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Fokus staDtentwicklung Faszination und Furcht · Faszination und Furcht Wer an künftige...

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DRäGERHEFT 406 | 2 / 2019 6 FOKUS STADTENTWICKLUNG FASZINATION UND FURCHT Wer an künftige Großstädte denkt, stellt sich vielleicht schmutzige, lärmende Moloche, umringt von mächtigen Wolkenkratzern vor. Er könnte überrascht werden. TEXT TOBIAS HüRTER UNFASSBARE WEITEN Die Metropolregion Tokios ist die größte der Welt. Mehr als 37,4 Millionen Menschen leben hier, Tendenz steigend. Doch wie hält man eine solche Megacity am Laufen?
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Drägerheft 406 | 2 / 20196

Fokus staDtentwicklung

Faszination und Furcht

Wer an künftige Großstädte denkt, stellt sich vielleicht schmutzige, lärmende Moloche, umringt von mächtigen Wolkenkratzern vor.

Er könnte überrascht werden.

text Tobias hürTEr

unFassbarE WEiTEn Die Metropolregion tokios ist die größte der welt. Mehr als 37,4 Millionen Menschen leben hier, tendenz steigend. Doch wie hält man eine solche Megacity am laufen?

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Wer in eine typische nordamerikanische Großstadt reist, erkennt sofort das Prinzip: Es gibt das Geschäfts- und Finanzviertel, mit seinen Hochhäusern und Einkaufszentren. Der Rest, so könnte man meinen, besteht aus Vororten, wo sich Einfamilienhäuser aneinanderreihen – auf gleich großen Parzel-len, in gleich großen Straßenblöcken. Wüchse diese Stadt so wei-ter, ergösse sie sich als einförmiger Siedlungsbrei ins Umland. Bald käme der Punkt, an dem der Traum vom Eigenheim in einen Albtraum umschlagen könnte: in eine urbane Ödnis, die aus jeder Perspektive ähnlich aussieht, ohne echtes Stadtleben. Ein Punkt, von dem manche Stadt nicht mehr weit entfernt ist. Nach diesem Prinzip »Mehr vom Gleichen« wird es nicht wei-tergehen. Doch wie dann? Die Antwort auf diese Frage ist für viele Menschen existenziell. Seit ein paar Jahren lebt erstmals mehr als die Hälfte der Menschheit in Städten. Denkbar ist, dass

diese Entwicklung bald an eine natürliche Grenze stößt. Dass das Wachstum von Städten einfach von selbst aufhört. Das ist aber eher unwahrscheinlich. Zu mächtig sind die Kräfte, die sie befeu-ern – vor allem ökonomische und kulturelle, die immer dann frei werden, wenn Menschen auf engem Raum zusammenleben. Es sind jene Kräfte, die schon die ersten Städte sprießen ließen: Uruk (im Süden Mesopotamiens), Jericho (im Jordantal), Athen und Rom; Metropolen der Wirtschaft, Kunst und Bildung (siehe auch Interview, Seite 16 f.). Einer UN-Studie zufolge sollen im Jahr 2050 sogar zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben; nicht nur in mehr, sondern auch in größeren. Hier ist die Pro-Kopf-Produktivität höher, entsprechend sind es auch die Löhne.

In den letzten Jahrzehnten kam ein weiterer existen-zieller Faktor hinzu: der ökologische. Auf den ersten Blick mögen Großstädte wie schmutzige, energiefressende Molo- che wirken. Bei näherem Hinsehen verbrauchen ihre Bewoh-ner jedoch weniger Ressourcen als ihre Mitmenschen auf dem Land. Ihre zumeist kleineren Wohnungen benötigen weniger

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Kreativ in die ZuKunftStar-Architektin Zaha hadid (1950–2016) entwarf

zusammen mit Patrik Schumacher das Zentrum „Wàngjīng SOhO“, das als „Willkommen und Abschied“ zwischen der

Stadtmitte Pekings und dem Capital Airport 2014 eingeweiht wurde. In Asien erinnert das Design an den Koi-Karpfen,

der in China für Wohlstand, glück und gesundheit steht. Der 3-D-Computerentwurf des Bürokomplexes mit seinen

doppelt gekrümmten Oberflächen wurde schon mehrfach kopiert – als Modell einer Architektur, die organische

form und perfekte funktion für Städte der Zukunft bietet

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MUSS WIRKLICH JEDER EINE EIGENE WASCHKÜCHE ODER EINEN

EIGENEN FITNESSRAUM BESITZEN?

Energie (zum Heizen, Kühlen und Beleuchten) als Einfamili-enhäuser in ländlichen Gegenden. Stadtbewohner legen kür-zere Strecken zur Arbeit und zum Einkaufen zurück. Und sie haben bessere Voraussetzungen, um Verkehrsmittel und Gerä-te (etwa Autos und Waschmaschinen) gemeinsam zu nut-zen. So liegt die CO2-Bilanz der Bewohner von Berlin und New York City deutlich unter dem jeweiligen Landesdurchschnitt. Es spricht also einiges dafür, dass die Zukunft der Mensch-heit eine urbane sein wird. Aber wie wird sie aussehen? Dazu gibt es Szenarien, Entwürfe und Prognosen – vom Flugtaxi bis zur postkapitalistischen Kommune mit Tauschwirtschaft. In vielem sind solche Szenarien plausibel, in manchen Punk-ten mögen sie richtig liegen, doch nicht in allen. Es gibt eini-ge Vorhersagen, für deren Eintreten gute Gründe sprechen. Fünf davon hier als Thesen:

I. DIe VerDIchtung geht weIterNoch mehr Menschen auf noch engerem Raum: Man wird in den Städten weiter zusammenrücken müssen. Ohne eine Ver-dichtung lassen sich die Verkehrsprobleme nicht lösen, ohne sie müssten zu viele Menschen und Waren zu weite Wege zurückle-gen. Aber wer schon mal zu viel in einen kleinen Koffer gepackt hat, der weiß: Verdichtung kann besser oder schlechter gelingen. Wer einfach alles hineinwirft, als hätte er beliebig viel Platz, der muss irgendwann massiven Druck ausüben und hat hinter-her zerknitterte Klamotten. Wer dagegen nachdenkt und sorg-fältig zusammenlegt, bekommt den Deckel meist mühelos zu. Ähnlich ist es bei der Stadtverdichtung. Wenn wir so weiterma-chen wie bisher, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn der Druck auf die Verkehrsnetze und Wohnungsmärkte immer grö-ßer wird – und die Lebensqualität in den Städten tiefe Knitter-falten bekommt. Wie lebenswert Großstädte künftig sein wer-den, hängt auch von gut durchdachten Konzepten ab. In einer clever geplanten Apartmentanlage können mehr Menschen bes-ser auf engem Raum leben als in einer wild wuchernden Kolo-nie von Einfamilienhäusern.

Ein wichtiger Faktor einer gelungenen Verdichtung ist die Organisation gemeinschaftlicher Räume, sogenannter shared spaces. Muss wirklich jeder eine eigene Waschküche oder einen

eigenen Fitnessraum besitzen? Es ist vielleicht bequemer, aber dann bleibt weniger Platz für alle. So könnte jeder davon profi-tieren, Räume gemeinsam zu nutzen. Viel diskutiert sind auch shared spaces im Verkehr: Plätze, Straßen und Kreuzungen, die von Fußgängern, Radfahrern und Autofahrern gleichberechtigt genutzt werden, ohne die Verkehrsflüsse durch Markierungen, Schilder oder Ampeln zu reglementieren. Man könnte erwar-ten, dass solche Konzepte im Chaos versinken, jedoch sind Ver-suche damit erstaunlich gut gelaufen. Diese Szenarien erwar-ten allerdings Rücksicht und Verständigungsbereitschaft von den Verkehrsteilnehmern – Fähigkeiten, die in Großstädten ohnehin stärker kultiviert werden sollten.

Aber nicht nur Räume werden künftig stärker gemeinsam genutzt, sondern auch Fahrzeuge und andere technische Gerä-te. Car- und Bikesharing sind schon jetzt auf dem Vormarsch. Der nächste Entwicklungsschritt ist, dass nicht nur Großanbie-ter, sondern auch private Autobesitzer ihre Wagen zur Nutzung bereitstellen. Das Berliner Unternehmen Getaway bietet die-sen Service bereits an, über eine Smartphone-App. So werden auch Privatautos effizienter genutzt, was die Masse der parken-den Autos verringern kann. Und warum nur Autos? Nach dem gleichen Prinzip lassen sich auch Bohrmaschinen und andere Gerätschaften gemeinschaftlich nutzen.

II. DIe Überwachung nImmt zuEine gut funktionierende Stadt gleicht einer fein justierten Maschine. Um sie zu steuern, muss man ihren Zustand ken-nen. In künftigen Städten dürften daher Millionen von Senso-ren stecken, die nicht nur die Verkehrsströme und Luftqualität überwachen, sondern auch den Verbrauch von Wasser, elektri-schem Strom sowie die Ausbreitung von Krankheitserregern. Mülltonnen melden, wann sie geleert werden müssen. Ampeln passen ihre Schaltphasen dem Verkehr an. Straßenlaternen geben nur so viel Licht, wie gerade benötigt wird. Dabei geht es nicht nur um Effizienz, sondern auch um Sicherheit. Eine städti-sche Infrastruktur ist besonders anfällig für Naturkatastrophen, Anschläge oder technische Defekte. Schon ein durchgebrannter Transformator kann eine Stadt schnell ins Chaos stürzen. Sen-soren helfen, solche Zwischenfälle zu vermeiden oder abzufe-

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dern. Eine wichtige Rolle werden technische Systeme spielen, die einen Datenaustausch zwischen Fahrzeugen und der umge-benden Infrastruktur ermöglichen, zudem den Verkehrsfluss und die Sicherheit erhöhen. Gut möglich, dass der innerstädti-sche Verkehr künftig nur noch mithilfe solcher Systeme fließt. Dieser Sektor sei »glühend heiß«, schrieb das Wall Street Journal vor ein paar Monaten. Alphabet, das Mutterunternehmen von Google, hat gerade eine Tochter namens Sidewalk Infrastruc-ture Partners gegründet, um in städtische Infrastrukturprojek-te zu investieren. Allerdings wirft all diese Sensorik und Über-wachung die Frage nach Privatsphäre auf. In ihren Wohnungen sollten Bürger frei von Überwachung leben und sich auch vor ihrer Tür bewegen können, ohne dass man ihr Verhalten gegen ihren Willen nachvollziehen kann. Die grundsätzliche Möglich-keit, durch Vernetzung persönlicher Daten aus ganz unterschied-lichen Quellen den gläsernen Menschen zu schaffen, erfordert einen wirksamen Datenschutz. Der dürfte zu einer Schlüssel-frage der Stadtentwicklung werden.

III. Grossstädte werden kleInstädtIscherDer traditionelle Aufbau von Städten – eine lebendige Innen-stadt, umringt von ruhigen Außenbezirken – funktioniert in Großstädten nicht mehr. Die Wege, die Menschen zum Arbei-ten, Einkaufen und Ausgehen zurücklegen müssen, würden zu weit. Daher werden kleinere, nähere Zentren, Quartiere oder Kieze an Bedeutung gewinnen. Megastädte entwickeln sich zuMetropolregionen, wie man sie bereits vielerorts findet. Eine Befürchtung dabei ist, dass Städte ohne eindeutiges Zentrum ihr Gesicht verlieren. Dafür bieten sie ein Ambiente, in dem kleine Läden, Kneipen und Nachbarschaften gedeihen können. So könnten sie die Anonymität der Großstädte mildern und die Beziehungen zwischen den Menschen stärken. Gerade in Zei-ten einer alternden Gesellschaft ist diese Form der Dezentra-lisierung wichtig, denn ältere Menschen sind meist weniger beweglich als jüngere.

IV. dIe städte werden GrünerWie unverzichtbar Grün in Städten ist, kann man auch in Hong-kong sehen, eine der am dichtesten besiedelten Metropolen der Welt. Wo auch immer man sich befindet, stets liegt ein öffent-

licher Park in Gehweite. Grüne Räume sind für das Wohlbe-finden, für den Stressabbau und die Gesundheit der Stadtbe-wohner enorm wichtig (siehe auch Seite 12 f.). Hinzu kommt: Pflanzen verbessern das Klima, sie kühlen und befeuchten die Luft. Der Anbau von Nutzpflanzen in Städten kann die Versor-gung der Einwohner mit frischem Obst und Gemüse sichern, ohne dass die Waren von weit her transportiert werden müssen. Es gibt eine ganze Reihe von Konzepten des urban farming, bei denen Pflanzen in Fassaden integriert oder auf Dächern ange-baut werden. Der amerikanische Biologe Dickson Despommier hat 30-stöckige Gebäude mit der Grundfläche ganzer Straßen-blöcke entworfen, in denen Essbares auf übereinandergestapel-ten Feldern wächst.

V. luFt und unterGrund werden zu VerkehrsräumenGefühlt steht man von Jahr zu Jahr länger im Stau, Zahlen bestätigen dies: in deutschen Großstädten durchschnittlich mehr als 100 Stunden im Jahr. Diese Misere lässt sich nicht allein mit Zufahrtsbeschränkungen, neuen Straßen und dem Ausbau verschiedener Verkehrsmittel lösen. Menschen und Waren werden weiterhin von A nach B gelangen müs-sen, gerade in wachsenden Städten. Das Durcheinander wird sich nicht bändigen lassen, solange sich der Verkehr fast aus-schließlich entlang der Erdoberfläche bewegt. Er wird auch in die Vertikale wandern müssen, in den Untergrund oder in die Luft. Ob es Gütertunnel sind, wie sie das Schweizer Unter-nehmen Cargo Sous Terrain plant, ob Drohnen zur Paketzu-stellung, oder elektrische Mini-Hubschrauber mit leisen Roto-ren, wie sie das deutsche Unternehmen Volocopter erprobt: Mit welchen technischen Systemen die Entlastung der Erd-oberfläche am besten gelingt, wird sich erst in Erfahrung, Bewährung und Irrtum zeigen. Sicher ist: An einer Entlas-tung führt kein Weg vorbei.

Bei aller Faszination und Furcht, die die Vorstellung künf-tiger Städte in uns weckt, sollten wir eines nicht vergessen: Städte sind Menschenwerk. Wie sie aussehen, hängt davon ab, ob wir bereit sind, sie zu gestalten – und natürlich davon, wie wir sie gestalten. Nicht wir sind für die Städte da, son-dern sie für uns.

KLEINERE UND NÄHERE ZENTREN KÖNNTEN DIE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN

DEN MENSCHEN STÄRKEN

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NETZWERK ZUKUNFTgrößer, dichter, klüger – vor allem aber: vernetzter. So sieht die Zukunft unserer

Städte aus. Ihre funktion hängt vom Umgang mit energie, neuen Mobilitätsformen und intensiver Kommunikation ab. All das wirkt sich auf die Strukturen einer Stadt aus.

ENERgiE

MobiliTäT

STADTSTRUKTUR

RESSoURCEN Kurze Wege und kleinere Wohnungen verringern den CO2-fußabdruck von Stadtbewohnern im Vergleich zum Land.

MUlTiZENTRAlE STäDTEUrbane Ballungsräume werden immer größer. Aber sie entwickeln neue Zen tren – wie Kleinstädte in der großstadt.

URbANiSiERUNg2050 sollen mehr als zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben: rund 6,7 Mrd. Menschen.

WASSERMANAgEMENTKanalisationen werden auf Stark regen-ereignisse ausgelegt. Auch die trinkwas-serversorgung braucht neue Strategien.

STADTgRÜNZu Parks und öffentlichen grün-flächen kommen urbane hochhaus-farmen und bepflanzte fassaden.

TEilEN fahrzeugbesitz in Städten nimmt ab. Stattdessen wird Individualmobilität mit Auto, fahrrad und roller geteilt.

UNTERgRUND1863 startete die erste moderne U-Bahn. heute werden unterirdische Verkehrsmittel stark ausgebaut.

lUFTRAUMVerkehrsmittel wie elektrische flug- taxis und Lieferdrohnen nutzen künftig den städtischen Luftraum.

AUToMATiSiERUNgAutonome Bahnen steigern die Passagierkapazität, autonome Autos brauchen keinen Parkplatz im Zentrum.

SMART gRiD/SMART HoMEIntelligent gesteuerte Versorgungs- netze und haushaltsgeräte ermöglichen die effiziente Nutzung von energie.

CAR-2-X-KoMMUNiKATioNDatenaustausch zwischen fahr- zeugen und ihrem Umfeld macht komplexen Verkehr steuerbar.

SENSoRiKDie Stadt überwacht ihren Zustand mit digitalen Sensoren. Dazu kann auch gesichtserkennung gehören.

bÜRgERiNFoRMATioNBei gefahren wie Störfall oder großbrand werden Menschen geogra-fisch präzise über Apps alarmiert.

KoMMUNiKATioN

NEUE gRoSSVERbRAUCHEReinst gab es Schwerindustrie mitten in der Stadt. heute sind rechenzentren urbane energie-großverbraucher.

FlEXiblE ENERgiELokale Stromerzeugung aus erneuerbaren energien braucht neue, dezentrale Speicher.

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GRÜN IM HOCHFORMAT Auch die Vertikale bietet Platz für

Pflanzen und Sträucher. Da gebäude zunehmend in die höhe

schießen, wird auch an Wänden und auf Balkonen gegärtnert. Der

Nutzen: Das Auge freut sich; auch die Luftqualität wird besser

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Vielleicht heißen die Helden der Zukunft Waldkiefer, Mag­nolie, Ulme und Wein. Diese Bäume und Sträucher filtern Schad­stoffe sehr effizient aus der Luft. Städte brauchen grüne Lungen in Form von Bäumen, Sträuchern, Parks und Begleitgrün, die Schad­stoffe dezimieren, aber auch Sauerstoff und Schatten spenden. Eine Lufttemperatur von 30 Grad Celsius lässt sich unter einer mäch­tigen Kastanie besser ertragen als in der prallen Sonne. Urbane Lebensräume sind zwar begehrt, aber sie leiden meist mehr unter den Folgen des Klimawandels als ländliche Regionen.

Was sind die Gründe? Durch die enge Bebauung und starke Versiegelung der Flächen heizen Städte schneller auf und geben die Hitze nur langsam wieder ab. Die Folge sind Hitzeinseln und Tropennächte, in denen die Temperatur selbst in Deutschland nicht unter 20 Grad sinkt. Seit Juli 2019 definiert Lingen im Ems­land mit 42,6 Grad die nationale Höchsttemperatur. Auf dem Fieber thermometer wäre das ein Wert kurz vor dem Exitus. Städte sind auch schlechter gegen extreme Klimaphänomene wie Stark­regen gewappnet, weil das Wasser wegen der versiegelten Flächen nicht so schnell versickert. Stattdessen sammelt es sich in Stra­ßen, Tunneln, Kellern und Erdgeschossen. Auch hohe Gebäude bergen Klimarisiken. Sie können bei Sturm gefährliche Turbu­lenzen verursachen und Frischluftschneisen blockieren. Durch das hohe Verkehrsaufkommen und angrenzende Industriebetrie­be weisen Städte zudem eine höhere Belastung an Luftschadstof­fen auf. Besonders kritisch für die Gesundheit: Stickstoffdioxid, Feinstaub und Ozon – deren Konzentrationen vielerorts immer wieder über oder knapp unter den noch als verträglich geltenden Grenz­ und Zielwerten liegen. Auch Lärm ist ein Problem; in der Stadt ist es selten still.

Abhilfe schaffen Bäume und andere Bepflanzungen. Sie kühlen Städte ab, liefern Schatten, filtern Schadstoffe aus der Luft und dämpfen den Lärm. Sie fördern auch die mentale Gesundheit. Eine Studie von Dr. Kristine Engemann Jensen von der Univer­sität Aarhus in Dänemark zeigte im Sommer 2019, dass Kinder, die mit wenig Natur aufwachsen, ein um 55 Prozent höheres Risi­ko für psychiatrische Erkrankungen haben als diejenigen, die mit viel Natur aufwachsen. Engemann und ihre Kollegen haben dazu Erkrankungszahlen und den Vegetationsindex in Dänemark korre­liert. Nicht umsonst werden immer mehr Büros in kleine Ökosys­teme verwandelt, damit Mitarbeitern die aufmunternde Wirkung von Pflanzen zugutekommt. Und noch eines ist wichtig: Die grü­nen Lungen der Stadt sind auch Erlebnisräume, in denen Kinder Tiere beobachten, Blumen kennenlernen und erleben können, wie es sich anfühlt, im Grünen zu spielen. Wo soll die Wertschätzung für die Natur herkommen, wenn nicht durch eigenes Erleben?

Die Zukunft der Städte wird also maßgeblich davon abhän­gen, wie kräftig ihre grünen Lungen sind. Menschen und Pflan­zen leben in einer vielschichtigen Schicksalsgemeinschaft. Das Kohlendioxid, das der Mensch ausatmet, wandeln Pflanzen in Sauerstoff und Traubenzucker um. Eine 100­jährige Eiche pro­duziert in einem Jahr so viel Sauerstoff, wie elf Menschen im sel­ben Jahr verbrauchen. Auf Nahrung kann man ein paar Wochen verzichten, auf Wasser drei Tage, auf Sauerstoff nur ein paar Minuten. Vielleicht ist es an der Zeit, mehr Parks statt Parkplät­ze zu bauen, Häuser und Dächer zu begrünen, den Schotter aus den Vorgärten wegzuräumen und Blumen für die Tiere und uns Menschen zu pflanzen.

LuftanaLyse im minutentaktWer etwas verbessern will, sollte die schwachstellen kennen. in der Hansestadt Lübeck werden – im Rahmen einer studie – seit einigen monaten fünf umweltgase (u. a. stickstoffdioxid und kohlenmonoxid) zusätzlich zu den stationären messstationen auch mobil und über die ganze stadt verteilt erhoben. und zwar auf den täglichen touren eines sperrmüllwagens und durch einen Restmüllwagen. Die messtechnik wurde von Dräger im Rahmen der initiative „energieCluster Digitales Lübeck“ installiert. Beide fahrzeuge übermitteln die messwerte per funk in echt- zeit an das Rechenzentrum der stadtwerke, wo sie ausgewertet werden. „Wir spannen damit ein dichtes Datennetz zur Luft-qualität, um daraus eine Luftbelastungskarte für die stadt ab - zuleiten“, sagt Oliver Harnack, der bei Dräger in der sicher- heitstechnik technologie- und innovationsmanager ist, zudem zuständig für das Projekt. „Da feinstaub ein weiterer Luft - schad stoff ist, haben wir mittlerweile auch die dazugehörige mess-technik installiert.“ eine erste auswertung gibt es bereits. „Wir sehen die bekannten neuralgischen Punkte – und, wie die schadstoffbelastung bei Baustellen oder bestimmten Wetter - lagen ansteigt. Das sind wichtige Daten für die stadt- und Verkehrsplanung“, so Harnack. „Die Luftqualität zu verbessern, sollte sich damit deutlich präziser angehen lassen.“

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STäDTE IM FIEBER

Betonwüsten, Gluthitze, Luftverschmutzung. Ob städte in Zukunft noch attraktiv,

lebenswert und resilient sein werden, entscheidet sich auch auf der grünen

Wiese – ohne Pflanzen wird es nicht gehen.

text DR. HiLDeGaRD kauLen

fOkus staDtentwicklung

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Wenn der britische Physiker und Komplexitätsfor-scher Prof. Dr. Geoffrey West eine Stadt betrachtet, sieht er nicht ihre belebten Straßen, Bahnhöfe oder Fußgängerzonen, sondern einen lebendigen Organismus – der sich unablässig Ressourcen einverleibt, um sie in Energie und Kreativität umzusetzen. Einen Stoffwechsel, angetrieben von Containern, Kurierlieferungen, Telefonaten, E-Mails und anderem. Den Wissenschaftler trei-ben grundlegende Fragen um: Gehorchen alle Städte denselben Gesetzen? Und: Lässt sich ihr Wachstum in einer allgemein gül-tigen Formel fassen? Die Antworten darauf hat Professor West in seinem Buch „Scale – Die universalen Gesetze des Lebens von Organismen, Städten und Unternehmen“ dargelegt. Die Kern-these: Alle Organismen gehorchen denselben Skalierungsgeset-zen – auch Städte. Das Universum drehe sich dabei stets um den Energiehaushalt: „Egal, ob Bakterien oder Unternehmen – ohne die konstante Zufuhr und Umwandlung von Energie gibt es kein Leben.“ Städte folgen also, ähnlich wie Bäume oder Tie-re, einem vorhersehbaren und berechenbaren Wachstumspfad – und werden erstaunlicherweise immer effizienter, je größer sie werden. West kann mit seiner Formel sogar bestimmen, wie viel besser eine große als eine kleine Siedlung mit ihren Ressour-cen wirtschaftet. Wenn sich eine Stadt verdoppelt, benötigt sie nicht doppelt so viel Infrastruktur, wie Tankstellen oder Versor-gungsleitungen. Eine Zehn-Millionen-Stadt kommt stattdessen mit 85 Prozent an urbaner Hardware aus, die zwei Fünf-Millio-nenstädte benötigen. Das liegt auch daran, dass eine Stadt aus vielen Knotenpunkten besteht und sich die Stadtteile dezentral versorgen können. Beispiel Energie: Anstatt von einer immer län-geren Leitung von einem fernen Kraftwerk abhängig zu sein, sor-

gen Blockheizkraftwerke oder Solaranlagen mit angegliedertem Energiespeicher und intelligenter Managementsoftware dafür, dass ganze Straßenzüge weitgehend autark sind – ohne dabei dem Rest der Stadt zur Last zu fallen. Sie können sogar über-schüssige Energie ins Netz einspeisen. Die Einsparungen trotz Wachstum schaffen den planerischen Spielraum, damit Städte künftig mehr Einwohner aufnehmen können. Von der Infrastruk-tur einmal abgesehen, besitzen Großstädte einen weiteren Vor-teil: Als lebendiges Netzwerk von Netzwerken werden sie umso produktiver, je größer sie werden, da der Austausch immateriel-ler Dinge (ob zündender Ideen oder digitaler Bits), anders als der Verkehr oder die Versorgung mit Nahrungsmitteln, fast kei-nen Beschränkungen unterliegt. „Gesellschaftliche Netzwerke potenzieren einander. Mit je mehr Menschen ich in Kontakt ste-he, desto mehr Ideen können dabei herauskommen. Das ist der Schlüssel zum Erfolg der Urbanisierung und lässt sich an Ein-kommen, der Konzentration von Kreativen und mehr ablesen“, sagt West. Das hat allerdings auch seine Schattenseiten, denn die negativen Auswirkungen von Millionen Menschen auf engem Raum potenzieren sich ebenfalls – etwa die Kriminalität oder Ver-breitung von Krankheiten. EINsTIGER HYPE HÄLT AN Das Erfolgsgeheimnis der Stadt als Supernetzwerk können His-toriker und Archäologen in Ausgrabungen dokumentieren. Die Professorin Monica L. Smith, von der University of California in Los Angeles, hat Stadtentwicklung studiert und sieht klare Paral-lelen zu den Megacitys von heute: „Für unsere Vorfahren waren Städte das erste Internet – ein Ort, um mit anderen Menschen zu kommunizieren und in Kontakt zu bleiben.“ Wenn wir heu-te das bargeldlose Bezahlen als Innovation feiern, so Smith, grei-fen wir auf uralte Ideen aus Mesopotamien und Zentralamerika zurück. „Erfolgreiche Städte kamen Jahrtausende ohne Bargeld aus und waren trotzdem sehr erfolgreich.“ Und noch etwas ver-bindet das antike Rom mit mittelalterlichen Städten und Mega-regionen wie dem Pearl River Delta in Südchina: die Dimension unseres ganz persönlichen urbanen Netzwerks. Menschen wol-len meist nicht weiter als eine halbe Stunde von ihrem Arbeits-platz entfernt leben. Der italienische Physiker Prof. Dr. Cesare Marchetti formulierte diese Einsicht 1994 als „Marchetti-Kons-tante.“ Zu Fuß bedeutete das eine Distanz von 2,5 Kilometern. Auch wenn wir von Sandalen auf Pferde und später Bahn und Bus sowie womöglich autonome Fahrzeuge umsteigen, ist die durchschnittliche Reisezeit für Pendler mit rund 30 Minuten über die Jahrtausende gleichgeblieben. Die Marchetti-Konstante lässt sich an der Ausdehnung antiker wie moderner Städte able-sen. Jedes neue, schnellere Transportmittel erlaubt es Städten, sich weiter ins Umland auszudehnen. Sobald ein neuer Vorort entsteht, siedeln sich Arbeitnehmer im 30-Minuten Radius an und weiten so das urbane Netzwerk aus. An diesem Naturgesetz des Stadtlebens werden auch superschnelle 5G-Funknetze und mögliche Passagierdrohnen nichts ändern.

ALLES FLIESST

ob in der Antike oder Moderne: städte sind lebendige Netzwerke, die

universellen Gesetzen gehorchen.

text sTEFFAN HEuER

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Rio de Janeiro

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484

Berlin

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Lagos/Nigeria

738

Los Angeles

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LANd StAdt

70,4 % 29,6 %

53,3 % 46,7 %

31,6 % 68,4 %

100 JAHRE: VOM LANd IN dIE StAdt

VERStÄdtERUNGUrbanisierung ist ein weltweiter Megatrend des 20. und 21. Jahrhunderts. In den verschie- denen Weltregionen ist sie unterschiedlich stark ausgeprägt. BRASILIEN

+51,11 %

dEUtScHLANd+9,4 %

JApAN+2,73 %

AUStRALIEN+87,96 %

Weltweite Zentren des WandelsImmer mehr Menschen leben in Städten, seit 2008 weit mehr als 50 Prozent.

Damit werden Städte zu Mittelpunkten des demografischen Wandels.

NIGERIA+573,59%

KONGO+661,65 %

RUSSLANd+3 %

cHINA+137,19 %

INdIEN+200,88 %

KreISgröSSe entSPrIcht 25.000.000 StaDteInWohnern

USA+55,81 %

2000 2050

URBANE AUSdEHNUNG IN KM2

EINWOHNERdIcHtE (1.000 MENScHEN pRO KM2)

dURcHScHNIttLIcHES BEVöLKERUNGSWAcHStUM pRO JAHR (2000-2018):

dAtEN ALS FINGERABdRUcK EINER StAdt: GEOGRAFIE, pOpULAtION UNd dIcHtEJede Stadt ist anders. Das machen diese Kennziffern von fünf großstädten aus oben gezeigten Ländern deutlich.

EINWOHNER FüR 2000 | 2018 | 2030 (pROGNOSE)

0,3%

2,75

0,3%

3,75

3,4%

18,15

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6,85

1,2%

29,65

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Antike MegAcity Rom hat Jahrtausende Geschichte erlebt. Archäologische Funde und Schriften geben Einblicke in die Vergangenheit der Stadt. Zur Zeit von Kaiser Augustus, etwa, hatte sich ein derartig ausufernder Bauboom entwickelt, dass die Behörden einschreiten mussten – es durfte nur noch nach festen Vorschriften und mit begrenzter Etagenzahl gebaut werden

16 DRäGERhEFt 406 | 2 / 2019

6.000 Jahre InnovatIon

Die Archäologin Monica L. Smith geht der Frage nach, was Menschen seit jeher in Städte zieht.

intERViEw SteFFAn heuer

Page 12: Fokus staDtentwicklung Faszination und Furcht · Faszination und Furcht Wer an künftige Großstädte denkt, stellt sich vielleicht schmutzige, lärmende Moloche, umringt von mächtigen

Die Verbindung zu anderen Menschen ist ein Schlüsselerlebnis des Stadtlebens. Wie genau sah Networking vor Tausenden von Jahren aus? Fast so wie heute. Für unsere Urahnen waren Städte quasi das erste Internet – ein Kommunikationsmittel, um sich mit vielen Menschen auszutauschen, neue Formen von Arbeit und Freizeit zu erkunden und mit anderen in Kontakt zu bleiben. Städte waren Orte, an denen Menschen mit ihrer Identität experimentieren und sich neu erfinden konnten. Es gab auch wirtschaftliches Net­working. Wenn wir heute von einer bargeldlosen Gesellschaft spre­chen, dann ist das keineswegs neu. Im Gegenteil: Wir kehren lediglich zum Stadtleben vor der Erfindung des Münzgeldes zurück. Es gab schon früher jede Menge Städte, die kein Geld kannten und dank Tauschhandel dennoch funktionierten und gesunde Wirt­schaftssysteme mit einer detaillierten Buchhaltung besaßen.

Bis 2050 werden fast drei Viertel der Weltbevölkerung in Städten leben. Geben uns archäologische Funde irgendwelche Hinweise, dass wir bald eine Grenze bei der Urbanisierung erreicht haben?Der einzige wirklich limitierende Faktor ist die landwirtschaftliche Produktivität. Unsere Landwirtschaft ist zunehmend mechani­ siert, sodass eine sehr kleine Zahl von Menschen immer mehr Nahrungsmittel herstellt. Es wird immer Menschen geben, die nicht in der Stadt leben wollen. Deswegen dürfte sich die Urbani­sierung bei 85 oder 90 Prozent einpendeln. Und doch kann dieses Modell überlebensfähig sein, denn Dinge wie die Versor­gung mit Wasser, Nahrung und das Risikomanagement lassen sich in einer Stadt viel effizienter lösen.

Wie werden neue Technologien das Wesen einer Stadt verändern?Städte werden sich nicht grundsätzlich wandeln. Selbst in einer Smart City laufen Technologien im Hintergrund, um den Kontakt der Menschen untereinander zu ermöglichen. Irgendjemand muss die ganze Technik ja programmieren und entscheiden, in welchem Radius etwa ein Lieferroboter unterwegs sein soll. Am Ende läuft es immer auf den zwischenmenschlichen Kontakt hinaus. Selbst wenn ich mir ein selbstfahrendes Taxi bestelle, will ich meist irgendwo hinfahren, um einen anderen Menschen zu treffen.

Frau Professorin Smith, was genau verbindet antike und moderne Städte miteinander?Jede Menge! Das fängt schon beim Erscheinungsbild an. Es gab schon immer große öffentliche Plätze, Verwaltungsgebäude und Wohnraum. Städte haben eine Infrastruktur, die alles miteinander verbindet: Straßen, Kanäle, Rohre, Leitungen und viele andere Dinge. Dann ist da noch die soziale Komponente: Alle Städte sind nur aufgrund von Zuwanderung zu Metropolen geworden.

Folgen Städte dabei einem ähnlichen Wachstumspfad? Städte entstehen immer aus zwei Gründen: entweder, weil der Ort besonders attraktiv ist, sich dort gut Handel treiben lässt oder man Zugang zu einem wichtigen Produktionsfaktor hat. Oder weil sie per Dekret gegründet wurden und ein Herrscher eine neue Hauptstadt errichten wollte. Solche Siedlungen waren weniger erfolgreich, weil sie meist keine natürlichen Standortvorteile hatten. Starb der Herrscher, zogen die Bewohner einfach wieder weg.

Welche weiteren Voraussetzungen braucht es, damit eine Stadt aufblühen kann?Vor dem Phänomen „Stadt“ existierten nur wenige Orte, an denen sich viele Menschen auf engem Raum treffen konnten. Das waren in der Regel rituelle Zentren wie Stonehenge in England oder Göbekli Tepe in der Türkei. Man versammelte sich dort für ein Fest oder Ähnliches. Dabei ging es auch darum, andere Menschen zu treffen, ein paar exotische Souvenirs zu finden oder einen Partner, den man sonst nie kennengelernt hätte. Solche Stätten waren allerdings nur als vorübergehende Versammlungsorte gedacht. Echte Städte schufen zum ersten Mal einen Ort, an dem eine permanente Festtagsstimmung herrschte, mit all den dazu gehören­den Gelegenheiten: Dinge herzustellen, Handel zu treiben und sich zu verlieben. Menschen, die in Städte zogen, trieb schon immer die Hoffnung auf ein spannenderes und besseres Leben an.

Besitzt der Mensch einen angeborenen Drang zur Verstädterung?Das denke ich schon. Alle Voraussetzungen für die Urbanisierung gehörten bereits früh zu unserem kognitiven Repertoire. Wir konnten uns mit Sprache verständigen, in neue Gebiete vorstoßen und ständig neue Werkzeuge erfinden. Unsere Spezies definiert sich durch kontinuierliche Innovation. Hinzu kommt die Archi­tektur, die Orte für viele Menschen erst bewohnbar macht – ganz gleich, ob es um Hochhäuser, Fabriken oder Bahnhöfe geht. Wir sind ständig damit beschäftigt, unsere Umwelt auf unsere Bedürfnisse zuzuschneiden. Als die Stadt erfunden war, wurde diese Siedlungsform so verlockend und interessant, dass sie aus unserer Welt nicht mehr wegzudenken ist.

MoNica L. SMiTH ist Professorin für Anthropologie, sie forscht und lehrt am Institute of the Environment and Sustainability an der University of California in Los Angeles. 2019 erschien ihr Buch „Cities. The First 6,000 Years.“ FO

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DRÄGERHEFT 406 | 2 / 2019 17


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