zusammen und doku-mentierte ihre Streikerlebnisse ineinem Tagebuch. Der nachfolgen-de Auszug aus diesem Tagebuchermöglicht Einblicke in Erfahrun-gen und erlebte Solidarität derStudierenden.

Streikerlebnisse –in einem Tagebuchdokumentiert� Montag, 16. 11. 2009: DerBildungsstreik nimmt in Braun-schweig an der Technischen Uni-versität seinen Anfang: Über 100 –nach ihrer Meinung zu Unrecht–exmatrikulierte Maschinenbau-

und wettbewerbsfähige Hoch-schulbildung, die sich an denBedürfnissen der Studierendenorientiert. Wir wollen eine hoheQualität des Angebots, und wirwollen die Mobilität unserer Stu-dierenden steigern.”(URL: http://www.bmbf.de/press/2811.

php [24. 6. 2010])

Die Diskrepanz zwischen den Lip-penbekenntnissen der PolitikerIn-nen und der an den Hochschulengegebenen Bildungsmisere brach-te das Fass zum Überlaufen undentlud sich im November 2009zum Bildungsstreik.Der Streik erreichte im selben Monat auch die BraunschweigerHochschulen. Braunschweig istmit der Technischen UniversitätBraunschweig (TU), der Hoch-schule für Bildende Künste Braun-schweig (HBK) und der Ostfalia-Hochschule für angewandte Wis-senschaften eine der großenHochschulstädte in den nördlichenBundesländern. An der FakultätSoziale Arbeit der Ostfalia waren

Die Diskrepanz zwischen

den Lippenbekenntnis-

sen der PolitikerInnen

und der an den Hoch-

schulen gegebenen

Bildungsmisere brachte

das Fass zum Überlaufen

und entlud sich im

November 2009 zum

Bildungsstreik.

FORUM sozial SONDERAUSGABE

21Praxis

FUSSNOTE1 Aristophanes 445–385 v. u. Z.

Bildungsstreik 2009: StudierendeSozialer Arbeit solidarisieren sich„Menschen bilden bedeutet nicht, ein Gefäß zu füllen, sondern ein Feuer zu entfachen.“1

SABRINA SLAWINSKI

KMK-Demo

Page 22: FORUM sozial - DBSH

Aktion Bildungstod Streiksingen auf dem Braunschweiger Weihnachts-markt

Dekanin Prof. Dipl.-

Psych. Roswitha

Bender: „Ich finde es

gut, dass Sie streiken.

Die Studierenden

der Sozialen Arbeit

waren mir viel zu lange

zu unpolitisch“.

22 Solidarität in der Sozialen Arbeit

Studenten der Technischen Uni-versität Braunschweig besetzendas Audimax. Grund hierfür ist diebürokratische Umstrukturierungvom Diplom zum Bachelor-/Mas-ter-System mit gravierenden Ver-änderungen für die Diplom-Stu-dierenden. Sie werden vor dieWahl gestellt: entweder Annahmedes aus ihrer Sicht geringer wer-tigen Bachelor oder Exmatriku-lation.

� Donnerstag, 19. 11. 2009: Be-reits kurze Zeit später solidari-sieren sich die Studierenden derdrei Hochschulen zu gemeinsamenProtestaktionen, um gegen dasdiskriminierende Bachelor-Systemzu kämpfen.

� Montag, 23. 11. 2009: EineWoche nach der TU Braunschweiggründen wir, Studierende der Fa-kultät Soziale Arbeit der Ostfalia,den „AK (Arbeitskreis) Solidarisie-rung & Besetzung“ und rufen nacheiner Infoveranstaltung für unsereKommilitonen die Besetzung derFakultät aus. Wir fordern Veränderungen an un-serer Hochschule: Von Freiveran-staltungen, die Raum für Interes-sen und Ideen der Studierendenbieten sollen, einer geringeren An-zahl an Prüfungen, über angemes-senes Mobiliar und ausreichend

Platz für alle Studierende in denLehrveranstaltungen, bis hin zurAbschaffung der Studiengebühren,die die Studierenden der Fakultätals unsozial erachten. Diese Punk-te stellen wir in einem mehrsei-tigen Forderungskatalog zusam-men, den wir dem Dekanat unsererFakultät im Anschluss an die aus-gerufene Besetzung überreichen.Wir fordern eine Stellungnahmebis Mittwoch, 25. November.

� Montag, 23. 11. 2009: Einzel-ne Dozenten der Fakultät SozialeArbeit solidarisieren sich mit unsund vermitteln interessante Hin-tergrundinformationen („Bologna-Prozess – Ökonomisierung der Bil-dung“) zum aktuellen Thema in öffentlichen, alternativen Veran-staltungen. Schnell merken wir,dass ein Streik der Organisationbedarf: wir drohen den Überblickzu verlieren! Es werden daher of-fene Plenen als Ort des Austauschseingerichtet.

� Dienstag, 24. 11. 2009: Es ha-ben sich bereits 400 „Anhänger“auf Unterschriftenlisten mit uns„Streikenden“ solidarisch erklärt(bei einer Fakultät mit rund 820immatrikulierten Studentinnenund Studenten schon knapp dieHälfte am zweiten Tag des offi-ziellen Bildungsstreiks 2009). Wirplanen Aktionen, um den Bil-dungsstreik 2009 auch ins Be-wusstsein der Öffentlichkeit zubringen.

� Dienstag, 24. 11. 2009: Unterdem Motto „Bildungstod – Wirtragen die Bildung zu Grabe“ de-monstrieren ca. 200 Studierendeauf dem Braunschweiger Schloss-platz.

� Mittwoch, 25. 11. 2009: DasUltimatum ist abgelaufen: das De-kanat hat die gewünschte schrift-liche Stellungnahme zu unseremForderungskatalog von Montag,23. November, nicht abgegeben;die Konsequenz: Zwei weitereHörsäle werden von uns verbarri-kadiert und damit im offiziellenLehrbetrieb lahmgelegt. Drei dervier größten Vorlesungsräume sindzu der Zeit besetzt. ZahlreicheVorlesungen können somit nichtstattfinden.

� Donnerstag, 26. 11. 2009: Im-mer noch keine Reaktion auf denForderungskatalog. Das Dekanattrifft sich mit einigen unsererStreikvertreter zu Verhandlungen.Erster Satz der Dekanin Prof. Dipl.-Psych. Roswitha Bender: „Ich findees gut, dass Sie streiken. Die Stu-dierenden der Sozialen Arbeit wa-ren mir viel zu lange zu unpoli-tisch“. Wir erfahren also auch von höchs-ter, offizieller Stelle der FakultätZustimmung. Und noch wichtiger:Solidarität, indem die Dekanin uns„den Rücken freihält“.

Page 23: FORUM sozial - DBSH

Flashmob – arme, kranke Bildung Kundgebung Hannover – AG Bologna-Aktion „Wirwollen mit ins Boot”

Samstag, 28. 11. 2009: DeutscheWelle TV berichtet von den Protes-ten in Braunschweig und trägt sodazu bei, dass eine noch breitereÖffentlichkeit über den Streik in-formiert wird. Der Bildungsstreikweitet sich immer weiter aus;nicht nur in Deutschland sind dieStudierenden unzufrieden mit deraktuellen Situation an ihren Hoch-schulen: weite Teile Europas unddie USA werden von der Welle desStreiks mitgerissen. Hochschulenwerden bestreikt, Hörsäle besetztund der sonst so routinierte Ablaufgestört.

� Sonntag, 29. 11. 2009: Wirhaben nicht nur freundlich ge-sinnte Anhänger: Transparente(„Diese Hochschule ist besetzt“)werden von Unbekannten zerstört.Aber wir lassen uns durch solcheAktionen nicht entmutigen undmachen weiter auf die Situationan deutschen Hochschulen auf-merksam. Initiiert durch die UniGießen wird am Montag, den 30.November, die bundesweite Ak-tion „Streiksingen“ gestartet. Wirsingen mit.

� Dienstag, 1. 12. 2009: Wirwollen auch die passiven Studie-renden auf dem Laufenden halten. Erste offene Infoveranstaltung:„Warum streiken wir?“

� Donnerstag, 3. 12. 2009: DieLuft wird dünner. Auf den Flurenmerken wir, dass die Stimmungimmer angespannter wird. Wir fra-gen uns, ob wir noch die nötigeUnterstützung der übrigen Studie-renden haben, um die Besetzungweiter legitimieren zu können!

� Mittwoch, 9. 12. 2009: End-lich! Die lang ersehnte Stellung-nahme unseres Dekanats zu unse-rem Forderungskatalog ist da,jedoch zu unserem Bedauern recht

Wünsche den zeitlichen Rahmenzu sprengen droht, wird diese kur-zerhand durch einen Antrag einesDozenten beendet und somit dieEntscheidung vertagt. Wir müs-sen die bittere Erfahrung machen,dass legitime Entscheidungen ei-nen langen bürokratischen Wegerfordern.

Wir beschließen, den aktiv besetz-ten Veranstaltungsraum als dau-erhaften Freiraum und Arbeits-und Austauschplattform der Hoch-schule einzufordern.

� Dienstag, 5. 1. 2010: Der vonuns besetzte Veranstaltungsraumwird offiziell von der Dekanin alsfrei nutzbarer Raum für alle Stu-dierenden freigegeben.

Weitere Entscheidungen des Fa-kultätsrates ermöglichen außer-dem Veränderungen der Prüfungs-ordnung, so dass die Anzahl derPrüfungen je Modul im Bachelor-studiengang reduziert wird. Au-ßerdem soll ein Praxismodul ein-gerichtet werden, das im zweitenStudienabschnitt der Vertiefungder Praxiserfahrung dient.Gleichzeitig haben wir als Teil desbundesweiten Streiks die Bildungan unseren Hochschulen auf diepolitische Tagesordnung gebracht.

Was bleibt nach dieser turbulen-ten Zeit des Bildungsstreiks? Wirhaben über zwei Monate vieleStunden zusammen organisiert,Diskussionen und Verhandlungengeführt. Wir haben erfahren, dasses möglich ist, sich ganz auf einpolitisches Projekt einzulassenund für dieses zu leben.

Über die zählbaren Ergebnisse hi-naus sind für uns die Freundschaf-ten, die Erfahrung des politischenStreits und das Erlebnis, gemein-sam etwas zu bewegen, das wirk-lich Wichtige aus dieser spannen-den Zeit. �

unkonkret geblieben. Basierendauf dieser Stellungnahme werdenneue Forderungen konzipiert.

� Donnerstag, 10. 12. 2009: Derbis dato größte öffentliche Auf-tritt der streikenden Studierendenin ganz Deutschland bei derKultusministerkonferenz (KMK) inBonn: Schon frühmorgens machenwir uns mit Kommilitonen der an-deren Braunschweiger Hochschu-len auf den Weg nach Göttingen.In Göttingen werden wir von dendortigen Studierenden in einemReisebus nach Bonn mitgenom-men. Und in Bonn werden ausstreikenden Studierenden Demons-tranten, die sich einem Großauf-gebot der Polizei gegenüber sehen.

� Freitag, 11. 12. 2009: Es fin-det immer mehr – auch bundes-weite – Solidarisierung statt, amheutigen Tag in Form des Nieder-sächsischen Vernetzungstreffensin Hannover. Wir tauschen uns mitStudierenden aus anderen besetz-ten Hochschulen aus und berat-schlagen über das weitere Vor-gehen.

� Mittwoch, 16. 12. 2009: DerAllgemeine Studierendenaus-schuss (AStA) unserer Hochschulehat in Zusammenarbeit mit demFachschaftsrat (FaRa) der Fakul-tät eine Generalvollversammlung(GVV) einberufen, um über denStreik zu „informieren“, so heißtes. Leider bekommen wir von Sei-ten des Asta keine Unterstützung.

Am gleichen Tag ist Fakultätsrats-sitzung, in der über unsere Forde-rungen abgestimmt werden soll,so denken zumindest die meistenvon uns. Der Sitzungsraum istüberfüllt mit Studierenden, die er-fahren wollen, was zu ihren For-derungen gesagt wird. Als dieDiskussion über die studentischen

Gleichzeitig haben wir

als Teil des bundes-

weiten Streiks die Bil-

dung an unseren Hoch-

schulen auf die poli-

tische Tagesordnung

gebracht.

FORUM sozial SONDERAUSGABE

23Praxis

Autorin

SABRINA SLAWINSKI,geb. 18. August 1986 inHamm/Westf., Studentin an der Ostfalia-Hochschulefür angewandte Wissen-schaften, Fakultät SozialeArbeit in Braunschweig, 3. Semester

Die Redaktion dieses Beitragsübernahm Frank Eger.

Page 24: FORUM sozial - DBSH

FUSSNOTE1 Ich gebrauche in diesemAufsatz durchgehend die weib-liche Form. Die Mehrzahl der inder Sozialen Arbeit Tätigensind weiblich.

Soziale Arbeit braucht SolidaritätFRIEDRICH MAUS

Der Beruf Sozialarbeiterin1 als ei-genständig nach klarem professio-nellem Standard Handelnde hatwenig Zukunft, wenn die Berufs-gruppe es nicht schnell schafft,sich zu vereinigen. Viele Interes-sengruppen wirken zurzeit auf diezukünftige Gestaltung des Berufesein. Am wenigsten Interesse an derzukünftigen Ausrichtung des Beru-fes und an der Sicherung der Ar-

beitsfelder Soziale Arbeit scheinendie Sozialarbeiterinnen in der Pra-xis zu haben. Sie überlassen dieseden Anstellungsträgern, den Hoch-schulen und wenigen Aktiven derBerufspolitik.Immer noch sind die meisten Prak-tikerinnen der Meinung, dass esgenüge, wenn sie vor Ort als Ein-zelkämpfer oder Arbeitsteams je-weils mit ihren Arbeitgebern um

schaften unterwerfen. Die Prakti-kerinnen hatten und haben heutekaum Einfluss auf die Gestaltungdes Berufes. Ein weiteres Problemwird sein, dass Studiengänge sichimmer mehr entfernen von der ge-neralistischen hin zu einer fach-spezifischen Ausbildung. In derPraxis erleben wir eine zunehmen-de Orientierung an den Tätigkeits-feldern der Sozialen Arbeit, und

die Gestaltung des Arbeitsfeldesbzw. um die Möglichkeiten zumprofessionellen Arbeiten kämpfen.Doch inzwischen dürften sie einesBesseren belehrt sein. Immer mehrAnstellungsträger, darunter auchdie großen Wohlfahrtsverbände,wie z. B. die Caritas und die Diako-nie, müssen sich auf dem Marktder Dienstleistungen behaupten.Beim Kampf um Marktanteile wer-den zunehmend schlechtere Rah-menbedingungen in Kauf genom-men. Die Bezahlung der Fachkräfteder Sozialen Arbeit wird sich wahr-scheinlich weiter verschlechtern.Die Qualität der Sozialarbeit wirdnoch stärker bestimmt werdenüber die Kosten, also über dieGehälter der Beschäftigten in derSozialen Arbeit. Dies zieht natür-lich auch Auswirkungen auf dieMotivation von Sozialarbeiterin-nen und die Einstellung zum Berufnach sich. Der gesetzliche Schutzdes Berufes, dringend benötigt, istnur möglich, wenn die Berufsgrup-pe begreift, dass sie ihre Interes-sen gebündelt und gemeinsamvertreten muss. Dabei geht es bei-leibe nicht nur um die Entlohnung,sondern um die Möglichkeit, pro-fessionell zu arbeiten und selbstzu bestimmen, was professionelleSozialarbeit ist und was nicht.

Die Umgestaltungdes Sozialen bringtviele Probleme mit sichDer Beruf wird wieder verstärktAssistenzfunktionen übernehmenund sich wieder – auch in der Pra-xis – stärker den Bezugswissen-

24 Solidarität in der Sozialen Arbeit

Page 25: FORUM sozial - DBSH

bereits im Bachelor-Studium ver-suchen die Hochschulen, die Kom-petenzen zu vermitteln, derenNotwendigkeit sie in den jeweili-gen Praxisfeldern vermuten. DieForderung des DBSH nach einemgeneralistischen Studium im Ba-chelorstudiengang und der Ver-mittlung von Schlüssel- bzw. Kern-kompetenzen (s. Schlüsselkom-petenzen für die Soziale Arbeit,Maus, Nodes Röh, Schwalbach/Ts.2008) und einer Spezialisierungerst in den Masterstudiengängenwird ignoriert.

Die berufliche Identifikation derKolleginnen als Sozialarbeiterinwird allgemein als gering erlebt.Man könnte fast meinen, dass So-zialarbeiterinnen Probleme haben,sich als solche zu definieren. Sozi-alarbeiterin zu sein scheint nichts,auf das man stolz sein könnte.

Nach wie vor lassen es die Kolle-ginnen in der Praxis zu, dass be-rufspolitische Fragen von den Aus-bildungsstätten bzw. den Verant-wortlichen in der Lehre bestimmtwerden. Denn auch die großen An-stellungsträger wie Caritas, Diako-nie und Kommunen befassen sichkaum mit berufspolitischen Pro-fessionsfragen.

Seit 100 Jahren werden Sozial-arbeiterinnen für einen Beruf be-fähigt, ohne dass die Berufsträgerwesentlich an der Ausbildung be-teiligt sind. Nach wie vor sind esdie „Bezugswissenschaftler“, diedie Ausbildungslandschaft in derSozialen Arbeit prägen. Nur einBeispiel: Die Alice-Salomon-Hoch-schule vermerkt in der Ausgabe19/2010 ihrer Zeitschrift stolz dieNeuberufung von fünf ProfessorIn-nen, davon hat nur einer eine Aus-bildung als Sozialarbeiter. KonkretePraxiserfahrung „vor Ort“ wird ausden veröffentlichen Biographienbei keinem der Berufenen deutlich. Für andere Berufe in Deutschlandsind es vor allem die Berufsträger,die Standards für den Beruf be-stimmen, sei es durch Kammern(wie bei z. B. bei den Ärzten, Psy-chotherapeuten und Anwälten)oder im handwerklichen Bereichdie Innungen und auch Hand-werkskammern.

aufgegeben und nur noch (viel-leicht dann nur noch von „Assi-stentinnen“, also Hilfskräften) ver-waltet werden. Schon heute istabzusehen, dass es bei der Beteili-gung von freiwillig Engagierten(Ehrenamt) nicht nur um die Stär-kung des bürgerschaftlichen Ele-ments geht, sondern auch um Er-satz von professioneller, beruf-licher Sozialarbeit.

Dies sind nur einige Punkte, dieFragen aufwerfen, für die schnellAntworten gefunden werden müs-sen. Nur muss klar sein, dass beiall den Antworten eben auch In-teressen im Spiel sind. Und ob dieInteressen der Hochschulen, derLehrenden an den Hochschulenund der Anstellungsträger die In-teressen der in der Praxis Tätigensind, ist da zu bezweifeln.

Wir brauchen einebessere beruflicheSolidarisierungDer Berufsverband kämpft seitJahren um professionelle Stan-dards, um eine stärkere beruflicheIdentität der Praktikerinnen undum bessere Bezahlung der Fach-kräfte in der Sozialen Arbeit. Inzahllosen Gesprächen, bei Vorträ-gen, Gastvorlesungen und bei Ta-gungen müssen wir immer wiedererfahren, dass die Bereitschaft derKolleginnen, sich zu organisieren,sehr gering ist (dies gilt auch fürdie gewerkschaftliche Organisa-tion in ver.di und GEW). Zuweilensind es auch Einzelkämpferinnen,die sich begrenzt in ihrem Arbeits-bereich berufspolitisch engagie-ren. Aber der Großteil der Kolle-ginnen schaut zu und scheint ersteinmal die großen Erfolge abzu-warten. Es scheint so zu sein, dassdie Mehrheit der Sozialarbeiterin-nen in Deutschland kein Interessean der Gestaltung der Rahmen-bedingungen für die Berufsaus-übung über ihre tägliche Arbeithinaus hat.

Die Diskussionen um die berufs-politische Richtung, um professio-nelle Standards oder um die Artund Weise des politischen Vorge-hens ist nicht jedermanns Sache.Das ist verständlich. Nicht zu ver-

In den letzten Jahren ist festzu-stellen, dass Arbeitsplätze, diefrüher als für Sozialarbeiterinnensicher galten, mehr und mehr vonBerufsfremden besetzt werden.Bei Stellenausschreibungen istmeist zu lesen: Gesucht wird eineSozialarbeiterin mit staatlicherAnerkennung oder gleicher Berufs-qualifikation. Was ist gleiche Berufsqualifikation – Theologie,Pädagogik, Psychologie, Jura?Kann man sich vorstellen, dass ei-ne Ausschreibung auch für Ärzte,Juristen, Lehrer etc. eine solcheFormulierung beinhaltet?

Die staatliche Anerkennung – einweiterer Punkt, der hier anzu-führen ist – wird in vielen Ländernnur noch formal erteilt, zusammenmit der Bachelor-Urkunde, undevtl. in den nächsten Jahren ganzwegfallen. Verbunden war, und ineinigen Bundesländern ist dies(noch) mit einem Anerkennungs-jahr in der Praxis. Hier hatte dieBerufspraxis Einfluss, den sie mehroder weniger aktiv genutzt hat.Umgekehrt gab es zumindest überdie Studierenden eine Rückkopp-lung der Lehre mit der beruflichenPraxis.

Im Übrigen bietet der Zusatz„staatlich anerkannt“ den einzigenrechtlichen Schutz der Berufs-bezeichnung. Der Begriff Sozial-arbeiterin selbst ist rechtlich nichtgeschützt.

Nach wie vor liegen die Sozial-arbeiterinnen gehaltsmäßig imVergleich mit ähnlichen Studien-abschlüssen ganz hinten. Die Ein-sparungen im Zusammenhang mitden Bemühungen der Politik, dieöffentliche Verschuldung herun-terzufahren, wird, aller Voraus-sicht nach, vor allem den sozialenBereich treffen. Die Konkurrenzder Berufskolleginnen untereinan-der wird zwangsläufig zunehmen.Die Anzahl der Spezialisten mitteuren Zusatzqualifikationen, weilin der Regel besser bezahlt, wirdwachsen und so auch zu einerweiteren Segmentierung der So-zialen Arbeit führen. Die Klientenwerden dann noch mehr eingeteiltwerden in solche, die noch derMühe wert sind, und Klienten, die

FORUM sozial SONDERAUSGABE

25Praxis

Im Übrigen bietet der

Zusatz „staatlich an-

erkannt“ den einzigen

rechtlichen Schutz der

Berufsbezeichnung.

Der Begriff Sozialarbei-

terin selbst ist rechtlich

nicht geschützt.

Page 26: FORUM sozial - DBSH

Sozialen Arbeit schützen. Dazuist es aber unabdingbar, dassfeststeht, was Sozialarbeit ist,und in welchen Tätigkeitenausschließlich Sozialarbeiterin-nen tätig sein müssen. Da wer-den im Berufsfeld Sozialarbeitnoch einige Fragen zu beant-worten sein. Dieser Weg wirdzurzeit verstärkt vom DBSHverfolgt.

3. Die Benennung des Berufes inentsprechenden gesetzlichen Re-gelungen, z. B. SGB II, SGB VIII,also nicht mehr das unver-bindliche Wort „Fachkräfte oderFachkraft“, sondern Sozialarbei-terin, wobei natürlich diese Be-zeichnung rechtlich geschütztwerden muss.

Dazu gibt es bereits entsprechen-de Positionen und Arbeitspapieredes DBSH, die in der FachweltAnerkennung gefunden haben undfinden. Zu nennen sind hier di-verse Positionen aus dem Fach-bereich Jugendhilfe, die Qualitäts-standards für professionelle So-zialarbeit, die Schlüsselkompeten-zen für Sozialarbeit und nicht zuletzt die Saarbrücker Erklärungfür die Sicherung des Sozialen Frie-dens in unserem Land. In diesemZusammenhang steht auch dasBerufsregister für Soziale Arbeit.

Gerade im Zusammenhang mit ei-nem rechtlichen Schutz des Beru-fes (Berufsgesetz) oder einer Be-nennung des Berufes in diversenSozialgesetzen ist es notwendig,bestimmte Qualitätsstandards zubenennen und auf Dauer zu si-chern. Und dazu brauchen wirmehr Berufstätige, die dies unter-stützen. Also: Wir solidarisierennicht nur Klienten, sondern auchuns. Es gibt vieles zu tun – packenwir’s an? �

stehen aber sind die Anklagen,dass die Verbände zu wenig tun,also die Kolleginnen und Kollegen,die sich in ihrer Freizeit engagie-ren. Als jemand, der seit 40 Jahrenengagiert für seinen Beruf und dieAnerkennung der Sozialarbeit ge-kämpft hat und sich eingebrachthat, stelle ich fest, dass das ehren-amtliche Engagement schnell anGrenzen kommt, zumal die Nach-folgegenerationen immer wenigerInteresse aufbringen, Verantwor-tung für berufspolitische Aktivitä-ten zu übernehmen. Dass Berufs-politik ein zähes und oft langwie-riges Geschäft ist, das viel Geduldund Frustrationstoleranz erfordertund oft mit Verletzung (vorwie-gend aus den eigenen Reihen) zutun hat, macht es nicht leichter.

Die berufspolitische Arbeit muss inZukunft stärker von Hauptberuf-lichen getan werden. Diese müs-sen ordentlich bezahlt werden,und dazu muss ein Verband auchentsprechend finanziell ausgestat-tet werden. Es ist auch nicht vielgeholfen, wenn der Berufsstandsich aufteilt in Gruppierungen undGrüppchen.

Ein Anfang wäre, dass sich diesezu einem runden Tisch treffen undversuchen, Gemeinsamkeiten fest-zustellen, um dann gemeinsamgegen berufsfremde Interessenvorzugehen. Das Ziel aber müssteeine einheitliche berufspolitischeVertretung sein. Ob diese dannnoch DBSH heißt, sei mal dahinge-stellt und ist auch nicht so wich-tig. Ich denke, dass der DBSH sichin ein solches Gesamtbündnis ein-bringen würde und die Mehrheitseiner Mitglieder damit auf seinerSeite hätte. Letztlich hätte ein Be-rufsverband, der auch als Gewerk-schaft anerkannt ist, mit 50 000oder 100 000 Mitgliedern (das wäre in etwa die Hälfte der be-rufstätigen Sozialarbeiterinnen)mehr Gewicht, sowohl in der Poli-tik, als auch bei den Anstellungs-trägern und in der Ausbildung.

Die Fachhochschulen stehen in derKonkurrenz zu den Universitäten.Das bedeutet, dass Theorie undWissensvermittlung in der Ausbil-dung zunehmen werden. Dies ist

nicht schlimm, wenn dafür gesorgtwird, dass die Hinführung zur be-ruflichen Praxis einen festen Platzhat – außerhalb der Hochschulen.Die Überlegungen großer Anstel-lungsträger, für Anfängerinnen„Trainee“ anzubieten, sind imGange. Ob dies der richtige Wegist, wage ich zu bezweifeln. Mankönnte ja auch wieder an eine Re-naissance der staatlichen Aner-kennung denken. Warum sollteman nicht die Berufsbezeichnungund Anerkennung als Sozialarbei-terin in die Hände eines Berufs-registers legen, das vom Berufs-verband verantwortet wird? VonKolleginnen in den großen kirch-lichen Wohlfahrtsverbänden höreich immer wieder, dass die be-rufspolitischen Standards von der Caritas und der Diakonie gut ent-wickelt und vertreten würden undsomit eine andere, außerhalb derVerbände liegende Berufsvertre-tung nicht gebraucht würde.

Hierzu sei gesagt, dass die Ver-bände zunehmend als Dienstleis-ter auf dem „Markt“ des Sozialentätig sein müssen und ihre „Pro-dukte“ so gestalten müssen, dasssie gekauft werden. Wie bereits ineinigen Bereichen festzustellenist, geht es da nicht so sehr um diewirkliche professionelle Qualität,sondern eher um die Kosten. Einerdamit verbundenen zunehmendenDeprofessionalisierung kann nurbegegnet werden, wenn der Berufsich außerhalb von Markt und da-mit verbundener Konkurrenz aufprofessionelle Standards einigtund sie durchsetzt.

Es gibt viel zu tun?Für die Zukunft des Berufes ist ein rechtlicher Schutz des Berufeswichtig. Dazu gibt es drei Wege:

1. Der Beruf wird verkammert.Dies wurde vor Jahren vomDBSH für das Land Bayern ver-sucht. Es scheint so, dass eineVerkammerung auch im Blickauf ein stärkeres gemeinsamesEuropa politisch nicht durch-setzungsfähig ist.

2. Ein Berufsgesetz könnte sowohlStandards als auch Arbeits-felder bzw. Tätigkeiten in der

26 Solidarität in der Sozialen Arbeit

Autor

FRIEDRICH MAUS,Diplom-Sozialarbeiter (FH),seit 1972 in verschiedenensozialen Arbeitsfelder als Diplom-Sozialarbeiter tätig,Mitglied im Geschäftsführen-den Vorstand des DBSH, berufstätig als Referent imCaritasverband für die Diöze-se Mainz e. V. für die Arbeits-felder Allgemeine Lebens-beratung, Schuldnerbera-tung, Rechtliche Betreuung.Geschäftsführer der Caritas-LandesarbeitsgemeinschaftSoziale Sicherung in der Hessen-Caritas. Mitglied derArbeitsrechtlichen Kommis-sion des Deutschen Caritas-verbands – Regionalkommis-sion Mitte, Mitglied in derMitarbeitervertretung.

Das Ziel aber müsste

eine einheitliche berufs-

politische Vertretung

sein. … Dazu gibt es

bereits entsprechende

Positionen und Arbeits-

papiere des DBSH, die in

der Fachwelt Anerken-

nung gefunden haben.

Page 27: FORUM sozial - DBSH

FORUM sozial SONDERAUSGABE

27Theorie

1.Bilanziert man die Sozialpolitik der letzten Jahre, mussman feststellen, dass die ausgleichende Wirkung desSozialstaates weiter abnimmt. Wurden im Jahr 1999soziale Ungleichheiten durch Steuersystem und Sozi-alversicherungen noch um 25 Prozent gemildert, sowaren es 2006 nur noch 23 Prozent – der scheinbarkleine Unterschied wirkt sich in der Praxis erheblichaus. Die relative Einkommensarmut ist von 10,7 Pro-zent in 1999 auf 14,9 Prozent in 2006 gestiegen,1990 hatte das einkommensstärkste Zehnte der Be-völkerung das 5,4-fache Einkommen des einkom-mensschwächsten Zehntels. 2006 hatte es bereits das7,3-fache des Einkommens.

Der Trend zur Verfestigung von Armut und Ausgren-zung ist Gegenstand einer intensiv geführten gesell-schaftlichen Debatte, die unter dem Stichwort Exklu-sion geführt wird. Der Armuts- und Reichtumsberichtder Bundesregierung weist Arbeitslosigkeit als einender wesentlichen Armutsgründe aus. Armut gilt als einProblem, das wegen seiner ordnungspolitischen Folgender staatlichen und gesellschaftlichen Bearbeitungbedarf. Die arbeitsmarktpolitischen, sozialrechtlichenund wirtschaftspolitischen Maßnahmen müssen sichin zweifacher Hinsicht legitimieren: zum einen müs-sen sie geeignet sein, die gewünschten sozialpoli-tischen Wirkungen zu erzeugen und zum anderenmüssen sie auch Zustimmung bei den Betroffenen(bspw. bei Bürgern wie bei Unternehmen) finden.

Die politische Selbstkritik umgeht dabei aber immerdie eigentlich naheliegende Frage, warum die Markt-wirtschaft regelmäßig und dauerhaft Populationenerzeugt, die vom Arbeitsleben ausgegrenzt und vonArmut betroffen sind. Stattdessen wird die Frage inden Vordergrund gerückt, warum die von ExklusionBetroffenen die staatlich organisierten Inklusionsan-gebote nicht annehmen („spätrömische Dekadenz“).Die Frage schließt gewöhnlich schon die Antwort mitein: die Zahlung von „zu hohen Sozialtransfers“ er-möglicht es, sich in einer Art von „Nebenexistenz“einzurichten, und deshalb muss man Arme mehr for-dern als fördern, lautet die Schlussfolgerung. Ziel derstaatlich verordneten Aktivierung ist die Stärkung von„Eigenverantwortung“ – und damit gerät die Zivil-gesellschaft und die Soziale Arbeit in den Fokus dersozialstaatlichen Umbaudebatte, weil sie darauf ver-pflichtet werden soll, die Stärkung dieser Eigenverant-wortung aus der Bürgerschaft selbst heraus zu organi-sieren und durchzusetzen.

2.Mit dem Schlagwort von Governance bzw. GoodGovernance werden Anforderungen an die Zivil-gesellschaft beschrieben, in denen dieser ein eigenerBeitrag zum Gemeinwohl abverlangt wird, der sowohlstaatskonform als auch staatsentlastend sein soll. Die aktuelle Zivilgesellschaftsdebatte mit ihren poli-tischen Forderungen und Schlussfolgerungen ist (ent-gegen ihren eigenen Ansprüchen) im Grunde un-

Armut gilt als ein

Problem, das wegen

seiner ordnungspoli-

tischen Folgen der staat-

lichen und gesellschaft-

lichen Bearbeitung

bedarf.

LITERATURLiteratur bei den Verfassern.

Eigenverantwortung statt SolidaritätThesen zur Entwicklung einer bürgerschaftlichen Sozialpolitik und ihren Folgen für die Soziale Arbeit

HANS-JÜRGEN DAHME, NORBERT WOHLFAHRT

Page 28: FORUM sozial - DBSH

28 Solidarität in der Sozialen Arbeit

kritisch, da hier Hoffnungen verhandelt werden, z. B.der vermeintliche Wunsch des Bürgers nach wahrerGemeinschaftlichkeit und klassenloser Harmonie, diesich politisch-praktisch wunderbar zur Legitimationeiner Politik instrumentalisieren lassen, die Eigen-verantwortung und Selbstführungsfähigkeit wieder inden Vordergrund stellt. Der deutsche Diskurs überZivilgesellschaft ähnelt der vor Jahren geführtenamerikanischen Kommunitarismusdebatte, da beideDiskurse um die moralische Erziehung des Bürgerskreisen und eine der Moral entspringende Gemein-schaftlichkeit zum Ziel haben.Gemeinsam ist beiden auch, dass im Theoriedesigneine Kritik am Kapitalismus und seinen sozialen Fol-gen nicht vorgesehen ist und die Antwort ausbleibt,wie Gemeinschaft in einer Konkurrenzgesellschaftüberhaupt möglich ist. Der offen oder versteckt aus-gesprochene Hinweis darauf, dass in der Gesellschaftweitaus mehr Potenzial zur Betreuung und Pflege der-jenigen vorhanden ist, um die sich der Sozialstaatkümmern muss, wird einerseits kritisch gegenüberden zivilgesellschaftlichen Organisationen geäußert(denen es scheinbar nicht gelungen sei, diese Res-source zu heben), andererseits wird aber auch derenzivilgesellschaftliche Funktion als Katalysator vonFreiwilligenarbeit gefordert und normativ aufgewer-tet. Damit findet eine Neuinterpretation des Sozial-staatsgebots statt: sozial ist, wenn die Gesellschaftsich selbst – ohne staatliche Vorschriften – um die-jenigen kümmert, die in der Konkurrenz gescheitertsind und damit einen Beitrag zur Steigerung derWohlfahrt liefert.Durch bürgerschaftliches Engagement sollen nichtnur die Sozialstaatskosten gesenkt werden, sonderneine neue Kultur des Helfens entstehen (ein Volk küm-mert sich um seine Sozialfälle), die allerdings mit der Realität (Herausbildung von „Hartz IV-Kulturen“;Anwachsen der sog. „Unterschicht“) wenig zu tun hat.

3.Ziel der aktuellen Sozialstaatsagenda ist es, allen Bür-gern zu verdeutlichen, dass sie im neuen, nur nochGewährleistungsfunktionen ausübenden Wohlfahrts-staat, der zur Wohlfahrtsgesellschaft umgebaut wird,nicht nur mehr Eigenverantwortung für sich, sondernauch mehr Engagement für sozial benachteiligteGruppen entwickeln müssen. Die Bürgergesellschaftkümmert sich in der Lesart der aktuellen Politik umBenachteiligte und Bedürftige, was bislang vor allemder Wohlfahrtsstaat organisiert und erledigt hat.Aktivierungspolitik gegenüber sozial Benachteiligtenund Bedürftigen bedeutet aber auch, dass der Staatihnen gegenüber, bei Pflichtverletzung, einen Erzie-hungsanspruch geltend macht, sich als „people chan-ger“ positioniert, und mit Strafe und Exklusion droht,wenn sie die neue Arbeitsethik nicht internalisieren.

Die Soziale Arbeit, die bislang in den Sozialverbändenund kommunalen Einrichtungen der Daseinsvorsorgeweitgehend als personenbezogene Hilfeleistung organi-siert war, bekommt dadurch eine erweiterte Aufgaben-

stellung: Soziale Arbeit soll sich von der einseitigenFokussierung auf personenbezogene Hilfeprozesse undindividualisierte Dienstleistungen wegbewegen hin zueiner aktivierenden Funktion in der lokalen Bürger-gesellschaft, der auch punitive Funktionen zufallen.Diese bürgerschaftliche Soziale Arbeit, die Ehrenamt-liche mobilisiert, fortbildet und bei der Stange hält, dieNetzwerke bildet und in diesen Vertrauen stiftet, dieGelder aquiriert und Projektmanagement betreibt usw.,ist das Produkt einer staatlichen Selbstkritik, die das er-reichte Niveau sozialer Infrastrukturpolitik für nichtmehr finanzierbar hält und die Privatisierungsanstren-gungen der letzten Jahre als nur bedingt erfolgreich be-urteilt. Zunehmend zeigt sich nämlich, dass die Folgender sozialstaatlichen Entwicklung auch eine ordnungs-politische Herausforderung darstellen und kleinräumigeLösungen verlangen.

Das „Projekt Bürgergesellschaft“ und das „Projekt Öko-nomisierung“ sollen zusammenfinden und der Ort ihrerZusammenführung ist der Sozialraum, in dem sich effi-ziente Leistungsketten mit engagementbereiten Bür-gern kombinieren und auf diese Weise für eine Good Governance sorgen. Unterstützt und gefördert wirddiese Entwicklung durch eine sozialstaatlich forcierteDezentralisierungspolitik. Nicht nur in der Jugendhilfewird die Sozialraumorientierung schon seit einigenJahren groß geschrieben, die gesamte Sozialpolitikzeichnet sich mittlerweile dadurch aus, kommunalisiertund dezentralisiert zu werden. Insbesondere das Kon-zept der Sozialraumorientierung hat im Zuge der De-zentralisierung in den letzten Jahren Verbreitunggefunden und ist zu einem immer wichtiger werdendenInstrument der sozialen Dienstleistungserstellung ge-worden. Die Kommunalpolitik, die immer Berührungs-ängste gegenüber der klassischen Gemeinwesenarbeit(GWA) hatte, entdeckt die Sozialraumorientierung fürsich (mit unterschiedlicher Begründung):Im Rahmen des Quartiersmanagements kann die Sozi-alraumorientierung auch als ordnungspolitisches In-strument zur Kontrolle sozialer Räume vereinnahmtwerden; manche Kommunen sehen in der Sozialraumo-rientierung die Möglichkeit zur Förderung bürger-schaftlichen Engagements, zur Förderung der lokalenDemokratie und zur „Vergesellschaftung des Sozial-staates von unten“; für andere ist die „Aktivierung vonRessourcen im Sozialraum“ die letzte Möglichkeit an-gesichts einer „Reduzierung sozialstaatlicher Leis-tungen auf ein Mindestmaß“, soziale Hilfen überhauptnoch aufrechtzuerhalten, sei es auch um den Preis,dass Helfen sich reduziert auf die „Befähigung zureigenverantwortlichen Existenzsicherung in Anerken-nung gesellschaftlicher Regeln“.

4.Die Attraktivität der neuen Sozialraumkonzepte fürPolitik und Verwaltung liegt offensichtlich in ihrerAnschlussfähigkeit an den aktuellen Effizienz- undModernisierungsdiskurs wie auch an die in der Sozial-politik allen Ortes diskutierten Selbstregulierungs-erwartungen des aktivierenden Staates an den Bür-

Sozial ist, wenn die

Gesellschaft sich selbst

– ohne staatliche

Vorschriften – um die-

jenigen kümmert, die in

der Konkurrenz geschei-

tert sind und damit

einen Beitrag zur Steige-

rung der Wohlfahrt

liefert.

Page 29: FORUM sozial - DBSH

ger; die Sozialraumdebatte – im Unterschied zum Lebensweltkonzept oder zum Konzept der IntegriertenHilfen – kreist also „hauptsächlich um Finanzierungs-und Planungsfragen“ wie um die sozialpolitisch ge-forderte stärkere Verkoppelung professionellen undehrenamtlichen Handelns.Eine so gewendete Sozialraumorientierung ist an-schlussfähig an die beobachtbaren Kommunalisie-rungstendenzen. Sozialraumorientierte Ansätze müs-sen in diesem Kontext als deren lokale Anpassungs-strategie verstanden werden. Die neue „Raumorien-tierung der kommunalen Selbstverwaltung“ ist damitin erster Linie ein Steuerungsinstrument zur Restruk-turierung des gewachsenen Systems sozialer Diensteim lokalen Sozialstaat. Sozialräumliches Arbeitenwird zur Effizienzsteuerung sozialer Dienste instru-mentalisiert und dadurch auch entpolitisiert. Sozial-räumliche Arbeitsansätze heute sind nur noch bedingtanschlussfähig an die Gemeinwesenarbeit älterenTyps. Sozialraumorientierte Soziale Arbeit ist Be-standteil einer sich auf Kostenmanagement reduzie-renden Sozialpolitik.Wenn sich sozialpolitisches Handeln insgesamt aufsKappen, Umleiten und Manipulieren von Geldströmenbzw. Sozialtransfers reduziert, Effizienz letztlichwichtiger als Effektivität wird, dann darf es nicht ver-wundern, dass sich auch soziale Kommunalpolitik –trotz anderer Bekundungen – zu einer kostenzentrier-ten kommunalen Sozialpolitik entwickelt. Positiv aus-gedrückt geht es um das intelligente Jonglieren mitder knapper werdenden Ressource Geld und damit um„technizistische Optimierung“. Die eigentlichen sozia-len Probleme aber, die Sozialraumorientierung not-wendig machen, verlieren in einer so fokussiertenDebatte an Bedeutung oder geraten völlig aus demBlick; dominant sind dann nur Fragen des Managensvon Institutionen, institutionellen Kooperationen undLeistungserbringungsprozessen.

5.Mit der (Wieder-)Belebung einer Gemeinwesenarbeit,die als methodisches Prinzip wesentlich darauf ge-richtet war, die politischen und gesellschaftlichen Ur-sachen individueller Ausgegrenztheit deutlich zu ma-chen, hat das Programm einer bürgerschaftlichen Sozi-alarbeit wenig zu tun. Die scheinbar radikaldemokra-tische Semantik, in der Empowerment, Inklusion undSelbstverantwortung bemüht werden, ist ein Wortmas-

kenspiel, um für eine klientenorientierte Sozialarbeitanschlussfähig zu erscheinen, praktisch formulierendiese Leitprinzipien aber eher die staatliche Zumutungan die Klienten des Sozialstaates, sich selbst dauerhaftum Integration bemühen zu müssen, auch wenn dafürimmer weniger Mittel zur Verfügung stehen.Die sozialpolitische Indienstnahme der Sozialen Ar-beit wird von den Protagonisten der Zivilgesellschaftund den Vertretern der neuen Sozialraumorientierunggenau anders herum gelesen: die bürgerschaftlicheSozialpolitik wird als Emanzipation von sozialstaat-lichen Zumutungen und Beschränkungen der Vergan-genheit und als eine neue Chance ausgewiesen, end-lich eine partizipative Bürgergesellschaft verwirk-lichen zu können. Das Programm „Bürgergesellschaft“wird als Chance gesehen, das Wohlfahrtsregime desaktivierenden Sozialstaat durch das Wohlfahrts-regime einer selbstaktiven Gesellschaft substituierenzu können, in dem der Bürger sich um seine sozialenProbleme selber kümmert und nebenbei den Staatauch noch mit allerlei Hinweisen befruchtet, was imGemeinwesen alles noch kostengünstiger zu organi-sieren ginge. Bürgerschaftliche Sozialpolitik und Sozi-alarbeit dieser Art hat man früher mit dem Wort Ar-mutsverwaltung beschrieben: heute wie vormals gehtes vor allem darum, Armut ordnungspolitisch zu über-wachen und die Kosten dafür überschaubar zu halten.

6.Dieses Politikmodell ist kompatibel mit der beobacht-baren „Ökonomisierung des Leistungsempfängers“,der Verwandlung von Klienten in Kunden. Der Klientoder Hilfebedürftige soll im Zuge der Umwandlungder Geldtransfers in Sozialinvestitionen, gestütztdurch soziale Dienstleistungen, weitergebildet oderqualifiziert werden.Mittels Fallmanagement soll der Klient durch die Klip-pen eines versäulten Versorgungssystems gelotst unddurch (Verhaltens-)Training auf die Wiedereinglie-derung in die Arbeitswelt vorbereitet werden. Dabeigeht es zum einen darum seine Beschäftigungschan-cen zu erhöhen, zum anderen soll der Leistungsemp-fänger in sog. Arbeitsgelegenheiten selbst einen ak-tiven Beitrag zur Konsolidierung des von ihm in An-spruch genommenen und folglich strapazierten Sozi-aletats leisten. Das wird umso notwendiger, wie daswohlfahrtsstaatliche Arrangement „zu einem Systemstrategischer Philanthropie“ umgebaut wird, das nur

Wenn sich sozialpoli-

tisches Handeln insge-

samt aufs Kappen, Um-

leiten und Manipulieren

von Geldströmen bzw.

Sozialtransfers reduziert,

dann darf es nicht ver-

wundern, dass sich auch

soziale Kommunalpolitik

– trotz anderer Bekun-

dungen – zu einer kos-

tenzentrierten kommu-

nalen Sozialpolitik ent-

wickelt.

FORUM sozial SONDERAUSGABE

29Theorie

Page 30: FORUM sozial - DBSH

noch den „wirklich Bedürftigen“ zur Verfügung stehensoll, also dem, der – behördlich festgestellt – keinesonstigen Alternativen mehr besitzt. Die SozialeArbeit sieht sich dabei mit der Frage konfrontiert, wassie angesichts engagierter Bürger und bösartiger Dau-erprobleme selbst zur Lösung sozialer Fragen bei-tragen kann. Vor dem Hintergrund des Sozialstaats-umbaus muss man diese Frage als Eröffnung einerDebatte sehen, die das methodische Instrumentariumsozialer Interventionen neu gewichtet und anzweifelt,ob Soziale Arbeit überhaupt in der Lage ist, sozial-staatlich gesetzte oder fachlich gewollte Zielsetzun-gen erfolgreich und wirkungsvoll umzusetzen. Cha-rakteristisch für diese Debatte ist die Art und Weise,wie das Gelingen oder Scheitern methodischer Arbeitvon den zur Verfügung stehenden Ressourcen undIntegrationsmöglichkeiten abgetrennt wird und ledig-lich Fachlichkeit, Kompetenz und methodische Fertig-keiten der sozialen Profession zum Maßstab ihrerWirkungsbeurteilung erhoben werden.Die Herstellung einer „integrierten Versorgung beiNutzung formeller und informeller Ressourcen“, dieeuphorisch als Ziel des Casemanagement angegebenwird, erweist sich in hohem Maße als abhängig vonden politischen und administrativen Rahmenbedin-gungen, in die das methodische Handeln des Case-management eingebunden ist. Man könnte zugespitztformulieren, dass die Anstrengung zu einer integrier-ten Versorgung in dem Maße zur Funktion einer personenbezogenen Methode gemacht wird, in demdie dafür zur Verfügung stehenden Mittel durch denHilfeempfänger selbst erbracht werden sollen. DiesesKunststück zu vollziehen, erweist sich dann als mehroder weniger gelingende Professionalität.

7. Das für das deutsche Sozialstaatsmodell fundamentaleSubsidiaritätsprinzip mit seiner bedingten Vorrangig-keit frei-gemeinnütziger Träger verliert durch die neueSozialstaatsagenda seine sozialpolitische Ordnungs-funktion, die sich vor allem auch darin äußerte, dassdie Fortentwicklung der sozialen Infrastruktur nichtnur als partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischenöffentlichen und frei-gemeinnützigen Trägern vonstat-ten ging, sondern darüber hinaus dem Prinzip derbedarfsorientierten Planung sozialer Infrastruktur ver-pflichtet war. Subsidiarität, obwohl weiterhin im Sozi-algesetzbuch verankert, wird dieser Bedeutung zuneh-mend entkleidet und in wachsendem Maße zu einerFolie für Privatisierungsprozesse und für die Deregulie-rung sozialer Dienste. Subsidiarität wird nur noch alsEigenverantwortung des Bürgers gelesen, und deshalbstreicht die Sozialgesetzgebung zunehmend den Um-fang unterstützender, beratender und begleitender so-zialer Hilfen für den zum Fall gewordenen Bürger ausdem Leistungskatalog (wie z. B. jüngst im SGB III). Fürdie frei-gemeinnützigen Träger sozialer Dienste zeich-net sich dabei eine rasante Fahrt in eine immer un-gewissere Zukunft ab. Die Planungsrisiken für Trägerwie für Beschäftigte werden angesichts eines schrump-fenden staatlichen Leistungsspektrums sowie ange-

sichts vermehrter, europaweiter Ausschreibungsver-fahren deutlich zunehmen.Die wettbewerbszentrierte Modernisierung des sozia-len Dienstleistungssektors ist für alle Beteiligten mitRisiken verbunden: Die freien Träger verlieren auf demWeg in die sich immer dynamischer entwickelndeSozialwirtschaft ihre ursprüngliche zivil gesellschaft-liche Identität und tragen als Sozialwirtschaftsakteu-re das Risiko der Insolvenz; die Kommunen als Ge-währleister sozialer Dienste und Hilfen vor Ort könn-ten sich – trotz aller Sparabsichten – künftig mithöheren Kosten für die Dienstleistungserstellung kon-frontiert sehen, wenn die ehemaligen Sozialpartneraufgrund des verschärften Wettbewerbs vom Marktverschwinden und durch transnational agierendeSozialkonzerne ersetzt werden; für die Nutzer sozialerDienste, den Bürger, ist noch völlig offen, wie sich dieQualität der zukünftig sozialwirtschaftlich erstelltensozialen Dienste entwickeln wird.Lediglich für die Bediensteten ist der Weg in dieDienstleistungsgesellschaft mittlerweile einigerma-ßen klar: Der international zu beobachtende Trendvon stetig steigenden Anforderungen an die sozialeDienstleistungserbringung (bis hin zur Akademisie-rung der sozialen Berufe) und kontinuierlich sinken-dem Einkommen der Beschäftigten, kennzeichnetauch den deutschen Entwicklungspfad in die Sozial-wirtschaft.

8.Der Effizienzstaat, der sich vor allem durch Konsoli-dierungs- und Austeritätspolitik kennzeichnet, be-droht mehrfach die Zivilgesellschaft und die nochvorhandene Solidarität, die er lautstark fordert undeinklagt. Durch den neuen Politikstil wird der Bürger(aber auch zivilgesellschaftliche Organisationen) inden demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiteneingeschränkt bzw. durch den Zwang befristeter wiebeschleunigter Entscheidungs- bzw. Zustimmungs-prozeduren auf Konsens verpflichtet (daran ändertauch der Tatbestand nichts, dass viele zivilgesell-schaftliche Organisationen die ihnen abverlangtenÄnderungen freiwillig nachvollziehen, weil sie aufGrund ihrer Staatsabhängigkeit in der „Sozialpartner-schaft“ die einzige Überlebenschance sehen).Die Indienstnahme zivilgesellschaftlicher Organisa-tionen (wie z. B. die der Freien Wohlfahrtspflege imsozialen Dienstleistungssektor) zur Erfüllung staat-licher Konsolidierungsziele zwingt diesen nicht nureine effizienzorientierte Organisations- und eine kos-tenfokussierte Qualitätspolitik auf, die die Arbeit derdort Beschäftigten letztlich deprofessionalisiert undprekär werden lässt; zivilgesellschaftliche Organi-sationen verlieren durch die ihnen aufgezwungeneEffizienz- und Wettbewerbspolitik vor allem ihren zi-vilgesellschaftlichen Charakter, werden ebenfalls öko-nomisiert und wandeln sich letztlich (wie das Beispielder Wohlfahrtsverbände deutlich zeigt) zu Sozial-betrieben. Die gegenwärtig Politik zerstört eher das,was sie vorgibt zu befördern: die Zivilgesellschaft unddie Solidarität! �

30 Solidarität in der Sozialen Arbeit

Autoren

NORBERT WOHLFAHRT,Jg. 1952, Dipl.-Sozialarbeiter,Dr. rer soc., Professor für So-zialmanagement an der Evan-gelischen FachhochschuleRheinland-Westfalen-Lippe

ArbeitsschwerpunkteEntwicklung Sozialer Dienste,Kommunale Sozialpolitik undSozialverwaltung, Entwick-lung von non-profit-Organi-sationen

Kontakt:[email protected]

E-Mail:[email protected]

Für die frei-gemein-

nützigen Träger sozialer

Dienste zeichnet sich

dabei eine rasante Fahrt

in eine immer unge-

wissere Zukunft ab.

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FORUM sozial SOndeRaUSgabe

Theorie 31

Solidarität scheint zumindest in vieler, wenn nicht gar in aller Munde – und dies ist natürlich vor allem ein Zeichen der üblichen Nachkrisen-Katerstim-mung. Auch in dieser Ausgabe finden sich die Ent-wicklungen im Sozialwesen nachgezeichnet (s. d. Beitrag von Dahme und Wohlfahrt in FS 3/2010), und in der Tat ließen sich endlos Seiten füllen mit Details und Beispielen darüber, wie dieses Wesen, welches wir Gesellschaft nennen, den sozialen Cha-rakter scheinbar verliert. Und wenn dann in der Saar-brücker Erklärung (siehe ebenfalls in FS 3/2010) der christliche Nachwuchspolitiker Mißfelder zitiert wird – „Die Erhöhung von Hartz IV war ein Anschub für die Tabak- und Spirituosenindustrie“ –, so muss man zugleich freilich fragen: Ist es denn wirklich so, dass Solidarität heute eine so verbreitete Forderung und Orientierung ist? In dem folgenden Beitrag wird die These vertreten, dass ein ganz wesentliches Pro-blem bei der Diskussion um Solidarität darin besteht, dass um etwas gestritten wird, was eigentlich nicht gemeint ist. Und wenngleich sicher provokativ und nur halb zutreffend, so mag doch zu bedenken sein, dass vielfach Klagen über den Abbau des Sozialstaa-tes auch etwas Gefährliches haben, sofern solche Aussagen auch oft vom eigentlichen Problem ablen-ken – gerade auch von dem Problem, um das es bei der Diskussion um Solidarität geht. Daran anknüp-fend wird vorgeschlagen, wie Solidarität in der Per- spektive des Social Quality Approaches (s. www.social quality.eu) zu entwickeln ist.

Sozialstaat in der KriseAuf den Sozialstaat in der Krise lässt sich auf unter-schiedliche Weise blicken. Zum einen ist die Frage zu beantworten, wie der Sozialstaat in der Krise aufge-stellt ist; zum anderen aber ist der Blick auch auf die Krise des Sozialstaates selbst zu richten. Letzteres ist wichtig, da wohl nur so möglich ist, nicht nur auf die Gründe der Krise zu blicken, sondern die Diskussion um sozialpolitische Fragen zu erweitern.

Einige Gedanken zur Krisen- einschätzungEs soll hier nicht wirklich eine weitere Einschätzung der gegenwärtigen Krise angeführt werden noch soll auf die Tatsache eingegangen werden, dass diese Kri-se zwar einen außergewöhnlichen heftigen Ausschlag darstellt, aber insgesamt doch nur in einer Reihe sich stets wiederholender Normalität kapitalistischen All-tags darstellt. Wie Paul Sweezy kurz und treffend be-merkt: „Die Normalität des reifen kapitalistischen Systems ist Stagnation. In dem Maß, in dem sich entwi-ckelte kapitalistische Gesellschaften nicht in einer Stag-nationsphase befinden, muss die Erklärung in äuße- ren, nicht-wirtschaftlichen Kräften gesucht werden. 1

Lassen wir einmal dahingestellt, wie genau dieses Außen zu verstehen ist, so ist der zentrale Punkt doch, dass wir eigentlich nicht die Krise erklären müssen, sondern vielmehr die Nicht-Krisenzeiten. Lassen wir ebenso die tatsächlichen komplexen i. e. S. ökono-

Eigentlich müssen wir

nicht die Krise erklären,

sondern vielmehr die

Nicht-Krisenzeiten.

Solidarität – Fordern statt FördernPeteR HeRRMann

FUSSNOTE1 Sweezy, Paul M., 1994: the triumph of Finance Ca-pital; in: Monthly Review: June; www.monthlyreview.org/940600sweezy.php – 18. Juli 2010 – Übersetzung P. H.

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32

Bade auszuschütten. Nur sollte man sich ebenso davor hüten, eine Kinderbadewanne mit einem Trainings- becken für Olympiawettbewerbe zu verwechseln. Dies geht über in das zweite Argument – und berührt damit auch den tiefer liegenden Punkt. Eine gesamt-gesellschaftliche Solidarität zu sprechen, muss natür-lich zweifelhaft sein, solange man sich in einer Gesell-schaft bewegt, die eben durch widersprüchliche Inte-ressen gekennzeichnet ist. Und die Widersprüche sind eben nicht in moralischen Unstimmigkeiten und Neid oder individuell übertriebenem Konkurrenzverhalten begründet, sondern in einer bestimmten Funktions-weise des Wirtschaftens und damit eben auch dieses Wohlfahrtsstaates.

Sozialpolitische RealitätenDie sozialen und sozialpolitischen Wirklichkeiten müs-sen hier nicht wiederholt werden. Allerdings soll kri-tisch bemerkt werden, dass die Verteidigungshaltung gegenüber dem Abbau des Sozialstaates leicht etwas vom Vergießen von Krokodilstränen hat. Es kann eben nicht vornehmlich darum gehen, einem Sozialstaat nachzutrauern. Eines der wichtigen Probleme ist, dass der Sozialstaat längst das Soziale aus den Augen ver-loren hat bzw. es eigentlich im eigenen Blickfeld im-mer nur in verschwommener Weise mitgetragen hat. Der Rahmen für eine solche Einschätzung wurde be-reits an anderer Stelle in dieser Zeitschrift entwickelt.4 Weder der Sozial- noch der Wohlfahrtsstaat in tradi-tionellem Verständnis kann hier eine Antwort bieten und vieles, was beispielsweise derzeit unter aktuellen Gesichtspunkten wichtiger- und richtigerweise pro- blematisiert wird, wurde ja immer wieder vorgebracht. Eines der wesentlichen Ziele war es eben immer auch, Desintegration gleichsam abzufedern und (dadurch) Legitmation zu sichern. In diesem Rahmen macht eben auch die Forderung nach „gesamtgesellschaftlicher Solidarität“ Sinn. Mehr noch: in einer solchen Perspek-tive muss Solidarität gesamtgesellschaftliche gedacht werden und sie macht nur in einer solchen konflikt-neutralen Interpretation Sinn. Und damit geht sie an der Forderung vorbei ...

Solidarität – Förderung der ForderungSolidarität muss gerade aber bei weitem nicht nur in Krisenzeiten wieder mehr provokativ gedacht werden. Sicher ist die moralische oder normative Seite dabei wichtig. Wenn man aber von der Perspektive sozia-ler Qualität her argumentiert, so ergibt sich die Not-wendigkeit stärker konfliktorientiert zu argumentie-ren. Es handelt sich dabei um eine Diskussion, die bis-her in den eigenen Reihen der Europäischen Stiftung für Soziale Qualität, auf die sich mein Ansatz bezieht (s. o.), nicht geführt wurde. Eher ist es umgekehrt, dass in vielerlei Hinsicht das Konzept soziale Qualität har-monistisch aufzutreten scheint und oft in einem Licht auftritt, welches eine Interpretation zulässt, die leicht als normativ geleitet missverstanden werden kann. Und dies ist auch zum Teil durchaus gewollt, wenn man

Eines der wichtigen

Probleme ist, dass der

Sozialstaat längst das

Soziale aus den Augen

verloren hat bzw. es

eigentlich im eigenen

Blickfeld immer nur in

verschwommener Weise

mitgetragen hat.

mischen Aspekte beiseite, so soll hier betont sein, dass sich ja ökonomische Verhältnisse immer nur als eine spezifische Art der Materialisierung, Formalisierung und Institutionalisierung sozialer Verhältnisse er- geben. Dies bedeutet umgekehrt auch, dass die Be-trachtung sozial(politischer) Realitäten immer davon ausgehen muss, dass es sich eben um solche Wider-spiegelungen handelt. Der Punkt, der sich daraus er-gibt, ist oft übersehen: von gesellschaftlicher Solida-rität zu sprechen, ist kaum sinnvoll, denn den Sozi-al- oder Wohlfahrtsstaat als Ausdruck von Solidarität vorzustellen, führt nur zu leicht in die Irre.

Der offensichtliche Grund ist, dass Solidarität im Sin-ne des Abgebens sehr schnell an die Grenzen stößt. Der Wohlfahrtsstaat – und gleiches gilt cum grano salis für den Sozialtsaat – findet seine Akzeptanz durch die Herrschenden nur in der Tatsache, dass er gleichsam außerhalb des Wirtschaftsgeschehens angesiedelt ist. Bevereridge, der allgemein als Gründer anerkannt ist, 2 wollte damit eine Antwort auf die „five giants“ geben, namentlich: “want, disease, ignorance, squalor and idleness.“ Dies bedeutet, dass das Konzept eben in mo-ralischen oder normativen Prinzipien gedacht war und auf eine „gesamtgesellschaftliche Solidarität“ auf-gebaut war, anstatt an die tatsächliche gesellschaft- liche Realität anzuknüpfen. In diesem Sinn können wir ebenso gut von einem modernisierten Konzept der alten Charity-Ideale sprechen, die das viktoriani-sche Zeitalter prägten und als komplementär für den wirtschaftlichen Liberalismus gelten müssen. 3 – Frei-lich muss man sich dafür hüten, das Kind mit dem

FUSSNOTEN2 Wie gesagt, es geht primär um den Wohlfahrts- nicht um den Sozialstaat, der eher auf Bismarck zurückgeht.

3 Siehe in diesem Zusam-menhang Herrmann, Peter (i.V.): Encore Citizenship – Revisiting or Redefining?; in: New Princedoms – Critical Remarks on Claimed Alter-natives by New Life Worlds; Amsterdam: Rozenberg

4 Herrmann, Peter, 2010: Maßlosigkeit Internationa-ler Sozialer Arbeit; in: Maß-losigkeit Internationaler Sozi-aler Arbeit; in: Forum Sozial; Hrsg.: Deutscher Berufsver-band Soziale Arbeit e.V.; Aus-gabe 2/2010 [April]: 9-13

Solidarität in der Sozialen Arbeit

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FORUM sozial SOndeRaUSgabe

Theorie 33

einmal davon ausgeht, dass es eben vor allem darum gehen soll, die zwei Achsen der dialektischen Span-nung, namentlich

nzwischen biographischer und gesellschaftlicher Entwicklung sowie

n zwischen „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“,

in eine produktive Spannung zu übersetzen, die Soziales dann als verwirklichte Relationalität versteht. Brent Slife entwickelt die Bedeutung, in dem er schwa-che und starke Relationalität gegenüberstellt. Auf der einen Seite stehen „Beziehungen und Praktiken mit gegenseitigem Austausch von Informationen zwischen im wesentlichen selbst-orientierten Organismen, ... letztlich bleiben es Individualismen oder Atomismen”.5

Dem stehen starke Beziehungsverhältnisse gegenüber. Dort geht es um „eine ontologische Beziehungshaf-tigkeit. Beziehungen sind nicht einfach Interaktionen zwischen ursprünglich unverbundenem; Beziehungen sind ‚durch und durch’ beziehungshaftig. Dinge sind nicht zunächst selbstbezogen und treten dann in Be-ziehung zueinander. Jedes Ding, und ebenso jede Per-son, ist von Beginn an und durchgehend ein Geflecht von Beziehungen.“6

Eine solche Sicht kann leicht in Harmonismus über-setzt werden, weil es ja im Grunde um Verhältnisse zwischen Menschen geht, die sich selbst, unabhängig von ihrer eigenen Lage, positionieren. In Ahnlehnung an die E. Berstein’sche Formulierung könnte man hier sagen: Die Beziehung ist Alles, ihre Art ist Nichts.Aber genau dies ist ein anderer Punkt, der auch im SQ-Ansatz angelegt ist: Die Beziehung ist nichts, so-lange sie nicht auch ein bestimmtes Resultat zeitigt. Und dieses Resultat muss qualitativ bestimmt werden und nicht nach formalen und qualitative bestimm- baren einfachen Kriterien. In diesem Sinne gelangt man dann schnell zu dem Punkt, wo sich soziale Qua-lität eben letztlich nur durch die Abarbeitung von

Konflikten erlangen lässt. Beziehungen sind dann noch weiter zu bestimmen und ergeben sich nicht nur als starke Relationalität im beschriebenen Sinne, sondern als mehrfache ausgeprägte Relationalität oder starke beziehungsmäßige Integrität, wie ich es kürzlich wäh-rend eines Symposiums in Twoowoomba zu Migra- tionsfragen entwickelt habe.7

Von hier lassen sich mit Blick auf Solidarität zwei wichtige Schlussfolgerungen ziehen:

nZum einen: Solidarität bestimmt sich nicht nach „gutem Willen für die Gemeinschaft“, sondern da-nach, wie in dem Konfliktfeld unterschiedlicher In-teressen die Positionierung von Gruppen in Bezie-hungen zueinander gesetzt werden. Dies bedeutet: es geht zum einen um die Bestimmung von konditio- nalen, konstitutionellen und normativen Faktoren.

Wichtig ist zu betonen, dass einer dieser Faktoren-komplexe unabhängig von den anderen bestimmt werden kann. Sie ergeben sich erst in dem gegen-seitigen und multiplen Bestimmungsgeflecht, d. h. konditionale und konstitutionelle Faktoren in ih-rem Zusammenwirken – und nur so – bestimmen die normativen Faktoren; konstitutionelle und nor-mative Faktoren in ihrem Zusammenwirken – und nur so – bestimmen die konditionellen Faktoren etc.

nZum anderen geht es in diesem Zusammen- und Gegeneinanderspiel immer auch um die Bestim-mung der Ressourcenverteilung. Wenngleich die Bestimmung Sozialer Qualität als Idealtypus einer-seits in gewisser Weise eine Idealverteilung auf-weist, die relativ unabhängig von Umverteilungen besteht, so ist doch andererseits unabdingbar klar zu machen, dass die konkrete Verteilung sich nach Maßgabe der Position im gesellschaftlichen Pro-duktions- und Reproduktionsprozess ergibt.

Offenkundig geht es dabei um Verteilung und Umver-teilung von materiellen Ressourcen – wenn man so

FUSSNOTEN5 Slife, Brent F., 2004: Ta-king Practice Seriously: Toward a Relational Ontolo-gy; in: Journal of Theoretical and Philosophical Psycholo-gy; 24.2; 157–178; here: 158; Übersetzung P. H.)

6 ebd, S. 159

7 s. Herrmann, Peter, in Vor-bereitung: Making Sense of (Personal) History by Expe-riencing the Presence. Notes in Preparation of a Presenta- tion on Occasion of the Sym-posium Migrant Security 2010; University of Southern Queensland, July 2010; Cork/Aghabullogue

KONDITIONALE KONSTITUTIONELLE NORMATIVE FAKTOREN FAKTOREN FAKTOREN

Prozesse Gelegenheiten Orientierung und unterschiedliche Optionen

Personale (menschliche) Sozialwirtschaftliche Soziale Sicherheit Sicherheit Gerechtigkeit

Soziale Wahrnehmung Soziale Kohäsion Solidarität1

Soziale Ansprechbarkeit Soziale Inklusion Gleichwertigkeit

Personale (menschliche) Soziale Ermächtigung Menschenwürde Kapazitäten

Profile Indikatoren Kriteriengeleitete Beurteilung

1 Dies kann hier durchaus stehen bleiben und gewinnt dann an dieser Stelle eine spezifischere Bedeutung

Solidarität bestimmt

sich nicht nach „gutem

Willen für die Gemein-

schaft“, sondern da-

nach, wie in dem Kon-

fliktfeld unterschied-

licher Interessen die

Positionierung von

Gruppen in Beziehun-

gen zueinander gesetzt

werden.

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Autor

PeteR HeRRMann, dr. phil. Studium der Soziologie (bielefeld, deutschland), Wirt-schaftswissenschaften (Ham-burg, deutschland), Politischen Wissenschaft (berlin, deutsch-land) und Philosophie (bremen, deutschland). Unterrichtet(e) an verschiedenen Hochschulen in-nerhalb der eU. gegenwärtig Korrespondent des Max Planck- Instituts für ausländisches und Internationales Sozialrecht (München, deutschland);Senior-berater der europäi-schen Stiftung für Soziale Qualität (den Haag, nieder- lande), direktor des unabhän- gigen Forschungs-instituts european Social, Organisational and Science Consultancy (aghabullogue, Irland) und Leh-re an der Universität Cork, Insti-tut für angewandte Sozial- wissenschaften, wo er die Position eines adjunct senior lecturers des departments hält. er ist ebenfalls adjunct profes-sor an der Universität von Ost-finnland, Fachbereich für Sozialwissenschaften, Kuopio, Finnland. Zudem hatte er ver-schiedene gastprofessuren, ist in dieser Funktion derzeit an der Corvnius Universität, budapest.bis ende 2009 Mitglied des Vor-standes des european Social action networks (eSan, brüs-sel, belgien/Lille, Frankreich), dieses netzwerk vertretend in der Plattform der eU-Sozial-nichtregierungsorganisationen. Mitglied in verschiedenen Zeit-schriften-beiräten; Herausgeber der buchreihe applied Social Studies – Recent developments, International and Comparative Perspectives (new York, USa); peer-reviewing für verschie-dene Zeitschriften des Sozi-alwesens und buchserien.gegenwärtig ist er gastwissen- schaftler am Cairns Institute der James Cook University, australien.

34 Solidarität in der Sozialen Arbeit

will: die „alte soziale Frage“. Hier sind natürlich auch die alten Solidaritätslinien relevant. Zugleich aber geht es auch darum, dass es – bei der Forderung nach sozia-ler Qualität mehr noch als schon bei den alten Umver-teilungsfragen – nicht nur um Umverteilung des Pro-duzierten geht, sondern um weitaus mehr, wobei zwei Momente zusammenkommen:

Erstens, gefordert ist eine Strukturorientierung, die auf die Produktion des Sozialen gerichtet ist. Bezugspunkt sind hier nicht nur und in gewisser Weise nicht pri-mär Verteilungsfragen, sondern Machtfragen. Und Be-zugspunkt dieser Machtfragen ist die soziale Macht-stellung. Dies kann an die Definition des Sozialen im Rahmen des Social Quality Approach angeknüpft wer-den, wonach es sich um das Ergebnis der Interaktion zwischen Menschen mit ihrer Handlungskapazität und zwischen den Menschen und ihrer natürlichen und er-bauten Umwelt. – Die Stellung im Produktionsprozess i. e. S. ist dabei nur ein – wenngleich ungemein – wich-tiger Aspekt. Ein Anknüpfungspunkt, der kritisch in die Analyse einzubeziehen ist, kann sicher trotz aller Vor-behalte auch im Capability-Ansatz gesehen werden.

Zweitens, die Produktion des Sozialen kann sich da-bei zumindest in heuristischer Weise auch an Bour-dieu und dessen Reflektionen zu den drei Formen des Kapitals orientieren. Bekanntermaßen geht es ihm da- bei darum, die Produktion des Selbst, der sozialen Persönlichkeiten, nicht zu letzt als Teil des Wirtschafts-prozesses zu begreifen und dabei nicht nur materiel-le Versorgung zu betrachten, sondern eben die Bedeu-tung für die Persönlichkeitsentwicklung insgesamt zu sehen. Dies ist hilfreich auch für die Entwicklung eines Verständnisses für Solidarität, welches den heutigen Bedingungen globalen und sich globalisierenden Ka-pitalismus angemessenen ist, anstatt sich auf tradi-tionelle Unternehmens-, Sektor- und Nationalstaats-strukturen zu beziehen. Allerdings ist es zugleich wichtig, Bourdieu‘s Ansatz auf die Füße zu stellen und klar zu machen, dass bei einer solchen Sicht auch ein-zubeziehen ist, dass der Produktionsprozess selbst inhärent bestimmte Hierarchien und i. w. S. Persönlich-keitsmuster hervorbringt. Konkret bedeutet dies, tat-sächlich die Orientierung umzusetzen, die er am An-fang seines seinerzeitigen Aufsatzes nennt, in dem er 1983 dieses Konzept erstmals ausführlich diskutiert. 8

Vom Blick auf beide Bereiche wird auch deutlich, dass solidaritätsgerichtete Sozialgesetzgebung tatsächlich, will sie diesen Namen halbwegs zu Recht, tragen, sich nicht darauf kaprizieren kann, dem positiven Recht zu folgen und sich auf eine Schutzfunktion beschrän-ken. Bekanntlich bezieht sich eine solche positivis- tische Perspektive auf ein imaginiertes Mängelwesen Mensch (Herder, später Gehlen) und weist dem Recht dann die Funktion zu, Instrumente zu liefern, die sich dann notwendig ergebenden Unsicherheiten zu bewäl-tigen (s. etwa den Rechtspositivismus bei H. L. A. Hart).

Vielmehr muss Sozialrecht sich in hohem Maß einer-seits als aktives Eingriffsrecht verstehen und ande-

rerseits einen Raum zu Kollektivrecht bieten. Letzte-res verlangt kollektive Bedeutung, und zugleich geht es darum, sich um kollektive Rechtssetzungsprozesse zu bemühen. Ob und in welcher Weise common law als solches eine Perspektive bieten kann, muss hier un-diskutiert bleiben. Anerkannt werden muss die Forde-rung, dass Rechtssetzungsprozess wie Rechtsanwen-dungsprozesse in besonderem Masse davon abhängen, dass in ihnen Recht gesprochen wird und nicht schlicht Gesetze angewendet werden.

Als wichtiger Bereich sind die sozialen Dienste zu nen-nen, die leider zu wenig Beachtung in der Solidaritäts-diskussion finden. Einerseits bleiben sie oft außerhalb der vor allem verteilungs-orientierten Solidaritäts-diskussion; andererseits werden bei ihrer Beachtung oft Gruppen gegeneinander ausgespielt: verschiede-ne Dienste-Nutzer, Nutzer – Beschäftigte, Nutzer – ‚allgemeine Öffentlichkeit’ ... . Solidarität vom Ansatz Sozialer Qualität her zu sehen bedeutet aber, dies zu vermeiden: erstens sind sie dann zentrales Moment eines „solidarischen Gesamtpaketes“, bei dem es um weit mehr geht als nur um Umverteilung. Zweitens sollten sie umdefiniert werden als POSSGIs, zu deutsch ‚Personen-Orientierte Sozialdienste im Allgemein- interesse (so genannt in einem Projekt von Eurodia-konia)‘. 9

SchlussfolgerungDer Gedanke an gesamtgesellschaftliche Solidarität ist sicherlich ein schöner – nur: über einen Traum- status kommt er kaum hinaus, solange die Gesellschaft, in der er geträumt wird, vielleicht durch Verbunden-heit zu zumindest verbal allgemein anerkannten Wer-ten gekennzeichnet, zugleich aber unterschiedliche Interessen, und vor allem durch einen Funktionsmecha-nismus, der systematisch die Produktion des Sozialen untergräbt, gekennzeichnet ist. Solidarität muss daher wieder dem alten Gedanken der Klassen- und Grup-pensolidarität nahe gebracht werden. Aus der Perspek-tive sozialer Qualität ergeben sich dabei Änderungs-überlegungen vor allem mit der Orientierung auf ein neues Verständnis des Wirtschaftens: Die Forderung, die Produktion des Sozialen i. S. eines nachhaltigen sozialökologischen Verhältnisses in den Mittelpunkt zu stellen. n

FUSSNOTEN8 s. Bourdieu, Pierre, 1983: Ökonomisches Kapital, kulturel-les Kapital, soziales Kapital; in: Soziale Ungleichheiten [Sozi-ale Welt, Sonderheft 2], Hrsg.: Reinhard Kreckel. Goettingen: Otto Schartz & Co. 1983. pp. 183–98

9 http://www.eurodiaconia.org/files/Publications/General_Report_-_Final.pdf

Page 35: FORUM sozial - DBSH

FORUM sozial SOndeRaUSgabe

Die Brücke der Solidarität, Duisburg

Das Selbstbild der beruflich geleisteten Solidari-tät gibt der Sozialen Arbeit eine starke Handlungs-perspektive. Auch wer es als eine Setzung des DBSH betrachtet, der dieses Bild seinen berufsethischen Prinzipien voranstellt, kommt nicht umhin zu sehen, dass es den Beruf an einem Ideal ausgerichtet hat, das zu den Grundwerten der Gesellschaft gehört. Die Botschaft, die es verkündet, ist klar und einleuch-tend: Soziale Arbeit kümmert sich, und sie tut dies im Rahmen einer Verantwortung der Starken für die Schwachen. Warum sollte sich Soziale Arbeit mit ihrem öffentlichen Fürsorgeauftrag in einer anderen Rolle sehen als der, gesellschaftlich getragene Hilfe an Bedürftige weiterzureichen?

Solidarität als Markenzeichen des Sozialarbeitsberufs anzusehen, ist plausibel, birgt aber auch eine Irrita- tion und eine Gefahr. Die Irritation besteht darin, dass die angesprochene Hilfe außer über das Merkmal, dass sie aus Steuermitteln finanziert ist, als Solidarleistung nicht leicht erkennbar ist. Es geht um komplexe Be-darfslagen mit individuellen Zuschnitten ebenso wie um strukturelle Fragen, die Kritik an den gesellschaft-

lichen Verhältnissen impliziert. Soziale Arbeit nimmt für sich in Anspruch, die angeforderte Hilfe nach eige-nem Ermessen auszurichten und auszugestalten. Da-mit schafft sie ihren beruflichen Handlungsrahmen. Der subsidiäre Charakter ihrer Hilfe ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die in der Sozialen Arbeit abge-bildete Solidarität auch Ansprüche gegen die Schwa-chen formuliert.

Als Gefahr ist zu sehen, dass eine sich am Solidari-tätsideal orientierende sozialarbeiterische Selbstsicht zu einem Klischee verkommt, wenn die Entsolidari-sierungstendenzen in der Gesellschaft weiter voran-schreiten. Eine Kluft wird deutlich, sofern Solidarität Anliegen Sozialer Arbeit, aber nicht länger von Gesell-schaft ist. In doppelter Hinsicht also sollte sich die So-ziale Arbeit um Klärung ihres Solidaritätsmotivs be-mühen: zum einen, weil vielfältige Aufgabenstellungen im beruflich-professionellen Handlungskontext eine Diversifizierung bedeuten, die sich gegen Simplifizie-rung sperrt; zum andern, weil, wenn gesellschaftliche Prozesse sozialarbeiterische Ideale unterlaufen, das Gesellschaftsverständnis auf den Prüfstand gehört.

Soziale Arbeit kümmert

sich, und sie tut dies im

Rahmen einer Verant-

wortung der Starken für

die Schwachen.

Soziale Arbeit als beruflich geleistete Solidarität tHOMaS SCHUMaCHeR

Gesellschaftliche und ethische implikationen

Theorie 35

Page 36: FORUM sozial - DBSH

36 Solidarität in der Sozialen Arbeit

Solidarität als Symbol für GesellschaftVon welchem Gesellschaftsverständnis ist auszuge-hen? Grundsätzlich gibt es zwei Zugänge, die zu un-terscheiden sind: Auf der einen Seite steht das Ver-ständnis, dass Gesellschaft als ein Produkt menschli-chen Willens sieht, gesetzt durch einen Vertrag, ge-staltbar durch formale Machtstrukturen, geprägt und orientiert über normative Bezugspunkte (Werte).

Auf der anderen Seite gibt es die dynamische Sicht, die Gesellschaft als ein sich systemisch verhaltendes, au-topoietisches Gebilde begreift, als einen Organismus, in dem menschlicher Wille und Wertebezüge nicht Ge-staltungselemente, sondern Deutungen sind. Dem Bild des sich soziales Leben autonom durch Regeln orga-nisierenden, modernen Menschen tritt auf diese Wei-se das der postmodernen Gesellschaft gegenüber, die ihrerseits dazu neigt, die Vorstellung vom Menschen in systemische „Vielschichtigkeit“ (Kleve, 2008, S. 141) aufzulösen.

Die Diskussion, die sich andeutet, braucht nicht ge-führt zu werden. Solidarität als Merkmal von Gesell-schaft zu verorten, gelingt beiden „Modellen“: In der postmodernen Sicht auf das menschliche Zusammen-leben ist Solidarität ein funktionales Kriterium, das im besten Wortsinn systemrelevante Bedeutung hat. Ver-steht man Solidarität als Ausdruck für die Notwendig-keit, soziale Ungleichheit zu verringern und auf ein er-trägliches Maß zu reduzieren, wird sich das System Gesellschaft nur erhalten können, wenn durch soli-darische Strukturen sichergestellt ist, dass Spannun-gen im sozialen Gefüge abgebaut werden können. Fehlen solche Strukturen, droht dem System eine Störung, weil davon auszugehen ist, dass sich ohne sozialen Ausgleich Ungleichheiten verschärfen. Diese verstärken sich über Anreize, erreichte Privilegien fest-zuhalten, weiter oder provozieren die Rebellion derer, die sich im System nicht als Profiteure sehen. So oder so führt ein Fehlen von Solidarität in der Gesellschaft zu einer Dysfunktionalität, vorausgesetzt, die Funktio-nalität des Systems Gesellschaft kann darin bestimmt werden, soziales Zusammenleben in friedlicher Weise zu ermöglichen.

Eine Schwäche allerdings ist in der postmodernen Deu-tung erkennbar: Offene Systeme sind anpassungsfähig und regulieren Störungen auch durch eine Verände-rung in der Funktionalität. So ist nicht auszuschließen, dass eine Gesellschaft auch ohne oder mit wenig So-lidarität funktional bleibt. Wenn sie dabei von großem sozialen Gefälle geprägt ist und Machtstrukturen ent-wickelt hat, die Privilegierte begünstigen und Aufbe-gehren dagegen unterdrücken, ist das vielleicht zu be-dauern, in der systemischen Interpretation aber nicht zu tadeln. Der Schwachpunkt liegt also darin, dass ein eindeutiges Verständnis dessen, was Gesellschaft sein soll, nicht möglich ist. Wird es in der systemisch-postmodernen Deutung dennoch angestrebt, ist das

im Grunde bereits ein Hinweis auf den Gegenentwurf eines Ideals, gemäß dem Gesellschaft nach klaren Vor-stellungen gestaltet und dem menschlichen Willen unterstellt werden soll. Das angesprochene Bedauern ist bereits von solcher Vorstellung getragen.Ob daher Gesellschaft postmodern als Wechselwir-kungsdynamik systemischer Variablen gesehen oder als sinn- und wertorientierte Setzung einer Ordnung für das Zusammenleben aufgenommen wird, ist für das Verständnis von Solidarität als Symbol für Gesell-schaft gleichgültig. Zwar läuft ein postmodern zu Ende gedachtes Gesellschaftsverständnis Gefahr, letztlich keines mehr zu sein und Solidarität als Haltepunkt zu verlieren; aber auf der anderen Seite geht jedes an einem Grundverständnis ausgerichtete Bild von Ge-sellschaft vom Ansatz der Beteiligung aller aus, in dem Solidarität zu einem Prinzip – zu einem Sozialprinzip wird (vgl. Schumacher, 2007, S. 71).Das Prinzip der Solidarität setzt ein Bild vom Men-schen voraus, das diesen in jeder Lebenslage von einem identischen Wesenskern her begreift. Das Wesen aber stellt den Wert dar, der daher allen Menschen – in Deutschland ist das gutes Recht – in gleicher Weise zukommt. Personalität, als Kennzeichen solchen Menschenwerts verstanden, geht auf die-se Weise der Pflicht zur Solidarität voraus und wird etwa in der katholischen Soziallehre entsprechend ebenfalls als Sozialprinzip angesehen (vgl. Päpstlicher Rat, 2006, S. 131). Vom Menschen als Person auszu- gehen, bedeutet also immer auch die Pflicht, den Ande-ren als gleichwertig – und das heißt immer ausgestat-tet mit identischen Bedürfnissen – anzusehen. Es liegt auf der Hand, daraus die Forderung nach gleichen Ver-wirklichungschancen abzuleiten (vgl. Sen, 2002, S. 110). Sie begegnet uns zunächst als Forderung auf der zwi-schenmenschlichen Ebene. Aber sie begründet ebenso eine entsprechende Aufgabe und Pflicht für jedes Mit-glied der Gesellschaft. Weiter gedacht, leitet sich da- raus auch die Perspektive einer global dimensionierten Solidarität ab, wenn man sieht, wie Armut und Elend in Entwicklungsländern weltweit der Preis für den Wohl-stand in den Industrieländern sind. Für diese „fürch-terlichen Zustände“ tragen Menschen gemeinsam Verantwortung und sind gemeinsam zur Lösung auf- gerufen (vgl. Sen, 2002, S. 355).

Der Blick auf das große Ganze zeigt die Bedeutung der Solidaritätsthematik für den Menschen. Wir wis-sen längst, dass Raubbau an der Natur, Misswirt-schaft, Korruption, Unterdrückung und Kriegstreibe-rei im heutigen Ausmaß das Überleben der Menschheit gefährden. Nicht anders – weil es zur Belastung der globalen Verhältnisse mit beiträgt – muss Sorge be-reiten, wenn im nationalen Rahmen einer Gesellschaft Lebensverhältnisse aus dem Lot geraten und soziale Gräben entstehen. Ganz so, wie die Menschheit nur dann Zukunftsperspektive hat, wenn sie gleiche Ver-wirklichungschancen für alle bietet, braucht eine Ge-sellschaft den sozialen Ausgleich, durch den sie erst lebenswert wird. Eine lebenswerte Gesellschaft ist

So oder so führt ein

Fehlen von Solidarität

in der Gesellschaft zu

einer Dysfunktiona-

lität, vorausgesetzt, die

Funktionalität des Sys-

tems Gesellschaft kann

darin bestimmt werden,

soziales Zusammen-

leben in friedlicher

Weise zu ermöglichen.

FUSSNOTE1 In diesem Zusammen-hang ist auch zu sehen, dass Gemeinschaft nicht nur im Rahmen persönlicher Bezie-hung möglich wird; vielmehr ist überall dort von Gemein-schaft auszugehen, wo ein gemeinsamer Identifikations-punkt eine Beziehung auch gegenüber Fremden stiftet, die demselben Lebensprinzip folgen. Große Gemeinschaf-ten sind die Weltreligionen, die über Begriffe wie Kirche im Christentum oder umma im Islam dieses Selbstver-ständnis auch anzeigen.

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Straßenaktion „Stillleben Ruhrschnellweg“ auf der A 40 – Die längste Tafel der Welt

Theorie 37

Solidarität als Bezugspunkt professioneller SozialarbeitspraxisGelebte gesellschaftliche Solidarität schließt nieman-den aus. Sie zu wollen, trägt einem modernen Men-schenverständnis Rechnung, hinter das heute niemand mehr zurück will. Solidarität wahrt die Interessen des Individuums und beschränkt sie nicht. Das ist die ei-ne Seite; doch eine zweite tritt auch in den Blick: Soli- darität kann für die Individualisierungskultur der Mo-derne auch als eine gegenläufige Bewegung gesehen werden. Wohl geht, wie gezeigt, beides zusammen, doch wenn der Individualisierungsprozess politisch als Privatisierungsprozess forciert wird, ignoriert er offenkundig das Solidaritätsanliegen (vgl. Geller, 2003). Vor allem zeigt das: Gesellschaften bleiben dy-namische Gebilde, die durch Akzentsetzungen jeweils unterschiedlich ausgeformt werden. Entscheidend ist die Frage, ob jeder Akzent und jede Tendenz hinzu-nehmen ist.

Die Antwort ist eindeutig nein. Zu verweisen ist auf das Bekenntnis zur Personalität des Menschen. Es hat deutlich zwei Implikationen: zum einen die des Rechts auf Selbstverwirklichung; zum andern die der Pflicht, solches Recht Jedem zu gewähren. Erstere ist leicht zu akzeptieren; letztere sieht sich bisweilen dem Ein-wand gegenüber, dass soziale Rücksicht einem Streben

Baustein einer Lebensqualität bietenden Welt. So be-trachtet ist Solidarität auf jeder Ebene nicht nur sozi-aler, sondern gleichsam existentieller Haltepunkt für den Menschen: auf der Mikroebene in der Beziehung zum Mitmenschen, auf der Mesoebene für die Inklu-sion in die Gesellschaft und auf der Makroebene zur Identifikation mit der Menschheit insgesamt.Dennoch kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine Gesellschaft von selbst solidarisch ist. Das ist ein wichtiger Unterschied zu allen Formen von Gemein-schaft, wo über ein Beziehungsgefüge solidarisches Handeln stets mit angelegt ist.1 Demgegenüber ist Ge-sellschaft die Form für das Zusammenleben von Men-schen, deren einziger gemeinsamer Bezugspunkt dar-in besteht, individuelle Interessen durchsetzen zu wol-len. Zwei Grundfunktionen ergeben sich daraus für die Gesellschaft: einerseits die der Ermöglichung individu-eller Freiheit, damit solche Interessen verfolgt werden können; andererseits die der Begrenzung dieser Frei-heit durch Regeln, die Schwächeren für die Verfolgung ihrer Interessen Schutz gewähren und damit zu trag-fähigen Umgangsweisen miteinander führen. Beide Grundfunktionen finden in der Aufgabe zusammen, für tragfähige Solidarstrukturen zu sorgen. Erst eine ent-schieden realisierte, gesellschaftliche Solidarität ver-schafft auch den Starken Legitimation, ihre Ansprü-che durchzusetzen.

LITERATUR

Geller, H., (2003): Staatlich geregelte Solidarität oder Pri-vatisierung der Lebensrisiken? Anmerkungen zur Diskussion um die Sozialversicherungen, in: Solidarität institutionali-sieren. Arenen, Aufgaben und Akteure christlicher Soziale-thik, hg. v. H.-J. Große Kracht, Münster, S. 145–159.

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Päpstlicher Rat für Gerechtig-keit und Frieden (2006): Kom-pendium der Soziallehre der Kirche, 2. Aufl. Freiburg i. Br.

Olk, T. (2005): Soziale Arbeit und die Krise der Zivilgesell-schaft, in: Neue Praxis 35, S. 223–230.

Olk, T./Otto, H.-U. (Hg.) (2003): Soziale Arbeit als Dienstleistung. Grundlegun-gen, Entwürfe und Modelle, München.

Richter, H. E. (1974): Lernziel Solidarität, Reinbek b. Ham-burg.

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Sen, A. (2002): Ökonomie für den Menschen. Wege zu Ge-rechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München.

Zink, D. (1988): Personali-tät und Solidarität: Grund-lagen einer sozialpädagogi-schen Berufsethik, in: Sozial 39, Heft 2, S. 3–8.

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38 Solidarität in der Sozialen Arbeit

Bezugspunkt dafür, dass die realen Zustände bewertet werden können. 5 Das Ideal der solidarischen Gesell-schaft hat das starke Argument eines allgemein ge-teilten Zugangs zum Menschen – festzumachen: Men-schenwürdegedanken in Art. 1 des Grundgesetzes – auf seiner Seite und muss dadurch zum Maßstab wer-den, die gesellschaftlichen Zustände einzuordnen und, wenn nötig, zu korrigieren. Klar ist, dass dieser Impe-rativ am entsprechenden Menschenverständnis hängt. Menschenbild und Gesellschaftsbild korrespondie-ren. Aber es wäre falsch, den Gestaltungswillen ge-genüber einer komplex dynamisch bestimmten Gesell-schaft aufzugeben und stattdessen auf ein veränder-tes Menschenbild zu setzen. Das wäre das sprichwört-liche Sägen an dem Ast, auf dem man sitzt. Wenn im Alltag einer Gesellschaft, aus welchen Gründen auch immer, Solidarität als Qualitätsmerkmal in den Hinter-grund tritt, ist Wachsamkeit geboten.

Hier nun kann die Aufgabe und die Reichweite beruf-lich geleisteter Sozialer Arbeit eingeordnet werden: Es wäre zu kurz gegriffen, wollte man das unterstüt-zende und problemlösende berufliche Handeln in den verschiedenen Arbeitsfeldern bereits als Ausdruck ge-leisteter Solidarität verstehen. Die Tatsache, dass die Leistungen öffentlich finanziert sind, deutet so etwas zwar an; aber solange der Handlungsbedarf in der So-zialen Arbeit allein an der Not und dem Bedarf von Kli-enten bemessen wird, geht es mehr um die passend zugeschnittene Dienstleistung, als um das Ideal gesell-schaftlicher Solidarität. Der Finanzierungsaspekt ist auch insofern kein Kriterium, als die dafür eingestell-ten staatlichen Mittel oft nicht ausreichen und durch

nach Selbstverwirklichung hinderlich sei. Dieser Ein-wand ist schwach, gehört es doch zur Erfahrung jedes Menschen, eigene Ziele mit der Unterstützung durch Andere erreicht zu haben 2; er löst sich gänzlich auf, wenn man das Konzept der Personalität auf den Punkt bringt. Das geschieht etwa in Kants kategorischem Imperativ, der darauf verweist, dass eine Haltung, die eigene Ansprüche setzt, zugleich aber Anderen die-selben Ansprüche nicht zugesteht, in den Selbst- widerspruch führt. 3 Personalität als Grundverständ-nis im Menschenbild schließt die soziale Dimension mit ein. Kein Mensch könnte sich zur Person hin ent- wickeln, der nicht anderen dieselbe Entwicklung zuge-stehen würde.Dem Ideal einer solidarischen Gesellschaft steht eine gesellschaftliche Wirklichkeit gegenüber, die Akteure immer wieder zu Kompromissen drängt, in der Ent-scheidungen an monetären Gesichtspunkten ausge-richtet werden, die vom politischen Streit verschiede-ner Interessengruppen bestimmt ist und in der – vor-sichtig gesagt – der Personalitätsansatz nicht im-mer konsequent gedacht wird. Hinzu kommt, dass es eben keine gleichen Verwirklichungschancen gibt, dass menschliches Fehlverhalten immer wieder auch wich-tige Entscheidungen prägt 4 und dass Menschen leicht der Verführung populistischer Agitation erliegen. Er-weist sich das Ideal vor solchem Hintergrund nicht als kraftlos, ja geradezu als falsch, weil andere Kräfte die Wirklichkeit bestimmen?

Auch hier ist die Antwort entschieden nein. Kein Ide-al wird an der Wirklichkeit gemessen, wohl aber die Wirklichkeit am Ideal: Es bildet den Maßstab und den

Kein Ideal wird an

der Wirklichkeit ge-

messen, wohl aber

die Wirklichkeit am

Ideal.

FUSSNOTEN (Forts.)

2 Solche Erfahrung bestä-tigt zugleich den Ansatz von H. E. Richter, nach dem das Individuum lernen muss, „die anderen primär mitzudenken, wenn es sich in der modernen Massengesellschaft über-haupt noch verwirklichen will“ (Richter, 1974, S. 69).

3 Vgl. dazu den Wortlaut dieses „Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft“ bei Kant, Kritik der prakti-schen Vernunft, 1. Aufl. 1788, S. 54: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jeder-zeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“

4 Die Banken- und Finanz-krise, die seit 2008 politi-sches Handeln im Griff hat, bildet eine traurige Spitze in dieser Kategorie.

5 Die Marx‘sche Formel, nach der das Sein das Be-wusstsein bestimmt, ist hier kein Gegenargument, da auch ein Ideal stets im Kontext ei-nes subjektiven Erkenntniszu-gangs und damit seinerseits bereits als Ausdruck grund-legender Wirklichkeitserfah-rung zu sehen ist.

6 Es geht dabei nicht nur da-rum, einem „Menschenrecht“ zu entsprechen (Lob-Hüde-pohl, 2010), sondern um die Perspektive, in der Sozialen Arbeit ein tragfähiges Gesell-schaftsverständnis abzubilden.

7 Den Anspruch markiert Olk (2005, S. 229) mit der Feststellung, dass Sozialer Arbeit bei den „Verteilungs-kämpfen und Auseinander-setzungen um knappe gesell-schaftliche Güter eine wich-tige Aufgabe“ zuwächst.

Straßenaktion „Stillleben Ruhrschnellweg“ auf der A 40 – Die längste Tafel der Welt

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FORUM sozial SOndeRaUSgabe

Theorie 39

lem: Das Argument der Notwendigkeit, das Verhältnis von sozialem und wirtschaftlichem Gesellschaftshan-deln neu auszutarieren, verfängt so lange nicht, wie Letzteres ganz auf den sich selbst regulierenden Markt gerichtet ist. Dann nämlich steht ein rein nutzenori-entiertes Denken unvereinbar gegen ein Verständnis vom Menschen, dessen Wert von keinem Nutzen ab-hängt, und das bedeutet: Die Logiken des Sozialen und der Ökonomie gehen nicht zusammen. Wenn dagegen wirtschaftliches Denken seinerseits den Menschen in den Blick rückt und den Nutzenaspekt über ethische Kriterien wie Nachhaltigkeit, Sozialverträglichkeit und Gerechtigkeit neu fasst, kann das Argument greifen. In diesem Fall folgen Soziales und Ökonomie derselben Logik und sind kompatibel. Ein wirtschaftliches Den-ken vom Menschen her würde so Ökonomen die Mög-lichkeit eröffnen, kritisch über Solidarstrukturen in der Gesellschaft nachzudenken. Dann aber wäre auch klar, dass unternehmerisches Handeln die sozialen Belange der Gesellschaft nicht ignorieren kann.

Es geht also auch um einen Prozess des Umdenkens in der Gesellschaft. Einseitig, mit marktwirtschaftlichen Argumenten, gegen „spätrömische Dekadenz“ (Guido Westerwelle) im Sozialbereich zu wettern, blockiert diesen Prozess. Es bleibt wichtig, den Ansatz, soziale Verantwortung auch bei den Wirtschaftsunternehmen zu sehen, voranzubringen. Es muss das Ziel sein, in allen Bereichen der Gesellschaft und besonders dort, wo Betriebe im Globalisierungssog stehen, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Nichts anderes will die Soziale Arbeit, und nichts anderes sollte Standard in einer modernen Gesellschaft sein. n

Spendenmittel ergänzt werden. So wird über die Sozi-ale Arbeit bisweilen eben auch das Ausmaß nicht ge-leisteter Solidarität deutlich.Die Aufgabe zu Hilfe und Unterstützung Bedürftiger bleibt, aber sie wird im Rahmen einer professionell verstandenen Sozialarbeitspraxis als eine Dienstleis-tung an der Gesellschaft verstanden (Olk/Otto, 2003). Individuelles Helfen ist das Eine; das Interesse der Ge-sellschaft, durch solche Unterstützungsarbeit Lebens-qualität zu verbessern, ist das Andere. Wenn Soziale Arbeit also vor allem diesem gesellschaftlichen Inte-resse entspricht, d. h. für eine Gesellschaft agiert, die will, dass sich Wohlbefinden und Teilhabechancen für Menschen vergrößern, wird ihr Tun als beruflich ge-leistete Solidarität sichtbar. Genau das ist der Rahmen, in dem die Leistungsfähigkeit und das Selbstverständ-nis des Sozialarbeitsberufes greifbar werden. Es wird nämlich auch deutlich, dass genau dann, wenn ein gesellschaftlicher Wille zur Verbesserung von Wohl-befinden und Teilhabechancen zweifelhaft erscheint, sich die Aufgabenstellung in der Sozialen Arbeit auch darauf erstreckt, solchen Willen einzufordern. 6So tritt der Sozialarbeitsberuf in Wahrheit als eines der Instrumente hervor, den oben angesprochenen Ge-staltungswillen gegenüber einer komplex dynamisch bestimmten Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Soziale Arbeit ist beruflich geleistete Solidarität insofern, als sie der Gesellschaft dient, indem sie den Menschen dient, und in dem sie dabei über eine in Theorie und Praxis gewonnene ethische Kompetenz verfügt, ge-sellschaftliche Missstände und Fehlentwicklungen zu erkennen und aufzuzeigen. 7

Die Zukunft der GesellschaftEntsolidarisierungsprozesse in der Gesellschaft sind ein Ärgernis für alle, die auf die Unterstützung eben dieser Gesellschaft angewiesen sind. Sie sind es auch für den Beruf, der solche Unterstützungsarbeit leis-tet und sieht, dass häufig Strukturen mit verantwort-lich dafür sind, dass Hilfe nötig wird. Dazu gehört die Schieflage bei den Verwirklichungschancen; aber dazu gehört auch die in jeder Reduzierung der Solidaritäts-bereitschaft vollzogene Entwertung derer, die auf die-se Bereitschaft ethisch einen Anspruch haben.

Dennoch: Tendenzen der Entsolidarisierung sind auch ein Indiz für und nicht nur gegen das soziale Gewis-sen der Gesellschaft. Dass diese sich vom Solidaritäts-prinzip gänzlich verabschiedet, ist nicht zu befürch-ten. Vielmehr werden jene Tendenzen und Prozesse, so weit zu sehen ist, als „Korrekturen“ gerechtfertigt, um das Konzept einer Sozialen Marktwirtschaft wei-ter leistungsfähig zu halten. Dies folgt im Grundsatz einer Orientierung Ludwig Erhards, der auf eine sozi-ale Wirkung der Marktwirtschaft selbst gesetzt hat. Das ist legitim, da, wie gesehen, Gesellschaft nicht per se ein solidarisches Gebilde ist, sondern Solidarität als Bezugspunkt eigenständig setzt. Solidarität als Wert in der Gesellschaft hat vor allem mit deren Selbst-verständnis zu tun. Doch genau hier liegt das Prob-

Autor

tHOMaS SCHUMaCHeR, Jahrgang 1959, dr. phil., M. a., dipl.-Sozialpäd. (FH)Seit 2000 Professor für Philo-sophie in der Sozialen arbeit an der Katholischen Stiftungs-fachhochschule München.

Arbeitsschwerpunkte:ethik der Sozialen arbeit; theorie und Wissenschaft der Sozialen arbeit; Inter-kulturelle Soziale arbeit

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FORUM sozial SOndeRaUSgabe

Schwerpunkt Praxis 41

Bereits in der letzten Ausgabe von FORUM sozial wurde das Thema der Solidarität in der Sozialen Arbeit thematisiert. Den Titel der vorletz-ten Ausgabe aufgreifend (Aspek-te internationaler Sozialer Arbeit), befasst sich der folgende Artikel mit dem Selbstverständnis und der Orga-nisation Sozialer Arbeit in Brasilien. Es fließen theoretische und prak-tische Erfahrungen aus drei Aus-landssemestern (08/2007-01/2009) an einer Universität im brasiliani-schen Süden, sowie Recherchen im Rahmen meiner Diplomarbeit 1 ein. Sicher kann an dieser Stelle keine umfassende Darstellung und Inter-pretation der Sozialen Arbeit Brasi-liens stattfinden. Der Artikel soll da- her vielmehr als Anregung dienen, unser eigenes Selbstverständnis und den Umgang mit dem Begriff pro-fessioneller Solidarität in Deutsch-land zu reflektieren.

Herausbildung des professionellen Selbst-verständnisses Die systematische Soziale Arbeit begann in Brasilien Anfang des vo-rigen Jahrhunderts durch Privatini-tiativen aus dem Umfeld der katho-lischen Kirche. Der brasilianische Sozialarbeiter und Autor Vasconce-los2 beschreibt, dass sie zu Beginn von zwei Ideologiesträngen geprägt war: zum einen durch eine starke Verbindung zur katholischen Sozial-lehre, zum anderen durch die Bewe-gung der higiene mental (Seelische/Geistige Hygiene).

Soziale Fragen wurden als mora-lische Fragen verstanden, sozia-le Problemlagen als „Funktions-störung“ Einzelner im gesellschaft-lichen System interpretiert. Die Schuld, beispielsweise für Armut oder für mangelnde Bildung, wur-de individualisiert, gesamtgesell-schaftliche Zusammenhänge wur-den ausgeblendet. In dieser Pio-nierzeit bildete sich ein Verständ-nis Sozialer Arbeit als Kontroll-instanz des Staates heraus, den verarmten Bevölkerungsgruppen assistenzialistisch (katholische ca-ritas) und erzieherisch (higiene mental) zu helfen, ihre Probleme zu überwinden.

Einen institutionellen Charakter erhielt die Soziale Arbeit erst in den 1930er Jahren. Sobottka und Faustini 3 berichten über erste Bil-dungseinrichtungen ab 1936, die zwar noch stark von der katholi-schen Soziallehre beeinflusst wa-ren, jedoch schließlich dazu führ-ten, dass Soziale Arbeit sich in Bra-silien zum Universitätsstudiengang entwickelte. Die Disziplin blieb je-doch zunächst von einem konser-vativen Ethos geprägt und ihr Han-deln nach einer Logik politischer Neutralität ausgerichtet, ein Ver-ständnis Sozialer Arbeit, das sich bis heute als Bild in Teilen der bra-silianischen Gesellschaft festge-setzt hat.

Ihren Charakter als „systemerhal-tende“ Soziale Arbeit verlor die Disziplin Ende der 1970er Jahre,

Die Bewegung der

reconceituação (in

etwa: Rückbesinnung,

wieder bewusst werden)

prägt das Selbst-

verständnis der Pro-

fession in Brasilien bis

heute.

Solidarität als berufsethischeVerpflichtung – ein Blick nach Brasilien tObIaS ZInSeR

als die bis dahin herrschende Mili-tärdiktatur (1964-1985) eine wirt-schaftliche und politische Krise durchlief. SozialarbeiterInnen be-teiligten sich landesweit an poli-tischen Reformbewegungen, setz-ten sich für demokratischen Wan-del und eine gerechtere Gesell-schaft ein.Auch intern organisierte sich die Soziale Arbeit neu und löste sich in Grundsatzdokumenten von ihrem bisherigen Berufsverständnis. Die-se Bewegung der reconceituação (in etwa: Rückbesinnung, wieder bewusst werden) prägt das Selbst-verständnis der Profession in Bra-silien bis heute. Die Disziplin erfuhr eine linksorientierte Reform. Sozi-ale Probleme wurden nun als Aus-druck der Sozialen Frage im Sinne von Marx verstanden. Exklusion, Armut und ungerechte gesell-schaftliche Verhältnisse wurden nicht mehr als individuell verant-wortet, sondern als vom Kapitalis-mus aufgezwungen erklärt.Der historische und gesellschaft-liche Kontext, in dem die „Soziale Frage“ seitdem betrachtet wird, führt dazu, dass SozialarbeiterIn-nen nun aktiv für Veränderungen des politischen und gesellschaft-lichen Systems eintreten. So waren und sind viele SozialarbeiterInnen aktiv an Sozialen Bewegungen be-teiligt, deren Ideen und Vorschlä-ge beispielsweise in der Verfassung von 1988 mit zahlreichen garan-tierten sozialen Grundrechten Ein-zug hielten.

SozialarbeiterInnen bei der Organisation eines BezirkssozialforumsEröffnungsdemonstration des Weltsozialforums 2005 in Porto Alegro

FUSSNOTEN1 Zinser T: Das interdiszipli-näre Arbeitsmodell der Zen-tren für psychosoziale Be-treuung von Kindern und Ju-gendlichen in Brasilien – Per-spektiven für Soziale Arbeit in Deutschland und Brasilien? [Diplomarbeit]. Ludwigsburg 2009.

2 Vasconcelos EM (Hrsg.): Saúde Mental e Serviço So-cial: O desafio da subjetivida-de e da interdisciplinaridade. São Paulo 2000.

3 Sobottka EA und Fausti-ni MSA: Politisches Engage-ment für die Freiheit – Wahl-verwandtschaften zwischen Paulo Freire und der Sozialen Arbeit in Brasilien. In: Reh-klau C. und Lutz R. (Hrsg.): Internationale Sozialarbeit – Sozialarbeit des Südens. Bd.1, Oldenburg 2007.

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Kulturelle Sozialarbeit während der Veranstaltung in einem Armutsviertel

Gesundheitspräventionsarbeit eines privaten Krankenhauses in einem Armutsviertel

42

Aktive Parteinahme und Solidarität durchzieht bis heute das Handeln zahlreicher KollegInnen in der So-zialen Arbeit Brasiliens. Ganz be-wusst wird solidarisches Handeln nicht lediglich als fürsorgliche Be-gleitung eines individuellen Falles begriffen. Vielmehr sollen die ge-sellschaftlichen Hintergründe pro-blematisiert und gemeinsam mit der Klientel aufgearbeitet werden, um schlussendlich aktiv auf eine Veränderung und den Abbau unge-rechter Lebens- und Produktions-bedingungen hinzuwirken.

„Für die Soziale Arbeit in Brasilien sind […] der bewusste Einbezug der politischen Dimension ihres Han-delns und die Eigenverpflichtung mit den Anliegen jener Bevölke-rungsgruppen, die von dem Genuss des sozial erzeugten Reichtums der Gesellschaft ausgeschlossen wer-den, die beiden wichtigsten Ver-pflichtungen, die das alltägliche Handeln beeinflussen“ (Sobottka und Faustini 2007:279) 3.

Der Ethik-Kodex – Verpflichtung zu aktiver SolidaritätEine aktive Parteinahme für und die Solidarität mit den Leidtragen-den wirtschaftlicher und gesell-schaftlicher Aussonderungspro-zesse stellt hohe Herausforderun-gen an die Soziale Arbeit und die VertreterInnen des Berufsstandes. Unter der linken Regierung des ak-tuellen Präsidenten Lula da Silva wurde der Ausbau der sozialen Versorgung stark vorangetrieben. In der öffentlichen Verwaltung ent-standen in den letzten Jahren zahl-reiche neue Arbeitsplätze für Sozi-alarbeiterInnen, die angestellt oder sogar verbeamtet wurden.Die positive Entwicklung führt je-doch nach und nach zur Hinterfra-gung des eigenen Selbstverständ-nisses. Ein Mitarbeiter im psych-iatrischen Bereich äußerte sich mir gegenüber wie folgt: „Weißt Du, vor zehn Jahren haben wir da-rum gekämpft, das System zu ver-ändern. Jetzt sind wir das Sys-tem.“ Nur allzu leicht kommt es zu Loyalitätskonflikten, wenn sich

beispielsweise Angestellte im öf-fentlichen Dienst gegen die eigene Stadtverwaltung stellen müssten, um ihrem Anspruch parteilicher Berufssolidarität gerecht zu wer-den. In einem Land, in dem noch heute selbst gesetzlich garantier-te soziale Rechte zum Teil aktiv er-kämpft werden müssen, scheinen für SozialarbeiterInnen Konflikte mit Gesetz- und Arbeitgebern vor-programmiert.Was also bestärkt viele brasiliani-sche KollegInnen, ihren kritischen, parteiischen und konfrontativen Kurs fortzuführen?Flickinger schreibt hierzu: „Das Prinzip begrenzter Regelverletzung ist für die Praxis der Sozialen Arbeit unverzichtbar, wo die Verpflich-tung zur Parteinahme für die vom System Abgedrängten und Ausge-grenzten zum berufsethischen Kri-terium gemacht wird“(Flickinger 2006:8)4. Er betont die Bedeutung der Existenz eines rechtlich ver-bindlichen Ethik-Kodex‘ (gültig seit 1993) für die Soziale Arbeit in Bra-silien.

„Weißt Du, vor zehn

Jahren haben wir da-

rum gekämpft, das Sys-

tem zu verändern. Jetzt

sind wir das System.“

Zentrale Grundlagen für berufs-ethisches Handeln sind laut diesem Dokument zum einen die Anerken-nung von Freiheit als zentralem Wert, der es allen Bevölkerungs-gruppen möglich machen soll, die Realität kritisch zu hinterfragen und über deren Veränderung neue Perspektiven zu entwickeln, zum anderen die Verpflichtung, aktiv für die Konsolidierung von Bürger-rechten, Demokratie und die Ver-teidigung von Menschen- und Bür-gerrechten einzutreten. Diese ju-ristisch bindende Verpflichtung der SozialarbeiterInnen für eine partei-liche Solidarität mit den von sozia-ler Teilhabe ausgeschlossenen Be-völkerungsgruppen ist Basis des so genannten ethisch-politischen Projekts der Profession.

Teil desselben ist ebenfalls ein Be-rufsgesetz (aus 1993), in dem Auf-gaben der Sozialen Arbeit definiert werden und die Einführung ei-nes Kammersystems festgeschrie-ben wird. Sozialarbeiter dürfen ih-ren Beruf in Brasilien nur ausüben, wenn sie der Berufskammer ihres jeweiligen Bundesstaates ange- hören und dort registriert sind. Diese haben darüber hinaus ein Sanktionsrecht bei Missachtung des Ethik-Kodexes, das bis zur Aussprechung von Berufsverboten reicht.Was zunächst als Bürokratisierung, Bevormundung oder Kontrolle der Profession erscheint, muss jedoch im Kontext einer politisierten So-zialen Arbeit betrachtet werden. Das Kammersystem wirkt als Rück-versicherung für SozialarbeiterIn-nen, die aufgrund ihrer Parteinah-me in Schwierigkeiten geraten. In der brasilianischen Realität kön-nen professionelle ethische Grund-sätze oftmals nur umgesetzt wer-den, wenn sich die KollegInnen einer starken Organisation in ihrem Rücken sicher sein können. Das Be-wusstsein, gemeinsam mit tausen-den KollegInnen an einem gemein-samen Projekt zur Veränderung der Gesellschaft zu arbeiten, führt zu einer größeren Selbstsicherheit der Profession. Ein aktueller Erfolg die-ser innerprofessionellen Solidarität war die Unterzeichnung einer Ge-

FUSSNOTE4 Flickinger HG: Vom Frem-den lernen: Soziale Arbeit in Brasilien. In: Sozial Extra. So-ziale Arbeit in Brasilien. 30. Jahrgang, September 2006. S. 8–9.

Solidarität in der Sozialen Arbeit

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FORUM sozial SOndeRaUSgabe

Praxis 43

Der Schwerpunkt des

Studiums liegt auf dem

Gedanken der Solidari-

tät mit den „Verlierern“

des aktuellen politi-

schen und gesellschaft-

lichen Systems und der

Frage, wie sich Soziale

Arbeit aktiv einbringen

kann und muss.

setzesänderung über die Arbeits-zeit von SozialarbeiterInnen durch Präsiden Lula da Silva am 26. Au-gust 2010. Die Wochenarbeits-zeit für die brasilianischen Kolle-genInnen wurde auf 30 Stunden bei gleichzeitiger Lohngarantie be-grenzt. Unabhängig von einer in-haltlichen Bewertung dieser Ver-änderung zeigt der Vorgang klar, was über eine aus innerprofessio-neller Solidarität wachsende orga-nisierte Lobbyarbeit erreicht wer-den kann.

Kritische Haltung als StudieninhaltEin weiterer Aspekt des Kammer-systems ist die Einflussnahme auf die Inhalte der Lehre in Sozia-ler Arbeit. Seit 2004 sind nationa-le Richtlinien in Kraft, welche einen Rahmen für die Lehre im Rahmen der Studiengänge bilden. Bereits bei der Herausbildung professio-neller Identität wird Wert auf eine kritische Haltung der Studierenden und auf sozial- und gesellschafts-politische Analyse sozialer Phäno-mene gelegt. Der Aufbau als Uni-versitätsstudiengang führte zudem dazu, dass ein Großteil der Dozie-renden aus dem eigenen Fachgebiet kommt und größtenteils die Um-bruchsituation der späten 1970er Jahre selbst mit begleitet hat.In der Konsequenz wird den Stu-dierenden von Beginn an eine kri-tische Sicht auf die gesellschaft- lichen Verhältnisse vermittelt. Tex-te von Marx und an ihn angelehn-te Autoren wie Gramsci, sowie die Behandlung volkswirtschaftlicher und sozialpolitischer Grundlagen gehören zum Standard der Ausbil-dung. Der Ethische Kodex und sei-ne Bedeutung für das berufliche Selbstverständnis sind oftmals In-halt eigener Seminare.Der Schwerpunkt des Studiums liegt auf dem Gedanken der Solida-rität mit den „Verlierern“ des aktu-ellen politischen und gesellschaft-lichen Systems und der Frage, wie sich Soziale Arbeit aktiv einbringen kann und muss, um ihrem eigenen Selbstverständnis gerecht zu wer-den. Dieser Fokus der Ausbildung führt zu einer kritischen Grund-

tung des Einzelnen hinweisen und die Schuld an sozialen Problemen tendenziell wieder den betroffe-nen Personen(gruppen) anlasten. Auch in Deutschland stellt sich immer mehr die Frage, wie Sozia-le Arbeit sich im Angesicht dieser Entwicklungen positionieren kann und muss. Für die Frage, wie die Profession ihrem eigenen Selbstverständnis in Zeiten von Sozialabbau und wach-sender sozialer Ungerechtigkeit gerecht werden kann, zeigen die brasilianischen KollegInnen mei- nes Erachtens einige interessante Ansätze auf: Aktive Parteinahme für von sozialer Teilhabe ausge-schlossene Personen, Solidarität im Sinne politischer Aktivität, ein starker Berufsverband und ein be-wusster Schwerpunkt auf gesell-schaftskritische Fragestellungen in der Ausbildung scheinen mir unverzichtbar für eine Soziale Arbeit, die sich ihrem ureigensten Interesse verschreibt – einer ge-rechten, demokratischen und plu-ralistischen Gesellschaft. n

haltung der AbsolventInnen und zu starkem Engagement bei der Kon-trolle staatlicher sozialpolitischer Maßnahmen, in sozialen Bewe-gungen und beim Versuch, eine ge-rechtere Gesellschaft aktiv herbei-zuführen. Der Fokus auf die Kontextualisie-rung sozialer Probleme führt da-durch leider zum Teil zu Schwä-chen in der methodischen Ausbil-dung von kommunikativen oder beraterischen Kompetenzen, wie sie beispielsweise in Deutschland aufgrund eines eher individuali-sierten Berufsverständnisses ver-mittelt werden.

SolidaritätWie dargelegt, definiert die bra-silianische Soziale Arbeit den Be-griff der Solidarität als aktives und parteiliches professionel-les Handeln beim Kampf um so-ziale Teilhabe der „Systemverlie-rer“. Bewusst versteht man sich als Gegenpol kapitalistischer und neo-liberaler Ideologien, die verstärkt auf die individuelle Verantwor-

Autor

tObIaS ZInSeR, diplom-Sozialpädago-ge (FH), abgänger der eH Ludwigsburg (2010)

Kontakt:[email protected]

Eröffnungskundgebung des Weltsozialforums in Porto Alegoo 2005

Vollversammlung von Angehörigen, Klienten und Mitarbeitenden einer Einrichtung

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44 Solidarität in der Sozialen Arbeit

Die (sozial)politische Regulierung und herrschaft-liche Formung sozialer Beziehungen ist das, wo-rum es im modernen Sozialstaat geht (vgl. Lessenich 2008) und woran Soziale Arbeit maßgeblich betei-ligt ist. Ein Sachverhalt, den es in Rechnung zu stel-len gilt, insbesondere mit Blick auf einen seit den 1970er Jahren zu konstatierenden Wandel des wohl-fahrtsstaatlichen Arrangements, der einhergeht mit der Implementierung aktivierender Programmatiken sowie grundsätzlicher: mit der Etablierung einer neu-en politischen Ordnung des Sozialen.

In diesem Zusammenhang ist zu kritisieren, dass So-ziale Arbeit regelmäßig (sozial-)politische Vereinnah-mungen bzw. grundsätzlicher: ihr Verhältnis zum (So-zial-)Politik-Bereich nicht nur nicht thematisiert und reflektiert, sondern erst gar nicht zur Kenntnis nimmt, vielmehr ihr vorgegebene „Wahrheiten“ – zumeist in vorauseilendem Gehorsam – zu bearbeiten sucht.Kam es nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen des Ausbaus des Sozialstaats zu einer Erweiterung und Ausdifferenzierung der bürokratisch-administrativen Apparate der sozialen Sicherung und in diesem Zu-sammenhang auch zu einer sukzessiven Expansion der Arbeitsfelder, aber auch zu einer Professionalisierung Sozialer Arbeit, so gingen mit diesen sozialstaatlichen Intentionen zur Egalisierung und Standardisierung der Lebensverhältnisse ein sicherheitsstaatlicher Kontroll- und Repressionsapparat einher, mit dem Normalisie-rungs- und Anpassungsleistungen erbracht wurden, die auf die Durchsetzung der verbindlichen Vorgaben einer „sozialstaatlichen“ Normalbiographie, d. h. ins-besondere eines Normal(lohn)arbeitsverhaltens zielten (vgl. Anhorn/Bettinger 2002: 227). Diese wohlfahrts-staatliche Regulationsweise geriet jedoch ab Mitte der 1970er Jahre mehr und mehr in Konflikt mit den Profitinteressen des Kapitals, wobei die sich anschlie-ßende neoliberale Transformation nahezu aller gesell-schaftlichen Bereiche als ein politisch bewusst herbei-geführter Prozess gedeutet werden muss, in dessen Verlauf das bisherige Sozialstaatsmodell – zunehmend als „versorgend“ diskreditiert – in Frage gestellt und

Soziale Arbeit in Zeiten der „Neu-erfindung des Sozialen“ FRanK bettIngeR

letztlich bekämpft wurde. In der Folge konnte sich ein neuer Typus von Gesellschaft etablieren, der sich bis heute durch ein neues Maß und eine neue Qualität an Ungleichheitsverhältnissen und Ausschließungspro-zessen auszeichnet; ein Typus von Gesellschaft, in dem einerseits unsichere, prekäre Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse, zunehmende Armut und (Dauer-) Arbeitslosigkeit, gravierende und zunehmende sozi-ale Ungleichheiten und ökonomische Disparitäten zu einem notwendigen Bestandteil der ökonomisch-sozi-alen Restrukturierung erklärt, und dabei weniger unter Gesichtspunkten der sozialen Gerechtigkeit, sondern vielmehr einer möglichen Bedrohung der sozialen Ord-nung und inneren Sicherheit thematisiert werden (vgl. Anhorn/Bettinger 2002: 232; Bettinger/Stehr 2009).

Im Kontext dieser ökonomisch-sozialen Restrukturie-rung und der mit dieser einhergehenden Neuausrich-tung von Wirtschafts- und Sozialpolitik hat sich unter dem Label „Aktivierender (Sozial-)Staat“ ein neuarti-ger Komplex (sozial-)staatlicher Handlungsorientierung herausgebildet, der sich nahtlos in eine Politik des So-zialstaatsabbaus einfügt. An die Stelle der bisherigen Gewährleistung umfassender sozialer Rechte und des Bemühens um Abmilderung sozialer Ungleichheiten tre-ten nun neue sozialpolitische Strategien und Konzepte zur Förderung wirtschaftlichen Wachstums durch (Re-)Aktivierung der produktiven Potenziale unterschied- licher Bevölkerungsgruppen (vgl. Olk 2009: 23).Allerdings würde die Bedeutung dieser Entwicklungen mit der ausschließlichen Beschreibung dieser neuen Konzepte bzw. Strategien vollkommen unzureichend erfasst. Daher wird im weiteren Verlauf der vorliegen-den Überlegungen im Wesentlichen den Analysen Les-senichs gefolgt, der im Zusammenhang der ökono-misch-sozialen Restrukturierung und der damit einher-gehenden Konstituierung eines aktivierenden (Sozial-) Staates von einer neuen politischen Rationalität bzw. von einem – in Anlehnung an Michel Foucault – neuen Regierungsmodus spricht, dessen Ziel eben nicht ein-fach nur die Implementierung neuer sozialpolitischer Programme ist, sondern diese sozialpolitischen Pro-

Im Kontext dieser öko-

nomisch-sozialen Re-

strukturierung hat sich

unter dem Label „Akti-

vierender (Sozial-)Staat“

ein neuartiger Kom-

plex (sozial-)staatlicher

Handlungsorientierung

herausgebildet, der sich

nahtlos in eine Politik

des Sozialstaatsabbaus

einfügt.

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FORUM sozial SOndeRaUSgabe

Theorie 45

gramme vielmehr als Mittel zur sozialpolitischen Kon-struktion doppelt verantwortungsbewusster, „ökono-mischer“ und „moralischer“ Subjekte nutzt: verant-wortungsbewusst sich selbst, wie auch der Gesell- schaft gegenüber (vgl. Lessenich 2003: 86; Lessenich 2008: 82). „Regierung“ meint in diesem Zusammen-hang einerseits die „Anleitung von Verhaltensweisen“ und umfasst sowohl die Fremdführung als „Regierung der Anderen“ sowie die Selbstführung als „Regierung des Selbst“; andererseits meint „Regierung“ eine (dis-kursive) Form der gedanklichen und kommunikativen Strukturierung von Realität als Bedingung der Anwen-dung von Führungstechniken. „Führung durch Selbst-führung“ heißt demzufolge die neue politische Ratio-nalität im Aktivierenden Sozialstaat: „Anleitung zur Selbststeuerung, ,Führung zur Selbstführung‘ bzw. – in vollendeter Form – Regierung durch Selbstführung heißt nichts anderes, als dass die Subjekte frei sind, so zu handeln, wie es der liberalen Rationalität ent-spricht. (…) Entsprechend hilft der liberale Sozialstaat zur Selbsthilfe, aktiviert der ‚neoliberale‘ Sozialstaat zur Eigenaktivität“ (Lessenich 2008: 83).

Dass diese neue politische Rationalität ganz überwie-gend mit der Arbeitsmarktpolitik assoziiert wird, darf nicht darüber hinweg täuschen, dass es sich hierbei um eine Programmatik handelt, die nicht auf einige weni-ge, sondern auf alle Subjekte und auf das Soziale zielt. Es geht dabei um nicht weniger als um eine neue dis-kursiv hergestellte Wissensordnung, um eine politische Ordnung des Sozialen, um ein alle Subjekte betreffen-des sozialpolitisches Subjektivierungsprogramm, das auf die Transformation der Bürgerinnen und Bürger, ihrer (unser aller!) Verhaltensweisen und Denkweisen zielt (vgl. Lessenich 2008: 122ff.), und in das Sozia-le Arbeit zutiefst involviert ist. Denn ihre regelmäßig zu konstatierende Theorie- und Konzeptionslosigkeit; ein kaum identifizierbarer Gegenstandsbezug; eine da-mit einhergehende Politisierungsresistenz, und in der Konsequenz die Empfänglichkeit für Aufgaben- und Funktionszuweisungen durch andere Disziplinen oder durch (Sozial-)Politik: das sind die wesentlichen Be-dingungen, die zu einer Indienstnahme und strate- gischen Neujustierung Sozialer Arbeit führen, an der Sozialarbeiter und Sozialpädagoginnen als aktivierte und aktivierende Akteure maßgeblich beteiligt sind. – So degeneriert Soziale Arbeit zur aktivierungspäd-agogischen Akteurin im Prozess der Deregulierung und Flexibilisierung (Kessl/Otto 2009), zum aktivierungs-pädagogischen Transformationsriemen neo-sozialer Anforderungen (Kessl 2005: 32), zur Reglementie-rungs- und Regierungstechnik, die ihre Adressaten zur Selbstverantwortung und Selbststeuerung verpflichtet (Dahme/Trube/Wohlfahrt 2008: 273) und wird somit Objekt und Subjekt einer neuen politischen Ordnung des Sozialen, in der es im Wesentlichen um wirtschaft-liches Wachstum in einer globalisierten Ökonomie und nicht um die Bedürfnisse der Menschen geht.So wird deutlich, dass (Sozial-)Politik – eben auch als Bedingung sozialarbeiterischer/sozialpädagogischer

Praxis – immer auch ein sozialer Prozess der wissens-vermittelten Herstellung sozialer Realitäten, der dis-kursiven Konstruktion gesellschaftlich akzeptierter „Wahrheiten“ ist (Lessenich 2008: 54; vgl. Bettinger 2007: 75 ff.). Die Wissensbestände sämtlicher Politik-felder, also auch der Wirtschafts-, Sozial- und Krimi-nalpolitik, werden diskursiv hergestellt und finden so nicht nur als „Selbstverständlichkeiten“ Eingang in das gesellschaftliche Selbstverständnis, sondern werden von den gesellschaftlichen Akteuren – indem sie sich in diese Wissensordnungen einfügen und ihre Deutun-gen und ihr Handeln daran orientieren – reproduziert.Aber gerade dieses strukturelle Moment der Beteili-gung der Subjekte an der (Re-)Produktion sozialer Ord-nungen eröffnet eben auch Möglichkeitsräume gesell-schaftlicher Veränderung: „Wenn sie (die neo-soziale Ordnung) noch aufzuhalten ist, dann folgerichtig nur durch die kulturelle Widerständigkeit der gesellschaft-lichen Subjekte, nur durch diese (also uns) selbst“ (Les-senich 2008: 117).Aufgefordert sind somit auch und insbesondere So-zialpädagogen und Sozialarbeiterinnen, Diskurse als herrschaftslegitimierende Techniken der Wirklich-keitsproduktion und somit von gesellschaftlichen Ordnungen in der bürgerlich-kapitalistischen Gesell-schaft zu erkennen und zu analysieren und in die Are-nen einzutreten, in denen um die Durchsetzung von Wirklichkeit gekämpft wird. Nur so ist es möglich, Macht-, Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnis-se, sowie die Strategien und Prozesse, die diese Ver-hältnisse kontinuierlich reproduzieren, zu themati- sieren und zu skandalisieren. Und nur so wird es Sozia-ler Arbeit gelingen, als politische Akteurin und Wider-sacherin an der (politischen) Gestaltung des Sozialen mitzuwirken, sowie Einmischung in Politik und Mitwir-kung an der Gestaltung des Sozialen den Bürgern und Bürgerinnen zu ermöglichen (vgl. Bettinger 2008). n

LITERATURAnhorn, R./Bettinger, F. (Hg.) (2002): Kritische Kriminologie und Soziale Arbeit. Impulse für profes-sionelles Selbstverständnis und kritisch-reflexive Handlungskompetenz, Weinheim und München.

Bettinger, F. (2007): Diskurse – Konstitutionsbedingung des Sozialen, in: Anhorn, R./Bettinger, F./Stehr, J. (Hg.), Foucaults Machtanalytik und Soziale Arbeit, S. 75–90.

Bettinger, F. (2008): Auftrag und Mandat, in: Bakic, J./Diebäcker, M./Hammer, E. (Hg.), Aktuelle Leitbegriffe der Sozialen Arbeit. Ein kritisches Handbuch, S. 25–39.

Bettinger, F./Stehr, J. (2009): Zur neuen Kultur der Kontrolle in Städten. Soziale Arbeit als Akteurin lokaler Sicherheits- und Ordnungspolitiken, in: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhil-fe (ZJJ), Heft 3, S. 252–257.

Dahme, H.-J./Trube, A./Wohlfahrt, N. (2008): Soziale Arbeit für den aktivierenden Staat, in: Biele-felder Arbeitsgruppe 8 (Hg.), Soziale Arbeit in Gesellschaft, S. 268–275, Wiesbaden.

Kessl, F. (2005): Soziale Arbeit als aktivierungspädagogischer Transformationsriemen, in: Dahme, H.-J./Wohlfahrt, N. (Hg.), Aktivierende Soziale Arbeit. Theorie – Handlungsfelder – Praxis, S. 30–43.

Kessl, F./Otto, H.-U. (Hg.) (2009): Soziale Arbeit ohne Wohlfahrtsstaat? – Zeitdiagnosen, Proble-matisierungen und Perspektiven, Weinheim und München.

Lessenich, St. (2003): Soziale Subjektivität. Die neue Regierung der Gesellschaft, in: Mittelweg 36, Heft 4, S. 80–93.

Lessenich, St. (2008): Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld.

Olk, Th. (2009): Transformationen im deutschen Sozialstaatsmodell. Der „Sozialinvestitionsstaat“ und seine Auswirkungen auf die Soziale Arbeit, in: Kessl, F./Otto, H.-U. (Hg.), Soziale Arbeit ohne Wohlfahrtsstaat? Zeitdiagnosen, Problematisierungen und Perspektiven, S. 23–35.

Autor

FRanK bettIngeR lehrt an der eFH darmstadt, Sozial-pädagoge und Sozialwissen-schaftler, Professor für Sozial-pädagogik an der eFH darm-stadt mit den Schwerpunkten theorie der Sozialpädagogik, Kinder- und Jugendhilfe und Kriminologie; Lehrbeauftrag-ter an der Hochschule bremen;Vorstandsmitglied im bremer Institut für Soziale arbeit + entwicklung (bISa+e), hier tätig in den bereichen Fort- und Weiterbildung, Lehre, Politikberatung und theorieentwicklung.

Kontakt:[email protected]

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Die Ausgabe von FORUM sozial 2/2010 berichtete vor allem aus internationaler Sicht über Com-munity Organizing (im Folgenden: CO). Der lesenswerte Artikel des derzeit in Deutschland und Europa tätigen Organizers Paul A. Crom-well stellt Projekte vor, in denen die in Deutschland noch wenig verbreitete Methode erfolgreich in die Praxis umgesetzt wird (vgl. Cromwell 2010; weitere Projek-te siehe auch Penta 2007). Hier-zu ergänzend reflektiert der vor-liegende Beitrag CO eher poli-tisch-theoretisch. Dazu wird CO in einen kritischen Abgleich zur Sozialen Arbeit, besonders ihrer Position im aktivierenden Sozial-staat gebracht. Der Beitrag folgt der These: CO kann zur Re-Poli-tisierung Sozialer Arbeit beitra-gen und helfen, aus der Falle einer Indienstnahme für den aktivie-renden Sozialstaat herauszukom-men, ohne indes in „altes“ Den-ken jenseits von Partizipation und Empowerment zurückzufallen.

FUSSNOTE1 Weibliche und männliche Formen werden im willkürli-chen Wechsel verwendet.

Diese eigentümliche Kraft hat be-reits frühzeitig Alexis de Tocquevil-le in seinem epochalen Werk Über die Demokratie in Amerika von 1837 bewundert (vgl. Tocqueville 1967: 103ff). Tocqueville, der an-sonsten Demokratie nüchtern ana-lysiert und klar Schwächen heraus-arbeitet, bewundert am amerikani-schen Volk die Bereitschaft, sich zu allen möglichen Zwecken zusam-menzuschließen. Denn in der Kunst der Vereinigung liegt ein Kernstück demokratischer Lebensweise: As-soziationen schützen vor der Des-potie, indem sie in der Bürgerschaft den Geist der Freiheit wach halten: „Das einzige Bollwerk gegen einen sanften Despotismus sind Vereini-gungen. Freiwillige Assoziationen für alle möglichen Zwecke sind et-was Wertvolles. Doch beruht ihre besondere Bedeutung darin, dass sie uns den Geschmack und die Übung der Selbstregierung vermit-teln. ... »In demokratischen Län-dern ist die Wissenschaft der Ver-einigung die Mutter aller Wissen-

Von der Kraft der AssoziationIm oben genannten Artikel werden Unterschiede zwischen Sozialer Arbeit und CO benannt (zu weite-ren Unterschieden Mohrlok 1993; FOCO 1996). Denn ursprünglich stammt CO aus den USA und geht auf den radikaldemokratischen Bürgerrechtler Saul David Alinsky (1909–1972) zurück (vgl. Alinsky 1999; zur Biografie Szynka 2005).

CO baut so stark wie wahrschein-lich kaum eine zweite zurzeit dis-kutierte Methode auf Aktivie-rung und Engagement von Bürge-rinnen1 auf, die ihre Lebensbedin- gungen beispielsweise in einem Stadtteil verändern wollen, dabei mutig Neues riskieren und ggf. auch Konflikte nicht scheuen. So gesehen vertraut CO einem eigen-tümlichen Organisations- und As-soziationsgeist, der in Hinsicht auf die deutsche Mentalität – falls es so etwas überhaupt gibt – fremd wirken kann.

Community Organizing – ein Mittelzur Re-Politisierung der Sozialen Arbeitim aktivierenden Sozialstaat?! CaRSten MÜLLeR

CO baut so stark wie

wahrscheinlich kaum

eine zweite zurzeit dis-

kutierte Methode auf

Aktivierung und Enga-

gement von Bürgerin-

nen auf, die ihre

Lebensbedingungen

verändern wollen.

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Praxis 47

schaften«“ (Taylor 1993: 143). Wie funktioniert diese Wissenschaft? Gemäß CO schließen sich Bürge-rinnen vor allem aus zwei Gründen zusammen: aufgrund von Eigenin-teressen sowie von Beziehungen. Beide Aspekte kommen besten-falls zusammen und dürfen nicht verkürzt werden: Eigeninteressen sind immer auch von einer Gruppe geteilte, also kollektive Interessen, welche mittels CO in einem lan-gen Zuhör-Prozess herausgefun-den werden. Sie können durchaus mit allgemeinen Werten, etwa mit der Forderung nach sozialer Ge-rechtigkeit, einhergehen.

Beziehungen wiederum sind eben-falls nicht partikular und abstrakt: Einerseits fußen Beziehungen auf Neugierde, echtem Interesse so-wie erlebtem Vertrauen zwischen Menschen; was auch für die Be-ziehungsarbeit des Organizers gilt. Andererseits knüpft CO ein Bezie-hungsgeflecht, ein – wenn man so will – soziales Netzwerk vor allem zwischen Betroffenen. Eigeninte-ressen und Beziehungen machen, ergänzt um die in durchstandenen Konflikten mit- und aneinander gewonnenen Erfahrungen – sei-en dies Erfolge oder Niederlagen –, den „Spirit“ einer Organisation aus.So gesehen handelt es sich beim CO um eine Methode, die vom „Spirit“ der Demokratie lebt. Die politische Philosophin Hannah Arendt hat dies als Glückserfahrung beschrie-ben, die in keiner anderen Tätig-keit, etwa dem Geldverdienen, zu finden sei. Gemeint ist die Erfah-rung, in öffentliche Erscheinung zu treten und die öffentlichen Ange-legenheiten aktiv mitzubestimmen. Diese Erfahrung drückt sich nach Arendt in der berühmten Formel pursuit of happiness – zu deutsch: Streben nach Glückseligkeit – aus, die mutmaßlich Thomas Jefferson, ein Gründungsvater der amerika-nischen Republik, 1776 in der Un-abhängigkeitserklärung an genau diejenige Stelle gesetzt hat, die zu-vor dem Eigentum im Kanon der bürgerlichen Rechte zugefallen ist (vgl. Arendt 2000: 162). Dies be-deutet: Durch öffentliches Handeln werden Menschen als Bürgerinnen

Da besonders ausge-

schlossene und ausge-

grenzte Gruppen meist

nicht über Geld, mithin

über Einfluss und Lob-

by verfügen, müssen sie

sich eine andere Macht-

quelle erschließen: die

Macht des Volkes.

um die Forderungen von Liebe und Gerechtigkeit zu erfüllen. Eines der größten Probleme der Geschich-te ist es, dass die Begriffe Liebe und Macht gewöhnlich als pola-re Gegensätze gegenüber gestellt werden. Liebe wird mit dem Ver-zicht auf Macht und Macht mit der Verneinung der Liebe identi- fiziert. … Was wir brauchen, ist die Erkenntnis, dass Macht ohne Liebe rücksichtslos und schimpflich ist und dass Liebe ohne Macht senti-mental und blutleer ist. Macht im besten Sinne ist Liebe, die die For-derung der Gerechtigkeit erfüllt.

... Das Problem liegt darin, dass die Macht in Amerika ungleich ver-teilt ist“ (King 1968: 51). Man mer-ke auf: Macht wird hier nicht als das Gegenteil von Liebe und Ge-rechtigkeit begriffen, sondern viel-mehr als deren notwendige Ergän-zung. So gesehen gehören Macht und Moral zusammen; wobei nicht darüber hinweggetäuscht werden darf, dass Macht auch korrumpie-ren bzw. missbraucht werden kann. Wird Macht also nicht grundsätz-lich abgelehnt, dann stellen sich wichtige Anschlussfragen: Wer hat Macht? Wie ist Macht verteilt? Auch darin spricht sich eine spezi-fisch demokratische Haltung aus: Demokratie lebt in diesem Sinne von konfliktreichen Auseinander-setzungen zwischen verschiedenen Interessengruppen. Indes kann eine Auseinandersetzung nur frucht-bar sein, wenn gleichwertige Par-teien streiten, denn nur so kommt ein Prozess des Aushandelns zum Wohle aller in Gang, der schließ-lich zu tragfähigen Balancen führt. Deshalb stellt sich die Aufgabe, besonders denjenigen Menschen, die keine Stärke haben, zu Macht zu verhelfen. Dies intendiert CO um der Demokratie willen.

Grundsätzlich werden dabei zwei Formen von Macht unterschieden. Eine Machtquelle ist Geld. Da be-sonders ausgeschlossene und aus-gegrenzte Gruppen meist nicht über Geld, mithin über Einfluss und Lobby verfügen, müssen sie sich eine andere Machtquelle er-schließen: die Macht des Volkes.

kenntlich und anerkannt, was die-se glücklich macht. Denn die Men-schen – zumal Benachteiligte und Ausgegrenzte – erfahren sich, oft entgegen ihren alltäglichen Erfah-rungen, als kompetent und mäch-tig in ihren eigenen Belangen.

Die positive Seite der Macht Der amtierende Präsident der Ver-einigten Staaten, Barack Obama, der als junger Mann selbst als Or-ganizer in Chicago gearbeitet hat (vgl. Goede 2009; Müller 2009), beschreibt diesen Punkt im Artikel Warum organisieren? so: „Eigent-lich findet man die Antwort auf die ursprüngliche Frage – why or-ganize? – bei diesen Leuten. Wenn man dabei hilft, dass eine Gruppe Hausfrauen dem Bürgermeister der drittgrößten amerikanischen Stadt am Verhandlungstisch gegenüber sitzt und sich behauptet, oder wenn ein Stahlarbeiter in Rente vor einer Fernsehkamera seinen Träu-men über die Zukunft seines En-kelkindes eine Stimme verleiht, er-kennt man den wichtigsten und befriedigendsten Beitrag des Or-ganisierens. Im Gegenzug lehrt Or-ganizing mehr als alles andere die Schönheit und Kraft alltäglicher Menschen“ (Obama 2009: 9-10).

Im Zitat wird darüber hinaus deut-lich, dass CO ein spezielles Ver-ständnis von Kraft bzw. Macht ver-folgt: Macht ist hier nicht negativ besetzt, zumal der amerikanische Sprachgebrauch zwischen Macht und Gewalt unterscheidet. Im Ge-genteil: Bürger und ihre Organi-sationen brauchen Macht, wollen sie nachhaltig etwas in ihrer Welt verändern. Deutlich kommt dieser positive Machtbegriff in einer Aus-sage des berühmten „schwarzen“ Bürgerrechtlers Martin Luther King aus dem Buch Wohin führt unser Weg: Chaos oder Gemeinschaft? zur Sprache: „Macht, richtig ver-standen, ist die Möglichkeit, etwas zu erreichen. Es ist die Stärke, die man braucht, um soziale, politi-sche oder wirtschaftliche Verän-derungen herbeizuführen. In die-sem Sinne ist Macht nicht nur er-wünscht, sondern auch notwendig,

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Dementsprechend ist es ein Ziel, im CO möglichst viele Menschen zusammenzubringen, um gemein-sam stärker zu werden. Dabei setzt CO auf die Zivil- und Bürgergesell-schaft, denn: „Bürgerliche Gesell-schaft ist nicht so sehr eine Sphä-re außerhalb der politischen Macht; sie dringt vielmehr tief in die Macht ein, fragmentiert und dezentrali-siert sie“ (Taylor 1993: 146).So betrachtet geht es im CO auch um das Verhältnis von Zivil- und Bürgergesellschaft zur politischen Macht im Staate. Jetzt lässt sich fragen, wie sich CO zum Wohl-fahrtsstaat und zur Wohlfahrts-mentalität verhält? Dazu einige skizzenhafte Ideen.

»Wellfare is hellfare« und die am-bivalente Rolle der Sozialen ArbeitVon Alinsky soll der Ausspruch „wellfare is hellfare“ – frei über-setzt: Wohlfahrt ist eine Sache des Teufels – stammen. Richtig ist, dass der progressive Begründer des CO ein strikter Kritiker des Wohl-fahrtskolonialismus war. Die Kri-tik stützt sich auf die Befürchtung, dass Wohlfahrt den Effekt haben kann, die Empfänger in Abhängig-keit von Fremdleistungen zu brin-gen. Von neoliberaler oder konser-vativer Seite wird diesbezüglich vorgebracht, dass Wohlfahrt zu Lethargie auf Seiten der Hilfsbe-dürftigen führe. Von eher „linker“ Seite wird indes eingewendet, dass der Wohlfahrtskolonialismus letzt-endlich dazu diene, die bestehen-den „falschen“ Verhältnisse zu sta-bilisieren. Wie dem auch sei, im CO geht es darum, Bürgerinnen zu er-mächtigen, ihre Angelegenheiten selbstbewusst in die eigenen Hän-de zu nehmen.Indes darf daraus nicht der Rück-schluss gezogen werden, dass der Sozialstaat durch CO aus seiner Verantwortung entlassen werden soll. Es geht nicht darum, dem Ab-bau des Sozialstaates durch die Aktivierung der Eigenverantwor-tung der Bürger Vorschub zu leis-ten. Vielmehr geht es um ein Ver-ständnis, dass gemäß der o. g. Un-terscheidung zwischen Zivil- bzw. Bürgergesellschaft und Staat – schließlich ist das Subsidiaritäts-

wie dies in wohlfahrtstaatlichen Arrangements oft der Fall ist. Mit CO stellt sich also die Frage: Wer beauftragt (und bezahlt) Soziale Arbeit eigentlich wofür?In diesem Sinne verweist CO auf demokratiestarke politische Tra-ditionen Sozialer Arbeit, wie diese etwa in der Settlement-Bewegung um die amerikanische Friedens-nobelpreisträgerin Jane Addams in Chicago bereits um 1900 zum Ausdruck kommen (vgl. Eberhardt 1995). Die Settlement-Bewegung nimmt im Vergleich zur Einzelfall-hilfe einen entschiedenen Perspek-tivenwechsel vor. Es geht darum, mit den Betroffenen solidarisch zunächst auf lokaler Ebene zu han-deln, anstatt diese fürsorglich zu versorgen und gleichzeitig zu dis-ziplinieren. Im Hintergrund hierzu steht in der Tradition des Pragma-tismus (vgl. Oehler 2007) u. a. die Idee, Demokratie mit sozialem Le-ben zu füllen.

Folglich besteht auch mit einer neuerlichen Übernahme von CO-Strategien in die Soziale Arbeit die Chance, dass Soziale Arbeit ein an Demokratie orientiertes politisches Mandat wiedergewinnt. Der Vor-teil wäre, dass Soziale Arbeit da-bei nicht auf ein ihr fremdes oder spezifisches Ethos zurückgreifen muss, sondern vielmehr eine poli-tische Maxime in Anschlag bringen kann, der sich ein großer Teil der Gesellschaft – noch?! – verpflich-tet weiß. Es mag daran gezweifelt werden – ähnlich wie bei einer Ori-entierung an den Menschenrech-ten –, ob eine derartig generalis-tische Ausrichtung zur Professio-nalisierung hinreicht. Zumindest könnte Soziale Arbeit aber beitra-gen, politische Fragen in konkreten sozialen Lebensbezügen aufzuwer-fen, etwa: Wie hängen Demokratie und Soziales zusammen?

Der aktivierende Sozi-alstaat Denn diese Frage wird aktuell wie-der brisant. Seit nahezu 30 Jahren soll sich der Wohlfahrtsstaat in der Krise befinden. Der Krisenseman-tik zufolge sei der Wohlfahrtsstaat zu teuer, zu bürokratisch, wie vor-

prinzip auch eine grundlegend frei-heitliche Maxime –, die Betroffe-nen selbst in die Lage versetzt, ihre Rechte, auch ihre sozialen Rechte, zu vertreten. Dabei wird klar unterschieden zwischen dem, was Bürgerinnen selber leisten können, und dem, was von anderen verantwortlichen Zielpersonen, et-wa aus Politik und Wirtschaft, ggf. auch mit scharfen Aktionen einzu-fordern ist.

Mit diesem Verständnis hängt auch eine kritische Betrachtung der Rol-le der Sozialen Arbeit zusammen. Solange es professionelle Soziale Arbeit gibt, wird diese von der Kri-tik begleitet, gesellschaftliche Pro-bleme und deren Ursachen in Pro-bleme einzelner Individuen umzu-deuten. Soziale Arbeit trage mit-hin dazu bei, soziale Konflikte zu entschärfen und so die Chance auf Veränderung zu verspielen. Gewis-sermaßen verhindere Soziale Ar-beit durch die fürsorgliche Be-lagerung von „Hilfsbedürftigen“, dass diese sich wirklich selber helfen. Polemisch überspitzt: So- ziale Arbeit hält – auch aus Exis-tenzgründen – ihre „Klientel“ in Abhängigkeit.Demgegenüber handelt es sich beim CO um eine konsequente Form der Selbsthilfe, die vorhan-dene Konflikte nicht beschwich-tigt, sondern katalytisch zur Ver-änderung nützt. Dies entspricht einer Haltung in der Sozialen Ar-beit, die nicht länger an den Defiziten der Betroffenen, sondern vielmehr an deren Ressourcen an-setzen will. Damit verändert sich einerseits die Rolle des als hilfs-bedürftig ausgemachten, und da-mit stigmatisierten Menschen. An-dererseits ändert sich ebenfalls die Sichtweise von Professionellen: Im CO-Prozess treten möglicherwei-se Eigenschaften von Menschen zu Tage, die im Alltag sozialer Hilfs-prozesse nicht gesehen werden. In-des kann ein solcher Perspektiven-wechsel auch zu schweren Rollen-konflikten führen: Da mittels CO gewissermaßen von unten orga-nisiert wird, kann dies mit Steue-rungsprozessen in Konflikt geraten, die eher von oben angelegt sind,

Solange es profes-

sionelle Soziale Arbeit

gibt, wird diese von

der Kritik begleitet,

gesellschaftliche Pro-

bleme und deren

Ursachen in Probleme

einzelner Individuen

umzudeuten.

Folglich besteht auch

mit einer neuer-

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die Soziale Arbeit die

Chance, dass Soziale

Arbeit ein an Demo-

kratie orientiertes poli-

tisches Mandat wieder-

gewinnt.

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geblich ineffizient (vgl. Kaufmann 2009: 347ff). In der Folge wird der Wohlfahrtsstaat etwa zum akti-vierenden Sozialstaat – Stichwort: „Hartz-Reformen“ – umgebaut, der u. a. auf die Stärkung von Eigenver-antwortung der Bürgerinnen durch deren Aktivierung setzt (vgl. Ga-luske 2004). Dabei wird das ehe-mals kooperatistische Modell des deutschen Sozialstaates – an dem auch Kritik zu üben ist – Schritt um Schritt zu einem individualis-tischen Modell verformt. Der Trend geht vom „wellfare“ zum „work- fare“ Staat, der auf die Reaktivie-rung von Arbeitskraft abstellt. Da-hinter steht eine neue Ordnungs-politik: Wurde der Wohlfahrts-staat einstmals geschaffen, um die Lohnabhängigen und ihre Familien wenigstens zum Teil vor der Unbill des Kapitalismus zu schützen, so wird heute der Einzelne vom akti- vierenden Sozialstaat gezwun-gen, sich im Kapitalismus zu jedem Preis, und sei dies der einer prekä-rer Beschäftigung, zu vermarkten.

Demgegenüber ist daran zu erin- nern, dass die Bundesrepublik nach Artikel 20 GG ein demokra- tischer und sozialer Bundesstaat ist. Den Gründungsvätern der Re- publik stand auch aus histori-scher Lehre vor Augen, dass eine Demokratie nur dann Bestand haben kann, wenn sie für sozia- len Ausgleich und für die Mindest- sicherung eines Lebens in Wür- de sorgt. So gesehen besteht die Gefahr, dass die neue Ordnungs-politik auch die Demokratie in Gefahr bringt.

Von Gewerkschaften lernen?Dem Umbau des Wohlfahrtsstaa-tes zum aktivierenden Sozialstaat hat die Soziale Arbeit anscheinend nicht viel entgegenzusetzen. Dies liegt u. a. daran, dass Soziale Arbeit im Kern einer ähnlichen Aktivie-rungsideologie folgt. Ein markan-tes Beispiel hierfür ist der zur Flos-kel abgewertete Satz: Hilfe zur Selbsthilfe. Mehr noch: „Wir be-haupten somit, dass Soziale Arbeit als Akteurin, d. h. auf der Basis ihrer eigenen Handlungslogiken,

Autor

CaRSten MÜLLeR, dr. paed., Jg. 1968, ist Professor für gesellschafts- und sozialpoli- tische aspekte der Sozialen arbeit an der Hochschule emden/Leer, Fachbereich Soziale arbeit und gesundheit. Seine arbeitsschwerpunkte sind u. a.: theorie und geschichte der Sozialen arbeit, Sozialpädagogik und demokratie, armutsbekämp-fung, gemeinwesenarbeit.

E-Mail:[email protected]

im Prozess der aktuellen Neupro-grammierungsprozesse des Sozia-len auftritt“ (Kessl/Otto 2003: 62).

Vielleicht kann Soziale Arbeit hier von Gewerkschaften lernen. In der Gewerkschaftsarbeit wird CO wie-der verstärkt wahrgenommen (vgl. Bremme 2007; Birke 2010). Die-se Wiederentdeckung setzt ein Umdenken in Gang: Während sich Gewerkschaften traditionellerweise als Interessensvertretung ihrer Mit- glieder verstehen, geht es im CO darum, Arbeitnehmer auch jenseits formaler Mitgliedschaft zu unter-stützen, besonders dort, wo diese von schlechten Arbeitsbedingun-gen betroffen und von Arbeitslosig- keit bedroht sind. Gewissermaßen geht die Gewerkschaft mit CO dorthin, wo es besonders weh tut. Diese Strategie soll auch dazu füh-ren, den Mitgliederschwund um- zukehren. Was bedeutet dies für Soziale Ar-beit? Mittels CO könnte die Soziale Arbeit nicht nur der Anschluss an demokratisches Denken und Han-deln wiedergewinnen, wie sich dies auch in anderen Partizipationsme-thoden findet. Mittels CO könnte die Soziale Arbeit auch wieder An-schluss an die schwierigen Lebens-welten von Betroffenen, z. B. in be-nachteiligten Quartieren, finden. Und schließlich könnte mittels CO der Sozialen Arbeit auch der An-schluss an die Zivil- und Bürger-gesellschaft und ihre Akteure, wie besonders Soziale Bewegungen, gelingen. Hier tut sich neben dem politischen Mandat auch Wider-standsgeist gegen den aktivieren-den Sozialstaat auf: Selbst Alin- sky steht im Verdacht, dem „un-ternehmerischen Selbst“ Vorschub zu leisten (vgl. Bröckling 2007: 186 ff.). Demgegenüber ist im CO das Empowerment von Bürgerin-nen unabdingbar an deren demo-kratische Mitbestimmung gekop-pelt. Wer Selbstverantwortung übernimmt, muss gleichzeitig eine Stimme im Gang der Welt haben! Diese einfache Weisheit könnte die Soziale Arbeit einer einseitigen Ak-tivierungspolitik entgegenhalten. Wir werden sehen, ob sie dazu den „Spirit“ findet ... n

Wer Selbstverant-

wortung übernimmt,

muss gleichzeitig eine

Stimme im Gang der

Welt haben!

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50 Solidarität in der Sozialen Arbeit

Besonders für ältere oft hoch qualifizierte Erwerbslose vereng-ten sich in den letzen Jahren die Chancen auf dem Arbeitsmarkt zunehmend auf Zeitarbeits-Angebote: Nicht selten zahlen Unternehmen an die Zeitarbeits-Firma mehr als sie an Personalkos-ten für ihr Stammpersonal ausge-ben, die Zeitarbeiter bekommen jedoch erheblich weniger. Die Dif-ferenz bleibt bei den Zeitarbeits-Unternehmen und deren Inhaber verdienen gut daran.

Guido Lorenz, der katholische Be-triebsseelsorger in Stuttgart, hat-te vor Jahren die Idee, dieser Fehl-entwicklung entgegen zu wirken: „Gründen wir doch eine Genossen-schaft, in der Arbeit suchende Ge-nossen sich selbst vermieten.“ Ziel der Genossenschaft ist es, faire Löhne zu bezahlen und einen Teil der Einnahmen z. B. in Qualifizie-rungen oder Umschulungen der Genossinnen und Genossen zu in-vestieren. Damit würden deren Chancen auf einen Dauerarbeits-platz steigen. Auch die Angebote der Agentur für Arbeit auf Einar-beitungszuschüsse sollen genutzt werden.

GrundsätzeEine solch einleuchtende Idee ha-ben und sie organisatorisch umset-zen, sind „zwei Paar Stiefel“. Guido Lorenz machte sich an die Arbeit. Er lud Menschen aus seinem beruf-lichen Umfeld in einen Genossen-schafts-Aufbaukreis ein: Hauptbe-rufliche aus der katholischen Kir-che und der Caritas, Gewerkschaf-ter und frühere Betriebsräte sowie Engagierte aus der Erwerbslosen-selbsthilfe „myself“.

Deren Ideenentwicklung fasste er mit diesen Worten zusammen: „Unsere Genossenschaft ARBEIT ZUERST antwortet auf den gesell-schaftlichen Skandal der Langzeit-

ARBEIT ZUERST eG ist

nicht nur ein Unterneh-

men, sondern auch ein

ständiger Bildungspro-

zess aller Beteiligten.

arbeitslosigkeit durch den Verbund der Genossen. ARBEIT ZUERST eG ist nicht nur ein Unternehmen, son-dern auch ein ständiger Bildungs-prozess aller Beteiligten.Genosse zu sein bedeutet, dass wir an unserem Eigentum arbeiten. Und um erfolgreich zu sein, ist es nö-tig, gemeinsam zu handeln. Ein an-gemessenes Betriebsklima, Team-arbeit und unsere breite Weiter-bildung zum Wohle der Genossen-schaft sind dauerhafte Aufgaben.“Die Gründungsgenossen kamen überein, sich an den sozialethi-schen Werten, konkret formuliert in der Christlichen Soziallehre, zu orientieren. Sie betonen deshalb

nden sittlichen Vorrang des Fak-tors Arbeit, also der Interessen der arbeitenden Menschen vor den Kapitalinteressen;

nden Subjektcharakter des Men-schen in der Arbeit, sich als Mit-eigentümer zu verstehen;

nden instrumentellen Charakter des Kapitals zum Vollzug des Unternehmens;

ndas Streben nach fairer Entloh-nung.

Die daraufhin gegründete Genos-senschaft dient dem Grundsatz

„Vorrang der Vergütung der Ar-beit, Nachrang der Verzinsung des Eigenkapitals“ - nicht der Maxi-mierung der eigenen Gewinne. In ihr sollen sich die Wesensprinzi-pien einer Genossenschaft in be-sonderer Weise zeigen: Selbsthil-fe, Selbstbestimmung und Selbst-verantwortung. Im internen Be-reich der Genossenschaft sollte die Differenz der Vergütung zwischen arbeitenden Genossinnen und Ge-nossen mit geringer Qualifikation und einer Führungskraft das Ver-hältnis von 1 zu 4 nicht übersteigen.

Name der Genossen- schaft bezieht sich auf das unternehmeri-sche Ziel, ARBEIT ZUERST zu schaf-fen, indem ARBEIT für die berufliche und persönliche ZUkunft der Mit-glieder, insbesondere mit ihrem be-ruflichen ERfahrungsschatz in der Region STuttgart angeworben wird.

Community Organizing als Werkzeug – der myself e. V.Viele Engagierte der ersten Stun-de sind „myself“-Mitglieder. Vor sechs Jahren war der Verein „my–self e. V. zur gegenseitigen Förde-rung am Arbeitsmarkt“ <www.myself-ev.de> gegründet wor-den. Er ist in Stuttgart eine wohl in ganz Deutschland einzigartige, mitgliederstarke und finanziell auf eigenen Füßen stehende Selbsthil-fe-Organisation entstanden, in der gezielt von Anfang an mit „Com-munity-Organizing“-Wissen gear-beitet wurde. Mit Leo Penta und Paul Cromwell stehen erfahrene, in Deutschland arbeitende US-Orga-nizer als Mentoren zur Verfügung.

Der Verein „myself e. V. zur gegen-seitigen Förderung am Arbeits-markt“ ist ausführlich an anderer Stelle beschrieben. 1 Community Organizing bezieht sich in der Regel

Die eingetragene Genossenschaft ARBEIT ZUERST, das solidarische Unternehmen für Zeitarbeit undKooperation WaLteR HäCKeR

Mitglieder des Vereins „my–self e. V. zur gegenseitigen Förderung am Arbeitsmarkt“.

FUSSNOTE1 Häcker, Walter: myself e. V. in Stuttgart. In: Leo Pen-ta [Hrsg.]: Community Orga-nizing – Menschen verän-dern ihre Stadt“. edition Kör-ber-STIFTUNG Amerikanische Ideen in Deutschland VIII. Hamburg 2007. Seite 155 ff.

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FORUM sozial 4/2010

Praxis 51

auf die Bewohner eines Stadtteils, die lernen im Selbstinteresse zu lokalen Problemlösungen beizu-tragen: lokales Community Orga-nizing. In myself e. V. haben sich jedoch Menschen aus der Region Stuttgart zusammen geschlossen, die in einer besonderen Lebens- situation stehen: Entlassung und Erwerbslosigkeit. Es ist das ein Bei-spiel für kategoriales Community Organizing.Insbesondere myself-Mitglieder im Alter 50 + gehören zu den wichti-gen Akteuren beim Aufbau der Ge-nossenschaft ARBEIT ZUERST. Das kraftvolle Vorbild der myself-Orga-nisation mit inzwischen 420 Mit-gliedern hat in Stuttgart andere Gruppen dazu ermutigt, sich ihres Potenzials (ihrer „power“) bewusst zu werden und wichtige Erfahrun-gen auch in andere Organisationen einzubringen, so bei der Gründung von ARBEIT ZUERST.Mitglieder von myself haben im Sinne des von Saul Alinsky und Ed Chambers (IAF, Chicago) vertrete-nen Ansatzes „broad based orga-nizing“ (Organisieren von Organi-sationen) die Kooperation mit al-len einschlägigen Organisationen und Akteuren am Arbeitsmarkt ge-sucht, woraus sich von Fall zu Fall Aktionsbündnisse schmieden lie-ßen. So wurde eine Reihe von öf-fentlich wirksamen Auftritten ge-staltet, um „Erwerbslosen in der Region Stuttgart eine Stimme“ zu geben. Dieses Netzwerk konnte auch die protestantischen Akteure Diakonie und „Kirchlicher Dienst für die Arbeitswelt“ überzeugen, der Genossenschaft beizutreten. „Myselfer“ haben auch beim Auf-bau der gemeinnützigen „Stiftung + Arbeit“ (www.stiftung-und-arbeit. de) geholfen. Diese Stiftung hat bereits die Lizenz zur Arbeitneh- merüberlassung. Damit konnten in Zusammenarbeit mit dem Vorstand der Genossenschaft ARBEIT ZUERST schon vor deren Eintragung Men-schen in Leiharbeit und Qualifizie-rung gebracht werden.

Dieses Netzwerk konnte

auch die protestan-

tischen Akteure Dia-

konie und „Kirchlicher

Dienst für die Arbeits-

welt“ überzeugen,

der Genossenschaft

beizutreten.

Frithjof Bergmann ermutigtProf. Frithjof Bergmann von der University of Michigan in Ann Arbor ist ein weiterer prominenter Un-terstützer und Gründungsgenosse. Er kommt immer wieder zu öffent- lichen Veranstaltungen und zur Beratung der Selbstorganisations-Gruppen nach Stuttgart. Schon 1984 hatte er das erste Zentrum für „Neue Arbeit“ in der Automo-bilstadt Flint zusammen mit Gene-ral Motors gegründet, das weltweit Beachtung fand. 2 Seine Botschaft „Arbeite, was Du wirklich, wirklich willst“ hilft Erwerbslosen aus der entmutigenden Fixierung auf: „mir bleibt nur der Niedrig-Lohn-Sek-tor, in dem ich jeden Job mit immer schlechterer sozialer Absicherung annehmen muss!“ heraus. Sich er-folgreich bewerben kann nur, wer weiß, was er will und was er kann – und das auch sagt.

Herausforderungen beim Aufbau der Ge-nossenschaftAuf dem Weg zur arbeitsfähigen Genossenschaft müssen die Kul-turen von einerseits „Wirtschaft“ und „Business durch erfolgreiche Geschäftsabwicklung“ und an-dererseits „Freiwilligkeit“ im Sin-ne des Bürgerschaftlichen Enga-gements verschmelzen. Dabei sind menschliche und gruppendynami-sche Hürden zu bewältigen.Geschäftserfolg wird in traditio-nellen Betrieben erreicht durch viel Startkapital, schlichtes Anweisen, Sanktionieren oder mit Geld „be-lohnen“. Dieses Vorgehen gilt in der modernen Organisationsentwick- lung eher als „Unkultur“. Nicht nur in der Aufbauphase einer solidari-schen Genossenschaft sind solche Methoden unpassend, ja kontra-produktiv. Dennoch muss auf dem Weg vom Non-profit- zum Sozial- profit-Unternehmen so bald als möglich Geld verdient werden. Menschen, die das tägliche Ge-schäft der Genossenschaft führen, müssen davon ihren Lebensunter- halt bestreiten können. Fähige und freiwillig-unvergütet arbeitende

Erwerbslose, die sich für Aufbau der Genossenschaft engagierten, konnten und wollten verlockende Angebote aus dem ersten Arbeits-markt nicht ablehnen. Mehrfach hat die Genossenschaft „in Grün-dung“ so Führungspersönlichkeiten verloren.

Von Anfang an hatten sich die Gründer auf das Geschäftsmo-dell Genossenschaft festgelegt mit dem Ziel, ein nachahmenswertes Beispiel für Demokratie in der Ar-beitswelt zu schaffen und es in der öffentlichen Diskussion als Modell einzuführen. Als ermutigendes Bei-spiel dienten die Mondragon-Ge-nossenschaftsverbünde im Basken- land.

Aus Sicht des Organisationsent-wicklers war es problematisch, die Form vor dem Inhalt festzulegen. Der Nachteil ist, dass alle denk-baren Wechselfälle des Genossen- schaftslebens in endlosen Sat-zungs-, Geschäftsordnungs- und Vergütungsordnungs-Diskussio- nen geregelt werden sollten, ehe noch ein einziges Geschäft getä- tigt werden konnte. Umgekehrt wäre wahrscheinlich der Schuh schneller fertig geworden: Man einigt sich über die Inhalte, so konkret wie möglich, und kann sich dann darauf verlassen, dass eine geeignete Form gefunden wird.

FUSSNOTE2 mehr dazu bei http://www.new-work-newculture.net

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52 Solidarität in der Sozialen Arbeit

Die Gründung einer Genossen-schaft ist immer noch ein zeit-aufwendiges Verfahren, das leicht ein Jahr oder mehr dauert. Das Dreieck: Gründung samt Satzung, Gründungsgutachten (samt wirt-schaftlicher Prognose) durch einen Prüfungsverband, Eintragung beim Registergericht über einen Notar enthält viele Fehlermöglichkeiten.Eine weitere Herausforderung ist das Finden eines geeigneten Ge-nossenschaftsverbandes, den wir mit einem Prüfungsverband (www.menschen-machen-wirtschaft.de) in Dessau gefunden haben.

Inzwischen ist die Genossenschaft eingetragen, seit Juni 2010 gibt es die ARBEIT ZUERST eG ohne das Kürzel i. G., das wir zwei Jah-re lang vor uns hertragen muss-ten. Geschäftspartner erkennen an dem „in Gründung“, dass der-zeit noch nicht die Genossenschaft für Verbindlichkeiten einsteht, son-dern ausschließlich die Vorstän-de mit ihrem Privatvermögen, was es natürlich unmöglich macht, Ge-schäfte zu tätigen. Auf Rechnung der nun vorhandenen eG als Zeit-arbeitsfirma los legen können wir immer noch nicht. Zunächst muss noch die Lizenz zur Arbeitnehme-rüberlassung beantragt werden. Das könne, sagen Fachleute, drei bis fünf Monate beanspruchen.

ErmutigungenUnsere Initiative wurde von der Körber-Stiftung aus 238 Bewer-bern zu einem der 20 Preisträger des USable-Qualifizierungsnetz-werks 2010/2011 ausgewählt. 3Kontakte unseres Gründungsmit-gliedes Detlef Schwoon, der als Hauptamtlicher in der IGM-Stutt-gart für Erwerbslose und Leiharbeit zuständig ist, führten inzwischen zur Zusammenarbeit mit mehreren Niederlassungen eines produzie-renden Industrie- und Forschungs-Konzerns. Wir sind mit dem Vorsit-zenden des Gesamtbetriebsrates und stv. Aufsichtsratsvorsitzenden sowie, nach Vermittlung mit dem Arbeitsdirektor, mit verschiedenen Personalleitern im Gespräch. Im Unternehmen werden Leasing oder Werkverträge für Ingenieure eher

abgelehnt. Diese Bedenken werden jedoch ARBEIT ZUERST gegenüber fallen gelassen. Ein Zitat aus dem Anschreiben an die Betriebsräte der Niederlassungen: „Schließlich geht es dabei nicht darum, aus dem Verleihgeschäft Profit zu schlagen, sondern darum, diesen Kolleginnen und Kollegen über 50 wieder an der Arbeitswelt Teilhabe zu verschaf-fen. Perspektivisch wird natürlich eine Festanstellung angestrebt.“

Neue Ideen für Geschäftsfelder entstehen: Ein Modell namens GApS steht für Genossenschaft-liche Absicherung prekärer Selb-ständigkeit. Andere Genossinnen prüfen den Ansatz, Alltagshilfe vor allem für alte Menschen zum Ge-schäftsfeld zu entwickeln. Der Be-darf an alltäglichen Hilfen wird be-sonders auf kommunaler Ebene of-fenbar. Ziel ist, dass alte Menschen so lange als möglich dort wohnen können „wo sie hingehören“. Vor-bild könnte die Seniorengenos-senschaft Riedlingen sein, die uns beim Planen dieses Geschäftsfel-des berät. 4

Jeder Genossen wird zum EntrepreneurDas ist der gegenwärtige Stand (Juli 2010): Wir haben ein regen-dichtes, juristisches Dach errichtet, unter dem es nun möglich ist, je-de Art von solidarischem, gemein-samem, wirtschaftlichen Handeln einzurichten. Voraussetzung für den Erfolg ist die Orientierung am Selbstinteresse und den Werten der Beteiligten bei Beachtung der eisernen Regel des Community Or-ganizing: „Tue nie etwas für Men-schen, was diese für sich selbst tun können.“ Dazu wird eine professio-nelle Führung der Genossenschaft durch Vorstände oder Geschäfts-führer und Aufsichtsräte benötigt.

Weitere Menschen mit Erfahrung im Aufbau solch innovativer „Neu-en Arbeit“ werden gesucht, welche den Sinn der „eisernen Regel“ ver-stehen und die Freude daran haben, dieses genossenschaftliche Modell so auszubauen, dass es als bun- desweites Beispiel wirken kann. Die GenossInnen mit Arbeitsver-

trägen in Arbeitnehmerüberlas-sung oder in Projekten werden er-fahren und lernen, dass sie nicht einfach bei einer fremdbestimmten Zeitarbeitsfirma angestellt sind, die etwas besser bezahlt. Sie wer-den erkennen, dass sie sich im so-lidarischen Kollektiv in die Situati-on eines Existenzgründers (im Sin-ne eines Entrepreneurs, von dem Günter Faltin in seinem Buch „Kopf schlägt Kapital“ so farbig spricht) begeben. Sie werden sich in der Zeit, in der bezahlte Aufträge feh-len, intensiv selbst um neue Auf-träge, um Betriebsaufbau und Ak-quise kümmern. Dieser persönliche Paradigmenwechsel kostet viel Ge-sprächszeit innerhalb der Genos-senschaft, aber auch Mittel z. B. für Mentoring von Schlüsselperso-nen, Trainings, Entwicklungssemi-naren. Geld dafür kann gerade am Anfang kaum im Alltagsgeschäft verdient werden, weshalb wir uns intensiv um finanzielle Unterstüt-zung durch einschlägige Stiftun-gen bemühen.

In der Ferne wird die Vision eines „Zentrums für Neue Arbeit“, wie Frithjof Bergmann es beschreibt, sichtbar, in dem produziert wird, Dienste ausgetauscht werden und weitere Ressourcen zur Lebensge-staltung bereitstehen. Hier sollen Menschen entdecken können, was sie wirklich, wirklich wollen.

Mit den Worten von Larry McNeil, einem erfahrener amerikanischen Lehrer des Community Organizing, kann die selbstgestellte Aufgabe der Genossenschaft den einzelnen Genossen gegenüber so zusammen gefasst werden: „Es geht darum, die Geschichte eines Menschen aktiv auszugraben, gemeinsam die Bedeutung seiner Geschichte zu untersuchen und die Gelegen-heit zu nutzen, für die persönliche und gemeinsame Geschichte einen neuen Schluss zu schreiben.“ n

Autor

dr. WaLteR HäCKeR,diplomphysiker, erwachse-nenbildner und langjähriger Leiter der Volkshochschule Schorndorf, selbständiger Organisationsentwickler (community organizer) und Moderator, Vorsitzender des aufsichtsratsder aRbeIt ZUeRSt eg (http://www. arbeitzuerst.de), beirat in myself e. V. (http: //myself ev. de), Mitglied im Kuratorium der „Stiftung und arbeit“ (http://stiftung-und-arbeit. de), 2. Vorstand im „Forum Community Organizing e. V.“ (http://www.community- organizing.eu), Wissen-schaftlicher Mitarbeiter an der kath. Stiftungsfach-hochschule München (http://www.ksfh.de/forschung).

Kontakt:e-Mail: dr_walter_haecker@ mac.com

FUSSNOTEN3 www.koerber-stiftung.de/ gesellschaf t /transatlanti-scher-ideenwettbewerb-usable

4 www.martin-riedlingen.de/senioren/seniorenhome-page.htm

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FORUM sozial 4/2010

Theorie 53

tionsbereichen wie Bildung, Wirtschaft, Politik, Recht usw. und ihren Organisationen. Inklusion bezeichnet die Bedeutung von Menschen aus der Perspektive von sozialen Systemen. „Das Prinzip der Inklusion ersetzt jene Solidarität, die darauf beruht, dass man einer und nur einer Gruppe angehörte.“ (Luhmann 1980, 31). Es gibt keine einheitliche Regelung von Inklusion – Orga-nisationen regeln aus ihrer Eigenperspektive, wer Mit-glied wird und wer für sie relevant ist. Diese zeitliche, sachliche und soziale Begrenzung von Zugehörigkeiten hat eine enorme Steigerung von Freiheiten, Möglich-keiten, Leistungen sowie Risiken und Verunsicherungen zur Folge. Über Zugehörigkeiten werden Möglichkeiten und Leistungen einseitig verteilt.

Die Zugangsregeln gewinnen an Bedeutung gegenüber den Solidaritätsregeln. Von allen wird unmittelbar er-lebt: Über ihre Organisationen können Funktionssys-teme ihre Offenheit für alle regulieren und durch Teil-haberegeln und Rollenfilter Zugangshürden aufbauen. Die wirtschaftlichen Umstellungen und Krisen bringen Ängste vor Nicht-Teilhabe und Bedeutungslosigkeit und Wünsche nach Inklusion mit sich. Die Verantwor-tung für die Zugehörigkeit – auch das Bemühen da-rum – wird steuerbar und auf den einzelnen Menschen zurechenbar. Das Problem des gesellschaftlichen Zu-sammenhalts wird neu ausgerichtet auf die Frage, wie Menschen zeitlich begrenzt an die Kommunikations-zusammenhänge gesellschaftlicher Teilsysteme gekop-pelt werden oder – im Falle von Exklusion – was pas-siert, wenn eine solche Kopplung ausbleibt. 1

Inklusion oder Solidarität? WILFRIed HOSeMann

Die Erwartungen in der Sozialen Arbeit an Solidarität sind groß, aber ebenso die Bedenken, mit dem Inklu-sionskonzept auf die gesellschaftlichen Verhältnisse von Ungleichheit und Ungerechtigkeit die passenden Antworten finden zu können. Hier soll ein Beitrag dazu geleistet werden, die systemtheoretische Per-spektive zu nutzen, um Gegensätze von normativen Diskursen und praktischen Perspektiven zu reduzie-ren und den Blick für professionelle Unterstützungs-strategien zu stärken.

1. Die gesellschaftliche Entwicklung gibt Inklusion als Leitmodell von Zugehörigkeit vor Die vormoderne Gesellschaft, die ihre Ordnung über Stände fand, hat sich über die eigenständige Entwick-lung ihrer Funktionssysteme wie Wirtschaft, Wissen-schaft, Bildung, Politik ausdifferenziert. Diese und an-dere gesellschaftliche Bereiche wie das Gesundheits-wesen, die Religion, das familiäre Zusammenleben oder der Sport folgen ihren eigenen Regeln. Entspre-chend sind die Lebensbereiche unterschiedlich gewor-den. Zugänge müssen begründet sein und können nicht aus übergreifend gültigen Normen abgeleitet werden. Mit dem Inklusionsbegriff wird die gesellschaftliche Integration nicht mehr über die Gesamtpersönlichkeit des Menschen, vorgängige Zugehörigkeiten oder seine Zustimmung zu sozialen Verhaltensmustern bestimmt, sondern über zeitlich begrenzte und wechselnde Teil-habemöglichkeiten an den gesellschaftlichen Funk-

Es gibt keine einheit-

liche Regelung von

Inklusion – Organisa-

tionen regeln aus ihrer

Eigenperspektive, wer

Mitglied wird und

wer für sie relevant ist.

FUSSNOTE1 Mit der Entscheidung für diese Beschreibung wird nicht bestritten, dass es auch ertragreiche Analysen über Klassenstrukturen, soziale La-gen und Milieus gibt.

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54 Solidarität in der Sozialen Arbeit

Die Organisationen verlagern die Anpassung an die In-klusionsregeln auf die Individuen und erhöhen indirekt die Bedeutung der sozialen Kompetenzen und Hand-lungsmuster. Die gesellschaftliche Dynamik hat zur Folge, dass Inklusionen in formale Strukturen als un- sicher erlebt werden – denn unabhängig vom gene-rellen Teilhabeversprechen hängen die konkreten Zugänge in gesteigertem Maße von den individuellen Leistungen der Personen ab. Das Angewiesensein auf Inklusionen in soziale Nahräume, Netze und Milieus enthält einen stummen Zwang zur sozialen Dis- ziplinierung sowie das permanente Risiko sozial aus- geschlossen zu werden. Das Prinzip, dass soziale Systeme und Organisationen das Recht haben, eigen-ständig über Zugehörigkeiten zu entscheiden, stellt eine allgemein akzeptierte Grundvorstellung dar.

So bestimmt das Thema Zugehörigkeit wesentliche öf-fentliche Diskurse, beispielsweise wird ständig über Zugänge zu Bildung, Rohstoffen, Krediten und Märk-ten gesprochen. Selbst soziale Gerechtigkeit wird teilweise auf die Möglichkeit von Zugängen reduziert. Auf der individuellen Ebene wiederholt sich die Er- fahrung: Dazugehören muss man („Vitamin B haben“), die richtige Schulbildung und das richtige Geschlecht haben, damit man reinkommt, die richtigen Umgangs-formen präsentieren, damit man wahrgenommen wird, usw. Wer von dem Gefühl ausgeht nicht dazu zu ge-hören und auch keine faire Chance zu haben „rein- zukommen“, entwickelt eigene Wege und sucht ande-re Möglichkeiten dazu zu gehören (manche davon sind kriminell). Gerade wegen der veränderten gesellschaft- lichen Integrationsform gehört Solidarität zu den sensiblen Punkten bei der Beurteilung der Verhältnisse als gerecht und bei der Bewertung gesellschaftlicher Konflikte, wenn es darum geht, wie sich gesellschaft-liche Gruppen zueinander verhalten.

2. Die Soziale Arbeit ist Teil der Auseinandersetzungen um Inklusion und SolidaritätDie durch Nichtzugehörigkeit (Exklusion) entstehen-de Ungleichheit von Personen, Gruppen oder Regio-nen wird von den einzelnen gesellschaftlichen Funk-tionssystemen nicht wahrgenommen, z. B. beschwe-ren die Folgen eines Schulausschlusses das Schul-system nicht ernsthaft, die vorenthaltenen Chancen für Frauen oder Kindern aus Migrantenfamilien be-lasten den einzelnen Wirtschaftsbetrieb nicht. Er-hebliche Ungleichslagen, Armut, Exklusionsdrifte sind die Konsequenzen bei den Menschen – aber für die Organisationen zunächst unsichtbar und ohne direkten Zwang zu verantwortlichem Handeln. Das Funktionssystem Soziale Arbeit ergibt sich aus der Notwendigkeit der Beobachtung, Beschreibung und Zurechnung dieser Prozesse – man kann sagen, als staatlicher Ausfallbürge für eine logisch und prak-tisch ausgegrenzte Solidarität (verstanden als die Berücksichtigung wechselseitiger Anerkennung der

Bedürfnisse und Wertschätzung). Im politischen Sys-tem wird an den aktuellen Auseinandersetzungen über die Aufgaben und den Umfang der Sozialen Arbeit öffentlich, wie sie einseitig zum Transporteur so-zialer Forderungen instrumentalisiert und verkürzt werden soll.

In die Soziale Arbeit sind die gesellschaftlichen Konflik-te eingelassen. Ihre Schwierigkeiten stehen in engem Zusammenhang mit ihrer Position. Zum einen (a) kann sie die notwendigen Zugänge der Menschen zu anderen Systemen wie Wirtschaft, Medizin, Bildung usw. nicht erzwingen und die Klienten erleben sich häufig weiterhin hilflos und auf sich allein gestellt.

Zum anderen (b) sind die sozialpolitischen Maßnah-men zum Ausgleich von Marktgeschehen und den Nebenfolgen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung in verrechtliche Ansprüche umformuliert worden. So- ziale Arbeit kommt in die widersprüchliche Situa- tion zugleich für die Vermittlung sowie Gestaltung von sozialen Leistungen verantwortlich zu sein und da-mit aber auch von den Adressaten für die Unzuläng- lichkeiten, Zumutungen, Demütigungen und negativen Effekte der Sozialleistungen verantwortlich gemacht zu werden. Darüber hinaus (c) entwickelt die Soziale Arbeit als gesellschaftliches Teilsystem mit ihren Orga-nisationen eigene Zugangsregeln und entsprechende Inklusions-Exklusionsprobleme (z. B. Spezialisierung).

Im Rahmen ihrer Anschlüsse an sozialstaatliche Leis-tungen sowie gegenüber Adressaten und deren Verhaltensweisen bezieht sich Soziale Arbeit auf Solidarität. Mit Solidarität sollen hier bestimmte Interaktionsformen bezeichnet werden, die sich an Prinzipien wie „Gewähren nach Bedarf“, „brüder- lichem Teilen“ und „wechselseitiger Anteilnahme“ ausrichten. In diesem Sinne gehört Solidarität zum Kernbereich sozialer Gerechtigkeit, auf die sich Sozi-ale Arbeit grundsätzlich bezieht. Ein genauerer Blick darauf lohnt sich.Die Theorie der sozialen Gerechtigkeit von David Mil-ler (2008) unterscheidet mehrere Verteilungsprinzipi-en. Sie geht von den drei sozialen Beziehungsformen „solidarische Gemeinschaft“, „Zweckgemeinschaften“ (wie Firmen) und „Staatsbürgerschaft“ aus, denen sich sowohl im Gerechtigkeitsempfinden der Bürger wie in der philosophischen Reflexion drei verschiedene Ge-rechtigkeitsgrundsätze zuordnen: Bedarf, Leistung, Gleichheit. Solidarität kommt im Rahmen von Be-darf zweimal vor: erstens als unmittelbare Grundlage für wertbezogene Gemeinschaften wie Familien, Ver- eine, Teams oder religiöse Gruppen und als eines der allgemeinen Prinzipien des Staates (vgl. gesetzliche Sozialversicherungen, Krankenversicherungen usw.). Solidarität ist demnach keine Vorstellung oder Verhal-tensweise die generell in Anspruch genommen werden oder einfach mit sozialer Gerechtigkeit gleichgesetzt werden kann. Miller kann zeigen, dass wir begründet auch auf die Gerechtigkeitsgrundsätze Leistung und Gleichheit vertrauen.

Wer von dem Gefühl

ausgeht nicht dazu zu

gehören und auch keine

faire Chance zu haben

„reinzukommen“, ent-

wickelt eigene Wege

und sucht andere Mög-

lichkeiten dazu zu

gehören.

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FORUM sozial 4/2010

Theorie 55

3. Das Inklusionskonzept erweitert die Perspektiven professioneller SolidaritätDer systemische Ansatz von Inklusion und Exklusion hilft, mögliche Tendenzen einer Spaltung der Sozia- len Arbeit in einen moralischen Diskurs und eine Methodenlehre des Helfens zu vermeiden. Das Gegen-teil ist notwendig. Die Schwierigkeiten des politischen Systems soziale Integration zu gewährleisten und soziale Differenzen und Konflikte in politisches Han-deln umzuformulieren sind offensichtlich und wirken sich auf das Verhältnis zur Sozialen Arbeit aus. Ein er- höhter Bedarf an sozialer Integration und politisch re-levanter Kommunikation ist wahrscheinlich. Die gesell-schaftlichen Milieus unterscheiden sich an materiellem Wohlstand, Wertvorstellungen und Erfahrungen ganz erheblich. Die Hoffnungen auf sozialen Aufstieg, höhere Konsummöglichkeiten oder politischen Einfluss verlie-ren an sozialer Kraft. Wo die Erwartungen an die Zukunft nicht mehr integrieren (dazu beitragen Perspektiven- einschränkungen in Kauf zu nehmen), treten die Gegen- sätze der Gegenwart schärfer hervor. In dieser gesell-schaftlichen Konstellation entstehen für die Soziale Arbeit Aufgaben, Begründungszwänge und Gestal-tungsmöglichkeiten, -zwänge und -notwendigkeiten.Die gesellschaftlichen Zugänge – auch für die Soziale Arbeit – sind strittig. Bisherige Kopplungen an kirch-liche, gewerkschaftliche und politische Milieus verlie-ren an Selbstverständlichkeit und müssen ‚hergestellt’ werden. Die politisch wirksame Darstellung sozialer Spaltung und Verschärfung sozialer Probleme ist an-spruchsvoller geworden. Zum Beispiel ist die Ausdif-ferenzierung des Finanzsektors aus dem Wirtschafts-system in seinen politischen und sozialen Folgen noch unbewältigt. Sie hat eine verstärkte Auflösung wech-

selseitiger sozialer Angewiesenheit, Erfahrungen, Verantwortlichkeiten, gemeinsam geteilter Vorstel-lungen zur Folge. Man kann im Finanzbereich inter- national und ohne Sozialkontakte prächtig verdienen. Der Effekt besteht in einer noch geringer werdenden Kopplung von Macht- und Entscheidungsträgern an die soziale Wirklichkeit. Die Strukturen um gesell-schaftliche Balancen auszuhandeln, gestalten sich zu-nehmend unübersichtlich. Die Auseinandersetzungen über Hilfeempfänger, Migranten, Kinderarmut zeigen unterschiedliche Positionen in den Parteien, Medien und bei bedeutenden Akteuren wie Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, aber auch innerhalb der Sozialen Arbeit und bei den Betroffenen. Um auf die-se komplexen Herausforderungen zu reagieren, ver-fügt die Soziale Arbeit über Strukturen in Praxis, Aus- bildung und Wissenschaft, die sonst keinem anderen gesellschaftlichen Bereich zur Verfügung stehen.

4. Welche Perspektiven lassen sich aus systemischer Perspektive in die-sem komplexen Geflecht benennen?1. INKLUSION DER SOZIALEN ARBEIT FÖRDERNUm wirksames Handeln organisieren zu können, ist die Soziale Arbeit selber auf Inklusion angewiesen. Ihr soziales, politisches Gewicht wird dabei von ihrer Kompetenz zur Kopplung mit ihren Adressaten we-sentlich beeinflusst. Die aktuellen Diskussionen in der Sozialen Arbeit korrespondieren zu diesen Heraus-forderungen, insbesondere Sozialraumorientierung, Netzwerkansatz, im Fallbezug den Sozialbezug erken-nen, mit Hilfe systemischer Sozialer Arbeit die Zusam-menhänge von Fall, Fallumgebung und Sozialstruk-tur erfassen, die öffentliche Kommunikation erwei-tern. Der Umgang mit der demokratischen und diffe-

Wo die Erwartungen an

die Zukunft nicht mehr

integrieren (dazu bei-

tragen Perspektivenein-

schränkungen in Kauf

zu nehmen), treten die

Gegensätze der Gegen-

wart schärfer hervor.

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56 Solidarität in der Sozialen Arbeit

renzierten Gesellschaft erfordert, die Adressaten und die eigenen Organisationen mit anderen gesellschaftli-chen Gruppen und Organisationen in Bezug zu setzen. Den Organisationen – und den Hochschulen – der So-zialen Arbeit kommen daher besondere Aufgaben zu, die sich vom Erhalt wirtschaftlicher Unabhängigkeit unterscheiden. Um für Organisationen anderer Funk- tionssysteme relevant zu sein, ist ein klares und kom-muniziertes Leistungsprofil erforderlich. Dazu gehört auch Konfliktbereitschaft und nicht nur die Fähigkeit zur Mobilisierung von Hilfebereitschaft. Die Grund- lage ist in der eigenständigen fachlich-wissenschaftli-chen Expertise zu sehen. Sozialarbeitswissenschaft ist nicht nur Selbstzweck, sondern auch Voraussetzung der praktischen Autonomie. Die systemische Perspek-tive steigert die interne Reflexionskompetenz und hilft die externen Beziehungen zu klären. Sie kann die kom-munikativen Aufgaben von Trägern und PraktikerInnen in ihrer Unterschiedlichkeit und im Zusammenspiel erfassen und verfügt über Erklärungsmodelle, wie Helfer- und Klientensysteme zusammenwirken.

Wer die Inklusionsbedingungen für seine Klienten und für die eigene Organisation erweitern will, wird mehr Möglichkeiten schaffen, wenn er sich auf die Inklusionsvoraussetzungen anderer Organisationen einlassen und einstellen kann. Dies gilt nicht nur in eine Richtung, sondern zielt auf wechselseitige An- erkennung. Als beispielhafte Ziele und Strategien da- für lassen sich nennen: Informationsbrücken bauen, Gruppen oder Einzelne vernetzen, strukturelle Kopp-lungen längerfristig aufbauen, z. B. indem man Nach-wuchspolitiker und -journalisten einlädt, für Studie- rende anderer Fachrichtungen Schnupperkurse und kurze Sozialpraktika anbietet, sich als Ansprechpart-ner für sozialraumbezogene Projekte von Unternehmen anbietet anbietet oder regionale Sozialforen organi-siert. Gerade weil eine staatlich verfasste oder abhän-

Autor

WILFRIed HOSeManndr., dipl.-Päd., Sozialarbei-ter (FH), Professor für theori-en und Methoden der Sozia-len arbeit an der Universität bamberg und der Hochschu-le Coburg. Vorsitzender der deutschen gesellschaft für Systemische Soziale arbeit.

LITERATURLuhmann, N. (1980): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 1, Frankfurt a. M.

Miller, D. (2008): Grundsätze sozialer Gerechtigkeit; Frank-furt/New York

gige Soziale Arbeit die unabhängige und kritische Kom-munikation begrenzt, sind wissenschaftliche Koopera- tionen und Autonomie von herausragender Bedeutung – für die der systemische Ansatz eine verbindende Fachsprache und analytische Kategorien bereit hält.

2. DIE INKLUSION DER KLIENTEN FÖRDERN die systemische Perspektive hilft sich auf die Herstel-lung gerechterer Zustände vor Ort einzustellen. auf der praktischen ebene lässt sich das z. b. folgendermaßen umsetzen:

nRechtliche Rahmungen ausschöpfen und erweitern. Durch die offensive Gestaltung, Beeinflussung und Umsetzung rechtlicher Konzepte können Inklu- sionsbedingungen positiv beeinflusst werden.

nKommunikationsprozesse gestalten. Inklusion ist an Kommunikation gebunden. Vorenthaltene Anerken-nung, Benachteiligungen und Ausgrenzungen müs-sen öffentlich dargestellt und sozialpolitisch einge-bracht werden.

nVerständnis für die Klienten und ihre Lebensumstän-de erweitern und dadurch die Voraussetzungen für praktische Teilhabe ermöglichen. Im Berufsvollzug auf die Seite der Adressaten zu gehen und aus ih-rer Sicht – ihrer eigenen Form der Wahrnehmung – die soziale Situation zu interpretieren, schafft In- klusionsvoraussetzungen in die Soziale Arbeit und in die Lebenswelt. Aus der Perspektive der Klien-ten ist es möglich, ihren sozialen Raum zu beein-flussen. Der systemische Ansatz ist, wie die Erfol-ge der systemischen Therapie und Beratung zeigen, besonders dazu geeignet, die individuelle Seite der Erfahrungen und Gefühle aufzunehmen und neues soziales Handeln zu ermöglichen.

Zahlreiche aktuelle Konzepte, wie das „Paten-Kon-zept“, sind so aufgebaut, dass Solidarleistungen ihre Wirksamkeit durch gelingende Inklusion in das System Schule, berufliche Bildung, Arbeit, familiäre Unterstützungsformen oder regionale Netze und so-ziale Dienstleistungsorganisationen finden. Realisierte Solidarität verändert ihre Form gegenüber einer nor-mativen Wertvorstellung und landet in unserer Ge-sellschaft an den Toren der Organisationen und den Umgangsformen sozialer Gemeinschaften. Nicht die Kopie paternalistischer Solidarität ist für die Profes- sion Soziale Arbeit Vorbild, sondern die Ermöglichung der notwendigen Voraussetzungen demokratischer Teilhabe. Die systemische Sicht auf die konkreten Inklusionsbedingen belässt den Adressaten ihre Auto- nomie, Mitwirkungsrechte und ihre Ansprüche auf Gleichheit und Verdienst. n


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