+ All Categories
Home > Documents > Fluchtburg im Weltraum

Fluchtburg im Weltraum

Date post: 03-Jan-2017
Category:
Upload: hakien
View: 214 times
Download: 0 times
Share this document with a friend
53

Click here to load reader

Transcript
Page 1: Fluchtburg im Weltraum
Page 2: Fluchtburg im Weltraum

Expose-Redaktion: H. G. Ewers Band 5O der Fernseh-Serie Raumpatrouille Hans Kneifel

Fluchtburg im Weltraum Charles Taylor konnte vor seinem Tode die Menschheit vor der Invasion warnen, die seiner Meinung nach der Erde vom Planeten Mars drohte. Er ahnte nicht, daß diese Invasion vor undenklichen Zeiten, während des Kosmischen Infernos, geplant worden war und daß das Ziel nicht die Erde, sondern der damalige fünfte Planet Vritru gewesen war, der heute als Asteroidenring zwischen Mars und Jupiter die Sonne umkreist. Taylors Warnung wäre gegenstandslos gewesen, wenn es nicht innerhalb der terrestrischen Kommandostellen zu Fehlleistungen gekommen wäre. Erst infolge dieser Pannen wurde ein Mharut, der desaktiviert in einer weiteren Geheimanlage auf Ganymed entdeckt wurde, zu gefährlichem Leben erweckt. Daraufhin vermochte der Mordroboter seinerseits, die In-vasionsarmee der Schläfer in den Katakomben des Mars zu aktivieren. Als die Raumschiffe der Invasoren aus der aufbrechenden Marsoberfläche in den Raum vorstießen, kam es zu einer weiteren Fehlleistung. Admiral Mahavira, der ehrgei-zige Kommandeur der Wega-Flotte, befahl seinen Raumschiffen trotz der War-nung der ORION-Crew, sich auf die Invasoren zu stürzen. Der Kampf endete mit einem Debakel der Wega-Flotte und mit dem Tod Mahaviras. Nur der Umsicht und Entschlußfreudigkeit der ORION-Crew war es zu verdanken, daß die Flotte der Invasoren sich nicht gegen die Erde wandte, sondern in der energiedurchtobten Gashülle des Jupiter ihr Ende fand. Doch damit geben sich die Raumfahrer der ORION nicht zufrieden. Sie ringen der Erdregierung einen neuen Auftrag ab, den Auftrag, eine der submarsianischen Basen der Invasions-armee zu untersuchen. Es ist ein „Himmelfahrtskommando" — und es bringt fünf Mitglieder der Crew schließlich zur FLUCHTBURG IM WELTRAUM ...

Page 3: Fluchtburg im Weltraum

1. Und wieder einmal erschien der Mars

auf der Zentralen Bildplatte. Commander Cliff McLane betrachtete

den winzigen, rot schimmernden Licht-punkt trotzdem mit gespannter Aufmerk-samkeit. Seit Tagen zerrte die Anspannung an ihm; nicht nur an Cliff, sondern an allen Angehörigen der kleinen, zusammen-geschweißten Gemeinschaft. Sie wußten, daß der Mars zum ersten Mal, seit ihn Schiaparelli durch das primitive Fern-rohr angesehen hatte, was 1878 oder etwas später gewesen sein mochte, seinen wahren Charakter gezeigt hatte. Einen gefährlichen und für viele Frauen und Männer gefährlichen Charakter.

„Aber heute haben wir uns dieses Him-melfahrtskommando selbst zuzuschrei-ben", erklärte Cliff. Er hatte nur einen einzigen Zuhörer. Es war Arlene. Die anderen ruhten sich aus. Es war ein einfacher, weit unterlichtschneller Flug zum Nachbarplaneten der Erde.

„Allerdings! Ich teile inzwischen den Aberglauben der alten Druckschriften beziehungsweise deren Verfasser", erwiderte Arlene leise. Sie saß vor Helgas Funkpult. Nur einige Geräte waren eingeschaltet.

„Wie bitte?" fragte Cliff zerstreut. Aus der Scheibe war inzwischen eine

vage als konvex zu bezeichnende Form geworden, auf deren Oberseite sich die Strukturen von Kratern, einigen Syrten und den trichterförmigen Tälern mit ihren staubigen, andersfarbigen Ablagerungen abzuzeichnen begannen. In zwei Stunden würde die ORION an ihrem Ziel sein.

Arlene antwortete, seltsam betonte sie die Worte:

„Zu Streit und Unsauberkeit bin ich bereit, als auch allhier erzeugt mein Kleid, meine Kinder machen manchen Haß, sie wissen nie, warum oder was. Ende des fünfzehnten Jahrhunderts wurde das Wesen des Planeten des Kriegsgottes so geschildert."

„Wie wahr! Wie zutreffend!" versicherte Cliff. „Es ist tatsächlich unser Krieg

geworden." Mit Zustim-

mung, ja auf aus-drücklichen

Wunsch der Regierung flogen sie den vierten Planeten an. Han Tsu-Gol und seine

Ministerkollegen hatten der Crew einen Auftrag erteilt. Diesmal war Han über-

zeugt, daß nur diese Mannschaft einen solchen Auftrag schnell und zuverlässig erfüllen konnte. Nur Cliff und seine fünf Freunde hatten genügend Kenntnis und die meisten, leider negativen Erfahrungen mit der Materie. Die Materie - das waren die offensichtlich an allen denkbaren und an vielen überraschenden Punkten des be-kannten Universums verteilten Hinterlas-senschaften aus der Vergangenheit. Gefährliche Geschenke, die vom Krieg der beiden Kosmischen Giganten übriggeblie-ben waren und ein höchst unsicheres Eigenleben entwickelt hatten.

Die Hauptpersonen des Romans:

Han Tsu-Gol — Der Regierungschef der Erdeerteilt der ORiON-Crew einen neuenAuftrag

Cliff McLane — Der ORION-Komman-dantmacht einen Transmittersprung.

Mario, Arlene, Helga und Hasso —

Cliffs Begleiter bei einem neuen Abenteuer

Atan Shubashi — Der Astrogator gibt seinenKameraden einen guten Rat.

Erethreja — Eine Vorthanierin verliebt sich ineinen Terraner

„Und er ist noch lange nicht beendet. Aber darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Jeder, der mit der Sache befaßt war, weiß es sehr genau und träumt laufend schlecht davon!" versicherte Arlene grimmig. „Brauchst du die Koordi-naten des Schiffes?"

„Ich kenne sie auswendig", sagte der

Page 4: Fluchtburg im Weltraum

Kommandant und drehte seinen Sessel herum, um statt des Roten Planeten seine Freundin ansehen zu können. „Ich weiß, wo die TOPSCORE steht."

„In Ordnung." Cliff wußte, daß sie alle sich unbewußt

in eine nervöse Unruhe hineinsteigerten, die schädlich war. Auch der teilweise realisierte Umbau des Wohnturms hatte weder Arlene noch ihn ablenken können; außerdem war viel zuwenig Zeit gewesen, die Veränderungen richtig wahrzunehmen und sich daran erfreuen zu können. Er biß sich auf die Unterlippe und sagte schließ-lich:

„Wir wecken sie in einer Dreivier-telstunde auf, einverstanden?"

Sie nickte als Antwort. Die Crew trug sämtliche Risiken dieses Unternehmens ganz allein. Sie würden in Verbindung mit anderen Schiffen stehen, aber an den entscheidenden Punkten waren sie völlig auf sich selbst und ihre Leistung angewie-sen. Ausgerechnet vom Mars gingen die Gefahren aus, dachte Cliff. Ausgerechnet! Einer der Planeten des Sonnensystems, von dem man alles andere als Gefahren irgendeiner Art erwartet hatte. Der Mars entpuppte sich als unterminiertes planeta-res Fort, das rund eineinhalbtausend Raumschiffe ausspie wie tödliche Sporen. Ihn schauderte, als er an den letzten Einsatz dachte. Kaum hatten sie die Erlebnisse verarbeitet, kaum hatten sie sich ein wenig beruhigen können - schon wieder war Mars ihr Ziel.

Mars, angaraka, „brennende Kohle" im Sanskrit, dem Gott Horus der Ägypter zugeordnet, aster tu areos, Stern des Ares bei den klassischen Griechen. Dort stand, in einer der Felsschluchten fast unsichtbar versteckt, das Totenschiff TOPSCORE. Dies war das Anflugziel der ORION.

Arlene kam näher und blieb neben ihm stehen, warf einen Blick auf das rötlich widerscheinende Objekt in der Mitte des kreisrunden Superbildschirms. Der drei-

dimensionale Effekt hob den Roten Planeten vor der schillernden Kulisse einer Myriade von Sternen deutlich hervor.

„Du bist sicher, daß wir eine Basis der sogenannten Invasionsarmee finden werden?"

Das war der erste Teil ihrer Mission. Han Tsu-Gol hatte diesen Auftrag erteilt. Cliff lachte kurz und hart.

„Ganz sicher. Es wird von solchen Schlupfwinkeln und dergleichen förmlich wimmeln." Bisher dachte niemand daran, deshalb suchte man nicht danach. Jahrhundertelang. Und jetzt, da die Erde und die ausführenden Schiffsbesatzungen und Wissenschaftler wußten, was sich unter der roten, staubigen Kruste des Planeten verbarg, würde es leicht sein, etwas zu finden.

„Und du meinst auch, daß die Ab-wehrsysteme von uns leichter zu knacken sind, als es andere Spezialisten tun könnten?"

Wortlos deutete der Commander auf das bunte Armband der Schlafenden Göttin, das V'acora, das nach wie vor wieder in seiner Halterung festgeklammert war.

„Dieses zauberhafte Instrument wird uns dabei helfen", versicherte er. Er glaubte es selbst.

„Hoffentlich!" Niemand wußte, ob die Reste der Rudra-

ja-Invasionsflotte tatsächlich das gesamte Potential dieser Macht hier im Sonnensy-stem darstellten oder dargestellt hatten. Man mußte auf Serien von derartigen Überraschungen gefaßt sein. Was Cliff und seine Crew betraf, so rechneten sie fest damit. Dies erklärte einen Teil ihrer nervösen Spannung.

„Das V'acora hat uns schon mehrmals aus Situationen herausgeholfen, die normalerweise tödlich gewesen, wären. Ich brauche dich am allerwenigsten daran zu erinnern, Arlene!" meinte Cliff leise und ergriff ihre Hand. „Würdest du dem unbeholfenen Automaten in der Kombüse

Page 5: Fluchtburg im Weltraum

helfen, für uns alle eine riesige Kanne Kaffee herzustellen?"

„Mit Vergnügen", sagte Arlene. „Du weckst die Freunde?"

„Ohne Vergnügen tue ich es", versprach Cliff.

Natürlich reizte die Gefahr jeden Ange-hörigen der Crew. Nein, korrigierte sich Cliff McLane in Gedanken. Nicht die Gefahren reizten, sondern das Abenteuer des Intellekts, der Versuch, schwierige Fragen zu lösen, mit einer Mischung aus Kühnheit, Klugheit und der Fähigkeit, un-konventionelle Antworten auf höchst neuartige Fragen zu finden. Aus diesen und einigen anderen Gründen riefen selbst schwierigste Aufgaben bei der Crew Begeisterung hervor. Illusionen erhalten das Leben, dachte Cliff lächelnd und schaltete nacheinander die Monitore ein, die den Steuerstand mit den einzelnen Kabinen verbanden.

Behutsam weckte er zuerst Hasso, dann die anderen. Der Mars wurde immer größer. Unsichtbar verbargen sich die Dinge, die sie suchten, hinter den fahlen Staubschleiern der dünnen, giftigen Atmosphäre.

„Der vorläufig letzte Mharut landete mit dem Totenschiff in dieser Schlucht, Freunde!" sagte Atan Shubashi und ließ seinen Kaffeebecher in den Abfallbehälter fallen. „Und du, Cliff, willst mit der ORION daneben landen? Dein Ernst?"

„Mein voller Ernst", bestätigte Cliff. „Die Schwachen sind stark, weil sie mutig sind. Uns bleibt also nichts anderes übrig, als mutig zu sein."

„Bravo! Welch ein Maß an Selbst-erkenntnis!" murmelte Mario de Monti. „Wenn wir so stark sind wie Arlenes Kaffee ..."

„Denke lieber darüber nach, wie wir die Abwehrsysteme der noch zu findenden Basis ausschalten können, ehe wir in Streifen geschnitten werden!" gab Helga zurück. „Ich jedenfalls werde dieses Mal

keineswegs das Funkpult hüten." Cliff winkte ab. Die ORION näherte

sich langsam und mit mäßiger Ma-schinenleistung der Planetenoberfläche. Der schwache Metallreflex des toten Raumschiffs leitete das Schiff zum Ursprung der riesigen Schlucht, die hier in Syrtis Fontana ihren Anfang hatte. Sie spaltete eintausend Kilometer weiter nördlich die Bergkette der Herschel-Gallura, wobei „Bergkette" eine schamlose Übertreibung für die narbenzerfressenen, abgetragenen Rundhügel war.

„Nein. Atan hat diesmal den un-dankbarsten Teil der Mission freiwillig übernommen. Er wird praktisch eine Relaisstation herstellen."

„Einverstanden!" sagte der Rest der Crew undeutlich im Chor. Cliff rief sich den sorgenvollen Ausdruck im Gesicht Hans ins Gedächtnis, als dieser ihnen den Auftrag erteilt hatte, eine Basis zu finden, sie zur restlosen Entschlüsselung vorzube-reiten und besonders auf die Fallen, Sper-ren und Schließmechanismen achtzugeben, weil spätere, technisch-historische Forschungen keine Opfer an Menschenle-ben kosten durften. Die Crew sollte möglichst alles, auf jeden Fall aber viel herausfinden. Je mehr Informationen es gab, desto sicherer konnte die Erde den nächsten Angriff der Gewalten aus der Vergangenheit zurückschlagen.

Cliff fing den Sturz des Schiffes ab und steuerte auf den Beginn der Schlucht zu. Sie war hier noch flach, nur wenige hundert Meter hoch und wirkte wie ein breites, staubiges Flußbett. Mit rund dreihundert Stundenkilometern flog die ORION, nur zweitausend Meter über Grund, in die geänderte Richtung, auf den tieferen Teil der Schlucht zu. Mehr oder weniger denselben Weg hatten sie schon einmal mit der LANCET zurückgelegt.

„Ich hoffe doch", knurrte Hasso, der neben Cliff stand und sich ganz genau die Geländestruktur ansah, „daß wir auch

Page 6: Fluchtburg im Weltraum

diesen Einsatz lebend überstehen?" „Ich bin ganz sicher. Trotzdem müssen

wir mit einigen höchst gefährlichen Punkten rechnen", antwortete McLane. „Schon allein deswegen, weil die einge-schalteten Kraftstationen einige Verände-rung der unterirdischen Anlagen hervor-gerufen haben dürften."

„Richtig. Von dieser Annahme sollten wir ausgehen", schaltete sich Mario ein. „Ich habe heute, merkwürdigerweise, ein gutes Gefühl. Für mich sehe ich keine Schwierigkeiten."

„Du bist für mich der einzige wandelnde Beweis, daß deine Philosophie des überproportionalen Optimismus richtig sein könnte. Immerhin lebst du noch", sagte Arlene lächelnd.

„Das ist auch meine Ansicht", bestätigte Mario fröhlich. „Etwas eintönig, der Ausblick, wie?"

Er deutete auf den Bildschirm. Das flußbettähnliche Tal hatte sich drastisch verändert. Lange Schatten lagen auf dem rostfarbenen Sand. Die seitlichen Hänge hatten sich weiter herangeschoben und bestanden jetzt aus zackigen Felsstücken. Riesige Brocken waren heruntergerollt, nachdem die Marsbeben sie losgerissen hatten. Der Aufbruch aus den Tiefen-schächten hatte weite Teile des Planeten stark erschüttert. Im Augenblick zeigten die Instrumente an, daß der Boden der Schlucht dreitausend Meter tiefer lag als das umliegende Niveau der Oberfläche. Unmerklich schwand das Licht der fernen, stechend weißen Sonne. Immer wieder zog ein feiner Sand- und Staubschleier vor dem Stern vorbei.

Die Schatten wurden intensiver und streckten sich immer mehr in die Richtung auf die gegenüberliegende Wand aus.

„Fliegst du nicht zu schnell?" fragte Helga zögernd.

„Nein. Ich steuere mit Instrumentenhilfe. Ich benutze drei Parameter."

„Aha", machte die Funkerin.

Die TOPSCORE lag am tiefsten Punkt der Schlucht. Neunzehntausend Meter unterhalb der obersten Kante. An dieser Stelle befand sich auch der höchste Punkt der relativ eintönigen Marslandschaft; ein flacher, runder Hügel, der in der Mitte gespalten war.

„Es wird ungemütlich dunkel, und überdies auch beklemmend eng. In einer LANCET wäre es mir angenehmer", brummte der Erste Offizier.

Wortlos schaltete Cliff die Lande-scheinwerfer von hundertzwanzig Grad der kreisförmigen Anlage ein. Es wurde binnen der nächsten Kilometer so dunkel und schwarz, als herrsche nicht das Licht der Sonne im Nachmittag, sondern tiefste Nacht. Die hellere Zone zwischen den Felswänden verlor sich.

„Keine Sorge. Es ist ungefährlich. Wir holen heute alles nach, was wir vor dem Aufbruch der Armee versäumt haben."

„Trotzdem läßt sich ein Gefühl der Klaustrophobie nicht ganz unterdrücken."

Helga nickte Arlene zu. Tatsächlich wirkten die beiden Felswände, als ob sie sich zusammenschöben. Cliff steuerte die ORION weiter geradeaus, folgte den zickzackartigen Windungen der Schlucht und sank mit dem Schiff immer tiefer.

„Achtung. Deutlicher Ortungsimpuls. Dreitausend Meter entfernt, die Wände reflektieren das Echo der TOPSCORE", sagte Atan in die erwartungsvolle Stille.

„Verstanden." Als Cliff und Mario nach der ver-

zweifelten Jagd schließlich die TOPSCORE gefunden hatten, damals, vor den Ereignissen, die zu dem rasenden Flug durch die Jupiterhülle geführt hatten, war die Zeit zu knapp gewesen. Der sorgfältig getarnte Zugang war bemerkt, aber nicht aufgebrochen worden. Jetzt war der letzte Rest natürlicher Helligkeit aus der Schlucht verschwunden. Nur noch hundertfünfzig Meter trennten die beiden Felswände mit ihren bestaubten Kanzeln,

Page 7: Fluchtburg im Weltraum

den Rissen und den im Scheinwerferlicht aufglimmenden Gesteinsadern in mehreren Farben.

Cliff bremste die Geschwindigkeit ab und richtete eines der starken Scheinwer-ferpaare geradeaus auf die TOPSCORE.

„Entfernung?" „Hundertzehn Meter", gab Atan zurück. Die ORION glitt leise summend über

die Hälfte der Strecke und hielt dann endgültig an. Einige Schaltungen ließen den Diskus absinken, fixierten ihn auf den unsichtbaren Stützstrahlen und aktivierten die notwendigen Versorgungsaggregate. Als eine Reihe von Signalen aufleuchtete, stand der Commander auf.

„So", sagte er leise. „Hier sind wir. Wir untersuchen zuerst das Schiff unserer toten - getöteten - Kameraden, dann machen wir uns an unsere eigentliche Aufgabe. Natürlich in Raumanzügen mit reichhalti-ger Ausrüstung, Bewaffnung und so weiter."

„Natürlich. Alles schon besprochen, Chef!"

Sie verließen bis auf Shubashi die Steu-erkanzel der ORION Neun und zogen sich die überprüften Raumanzüge an.

Nacheinander verließen Cliff und Arle-ne, Helga, Mario und Hasso durch den ein- und ausfahrenden Zentrallift die ORION. Sie traten hinaus in die dünne Marsatmo-sphäre, versanken bis zu den Schienbeinen im Marsstaub und fühlten die geringe Anziehungskraft des Planeten.

„Bedrückend, diese verdammte Schlucht", sagte de Monti und stapfte, nachdem er seine Helmlampe ein-geschaltet hatte, hinüber zu der regungslos schwebenden TOPSCORE. Cliff folgte Mario ins Innere der Schleusenkammer und bedeutete Helga und Arlene, ihnen noch nicht zu folgen.

Knackend schalteten sich die Helmfunk-geräte ein. Cliff winkelte seinen rechten Arm an und betrachtete, während das Licht im untersten Teil der Schleuse

anging, während sich die Anlage ins Schiff hinaufschob, das Armband der Schlafen-den Göttin. Würden sie es brauchen kön-nen?

„Ich spüre den Geruch des Todes", sagte Mario plötzlich. Er sprach genau das aus, was Cliff dachte.

„Ja. Es ist eine Stimmung, die ich ken-ne", erwiderte der Commander. Sie betraten das Schiff, schalteten überall die Beleuchtung an und sahen dasselbe Bild wie vor einiger Zeit - die tote Besatzung. Absolut nichts hatte sich geändert. Schließlich ertönte die Stimme von Hasso Sigbjörnson.

„Ich bin sicher, ihr vergeßt nicht, daß wir hier in der Kälte und Dunkelheit auf euch warten."

„Wir kommen." Mario und Cliff nickten sich zu. Lang-

samer, als sie gekommen waren, verließen sie das Schiff. Irgendwann würde eines der beiden Kontaktschiffe, wie auch die ORION vom Typ Schneller Kreuzer, eine Mannschaft absetzen, die das Schiff nach Terra zurückflog.

Der Boden des Lifts berührte knackend das Geröll unter der Staubschicht. Die Schleuse glitt auf, und Mario und Cliff sahen, daß sich die Strahlen der Lichtkegel an einer Öffnung der Felswand vereinig-ten. Sowohl diejenigen der Helmlampen als auch einige Scheinwerfer der ORION. Mit riesigen Schritten näherten sich der Kommandant und der Erste dem Loch im Marsfelsen.

„Gehen wir's an", sagte Mario. „Mir scheint, als gäbe es hier ein Loch, wo es vorher keines gegeben hat."

„Die Erschütterungen der Beben werden die tarnende Felsschicht heruntergebro-chen und irgendwelche Verriegelungen gelöst haben", meinte Hasso und deutete auf die glänzenden Felsstücke, die sich wie eine schräge Barriere vor zwei Stahltüren abgelagert hatten. Das Portal, breiter als drei und höher als fünf Meter,

Page 8: Fluchtburg im Weltraum

stand so weit offen, daß sich in der Mitte ein etwa halbmeter-großer Spalt gebildet hatte.

Nickend schaltete Cliff seinen schweren Handscheinwerfer ein und stellte sich, nachdem er mit einem Arm sein Gleich-gewicht wieder eingependelt hatte, vier Meter von der Pforte entfernt auf. Der weiße Lichtkegel riß das Portal und die Bruchstellen der Felsen aus der nacht-schwarzen Dunkelheit. Deutlich waren die Befestigungsklampen zu sehen, mit denen die tarnenden Felsstücke an dem Portal festgehalten worden waren.

„Ich rufe Atan", sagte Cliff leise, wäh-rend Hasso mit einem großen Schritt auf das Portal zuglitt und die rechte Tür aufriß.

„Hier Atan. Was soll ich protokol-lieren?"

„Wir dringen ein. Wir hinterlassen einige Relaiswürfel, und du sorgst dafür, daß unser Herr Vorsitzender Han Tus-Gol alles erfährt, was wir sehen und entdecken, ja?"

„Ich erwarte deine Worte. Sie werden wie Musik in meinen Ohren sein. Macht endlich voran!"

„Nichts anderes haben wir vor." Sie zogen beide Türflügel ganz auf und sahen sich einem runden Schacht gegenüber, der in stark schrägem Winkel abwärts führte.

2. Ein Dutzend Landescheinwerfer, fünf

Helmlampen und das Licht eines Hand-scheinwerfers strahlten den Beginn des schrägen, höchst seltsam aussehenden Korridors an. Es war ein kreisrunder Schacht, etwa zweieinhalb Meter im Durchmesser, aus dem rostroten Marsfel-sen geschnitten. Zwar gab es keine Stufen, und das Gefälle des Stollens war be-trächtlich, vierzig Grad schätzte die Crew, aber tiefe Querrillen im Boden und von dort hochschwingend an den Wänden

bildeten eine Art verrückter Treppe. „Keine Beleuchtungseinrichtung zu

erkennen. Die Detektoren schlagen nicht aus!"

Hasso faßte die Ergebnisse der letzten Sekunden zusammen. Cliff machte sich an den Abstieg in den dunklen Schacht. Die geringe Schwerkraft machte sich ange-nehm bemerkbar. Die fünf Personen glit-ten etwa zweihundert Meter weit abwärts, dann versperrte ihnen eine scheinbar massive, wie in den Felsen eingeschmol-zene Platte aus dunklem Metall den Weg.

Cliff sagte leise: „Vorläufige Endstation." „Noch lange nicht", schränkte Hasso

Sigbjörnson ein. „Jede Tür, die ein Schloß besitzt, kann verschlossen werden - und geöffnet."'

„Ob sie von uns geöffnet werden kann, ist indes fraglich", meinte Mario.

„Abwarten, Freund!" Cliff leuchtete die Fläche aus. Zunächst

war deutlich zu sehen, daß es zwischen Fels und Metall so gut wie keine Unter-brechung gab. Die Platte zeigte ein Muster aus Erhöhungen, die wie Nietenköpfe wirkten, dazwischen verliefen gerade Linien. Jetzt schaltete die Crew auch die Außenmikrophone der Raumanzüge an. Hasso schob sich an Cliff und Mario vorbei und ließ seine Finger im Handschuh mehrmals über die Scheinnieten gleiten. Sein Gesicht nahm den Ausdruck höchster Konzentration an. Aus den Helmlaut-sprechern kam sein Flüstern.

„Es kann kein Schloß geben, denn Schlüssel oder Impulsgeber können verlorengehen. Auch eine Lichtschranke oder dergleichen nicht, denn sie würde jedem Fremden den Eintritt ermöglichen. Aber vielleicht ein Muster, ein Kodewort, eine leicht auswendig zu lernende, sozusagen ,heilige' Zahl, etwas in dieser Art öffnet dieses Trennschott unter Garan-tie .. ."

„Und das V'acora?" fragte Cliff leise.

Page 9: Fluchtburg im Weltraum

Hassos Finger verweilten auf einzelnen Erhebungen und drückten sie. Plötzlich berührte Hasso einen verborgenen Kontakt. Etwa dreißig der scheinbar stählernen Köpfe leuchteten dunkelrot auf. Sie bildeten eine waagerecht verlaufende, asymmetrische Figur. Überrascht traten die Eindringlinge zurück und betrachteten das leuchtende Band.

„Ein erster Schritt. Erkennt jemand eine Gesetzmäßigkeit?" erkundigte sich der Bordingenieur.

„Hörst du nicht", fragte Helga ironisch, „wie wir nachdenken?"

Nach etwa fünf Minuten wußte der Kommandant, woran ihn das Muster eigentlich erinnerte. Es war für ihn eine fast abstrakte Zusammenfassung von verschiedenen Formen, die in der Kunst der Menschheitsgeschichte wichtige Rollen gespielt hatten. Sowohl in den Felszeichnungen des Ahaggarmassivs, im alten Ägypten, im Land der Sumerer, der Assyrer, der Akkader, ebenso im Indien der Indus-Kultur - Kreise, Kreuze, Linien und rechteckige Formen. Ohne zu denken, einem flüchtigen Impuls folgend, trat er vor und tippte mit dem Zeigefinger fast unwillkürlich auf verschiedene Leucht-punkte. Schon einmal hatten sie sich auf Mars ähnlichen Zeichen gegenüber gesehen.

Das, womit er keineswegs gerechnet hatte, passierte augenblicklich. Die „Nieten", die sein Finger berührt hatte, begannen hellrot zu strahlen und zu flackern. In der dünnen Luft ertönte ein schriller, modulierter Laut, eine Art elektronisches Trillern.

„Endlich weiß ich, was schlaf-wandlerische Sicherheit bedeutet!" stieß Mario verblüfft aus. „Der Boß hat's mal wieder geschafft."

Jetzt öffnete sich der Mechanismus. Die Platte zog sich langsam zurück. Die Crew konnte erkennen, daß der Rand der Platte und die Felsen völlig plan geschliffen

waren und eine maximale Abdichtung er-brachten. Dann arbeiteten irgendwelche Gelenke und kippten die Platte flach an die dahinterliegende Wand, vielmehr an eine Aussparung seitlich im nächsten Korridor-stück.

„Ich gratuliere!" sagte Atan Shubashi aus der ORION. „Ich habe mitgehört. Bitte, stellt einen Relaiswürfel auf. Ich habe inzwischen eine stehende Verbin-dung zu T.R.A.V., aber Han Tsu-Gol wird wohl von uns im Augenblick nicht gebraucht, wie?"

„Nein", erwiderte Cliff und aktivierte das einfache technische Element, das er mit selbstklebender Schaummasse in einen kleinen Felsspalt klebte. „Wir melden uns, wenn es ernsthafte Probleme gibt."

„Verstanden." Wieder richteten sich die verschiedenen

Detektoren auf die Wände des nächsten Stollens. Den Mädchen und Männern war es bewußt, daß sie sich wie Würmer in diesen Berg hineinbohrten. Myriaden Tonnen Gestein umgaben sie von allen Seiten. Sie waren abgeschlossen wie im tiefsten Schacht einer gefährdeten Mine. Die Gefahr des Weltraums, mit umge-kehrten Vorzeichen. Aber sie verdrängten diese Gedanken mehr oder weniger erfolgreich und begannen den zweiten Teil ihres Eindringens. Es war ein langsamer, beschwerlicher Vorstoß in die unbekann-ten Tiefen des Planeten. Einen einzigen, winzigen Vorteil gab es - den verringerten Kraftaufwand. Nicht mehr.

Als sie etwa zweihundert Meter eines schnurgeraden, ebenfalls dunklen Felsstol-lens zurückgelegt hatten, drehte sich de Monti herum und schickte den Strahl seiner Helmlampe zurück zu der rätselhaf-ten Schottanlage.

„Wir sind nicht eingesperrt", sagte er leise und ging weiter. „Das Schott hat sich nicht geschlossen."

Aus dem Raumschiff kam Antwort. „Ich kann euch ausgezeichnet verstehen.

Page 10: Fluchtburg im Weltraum

Die Signale werden nicht abgeschwächt und brauchen auch nicht verstärkt zu werden."

„Alles klar", murmelte der Commander. Wieder änderte sich die Szene. Der

Stollen verbreiterte sich, knickte abermals ab und führte abwärts, wieder in jenem steilen Winkel, und darüber hinaus scharf nach links. War es ein Fluchtweg? Ein Geheimgang jener unbegreiflichen Rudra-jatruppen oder ihrer Techniker?

Niemand wußte es. Schweigend, vorsichtig und mit mäßiger

Eile drangen sie weiter vor. Inzwischen hatten sie einige tausend

Meter zurückgelegt, waren nach rechts und links und fast immer abwärts gegangen. Nach wie vor entdeckten sie keine Fallen, keine tödlichen Barrieren und - kein Licht. Etwa neunzig Minuten waren vergangen, seit sie das erste Schott geöffnet hatten. Abermals verdrängte Cliff McLane die deprimierende Vorstellung, daß die geringste Erschütterung der Marskruste sie zerdrücken konnte wie . . . ihm fiel kein passender Vergleich ein. Mißmutig sprang er immer wieder vorwärts, fing sich an der Wand ab, setzte die Stiefel auf die Kanten der tiefen Einschnitte und federte den leichten Aufprall mit den Knien ab. Hüpfend und halb schwebend kamen sie tiefer .. .tiefer ...

„HALT!" Hassos Stimme war scharf und gab

eindeutig den Eindruck der Gefahr wider. Augenblicklich bremsten die vier hinter ihm ihren nächsten Schritt mit den Händen an den Felswänden ab.

„Was gibt es?" Hasso drehte sich herum, schaltete die

Helmlampe aus, als er sah, daß sie blendete, und meinte:

„Eine neue Unterbrechung. Ich bin noch nicht sicher, ob es eine Falle ist oder eine Art Sicherheitsverschluß. Kommt hier-her!"

Der schräge Stollen endete und bildete

eine Art Kammer. Die Raumfahrer standen auf einer aus dem Fels gehauenen Rampe und sahen vor sich ein rundes Loch im Boden, nicht größer als zwei Meter im Durchmesser. In diesem Loch befand sich eine Flüssigkeit; keineswegs Wasser, denn dies hätte sich im Lauf der Jahrtausende zweifellos verflüchtigt, und an die Existenz von Quellen oder Tanks glaubte keiner von ihnen. Irgendein Öl oder eine chemische Lösung, denn etwa zwei Handbreit war der Spiegel einst höher gewesen, denn dort an den Felsen hatte sich ein weißlicher, kristalliner Nieder-schlag ausgefällt und war erstarrt.

„Zweifellos haben sie sich etwas Origi-nelles einfallen lassen", erklärte Mario mit rauher Stimme. „Ich denke in eine bestimmte Richtung. Es könnte sich in dem Stollen ein Knick befinden, eine U-förmige Unterbrechung."

„Dann wäre dies ein Syphon. Wir könn-ten ihn tauchend überwinden."

„Und dort gegen stromführende Drähte oder Robotkrebse stoßen, die an uns knabbern?" warf Arlene ein.

„Auch wird es schwierig sein, die Flüs-sigkeit zu analysieren."

„Ich glaube", antwortete Cliff der Fun-kerin, „daß diese Sperre hier ungefährlich ist. Sie verhindert das Eindringen größerer Wesen, als es Menschen sind. Und ich bin inzwischen ziemlich sicher, daß es sich hierbei um einen Fluchtweg handelt. Wesen, die mit Flucht rechnen, bauen sich selbst keine überflüssigen Hindernisse ein. Die Frage ist nur, ob ich recht habe - oder ob wir uns einer pessimistischeren Auffassung befleißigen sollten."

„Ich neige zu der zweiten Variante", sagte Arlene mit Bestimmtheit. „Ich halte dieses Loch für gefährlich."

Mario de Monti grollte: „Gäbe es in unserer Crew noch einen

Raguer oder Vlare MacCloudeen, so würde sich jeder der beiden tollkühn bereits in diese Brühe gestürzt haben. Ich

Page 11: Fluchtburg im Weltraum

übernehme diese Aufgabe. Ihr sichert mich, und ich verspreche, keinerlei unsinniges Risiko einzugehen, klar?"

„Es wäre uns allen nicht recht, wenn du dort ertrinken würdest!" sagte Cliff sarkastisch, aber selbst Shubashi hörte Sorge und Zweifel aus der Stimme. „Gut. Einverstanden. Aber mit sämtlichen Vorsichtsregeln, die wir hier anwenden können, Mario!"

„Versteht sich." Sie wußten, was sie zu tun hatten, und

zwanzig Minuten später war der Erste Offizier entsprechend ausgerüstet.

Mit drei Spezialseilen war Mario mit den anderen Raumfahrern verbunden. In einer Hand hielt er die HM 4, die vermut-lich auch in dieser öligen Flüssigkeit funktionierte. Diese schwarze, das Licht absorbierende Flüssigkeit verhielt sich wie Quecksilber; als Mario das rechte Bein vorstreckte, versank er zwar darin, aber als er den Stiefel wieder hervorzog, glitt die Flüssigkeit rückstandslos daran herunter.

„Alles klar?" fragte Helga. Mario saß am Rand des Loches, beugte sich jetzt vor und streckte die Arme aus. Die Spezialseile strafften sich, von Cliff, Arlene und Hasso festgehalten. Cliff fühlte, wie sich sein Herzschlag veränderte. Er glaubte, die schnellen, hart pochenden Schläge als Echos im Raumanzug zu hören. Langsam kippte Mario nach vorn und verschwand gespenstisch langsam in der schwarzen Flüssigkeit. Seine Stimme klang gepreßt, als er kommentierte:

„Kaum etwas zu sehen . .. Licht wird verschluckt. .. ich gehe tiefer . . ."

Nur die drei Sicherheitsleinen bewegten sich. Nach rund drei Metern - es waren Knotenmarkierungen in den Leinen - murmelte Mario:

„Ich taste auf Felsen. Es geht vorwärts. Vielleicht doch ein Syphon, wie Hasso meint... ja, es geht geradeaus. Ich stoße mit dem Rücken an. Keine weiteren Sperren. Ich ..."

Eine qualvoll lange Pause entstand. Dann ächzte der Komputerspezialist:

„Es geht wieder aufwärts. Es wird enger ... ha! Ich bin hindurch. Wartet, ich suche nur einen Hebelpunkt, dann kann ich einen nach dem anderen durchziehen. Es war leichter als gedacht. Keine Spuren von diesem quecksilbernen Ölzeug."

„Bravo", murmelte Cliff, unendlich erleichtert. „Wir scheinen heute tatsächlich das glückliche Ende der Mission erwischt zu haben."

Mario hakte zwei Leinen ab, Arlene befestigte die dritte an ihrem Gürtel, dazu verband sie sich mit Helga. Dann ging alles ziemlich schnell und mit jener wortlosen Perfektion, die sie im Verlauf vieler Jahre der Zusammenarbeit erreicht hatten. Zunächst zog Mario Arlene durch den Knick des Felsganges, dann folgte Helga, schließlich sicherte der Comman-der seinen Freund Hasso - und er selbst ließ sich von Hasso als letzter durch den Syphon ziehen.

Er empfand nichts. Es war lediglich, als tauche er mit geschlossenen Augen durch das Wasser seines Swimming-pools neben dem Wohnturm an der Küste Australiens. Es gab keinerlei außergewöhnliche Emo-tionen, weder kalten Schrecken noch ein Gefühl des Ekels. Er spürte den Zug am Gürtel des Anzugs, tastete sich mit den Händen am Fels entlang, drehte sich am tiefsten Punkt des Knicks auf den Rücken und schwebte absolut schwerelos wieder aufwärts, durchstieß mit dem Helm den schwarzen Flüssigkeitsspiegel und wurde von vier Armen über die Felskante gezogen. Erstaunt sah er sich in dem Gemach um; es war fast identisch mit der Kammer am anderen Ende des Knicks.

„Ein seltsamer Sinn für Humor oder ein Sinn für seltsamen Humor muß diejenigen ausgezeichnet haben, die einen solchen Flüssigkeitsverschluß einbauten!" meinte er und entdeckte, daß nicht einmal auf dem empfindlichsten Teil des Anzugs, der

Page 12: Fluchtburg im Weltraum

Helmscheibe, Rückstände haftengeblieben waren.

„Vielleicht war unter den Truppen der Invasionsarmee ein klassischer Sanitär-fachmann von Terra!" witzelte Shubashi aus der ORION. „Ihr habt den Naßver-schluß anschaulich geschildert."

„Vorläufig bewegen wir uns noch immer in diesem Fluchtgang", sagte Arlene. Sie verstauten die benutzten Ausrüstungsstük-ke. „Wann kommen wir endlich in einen wichtigen Teil der Anlage?"

„Nach der nächsten Biegung des Ganges werden wir die ersten Magmaströme sehen!" warf Mario ein.

„Ausgerechnet der längst erkaltete Mars. Wir sind noch lange nicht in einer Tiefe, die interessante Funde verspricht. Erinnert euch der Tiefenangaben der eindringenden Panzermaulwürfe!" widersprach der Commander.

Hasso sagte langsam und nachdenklich: „Ich messe den Grad unseres Ein-

dringens daran, wie gut ausgestattet die Umgebung ist. Wenn wir den ersten Korridor, Saal oder Raum betreten, der beispielsweise beleuchtet ist, nähern wir uns dem Kern der Anlage."

„Natürlich hat unser Hasso recht", sagte Helga. „Machen wir also weiter mit dem langweiligen Marsch in die Tiefe."

„In Ordnung. Los!" Die Raumfahrer verließen die Kammer

und betraten abermals einen jener schräg abwärts führenden, mit Vertiefungen ausgerüsteten Stollen. Die Minuten summierten sich zu Viertelstunden, schließlich sagte ihnen Atan von seinem Funkpult aus, daß für sie die fünfte Stunde im Felslabyrinth begann. Keine zehn Minuten später betraten sie den ersten Raum, der unter Hassos Charakterisierung fiel. Hasso selbst war es, der in einer Höhe von knapp einem Meter über dem hellen, anscheinend aus Kunststoff bestehenden Boden einen wuchtigen, unverkennbaren Lichtschalter entdeckte und hineindrückte.

Zuerst zögernd, dann schneller, erhellten sich plattenförmige Lichtelemente der Decke. Einige waren ausgefallen und bildeten ein wirres Muster zwischen der strahlenden Fläche. Es war eine runde Halle, in der vier glasartige Röhrenenden aus dem Boden wuchsen und in einer Höhe von etwa zehn Metern endeten. Im Boden befanden sich zwei rampenartige Öffnungen.

„Offensichtlich befinden wir uns jetzt näher am Kern der versteckten Anlage", erklärte Hasso ruhig und richtete die Sonde des Strahlungsdetektors auf verschiedene Stellen der Umgebung.

„Und das sind mit einiger Sicherheit Lifts!" murmelte Cliff, untersuchte ebenfalls das Gelände vor seinen Füßen und ging langsam die rund dreißig Meter bis zu der ovalen, hochkant stehenden Öffnung in einer der milchig leuchtenden Säulen. Arlene folgte ihm.

„Die mit ebensolcher Sicherheit längst nicht mehr funktionieren!" sagte Mario und unterstützte Cliff und Hasso bei ihren Versuchen, Fallen, Strahlensperren oder ähnliche Gefahren zu entdecken.

„Zugegeben, es wäre ein Wunder!" Zuerst untersuchten sie die glatten

Wände. Sie fanden heraus, daß es be-arbeiteter Fels war, mit einer stahlharten Masse gespritzt, die einstmals flüssig gewesen sein mochte. Jetzt bildete sie eine gelbe, poröse Schicht, die wie Tuffstein oder Schaumgummi aussah. Hin und wieder verbargen sich unter dieser Schicht energieführende Kabelbündel und solche, die keinerlei meßbare Elektronenströme erkennen ließen. Ein einziger Blick in die Röhren bewies, daß Cliff richtig vermutet hatte - sie führten in abgrundtiefe Zonen der Marskruste.

Die Umhüllung des nächsten aktivierten Relaiswürfels fiel senkrecht, langsam und sich drehend in einem der Schächte nach unten.

„Die Anlage ist also außer Betrieb",

Page 13: Fluchtburg im Weltraum

sagte Helga und deutete auf eine der beiden Rampen. „Uns bietet man natürlich wieder Stufen an."

Die Lifts führten nach unten, aber es gab keinen anderen Ausgang aus dieser Halle; die Raumfahrer vermuteten, daß es an anderer Stelle ein System geben mußte, das hinauf zur Oberfläche des Planeten führte. Jene beiden Rampen, durch Hassos Schalterdruck ebenfalls ausgeleuchtet, führten auch nach unten. Es stand ihnen als einzige Möglichkeit abermals der Weg tiefer hinunter offen. Aber immerhin konnten sie jetzt ihre Helmscheinwerfer ausschalten und mußten sich nicht mehr durch die Gänge tasten.

Mario schaltete probeweise den Würfel ein und aus und stimmte ihn mit Atans Geräten ab.

Jetzt bestand die Relaisstrecke bereits aus drei Elementen; der ORION und zwei Senderempfängern, deren Energiezelle nötigenfalls jahrelang arbeitete.

„Pause!" sagte Cliff. „Wir haben schließlich jene fabelhaften Nah-rungspillen-Automaten in den Anzügen. Außerdem spüre ich meine Hühneraugen."

„Mahlzeit!" wünschte Shubashi. „Etwas neues für das Bordbuch?"

„Nichts, das über unsere plastischen Schilderungen hinausgehen würde", meinte Hasso. „Ich glaube, wir haben ein ganz gutes Bild von unserem Trauer-marsch gegeben!"

„Doch", erwiderte Shubashi, den sie beneideten, weil er sich in der ORION frei bewegen konnte.

Die Raumfahrer setzten sich, tranken hochkonzentrierte Flüssigkeiten voller wohlschmeckender und aufbauender Substanzen, kauten auf den faserigen Würfeln, die eine einfache Automatik ihnen förmlich zwischen die Zähne schob, überprüften ihre Vorräte an Atemluft und regelten die Ventile neu ein. Eines war ihnen spätestens hier klargeworden: Die Wesen, die einmal diese Anlage erbaut

und benutzt hatten, waren erstaunlich menschenähnlich. Nichts war so fremdar-tig, daß es von ihrem menschlichen Verstand nicht begriffen werden konnte.

Das galt natürlich auch für die Endlos-wendeltreppe, die sie nach der Pause betraten. Eine Wendeltreppe, die in endlosen Windungen offensichtlich geradewegs in den Kern des Roten Planeten zu führen schien . . .

3. Cliff hatte die Zeit gestoppt. Hun-

derteinundneunzig Minuten lang wander-ten sie abwärts. Irgendwann hatte Helga aus Langeweile und in kalter Wut vorge-schlagen, sich gegenseitig Geschichten zu erzählen oder wenigstens die Stufen zu zählen. Mario hatte fluchend geantwortet, jeder wisse vom anderen die intimsten Geheimnisse, und keiner von ihnen könne mit solch hohen Zahlen hantieren, und wenn sie nicht bessere Einfälle habe, dann solle sie schweigen und weitergehen. Das war alles, was sie während des drei-stündigen Weges sagten.

Jedem von ihnen schwindelte, als sie schließlich von ihrem eigenen Schwung geradeaus getragen wurden.

„Endlich!" Hasso schrie es fast, blieb stehen und

legte sich dann schweigend flach auf den Boden. Sie waren an einem vorläufigen Ziel angelangt. Sie befanden sich in einer der Basen der Invasionsflotte. Die Basis war so gut wie leer. Aber trotzdem würde sie ein interessantes Bild abgeben.

„Wir machen Pause. Und zwar so lange, bis wir diese verfluchten Kreise

vor den Augen losgeworden sind", ordnete Cliff an und suchte sich einen massiven Pfeiler, an den er seinen Rücken lehnte. Er schloß müde und erschöpft die Augen.

„Und hier wird es auch von Sicher-heitssystemen wimmeln", meinte Mario

Page 14: Fluchtburg im Weltraum

und sah sich um. „Ich werde versuchen, einen Raum zu finden, den wir mit unserer Luft fluten können."

„Versuche es", murmelte Cliff. Er spürte seine Muskeln. „Aber bleibe vorsichtig!"

„Keiner von uns ist Selbstmörder", erwiderte Mario und schleppte sich auf den Rand der Anlage zu. Sie befanden sich jetzt in einer riesigen Höhle, die einem Zylinder glich. Während das Zentrum leer war, sprangen kreisringförmig die einzel-nen Ebenen der Basis vor, waren durch Säulen, Rampen und Trägerelemente miteinander verbunden. Ein riesiges Schiffsmagazin, in dem die Einheiten übereinander geruht hatten. Mächtige Träger und magnetische Klemmen ließen erkennen, daß allein in diesem Hohlzylin-der mehr als ein Dutzend der kastenförmi-gen, an den Ecken gerundeten Invasions-schiffe gelagert gewesen waren.

Bisher, dachte Cliff, hatte man keinen lebenden Teilnehmer der Invasionsarmee gesehen. Sie waren alle mit ihren Schiffen umgekommen. Kaum denkbar aber war, daß die auf „Legrelles Welt", dem Planeten Vyamar, trainierten, von der Erde geraubten Menschen einen Teil der Besatzung hätten bilden sollen. Nun, man würde Spuren hier finden, wenn es welche gab.

Er war zu müde, sich darüber im Mo-ment Gedanken zu machen.

Arlene, Cliff und Helga schafften es, im Raumanzug kurz einzuschlafen und wurden durch Mario geweckt, der einen leeren Raum entdeckt hatte, eine sicher nicht sehr wichtige, weil technisch wenig ausgerüstete Kommandozentrale mit einigen Nebenräumen. Sie waren mit dichten Schotten versehen und enthielten Luft, deren Gemisch auf dem Indikator eine Grünanzeige hervorrief. Mario sagte aufgeregt, daß er vorsichtig eine Probe ausgeführt hatte. Die Luft sei abgestanden, aber kühl und atembar.

Sie folgten ihm etwa hundert Meter weit

in den Fels hinein, der an dieser Stelle aus einer Unzahl von Kavernen bestand. Sie waren, ohne es zu wissen, in eine gewalti-ge technische Anlage eingedrungen.

„Zweifellos ein Hangar der Inva-sionsschiffe", murmelte Helga. „Das verspricht interessante Funde."

„Ein Hangar, das bedeutet: Kraft-stationen, Schaltstationen, die gesamte Logistik samt Nahrungsmittel für die Truppen, die diese Schiffe bevölkert haben. Und so weiter", erklärte Hasso.

Hinter ihnen schloß sich ein gläsernes Schott mit überdimensionierten Dich-tungswülsten. Die Indikatoren, in die Anzugärmel integriert, produzierten auf Knopfdruck ein strahlendes Grünlicht. Dies bedeutete, daß die Gaszusammenset-zung der Erdatmosphäre im Idealfall ent-sprach.

Sekunden später klappten die fünf ihre Helme zurück und sahen sich irgendwie erleichtert an.

„Gibt es hier Duschen, Ruhebetten, eine Bedienung mit diversen Getränken oder ähnliches?" fragte Hasso den Kyberneti-ker. Mario schüttelte den Kopf.

„Nein. Nur diese Schaltzentrale und ein paar mehr oder weniger leere Räume. Ohne jeden erkennbaren Zweck."

„Ich verstehe. Immerhin rund ein Dut-zend bequem aussehender kleiner Sessel", ächzte Helga und setzte sich vor ein Schaltpult. Der Sessel kippte nach einigen Versuchen in eine fast waagerechte Lage.

„Wir scheinen eine ziemlich leerge-räumte Basis betreten zu haben", murmelte Hasso und zog seine Kamera aus der Oberschenkeltasche.

„Darum kümmern wir uns nachher. Setzen wir unsere Pause fort", ordnete Cliff an und brachte seinen Sessel ebenso in die Ruhestellung. Sie alle waren diszipliniert genug, und sie störten sich gegenseitig nicht, obwohl außerhalb des Raumes eine Menge Überraschungen auf ihre Entdecker warteten. Zwei Stunden

Page 15: Fluchtburg im Weltraum

lang ruhten sie sich aus, einigen gelang es, etwas zu schlafen.

Eine Basis des Rudraja. Wie sahen diese Wesen eigentlich aus? Vielmehr, wie hatten sie ausgesehen, als sie noch mitten im Sonnensystem ihre Basen bauten, zusammen mit Hilfskräften, die mehr oder weniger humanoid gewesen sein mußten? Würden sie hier Bilder finden oder Gebrauchsgegenstände, die deutliche Hinweise gaben? Oder bedienten sich die Rudraja-Erben oder gar „das" Rudraja der frühen Menschen? Der Bewohner des dritten Planeten? Lauter Fragen, keine Antworten, dachte Hasso Sigbjörnson, aber er ahnte, daß die Überraschung für ihn kei-neswegs so groß sein würde, wie es zu vermuten war.

Der Umstand, daß auf dem gesamten Weg in die Tiefe kaum auffallende Spuren der langen Zeitspanne zu finden waren - es gab keinen Staub, keine Zerstörung, lediglich ausgefallene Geräte -, beunruhig-te den Ingenieur ebenfalls. Er mußte damit rechnen, daß es hier Roboter gab, die Säuberungsaufgaben hatten. Oder be-stimmte Einrichtungen, die demselben Zweck dienten.

Schließlich schwang sich Cliff aus dem Sessel und sagte, nachdem er lustlos einige gymnastische Bewegungen ausgeführt hatte:

„Wir sollten uns umsehen, Freunde. Hangars und Maschinen, vielleicht auch ein nicht gestartetes Raumschiff warten auf uns."

„Nach uns werden die Spezialistenteams von der Erde die Basis untersuchen", erklärte Hasso. „Wir sollten uns nur einen generellen Überblick verschaffen."

„Zu mehr kommen wir ohnehin nicht. Wir sind nur der Spähtrupp!"

Mario stand auf und betrachtete jetzt, ausgeruhter und aufnahmefähiger, die Pulte und die Sessel. Sie waren entschie-den für Angehörige eines Volkes gebaut, das durchschnittlich kleiner war als die

Terraner. „Der Stand ihrer Technik allerdings",

unterbrach Arlene die Überlegungen der drei Männer, „entspricht dem der Erde mühelos. Das alles hier ist keineswegs primitiv zu nennen."

„Wir werden nichts sehen können, wenn wir hier bleiben und diskutieren", warf Helga ein. Sie bog das Mikrophon aus der Halsplatte des Raumanzugs hervor und fragte langsam: „Atan! Ich rufe Shubashi an Bord der ORION. Hörst du uns gut?"

„Nicht mehr ganz so gut", erklärte Atan, der ebenfalls müde war und hörbar gähnte. „Ihr solltet ein neues Relais aufstellen. Ich merke, daß ihr euch zwischen abschirmen-den Eisenmassen bewegt."

„Richtig. Wir kommen deinem Wunsch augenblicklich nach", versprach der Commander und zog einen Würfel aus der Verpackung.

Nachdem sie ihn justiert hatten, schlos-sen sie die Helme der Raumanzüge, schalteten die Innenversorgung ein und verließen den Raum.

Sie begannen einen Rundgang auf der kreisringförmigen Sektion, die sie zuerst betreten hatten. Schweigend legten sie fünfhundert Meter im Zickzack zurück. Sie gingen zunächst an die Brüstung der Plattform, sahen hinauf und hinunter. Immer wieder schaltete Hasso einzelne Systeme von Beleuchtungskörpern an, aber viele Teile der gewaltigen Anlage schienen schon seit dem Anlaufen der ferngeschalteten Kraftwerke ununterbro-chen beleuchtet zu sein.

Der zylindrische Hohlraum reichte mindestens eintausend Meter tief in den Mars hinein. Überall sah man die Klam-mern, in denen die Schiffe schwebend gehalten worden waren, überall waren Verbindungsbrücken zurückgefahren. Vor unermeßlich langer Zeit mußten Maschi-nen oder ein letzter Arbeitstrupp eine geradezu phantastisch perfekte Säube-rungsaktion durchgeführt haben; es gab so

Page 16: Fluchtburg im Weltraum

gut wie keinen Abfall oder Schmutz. Rechts von den Raumfahrern gähnte der

Abgrund, links befanden sich in einer Höhe von mindestens fünfundsiebzig Metern Hangartore, die zum Teil offen-standen. Über ihnen folgte die nächsthöhe-re Ebene. Als Cliff das nächstemal an den Abgrund herantrat, sich zurückbog und in den Startschacht hinaufblickte, sah er nicht das, was er erwartet hatte.

„Hasso, Arlene - kommt einmal her!" Durch die Ringausschnitte strahlender

Scheinwerfer erkannte er einen Teil des Startschachtes, jener runden Röhre, knapp hundert Meter im Durchmesser, die nach allen seinen Informationen kaum weniger als siebzehntausend Meter senkrecht nach oben führte und eigentlich offen sein mußte.

„Seht ihr, was ich sehe?" fragte der Commander. „Erstens, daß der Schacht nicht absolut senkrecht ist und daß zweitens irgendwelche Trümmer im labilen Gleichgewicht daranhängen?"

Hasso schaltete das Linsenfeld der Sichtplatte ein und starrte schweigend nach oben. Vor Tagen waren Hunderte der ziegelförmigen Schiffe hier gestartet. Die Beben mußten einen Teil des steinernen, tief hinunterreichenden Felsens wieder in den Schacht geworfen haben. Oder ein Teil des Schachtes war bei dem Beschuß durch die Schnellen Kreuzer des toten Admirals zerstört worden.

„Ja. Du hast recht. Der Segen kann jeden Augenblick herunterkrachen", sagte Hasso flüsternd. „Wir sollten etwas vorsichtiger sein."

Sie machten ununterbrochen Auf-nahmen, und mit einem Zusatzobjektiv filmte Hasso auch diesen überraschenden Effekt. Zwei gewaltige Felsbrocken hatten sich gegeneinander und in den nur flüchtig geglätteten Felswänden verkeilt. Kleinere Trümmer lagen auf ihnen, darüber wieder Geröll und vermutlich auch Schutt und Staub. Mario besichtigte diesen höchst

gefährlichen Felskorken und sprach seine Eindrücke auf das elektronische Bordbuch Shubashis.

„Hoffentlich bricht diese gigantische Gesteinsmenge erst herunter, nachdem wir wieder an Bord sind", meinte Arlene leise. „Ich habe alles andere als ein gutes Gefühl."

„Wir werden sehen. Schließlich werden weder Einrichtungen der Erde vernichtet, noch werden unersetzliche Hinterlassen-schaften zerstört. Es gibt noch eine Serie anderer, offener Startschächte", schwächte der Commander ab.

Sie sahen mehr Einzelheiten der gewal-tigen Anlage.

Bündel von schenkeldicken Ver-sorgungskabeln, die von Raum zu Raum führten und immer wieder abzweigten. Halbrobotische Werkstätten, in denen noch Teile in die Montageklammern eingespannt waren. Lager mit merkwürdig geformten Ersatzteilen, von denen die Crew nur wenige identifizieren konnte. Magazine voller farbiger Kisten und faßähnlicher Container. Dann Wohnräu-me, die etwa so luxuriös eingerichtet waren wie eine Gefängniszelle des achtzehnten Jahrhunderts: kahl, unpersön-lich, leer und deprimierend. Schlafsäle mit Hunderten kleiner Lagerstätten, staubfrei und trostlos leer. Was immer sich hier abgespielt hatte - es war endgültig vorbei. Bevor sie in die Schiffe kletterten, hatten die Bewohner dieser Station hinter sich alle Spuren beseitigt.

Riesige Maschinen, halb mechanisch, halb programmgesteuerte Strahlenfräsen, lagen auseinandergenommen und in durchsichtige Kunststoffhüllen eingespon-nen in großen Felsenhallen. Man würde sie heute noch gebrauchen können, um irgendwo Höhlensysteme dieser Art herstellen zu können.

Schließlich, als sie sich an einem inter-essanten Knotenpunkt befanden, sagte Mario, was sie alle dachten:

Page 17: Fluchtburg im Weltraum

„Vor Jahren, nicht eingerechnet den Zeitsprung, landete ich im Urlaub einmal auf einem Kolonialplaneten. Dort, im Transitgebäude des Raumhafens, sah ich ein bemerkenswertes Piktogramm. Ein Strichmännlein saß an einem Schreibtisch, vor ihm stand ein anderes Strichmännlein, einen Koffer in der Hand. Zwischen beiden schwebte ein feuerrotes Fragezei-chen. Dieses Zeichen symbolisiert unsere Situation. Wir sind die Raumfahrer mit dem Koffer: ratlos.“

„Und ganz sicher finden wir kein Strichmännlein am Schreibtisch", sagte Helga.

Diese Schaltzentrale schien das Zentrum dieser Ebene hier zu sein. Wohnräume, ein riesiger Schlafsaal, Magazine und eine Art Fahrbereitschaft gruppierten sich darum. In dem Bereitschaftsraum befanden sich ein Dutzend von kleinen Scootern, die in der weiträumigen Anlage einst als Transportmittel gedient haben mochten. Aber sie alle waren energetisch tot, wie die Crew bald herausfand.

„Bleibt einmal stehen", murmelte Hasso plötzlich und hob den Arm steil in die Höhe. „Ich glaube, ich habe etwas entdeckt."

Er deutete auf verschiedene Stellen. Pulte und Sitze, zwei der Scooter, auf den Boden und auf ein riesiges Panoramafen-ster.

„Dies sind nach allen unseren Er-fahrungen die tiefen Rillen von Strahlen-schüssen!" behauptete er fest. „Bitte, nichts verändern."

„Das kann bedeuten, daß hier gekämpft wurde. Planvolle Zerstörungen sehen anders aus", pflichtete Cliff ihm in plötzlich neu erwachtem Interesse bei.

Sie betrachteten die Spuren und versuch-ten sie zu analysieren. Sie erzählten den Raumfahrern eine vorerst noch undeutli-che Geschichte.

Eine Partei schien sich in der Nähe der Pulte und Sitze verschanzt zu haben. Die

andere schien aus dem Wohnbereich gekommen zu sein. Sie versuchte - damals, vor einer unbekannten Anzahl von Jahrhunderten -, in Richtung auf die Magazine und Hallen voller Ersatzteile zu flüchten. Ihr Weg führte nach einem offen-sichtlich kurzen, aber erbitterten Gefecht durch einen kurzen, mit Stahleinbauten abgesicherten Felsstollen und in den Raum mit den Scootern hinein. Dabei war auch die Scheibe getroffen und in einem wilden Muster geschmolzen worden.

„Sehr interessant", bemerkte Arlene. „Aber offensichtlich sind die Toten weggebracht worden."

„Falls es Tote gegeben haben sollte!" sagte Cliff.

Vorsichtig schwärmten die fünf Raum-fahrer aus und bildeten eine lockere Kette. Sie folgten den Spuren, umrundeten die exakt aufgestellten Scooter und sahen, daß sich die Spuren des Gefechts fortsetzten.

„Sie sind in das Magazin gerannt!" murmelte Hasso.

„Auf der Flucht? Meinst du, daß es eine Flucht war?" fragte Helga und sah, daß auch die verkleideten Felswände und sogar die Schienen halbenergetischer Portalkrä-ne von den tiefen Schnitten mit den charakteristischen Blasenspuren an den Rändern durchzogen waren.

„Es kann eine Flucht gewesen sein. Aber alles läßt sich jetzt nicht mehr rekonstruie-ren", gab Arlene zurück und ging weiter. Sie kamen in den nächsten Raum. Die flüchtende oder sich zurückziehende Gruppe schien zahlreicher, oder der Kampf schien erbitterter geworden zu sein. Die stählernen Regale, die Stapelgeräte, der Boden und sogar die Beleuch-tungskörper an der Decke und an den Wänden trugen schwere Schußspuren. Und ein Teil der Maschinen, Geräte und Verpackungen war glatt durchgeschnitten und zusammengefallen.

„Es steht fest, daß erbittert gekämpft wurde", sagte Mario und kauerte sich vor

Page 18: Fluchtburg im Weltraum

einem halb zerstörten Raumanzug zu Boden. Es war ein schwerer, mit Gelenk-kugeln geschützter Anzug, dessen Vorder-seite, der Helm und der rechte Arm ausge-glüht und zerschnitten waren. Abermals wurde ihre Vermutung bestätigt, daß jene Hilfstruppen keine Menschen gewesen waren, sondern weitaus kleinere, aber humanoide Typen.

Schweigend gingen die Raumfah-rerweiter.

Sie sahen, daß sich die Gruppe zurück-gezogen und jede Deckung ausgenutzt hatte. Überall waren Strahlerschüsse, ausgeglühte Schußkrater und die Schnitte der Schußbahnen zu sehen.

Plötzlich hörten sie vor einer Felswand auf. Einer nackten, glatt abgeschliffenen oder mit Höchstleistungsstrahlen vergasten Felswand.

Interessiert starrten die Raumfahrer zu Boden, denn die Spuren waren sehr untypisch.

Die Schnitte erreichten links von ihnen die Felswand und den Boden. Je mehr sich die Augen nach rechts richteten, desto weiter entfernt von der Felswand hörten die tief eingebrannten Schußspuren auf. Es sah aus, als habe hier eine Tür oder ein Portal schräg offengestanden, mit dem Anschlag auf der linken Seite. Dahinter gab es keine Spuren. Hasso trat vor und ging entlang der glatten, fugenlosen Felswand hin und her. Er verglich die Muster und schien einen ganz bestimmten Verdacht zu haben. Nach einer Weile sagte er nachdenklich:

„Das sagt mir etwas. Diese Felswand ist keine Felswand, sondern ein Schott, das sich wie eine gute, klassische Tür öffnet. Während des Rückzugsgefechts stand das Portal so weit offen."

Er schritt die Linie auf dem Boden ab, genau dort, wo die Schußspuren endeten.

Spekulationen, Fragen, Vermutungen und schiefe Gewißheiten. Alle Annahmen konnten richtig sein, fast alle konnten

falsch sein. Wie würde die Wahrheit aussehen, falls sie jemals genau entdeckt wurde? Cliff erkannte das System hinter Sigbjörnsons Überlegungen und sagte:

„Das ist einsehbar. Auch ein blinder Raumfahrer findet hin und wieder ein Schott."

„Nur ist dies kein Sesam-öffne-dich-Fels", konterte Helga. „Wo sind unsere hilfreichen Detektoren?"

„Schon im Einsatz", erklärte Mario, der bereits mit seiner Sonde den Boden und die Felswand zu testen versuchte. Aber sowohl das V'acora als auch die verschie-denen Lichter und Skalen der Testsonden zeigten keinerlei Reaktionen. „Wir stehen vor einem Schott und finden den Auslöser nicht!" stellte Hasso ärgerlich fest. „Strengt euch an. Wir suchen eine Stelle, die verborgen und dennoch sichtbar ist."

„Richtig. Bei einer Flucht kann sich kein Wesen lange damit aufhalten, geheime Schaltungen durchzuführen."

Sie verbrachten länger als eine Stunde damit, eine Möglichkeit zu finden, diese Metallplatte mit der Verkleidung aus Felsen zu öffnen. Sie entdeckten ohne Mühe den haarfeinen Riß, der die Umrisse des Portals kennzeichnete. Aber sie fanden keinen Schalter, keinen Hebel, keinen Druckpunkt, nichts, was die Tür bewegte.

Schließlich lehnte sich Helga an die Felsplatte und wippte mit dem Oberkörper vor und zurück.

„Vermutlich wurde der Mechanismus irgendwo geschaltet. Wir können nicht jeden Schalter oder Regler in allen Räumen hier bewegen und kontrollieren, ob er den Fluchtweg öffnet."

Offensichtlich war der Druck, den ihr Körper unrhythmisch auf die Platte ausübte, das Signal gewesen. Ein scharfes Klicken ertönte, dann ein Summen. Schließlich wirkte die fein eingestellte Sensorschaltung, und ein verborgener Mechanismus schob die Felsplatte auf. Auch ein Händedruck, vielleicht sogar ein

Page 19: Fluchtburg im Weltraum

mehrmaliges Drücken mit einem Finger hätte genügt, um das Schott zu öffnen.

„Das ist einer der gemeinsten Tricks, die mir untergekommen sind", fluchte Cliff. „Eine zu leichte Lösung ist die schwierig-ste. Danke, Helga, daß du müde warst und dich anlehnen mußtest."

Helga winkte bescheiden ab und sah zu, wie sich der Fels bis zu einem Winkel von neunzig Grad öffnete. Dahinter lag ein ebenfalls erhellter, mehr breiter als hoher Korridor, der in einer leichten Krümmung nach rechts führte.

„Und es war doch eine heillose Flucht!" stieß Mario hervor, als er den Boden des Tunnels sah und die Gegenstände, die darauf verstreut lagen.

Alles, was jene Wesen am schnellen Fortkommen gehindert hatte, war wegge-worfen worden.

4. Cliff war versucht, sich im Nacken zu

kratzen; der Umstand, daß er einen Raumanzug trug, verhinderte diese Geste totaler Ratlosigkeit.

„Das sieht wirklich sehr interessant aus", murmelte er nachdenklich. „Eine Gruppe wollte sich absondern und rüstete sich aus. Seid ihr soweit meiner Meinung?"

Langsam gingen die fünf Raumfahrer in den hell erleuchteten Korridor hinein. Sie versuchten zu erkennen, um welche Gegenstände es sich überhaupt handelte. Der Eindruck war überraschend chaotisch. Es schien seinerzeit keine Flucht gewesen zu sein, sondern der panische Versuch, zu überleben.

„Ich denke, du hast recht", gab Mario zu und drehte mit dem Fuß ein Stück Metall um. Es gab ein häßliches, klapperndes Geräusch.

„Und bei dem Versuch, zu flüchten und zu überleben, wurden sie von einer anderen Gruppe gestellt und daran

gehindert. Ich nehme an, diese zweite Gruppe ist identisch mit der Besatzung der Station hier."

„Auch das ist ziemlich wahrscheinlich." Eine Kette von Ausrüstungsgegen-

ständen lag zwischen den Wänden verstreut. Es schien sich um Ballen mit Nahrungsmitteln zu handeln; sie waren zuerst weggeworfen worden.

Ein Raumanzug lag zwischen den aufge-rissenen Packungen. Daneben ein Ding, das wie eine Waffe aussah. Cliff schob sie vorsichtig zur Seite.

Wieder ein Raumanzug, wieder ein aufgeplatzter Ballen, dessen Inhalt, Dosen und würfelförmige Verpackungen, in allen Richtungen verstreut lagen.

„Sie müssen es sehr eilig gehabt haben", meinte Hasso. „So gut wie alles, was sie brauchten, haben sie weggeworfen. Sie waren verzweifelt, damals . . ."

„Ganz sicher." Die Raumfahrer gingen langsam durch

den gekrümmten Korridor und wichen immer wieder den Ausrüstungsgegenstän-den aus. Einen Teil der Dinge konnten sie nicht identifizieren, aber andere Stücke erkannten sie, da viele Verwendungs-zwecke ganz bestimmte Formen diktierten. Es waren Geräte, mit deren Hilfe sich vielleicht Pioniere ausrüsteten. Geräte zur Wasseraufbereitung, zusammengeklappte Dinge, die aussahen, als würden Kuppeln oder Zelte daraus, und ähnliche Gegen-stände die unter Lebenserhaltung rangier-ten.

Je länger der Weg wurde, desto mehr Raum war zwischen den einzelnen Gegenständen. Wieder ein paar Rauman-züge, dann große Kisten mit Griffen, die von mehreren Leuten geschleppt worden waren. Abermals wurden die Zwischen-räume größer.

„Und überall wurde gekämpft. Nicht sehr ausdauernd, aber offensichtlich besser gezielt", sagte Helga und deutete auf die vorläufig letzten Fundgegenstände, die wie

Page 20: Fluchtburg im Weltraum

eine Barriere aufgestellt waren. Überall waren Einschüsse und Brandspuren zu erkennen. Verblüffend war nur, daß der Boden des Korridors wie alle anderen Stellen ohne Staub oder Flugasche war.

„Es wird immer rätselhafter!" gab Cliff zu.

Ein dumpfes Gefühl beschlich sie. Die Tragik des Geschehens, auch wenn es durch einen dichten Vorhang aus vergan-gener Zeit von ihnen getrennt war und andere Wesen als Menschen betroffen hatte, packte die Raumfahrer.

Sie sprangen über die Barriere und sahen, daß sich der Krümmungsradius des Korridors verkleinerte. Zwischen dem rechteckigen Schlußstück des Ganges, einer Art Station, und der Barriere aus Transportbehältern war der Boden absolut frei, aber von den langen, dünnen Furchen der Strahlerschüsse zerschnitten. Sie bildeten ein spitzwinkliges Muster.

„Hier geht es nicht mehr weiter. Eine Endstation für eine Art Einschienenbahn", erklärte Hasso.

„Dieser Bahnhof untermauert unsere Theorie", pflichtete Mario ihm bei und nahm seine Hand von der Waffe, wo er sie unbewußt die ganze Zeit über gehabt hatte.

„Sie flüchteten zu dieser Station. Eine Herausforderung an unsere Neugierde."

Helga glitt auf den Wagen zu und be-trachtete ihn intensiv. Es war ein schlanker Körper mit wenigen Sitzen, zwischen denen es viel Bodenplatz gab. Eine schmucklose, nach praktischen Erforder-nissen gebaute Konstruktion ohne sichtba-re bewegliche Teile. Ein länglich gestreck-tes Dach, das zusammen mit dem Bo-denteil dem Körper eine ovale, strö-mungsgünstige Form verlieh, besaß dort, wo einst die kleineren Wesen eingestiegen waren, halbrunde Ausschnitte.

„Eine deutliche Herausforderung. Man zwingt uns förmlich, die Gegenstation zu suchen", sagte Cliff und deutete auf die schmale Führungsschiene, die in einem

Stollen verschwand, nachdem sie trägerlos etwa dreißig Meter überspannte.

„Halt. Erst einmal nachdenken, dann handeln."

Arlene hatte bisher geschwiegen. Mit ihren großen, dunklen Augen hatte sie alles genau angesehen, hatte die Kommen-tare gehört und versucht, sich ein genaues Bild der Umstände zu machen. Jetzt sah sie diesen „Bahnhof" und begann ziemlich genau zu ahnen, was die brennende Neugierde, von Cliff und Mario hochtra-bend als „Forscherdrang" bezeichnet, die fünf Mann der Crew führen würde.

„Richtig, Mädchen!" sagte Hasso in-brünstig. „Zügle den Eifer deines Gelieb-ten."

„Nur unterhalb des Marsbodens", gab sie lächelnd zurück und bemerkte im Näherkommen, daß auch dieses einfache Gefährt einige Treffer abbekommen hatte. Es schien auf der Leitschiene und auf der beidseitigen Rampe zu liegen und nicht, wie es wohl sollte, zu schweben.

„Es gibt, wie jeder sehen kann, nur einen Weg, den die Flüchtenden benutzt haben", sagte Mario de Monti und deutete auf den Stolleneingang. „Ohne jeden Zweifel. Wollen wir die Gegenstation suchen?"

Hasso wurde deutlich lauter als sonst und rief:

„Ihr seid alle besessen. Denkt doch bitte einmal nach: Wenn die Strecke so kurz wäre, daß sie leicht zu Fuß zurückzulegen wäre, brauchte man diese schnöde Bahn nicht. Das Vorhandensein der Anlage beweist, daß die Entfernung ziemlich groß ist. Wollt ihr vielleicht stundenlang auf dieser Schiene dort balancieren, ihr Verrückten? Ich auf keinen Fall."

Cliff grinste dämonisch hinter der Helm-scheibe und entgegnete:

„In diesem von dir angedeuteten Fall, liebster Hasso und Bordingenieur, haben wir nur zwei Alternativen. Entweder gehen wir zu Fuß - denn daß wir den Fluchtweg erkunden, steht außer Zweifel..."

Page 21: Fluchtburg im Weltraum

„Oder", vollendete Mario den Satz, „wir versuchen, mit demselben Zeitaufwand, das Spielzeug hier in Gang zu setzen. Hassos Fähigkeiten, Technik intuitiv zu erfassen, wird uns dabei helfen."

„Abstimmung", verlangte der Comman-der.

„Ich bin dafür", schrie Shubashi. der plötzlich erwacht schien, aus der ORION, „die Maschine zu reparieren."

„Ich auch. Helga hat gesprochen." Die Stimmen verwirrten sich in den offenen Funkkanälen. Die Mannschaft stand um das Vehikel herum und versuchte, die Chancen richtig abzuschätzen.

„Wir sind alle dafür", entschied Cliff, nachdem sie sich alle gemeldet hatten. „Auch hier fanden Kämpfe statt. Jeden von uns interessiert es brennend, wohin ein Teil der Invasionsarmee geflüchtet ist, und aus welchen Gründen dies geschah. Die Funkverbindung, wie eben deutlich zu hören war, funktioniert hervorragend. Wir besitzen genügend Verpflegung und Luftreserven, also können wir es wagen. Außerdem haben wir noch die Überle-bensballons." Diese Notausrüstung war ein handgroßes Paket, das eine dünne, widerstandsfähige Folie aufblies, in die sich ein Raumfahrer verkriechen konnte; der einfache Filter reichte für vierund-zwanzig Stunden. Jeder Raumanzug war mit einem solchen Ballon ausgerüstet.

„Gut. einverstanden. Wir versuchen es. Geht zurück, reißt die weggeworfenen Packungen auf und sucht Werkzeug. Ich versuche, die Maschine kennenzulernen."

Hasso deutete in den Korridor hinein, wandte sich ab und legte sich flach auf den Boden. Er war in seinem Element. Die Unbekannten hatten um dieses Fluchtfahr-zeug gekämpft. Vermutlich auch um andere Fahrzeuge, mit denen ein Teil der Gruppe bereits geflohen war. Vielleicht gelang es ihm tatsächlich, den Mechanis-mus zu entschlüsseln und, was schwieriger sein dürfte, in Gang zu bringen.

*

Cliff, Mario und Helga suchten Werk-

zeug. Als sie mit einigen flachen Koffern aus Plastik zurückkamen, die anders geformtes, aber deutlich in seinem Zweck erkennbares Werkzeug enthielten, hatte Hasso bereits einen Schaltkasten entdeckt und die Energie der Schiene aktiviert - eine höchst einfache Sache.

Er deutete darauf und sagte bedauernd: „Aber der Apparat bewegt sich nicht um

einen Millimeter." „Es scheint, daß wir dir mehr zutrauen,

Hasso, als du dir selbst", meinte Helga. Voller Bescheidenheit antwortete der

weißhaarige Ingenieur: „Es ist bei allen großen Künstlern das-

selbe. Voller Minderwertigkeitsgefühle." Er begann, das Gefährt an den Stellen zu

untersuchen, wo außerhalb der Sitze, des Daches und der unwichtig erscheinenden Verkleidungsteile Beschädigungen zu sehen waren. Werkzeuge begannen zu klappern und zu klirren. Die Teile der Verkleidung flogen zur Seite. Mario, Cliff und Hasso arbeiteten, Helga unterhielt sich leise mit Shubashi, und Arlene saß da, an die Mauer gelehnt, und schien nachzuden-ken.

Ihr Auftrag war im wesentlichen bereits erfüllt.

Sie hatte einen unbequemen, aber gang-baren Weg ins Innere einer Station gefunden und das Schema herausgebracht, nach dem ein solcher Startschacht mit allen logistischen Nebenanlagen funktio-niert hatte. Der Rest war Spezialistenar-beit, vorausgesetzt, die hängenden Fels-brocken fielen nicht herunter und zer-trümmerten die Anlage. Was jetzt vor ihnen lag, eröffnete ein Spektrum neuer Perspektiven. Es konnte wichtiger sein, herauszufinden, wohin ein Teil der Rudraja-Truppen geflüchtet war, als den Technikern der Erde die Denkarbeit

Page 22: Fluchtburg im Weltraum

wegzunehmen. Der Ausbruch einer kleinen Gruppe aus

dem Schema der Zusammenhänge, so wie es sich der Crew und darüber hinaus auch den Ministern um Han Tsu-Gol heute darstellte, konnte die eigentliche Sensation dieser Mission werden. Also hatte die ORION-Crew recht, wenn sie versuchte, diesem neuen Geheimnis nachzugehen.

„Ich glaube", murmelte Arlene im Halbschlaf, „daß es eine gute Idee sein wird."

Cliff, der erriet, womit sie sich be-schäftigt hatte, erwiderte ebenso leise:

„Jede Idee, die letzten Endes die Vorge-setzten aufregt, ist eine gute Idee, Liebste."

Sie arbeiteten weiter. Inzwischen hätten sie in dem Tunnel bei zügiger Gangart mindestens eintausend Meter zurückge-legt.

Die Arbeit im Raumanzug ermüdete, das Warten erschöpfte, und die Unwahrschein-lichkeit eines Erfolges strapazierte sogar Shubashi im Schiff. Mindestens drei Stunden lang schraubte Hasso, verband Drahtenden mit einfachen Klemmdrehun-gen, versuchte, mit einer Art Waffe zu löten, dachte über vergossene und ge-druckte Schaltungen nach und überbrückte sie. Immer wieder versuchte Mario, den Wagen zu starten - immer wieder funkel-ten kleine Lichtbögen auf, quoll Rauch aus den Schaltungen, sackte die Maschine wieder zurück.

Schließlich, als nicht einmal Cliff mehr an einen Erfolg glaubte, sagte Hasso:

„Jetzt müßte es eigentlich funktionieren. Jedenfalls weiß ich nicht mehr, was ich noch machen könnte."

„Probieren wir's aus!" Mario schwang sich nach oben, führte

die erste Schaltung aus, und der Wagen zitterte. Dann hob er sich um eine Hand-breit auf seinem Magnetfeld. Eine zweite Schaltung, Hasso schob die Maschine einige Zentimeter an, und der Wagen schwebte auf der Schiene nach vorn,

wurde schon auf der kurzen Strecke schneller und verschwand im Tunnel. Begeisterungsschreie rissen Shubashi, der nicht genau wußte, worum es sich handel-te, aus der gemütlichen Ruhe seiner lange dauernden Wache am Funkpult.

„Geschafft." Marios Stimme drückte seine Be-

geisterung aus, als er rief: „Ich komme zurück. Achtung, zur

Seite!" Mit einem leisen Brummen näherte sich

der Wagen, rückwärts gleitend, wieder dem Endpunkt, an dem sich ein schwerer, gefederter Puffer befand. Das riesige Auge eines Scheinwerfers blendete die Crew, als die Maschine aus dem Loch auftauchte, langsamer wurde und anhielt.

„Wir steigen ein - und schon die nächste Station unserer Fahrt wird uns ein neues Geheimnis zeigen", murmelte Helga skeptisch. Hasso lachte auf und versprach voll guter Laune:

„Besonders geheimnisvoll wird es, wenn das Gerät mitten im Tunnel ausfällt und wir trotzdem zu Fuß gehen müssen."

Ein Impuls, sämtliches Werkzeug sauber aufzuräumen, erfaßte die Crew, aber er wurde kraftvoll unterdrückt. Es war nicht ihr Werkzeug, und die Eigentümer würden sich schwerlich über die Unordnung är-gern. Die fünf Raumfahrer kletterten in die Sitze. Mario und Hasso nahmen vor dem einfachen Schaltpult Platz, aus dem Drähte und Anschlüsse liederlich hervorhingen, dann fuhr das notdürftig reparierte Einschienenfahrzeug los und begann durch den schwarzen, vom Scheinwerfer nur leicht erhellten Tunnel zu rasen.

Die Fahrt dauerte bei einer Ge-schwindigkeit um die hundert Stun-denkilometer dreißig Minuten. Dann erweiterte sich plötzlich der Tunnel, eine überraschende Lichtflut brach über die Crew herein, und Mario bremste den Wagen stark ab.

Mit einem harten Schlag, der die Mann-

Page 23: Fluchtburg im Weltraum

schaft von den Sitzen riß, aber keinen weiteren Schaden anrichtete, rammte das Fahrzeug einen anderen Wagen, der schräg aufgebäumt nur noch mit dem Heck auf der Schiene hing und sich über einen zweiten Wagen geschoben hatte. Die Raumfahrer sprangen auf beiden Seiten aus dem Fahrzeug und liefen dann dahinter nach links, wo mehr Platz war.

Vor ihnen befand sich ein Schrottplatz. Mindestens ein Dutzend gleich ausse-

hender Fahrzeuge lag, stand oder hing in allen Stadien der Demolierung in der Mitte einer Halle, die einer flachen Kuppel glich. Rund um den Puffer am Schienenende türmte sich ein Berg von teilweise zerstörten Maschinen. Auch sie trugen Schußspuren und Brandlöcher, aber der Zusammenprall mit bereits angekom-menen Fahrzeugen schien sie weitaus mehr zerstört zu haben als das Gefecht. Fast ehrfürchtig bewundernd standen die Raumfahrer da und sahen die ineinander verkeilte Masse aus Kunststoff, Stahl und Schaumformteilen an.

„Beachtlich", sagte Cliff. „Wie sie das nur geschafft haben?"

„Sie sind wirklich voller Hast und Angst geflüchtet." Nicht ein einziges Ausrü-stungsstück war hier zu sehen. Im Hinter-grund, in der größtmöglichen Entfernung von der Endstation, sahen die Raumfahrer ein großes Tor, dessen Portale zur Seite gefahren waren.

„Ein langer Fluchtweg", stellte der Commander fest. „Dort hinten finden wir mit einiger Sicherheit ein Raumschiff oder die Stelle, an der sich ein solches befand. Die Flucht durch die Kruste des Planeten wäre sonst angesichts der festgestellten Umstände sinnlos."

„Von einem zweiten Startschacht ist hier nichts zu sehen", sagte Hasso, der noch immer die Masse der geknickten, zerbeul-ten und rußgeschwärzten Fahrzeuge musterte.

„Sie können vor einer kleinen Ewigkeit

den Schacht wieder gefüllt haben. Nie-mand von der Erde würde dies - damals! - gemerkt haben. Freunde."

„Auch wahr." Die Müdigkeit war wie weggewischt.

Eine Probe ergab, daß die Verständigung mit Atan gerade noch funktionierte. Während Hasso seinen Vorrat an Relais-würfeln angriff, gingen die anderen in die Richtung auf das offene Tor.

Ein Instinkt warnte Mario. Er breitete die Arme aus und sagte scharf:

„Vorsicht. Ich habe auf den letzten Kilometern zu wenige Sperren gesehen. Dieser Umstand paßt nicht in mein statistisches Weltbild. Benutzt lieber die Sonden."

„Du hast recht.'' Sehr viel vorsichtiger und langsamer

gingen Mario, Cliff, Arlene und Helga weiter in Richtung auf das offene Tor. Sie konnten nicht genau erkennen, was dahinter lag. Cliff und Mario streckten die Sonden nach vorn und bewegten sie prüfend hin und her, auf und ab. Vor ihnen warf eine nicht auszumachende Licht-quelle blaue und weiße Helligkeit auf flache Treppenstufen.

In Cliffs Detektor strahlte ein rotes Licht auf.

„Eine Sperre! Irgendwo dort vorn!" „Verstanden", erwiderte Mario knapp. Sie kreisten, während Hasso, Arlene und

Helga warteten, die Stelle ein. Immer näher kamen sie dem Punkt, an dem die Aussparung im Fels und der Rahmen für die Portale den Boden berührten. Dann erkannten sie den winzigen Dorn eines Sensors und den geschickt verborgenen Projektor einer Strahlensperre. Cliff bück-te sich und durchbrach mit dem Prüfknopf des Detektors den unsichtbaren Lichtstrahl vor dem Sensor.

Augenblicklich gab es eine rasend schnelle Serie peitschender Schläge. Blendend weiße Energie zuckte aus dem Projektor, der sich schnell auf und ab

Page 24: Fluchtburg im Weltraum

bewegte. Die Bewegungen des gesteuerten Strahles waren zu schnell für das Auge, und so erklärten sich die Bilder auf der Netzhaut. Der Strahl wurde blitzschnell unterbrochen und feuerte in Knöchelhöhe über den Boden, dann zwei Grad höher, abermals zwei Grad, bis er auch Wesen erfassen würde, die so hoch waren wie das Tor selbst, also rund vier Meter. Am obersten Zielpunkt angelangt, kippte der Projektor und begann sein tödliches Programm wieder dicht über dem Boden.

„Raffiniert", sagte Mario widerwillig anerkennend und zog die HM 4, „aber in Kürze unwirksam."

Mit zwei kurzen Schüssen aus der Strahlwaffe schmolz er den Sensor und den detonierenden Projektor zusammen. Augenblicklich erlosch die Lampe in Cliffs Detektor.

„Bitte", sagte er, „eintreten zu wollen." Nach zwanzig Schritten sah sich der

Hauptteil der ORION-Crew abermals einer merkwürdigen, unverständlichen und sehr futuristisch wirkenden Anlage gegenüber. Sie befand sich auf der obersten und kleinsten von sieben flachen Plattformen, die eine Art Treppe oder Postament ergaben.

Auch dieser Raum war annähernd rund und besaß keinen zweiten Ausgang. An den Wänden befanden sich aufeinanderge-türmt, nebeneinander stehend, im Fels befestigt, sich schalenförmig von der Decke nach vorn vorschiebend, miteinan-der durch Kabel in allen Stärken und Farben verbunden, wuchtige Maschinen oder Geräte. Selbst im Raumanzug glaubte Hasso den typischen Geruch wahrzuneh-men.

In einem Halbkreis umgab diese An-sammlung von verschieden großen, annähernd würfelförmigen Elementen die Dinge auf dem obersten Teil des Sockels.

In der Mitte standen zwei Pylone, die aussahen, als habe jemand die ägyptischen Säulen nachbauen wollen. Aber sie

bestanden aus massiv erscheinendem Metall, das die bläuliche Farbe hochwerti-gen Stahles besaß. Aber von oben nach unten waren die Pylone verfärbt wie das Auspuffrohr eines antiken Kohlen-wasserstoffantriebs. Also hatte irgendwann starke Hitze auf diese schlanken, konisch zulaufenden Metallsäulen eingewirkt.

Vor diesen Pylonen ragten übergangslos zwei Säulen auf, die aus glasartigem Material bestanden. In ihnen stieg flak-kernd und unregelmäßig geschichtet, wie zwei verschieden gefärbte, sich umeinan-der und durcheinander bewegende Dampfwolken von großer Geschwindig-keit jene zweifarbige Helligkeit auf und überschüttete die fünf Raumfahrer mit dem wechselnden und zuckenden Licht.

Atemlos vor Überraschung standen die ORION-Leute da und starrten diese verwirrende Anordnung von Geräten an. Endlich fand Cliff die Sprache wieder.

„Nach so langer Zeit. .. und die Anlage funktioniert offensichtlich noch. Jetzt haben wir den Fluchtweg jener Invasions-truppen-Deserteure." Sie wußten nicht, was sie vor sich hatten.

5. Nach fünfzehn Minuten sagte Shubashi,

der bis dahin schweigend zugehört und den Wortlaut der Schilderung mitgeschnit-ten hatte:

„Ich sehe vermutlich ein anderes Bild als ihr, aber schon jetzt muß ich euch warnen. Rührt nichts in dieser Halle an. Bis jetzt waren die Fallen und die aufgefundene Technik keineswegs überraschend. Dies gilt nicht mehr für die Anlage, wie sie mir geschildert wurde. Ich habe eine vorläufi-ge Lösung anzubieten."

Cliff stimmte Atan schweigend zu und antwortete sofort: „Ich höre. Welche Lösung, Atan?"

„Ich verfüge über eine offene Leitung zu

Page 25: Fluchtburg im Weltraum

T.R.A.V., also zu Han. Ich lege den Text eurer Schilderungen TECOM vor und lasse durchchecken. Einverstanden?"

„Vollkommen. Aber das kann Stunden dauern!"

„Sicher. Wißt ihr auch, wie lange ihr schon unterwegs seid?" Mario scherzte:

„Es müssen Stunden sein!" „Richtig. Neunzehn von der Sorte, die

sechzig Minuten haben. Macht eine Pause, eßt, blast zum gemeinsamen Picknick einen Rettungsballon auf und schlaft, bis ich euch wecke. Dann hat TECOM alle Fragen durchgerechnet."

„Das ist eine sehr gute Idee", meinte Helga.

Atan rief zurück: „Also, alles klar? Ich setze mich mit

Terra in Verbindung und melde mich wieder, wenn ich Bescheid habe."

„Kommandant an Astrogator: Danke für diesen klugen Ratschlag, der sofort befolgt wird, Shubashi."

*

Commander Cliff McLane lag aus-

gestreckt da, so entspannt, wie es im engen Raumanzug gerade möglich war. Die anderen Raumfahrer schliefen.

Cliff hatte die erste Wache übernommen und betrachtete ruhig seine Kameraden. Die zuckenden Energiesäulen schläferten ein; ein Blick auf die Uhr zeigte dem Kommandanten, daß ihn in einer Stunde Mario ablösen würde. Trotz der Ruhe herrschte eine gespenstische, drohende Stimmung. Wieder war die Gewißheit zurückgekehrt, daß sie sich als winzige Fremdkörper mitten in einer unabsehbar großen Felsmasse befanden und daß sie nicht die geringste Chance hatten, wenn hier etwas Gefährliches passierte. Eine winzige geologische Veränderung, und sie wurden mitsamt allen technischen Einrich-tungen zermalmt.

Mühsam unterdrückte Cliff den erneuten

Anflug von Angst. Er schloß die Augen und zog sich sozusagen in den trügeri-schen, aber für den Augenblick wirksamen Schutz des Raumanzugs zurück. Durch die Lautsprecher hinter seinen Ohren hörte er den vierfachen Rhythmus der Atemzüge. Sämtliche Funkkanäle waren geöffnet. In einer Art Stereoeffekt nahm er auch die Geräusche wahr, die Atan Shubashi im Schiff verursachte. Nur langsam beruhigte sich der Kommandant, und als er sah, wie Mario leise aufstand und ihm ein Zeichen gab, drehte er den Kopf zur Seite und schlief ein.

Shubashis Anruf weckte ihn viereinhalb Stunden später.

*

„Hier ist Atan", sagte er aufgeregt. „Wir

alle glauben, daß ihr einen besonders wichtigen und vielversprechenden Fund gemacht habt."

„Das passiert uns immer wieder", erklär-te Cliff gähnend. Er stand langsam auf und wünschte sich an ein Dutzend anderer Orte zurück, nur hinaus aus diesem Superkeller.

„Ich habe über die Relaisbrücke der Schiffe mit TECOM gesprochen. Sie suchten alles zusammen, was dazugehörte, und dann analysierten sie unsere Bänder. Die Auswertung hat verblüffende Dinge erbracht. Ich habe alles auf Band."

Helga sagte kurz: „Wie schön, daß wir noch leben. Atan?" „Ja. Seht euch das Ding noch einmal

genau an. Das Komputerzentrum ist zu dem klugen Schluß gekommen, daß die von euch beschriebene Anlage ein Transmitter ist. Um den Text zu zitieren: ein Ferntransmitter. Ich verzichte darauf, euch genau zu erklären, was ein Ferntrans-mitter ist.

Also, die Wahrscheinlichkeit, daß es sich um eine Komponente handelt, die zusammen mit einer anderen einen Ferntransmitter ergibt, liegt bei dreiund-

Page 26: Fluchtburg im Weltraum

neunzig Prozent Station und Gegenstation. Ich meine, es war gut, daß ihr gewartet und euch nicht in Gefahr begeben habt."

Hasso warf ruhig ein: „Hier unten zu warten, ist ebenso riskant

wie alles andere. Ich sehe da keinen Unterschied."

„Hast du mit Han Tsu-Gol gesprochen, Atan?" erkundigte sich Arlene mit einer Stimme, die viel zuviel Gleichgültigkeit verriet und daher unglaubwürdig klang.

„Nur kurz. Er hörte sich alles an und verband mich dann mit TECOM."

„Ausgezeichnet", antwortete Arlene. „Das hören wir alle gern."

„Ich beginne zu begreifen", sagte Shu-bashi. „Um genau zu sein. Ich habe begriffen. Wollt ihr etwa dieses Relikt benutzen?"

„Ich weiß es noch nicht", gab Cliff zurück.

Mario begann schallend zu lachen und rief:

„Was sich erfahrungsgemäß sehr schnell ändert. Wenn TECOM recht hat, und wenn dieser Transmitter eine Gegenstation hat, dann wäre ein Transmittersprung nur eine logische Fortsetzung unserer Mission."

„Ich habe es geahnt!" heulte Shubashi. „Und wenn ich daran denke, was Han Tsu-Gol sagen wird, wenn er es erfährt, dann . . . Ich kann es mir nicht einmal vorstellen."

„Nur Ruhe. Keine überflüssige Aufre-gung", kommentierte der Commander. „Wir diskutieren das Ganze erst einmal vernünftig durch. Mario, deine Stellung-nahme bitte."

Die Crew stand im Halbkreis vor den zwei glasartigen Röhren, in denen unver-ändert die Energiestrukturen arbeiteten. Nichts hatte sich verändert.

„Ich sehe kein Problem, jedenfalls keine Gefahr. Wenn der Transmitter eine Gegenstation besitzt, dann sind wir ebenso schnell und leicht, wie wir dort ankom-men, auch wieder hier zurück und in relativer Nähe der ORION."

Cliff nickte; ein Argument, das nicht von der Hand zu weisen war. „Helga?"

„Ich schließe mich Marios Meinung an. Die Frage ist nur, ob es möglich ist, die Gegenstation so zu schalten, daß sie uns wieder hierher bringt."

„Ich muß euch abermals warnen, Freun-de. Niemand weiß, was euch in der Gegenstation erwartet!"

„Es wußte auch gestern keiner von uns, was uns hier in der Marskruste erwartete. Unterschätze uns nicht ganz. Bist du für TECOM oder für uns?" schaltete sich Hasso ein.

„Früher oder später wird dieser Trans-mitter getestet', sagte Arlene. „Ob es die Spezialisten der Technik sind oder wir, kommt auf das gleiche heraus. Ich finde, wir sind die bessere Mannschaft. Außer-dem haben wir nicht das geringste vom Vergnügen der anderen."

„Wie wahr!" murmelte Shubashi. „Ich wünschte, ich wäre bei euch. Dann könnte ich mit euch zusammen in den Transmitter klettern und die Wunder der atemberau-benden Gegenstation miterleben. Eine Fra-ge? Was erwartet ihr eigentlich?"

„Ich denke, wir lassen uns überraschen!" Wieder warf Sigbjörnson ein: „Und

außerdem sind wir sozusagen verpflichtet, festzustellen, ob es dort in der Umgebung der unbekannten Gegenstation eine Gefahr gibt. Ich meine dies ausnahmsweise sehr ernst. Und zwar eine Gefahr, die zum Mars kommen könnte und somit für das Sonnensystem und die Erde gefährlich werden kann."

„Es liegt in der Natur der Gefahr", meinte der Commander milde, aber sarkastisch, „daß sie gefährlich ist. Trotzdem unterstreiche ich Hassos Einwurf. Das ist Sinn unserer Mission, diese möglichen Gefahren festzustellen - oder so ähnlich."

„So sagte Han Tsu-Gol. Ihr macht sicher einen direkten Befehl daraus - ich hoffe nur, ihr kommt heil zurück", schloß Atan

Page 27: Fluchtburg im Weltraum

aus der ORION. „Guten Sprung, Freunde." „Danke." Es entstand eine Pause. Bei allen Versu-

chen, das Problem mit einer Spur Galgen-humor zu betrachten, wußte jeder von ihnen, worauf sie sich einließen.

Cliff sagte langsam und nachdenklich: „Hör zu, Atan! Du weißt genau, daß wir nichts leichtfer-

tig machen. Wir gehen durch den Trans-mitter und kommen zurück, sobald wir irgend etwas festgestellt haben. Wir müssen herausbekommen, was dort lauert. Du weißt, was geschehen ist. Wir melden uns augenblicklich wieder zurück, sobald wir hier sind. Es wird nicht lange dauern."

„Ich habe verstanden, Commander", sagte Atan. „Jede Menge Glück für euch alle!"

„Hoffentlich brauchen wir es nicht!" schloß Mario brummend.

Er zog seine Waffe, regelte mit der Linken die Luftversorgung seines Anzugs und winkte den Freunden. Schweigend betraten sie fast gleichzeitig die unterste Stufe und nahmen ebenfalls die Strahlwaf-fen aus den Anzugstaschen, entsicherten sie und hoben sie in Anschlag.

Schweigend stiegen sie auf die nächst-höhere Ebene, drängten sich, als ob sie unbewußt durch die körperliche Berührung mit dem anderen Schutz suchten, gegen-einander und kletterten weiter, bis sie die beiden Energiesäulen passierten. Sekunden später befanden sie sich etwa im Mittel-punkt der Schnittlinien zwischen den Pylonen und den Säulen.

Zuerst passierte nichts. „Das verdammte Ding funktioniert

nicht. . .", meinte Mario enttäuscht. Dann fingen die Außenmikrophone ein

anschwellendes Dröhnen auf, das schließ-lich in ein donnerähnliches Krachen überging. Die Aggregate und würfelförmi-gen Elemente an den Wänden und an der Decke schienen zu zittern. Zwischen den beiden gläsernen Energiesäulen entstand

mit drohendem Knistern ein Vorhang von waagrechten, tausendfach verzweigten Lichtbogen.

In den Lautsprechern der Helm-funkanlagen zischte und prasselte es.

Auf den beiden Pylonen begannen kleine, fingerlange Lichterscheinungen hervorzuwachsen. Sie wanderten wild durcheinander. Die Raumfahrer zuckten zusammen. Jetzt fürchteten sie sich.

Ihre Haut begann zu prickeln und zu jucken. Die Spannung schien sich inner-halb der Raumanzüge auszubreiten. Aber keiner von ihnen konnte zurück. Auf drei Seiten waren Cliff und sein Team jetzt von knatternden und zuckenden Blitzen eingekesselt, so daß ihnen nur noch eine Richtung blieb:

„Vorwärts!" rief Cliff, aber nicht einmal er selbst hörte das Wort. Ein tobendes Inferno erfüllte und erschütterte die Halle.

Die Raumfahrer bewegten sich wie hypnotisiert vorwärts.

Als sie sich, unwillkürlich in einer geraden Reihe angeordnet, zwischen den zwei Pylonen befanden, gab es einen schmetternden Schlag. Eine Flut blauen Feuers hüllte sie binnen Sekundenbruchteilen ein. Die Einzelheiten der Umgebung verschwanden, lösten sich auf. Die folgende donnernde Entladung nahmen sie in dem chaotischen Durcheinander schon nicht mehr wahr.

*

Plötzlich herrschte eine lähmende Ruhe. Die Echos des heulenden Lärms hallten

in den Ohren der fünf Raumfahrer nach. Sie drehten sich um und sahen sich überrascht an. Auch die Störungen in der Funkanlage waren vergangen. Ihre Augen erfaßten die Umgebung - nicht die geringste Einzelheit hatte sich verändert.

„Ich habe es gleich gesagt", murmelte Mario verblüfft. „Nichts funktioniert mehr richtig hier unten. Ein gewaltiger Krach,

Page 28: Fluchtburg im Weltraum

fürchterlich viel Blitze, und dann: absolut nichts."

„Das war unser Risiko", erwiderte Cliff. „Atan wird sich mit uns ärgern."

Aber Atan meldete sich nicht. Cliff schüttelte, soweit dies der Helm gestattete, den Kopf und stieg, ohne auf die anderen zu warten, von dem Podest herunter. Langsam ging er auf den Durchgang zu, aber als er eine bestimmte Stelle ins Auge faßte, stutzte er. Mit drei schnellen Schrit-ten war er an dem zurückgeschobenen Schott und rief:

„Du hast unrecht, Mario!" „Wie meinst du das?" erkundigte sich

Arlene aufgeregt und rannte hinter ihm her. Cliff wußte jetzt, was ihn irritiert hatte. Er spürte plötzlich wieder seine Muskeln und sein Körpergewicht. Sie waren aus der 0,4-g-Zone des Mars verschwunden.

„Wir sind durch den Transmitter gegan-gen. Die Gegenstation ist völlig identisch. Bis auf . .."

Cliff umrundete in durchaus „irdischer" Gangart die Stahlplatte und sah, daß der Raum jenseits des Transmitters sich verändert hatte. Der letzte Beweis. Hier gab es keinen Schrotthaufen ineinander verkeilter Einschienenwagen.

„Wir sind tatsächlich an einem anderen Ort angekommen!" schrie Cliff überrascht und begeistert. „Hier, kommt her!"

„Was ist los?" fragte Hasso. „Wir scheinen woanders zu sein", erwi-

derte Arlene und schob, als sie sah, daß Cliff seine Waffe achtlos sinken ließ, die HM 4 ebenfalls in die Tasche zurück.

„Sehr woanders. Hier im Nebensaal gibt es Antigravlifts. Wenn die Kontrollampen nicht trügen, dann funktionieren sie sogar."

Sie blieben alle genau an der Linie stehen, an der auf dem Mars die Strahlen-falle eingebaut gewesen war. Gäbe es hier eine, wären sie bereits tot oder schwer verletzt.

„Wir sind tatsächlich in der Gegen-station herausgekommen", sagte Cliff nicht ohne gewisse Feierlichkeit. „Viel-leicht habt ihr es noch nicht gemerkt, aber hier herrscht eine terraähnliche Schwer-kraft. Wir wiegen wieder soviel, wie wir auf der guten alten Erde wiegen. Preisfra-ge: Wo sind wir?"

„Spaßvogel!" flüsterte Hasso. Helga deutete an die Decke der Halle und sagte gutgelaunt:

„Schweben wir aufwärts, dann werden wir es sehen. Die ORION-Crew auf den vergessenen Spuren der Vergangenheit. Mit Antigrav ins Abenteuer! Kommen Sie, erleben Sie mit, wie fünf verwirrte Raumfahrer versuchen, die Identität der geheimnisvollen Zweitwelt zu entdecken."

„Hör auf, in Schlagzeilen zu sprechen", mahnte Helga.

„Hast du ein überflüssiges Ausrüstungs-stück?"

„Wozu?" Cliff sagte deutlich: „Um die Antigrav-

schächte zu testen. Es könnte sein, daß wir einen tiefen Fall tun, anstatt einen Weg zur Sonne, zum Licht zu finden. Schon immer waren wir dafür bekannt, nicht das geringste Risiko einzugehen."

„Das ist die Untertreibung dieser Tage und Wochen", schloß Mario. Zusammen gingen sie auf die vier Röhren aus rauchfarbenem, glasartigem Material zu, die sich zwischen Boden und Decke spannten. Nur ein Gedanke bewegte sie alle. Wo befanden sie sich wirklich?

6. Obwohl sie alle damit gerechnet hatten,

daß sie der Transmitter in eine zumindest unbekannte Umgebung schleudern würde, waren die Raumfahrer überrascht. Ohne Zweifel befanden sie sich auf einem erdgroßen Planeten. Oder der Unterschied in der Anziehungskraft war so gering, daß

Page 29: Fluchtburg im Weltraum

ihre Sinne ihn nicht wahrnehmen konnten. Sie blieben vor den Röhren stehen und sahen die leuchtenden, schlanken Dreiek-ke, die aufwärts und abwärts wiesen. Da die beiden Hallen ebenfalls aus Felswän-den bestanden, lag der Schluß nahe, daß sie aufwärts schweben mußten, um etwas mehr von der neuen Umwelt kennenzu-lernen.

„Wir haben zwei Alternativen." Cliff McLane deutete zurück in den Transmit-terraum und dann auf die dicken Röhren, die nahtlos mit der Felsendecke ver-schmolzen.

„So ist es. Wir können uns hier um-sehen, und wir können sofort wieder zurückkehren. Welche Version entspricht mehr unserem Auftrag?" meinte Hasso.

„Ganz sicher die erste. Umsehen und notieren, wohin damals die kleine Gruppe geflüchtet ist", gab Cliff zu. „Worauf warten wir noch?" Arlene hatte aus einer der zahlreichen Taschen des Raumanzugs ein Tuch gezogen, trat jetzt dicht an die Öffnung einer Antigravröhre heran und warf das Tuch in den freien Raum hinein.

Das Tuch wurde von einem unsichtbaren Sog erfaßt und schwebte langsam auf-wärts. Arlene drehte sich herum und meinte zufrieden:

„Ich glaube, wir sollten es riskieren." „Einverstanden. Riskieren wir's!" sagte

Cliff, trat entschlossen vor, hielt sich an einem langen Griff fest und schwang sich in den Antigravschacht. Er balancierte kurz und wurde dann vom Sog der Anlage erfaßt. Langsam schwebte er aufwärts und rief:

„Es funktioniert! Nur Mut! Mir nach, Freunde!"

Nacheinander wagten sie es, sich der Anlage anzuvertrauen. Hasso, dann Mario, der Helgas Hand faßte, zum Schluß Ariene. Ein bernsteinfarbenes Leuchten, das von den glasähnlichen Wandungen ausstrahlte, erfüllte die Röhre, die sich irgendwo in der Höhe verlor.

Irgendwann, als sie langsam auf-wärtsschwebten, meinte Mario de Monti:

„Es müssen schon jetzt ein paar tausend Meter sein, Cliff."

Nach kurzem Zögern erwiderte der Commander:

„Mit Sicherheit. Ich bin mit meiner Schätzung gerade bei etwa fünf Ki-lometern angelangt."

Lautlos trug das Feld die fünf Raumfah-rer weiter, einem noch Ungewissen Punkt entgegen. Jeder von ihnen hoffte, in absehbarer Zeit blauen Himmel über sich zu sehen.

Und ganz plötzlich bemerkten sie über sich eine Art Gitter, das das Ende der Aufwärtsröhre kennzeichnete.

„Wir sind da", sagte Cliff. Er sah über sich die Öffnung, griff nach der Stange und schwang sich mit einem entschlosse-nen Sprung nach draußen.

„Kommt ruhig hinter mir her", rief er. „Hier ist niemand."

Er half Mario, Arlene, Helga und Hasso aus dem Liftschacht und zog wieder die Waffe. Noch immer befanden sie sich inmitten von Felswänden, irgendwo in der Kruste eines unbekannten Planeten.

„Wir sehen uns auch hier um und versu-chen herauszubekommen, wo wir eigent-lich gelandet sind. Dann kehren wir um und gehen zurück zum Mars und zu Atan", sagte der Commander.

Sie bewegten sich nebeneinander, De-tektoren und Waffen wachsam in den Händen, durch einen breiten Korridor im Fels. Irgendwie hatte sich die Umgebung verändert. An den beiden Wänden verlief ein Fries, in perfekter künstlerischer Arbeit aus dem Fels herausgemeißelt. Es zeigte blumenartige Verzierungen, Ranken und alle nur denkbaren Elemente pflanzlicher Dekorationen. Die Decke war nicht aus selbstleuchtenden Platten zusammenge-setzt, sondern in den anscheinend massi-ven Fels waren einzelne, scharf nach unten abstrahlende Punktleuchten eingefügt. Der

Page 30: Fluchtburg im Weltraum

Korridor führte etwa hundert Meter geradeaus und endete dann vor einem hellen Schott aus schimmerndem Metall. Die Crew fühlte, wie die Spannung zunahm.

„Achtung. Wir versuchen, das Schott zu öffnen. Noch sind wir in relativer Sicher-heit. Noch."

„Verstanden. Cliff. Du hast bemerkt, daß hier ein gestaltender Künstler am Werk war."

„Wir sind auch auf einem anderen Planeten!"

„Ich habe es gemerkt!" Vor dem Schott mit seiner komplizierten

Zuhaltemechanik, einem kleinen Wunder-werk der Technik, glänzend und scheinbar neu, blieben sie stehen. Cliff bewegte den Detektor und konnte absolut nichts fest-stellen, was ihn alarmieren würde.

„Nicht lange zittern - macht das Ding endlich auf!" rief Arlene ungeduldig. Mario und Cliff griffen in die Hebel und Räder und bewegten die Exzenter und Gestänge. Lautlos zogen sich die wuchti-gen Riegel aus den Verankerungen. Das Schott glitt auf. Vor der Öffnung war ein kleiner Absatz, von dem aus eine breite Treppe und eine an der Oberfläche gerasterte Rampe aufwärts führten. Cliff fühlte einen winzigen Stich; es war eine vollkommen fremde, ferne Erinnerung, nur ein winziger Impuls. Er vergaß ihn augenblicklich, noch ehe er den Gedanken deutlicher fassen konnte. Die Umgebung kam ihm auf merkwürdige Weise bekannt vor. Als ob er schon einmal hier gewesen wäre.

„Aufwärts!" murmelte Mario. Sie klet-terten die Treppe empor und sahen sich wachsam um, aber es gab kaum etwas zu sehen außer Felswänden und einer stählernen Plattform.

Von dieser runden Fläche gab es nur einen Ausweg, nämlich eine schräg nach links führende Röhre mit Stufen. Hinter-einander stiegen die ORION-Leute über

die Treppe hoch. Niemand sprach. Sie waren alle voller verhaltener, stummer Er-wartung. Dann hörte die Röhre auf, sie war von einer runden, metallenen Luke verschlossen. Es gab diesmal keine komplizierte Verriegelung; nur ein Schaltelement befand sich seitlich der kurzen Treppe. Cliff streckte die Hand aus und drückte den deutlich gekennzeichne-ten Schalter.

Rasselnd drehte sich die Luke, kippte hoch, und sofort kletterte Cliff aufwärts und testete die Umgebung.

Auf merkwürdige Weise wirkte der Raum, in den sich Cliff jetzt hin-einschwang, uralt und - bekannt!

Er half Arlene aus dem Loch, das plötz-lich aus der neuen Perspektive heraus wie ein Schlupfloch wirkte, denn es befand sich im sonst glatten, staubigen Boden einer dämmerigen, runden Halle, die nicht höher als drei Meter war. Wieder war es Cliff, als sei er schon einmal hier gewesen. Er drehte sich einmal um seine Achse und entdeckte abermals eine breite Rampe, die in die nächsthöhere Ebene hinaufführte. Von dort fiel wenig, aber helles Licht in den wahrscheinlich unter der Erde liegenden Raum hinein.

Diesmal wußte Cliff, daß er einen nahe-zu identischen Raum schon einmal gesehen hatte.

„Mario! Kennst du diese Umgebung?" fragte er und lief langsam auf die Rampe zu. Ein merkwürdiges Gefühl erfüllte ihn. Er war sicher, daß er genau das jenseits der Rampe sehen würde, was er sich vorstellte.

„Sie kommt mir reichlich bekannt vor", murmelte der Erste Offizier und wartete, bis die anderen aus dem Loch herausge-klettert waren. Sekunden nachdem Hasso sich auf dem Boden der Halle befand, klappte die Luke wieder zu und schraubte sich mit auffallendem Rasseln zurück. Als die Drehbewegung aufhörte, schloß die Luke völlig flach mit dem Boden ab.

Page 31: Fluchtburg im Weltraum

Fehlende Spuren - die einzigen Fußab-drücke stammten von den fünf Raumfah-rern - sagten deutlich, daß sich seit sehr langer Zeit niemand in diesem Raum be-funden hatte.

„Merkwürdigerweise auch mir", warf Hasso ein. Er sah etwas verwundert Cliff nach, der nicht antwortete und mit großen Schritten die Rampe hinauf spurtete.

„Denkt an Zielpunkt Zehn/ West 989!" Cliff schoß in den nächsthöheren Raum

hinein, und jetzt fühlte er, wie ihn die Erinnerung packte.

Das Basisgeschoß dieses Bauwerks wies einen Durchmesser von fünfundsiebzig Metern auf und war genau kreisrund. Cliff erinnerte sich auch ganz genau an die Höhe des Bauwerks, in dem sie sich jetzt überraschenderweise befanden. Sie betrug zweihundertfünfzig Meter.

Der riesige Turm aus nichtrostendem Stahl stand auf dem Planeten Cassina. Die ORION-Grew kannte den Planeten und den Turm. Vor rund acht Jahrzehnten war sie zum letztenmal hier gelandet.

„Cliff!" schrie Mario. „Ich weiß, wo wir uns befinden!"

Damals, als sie im Dschungel von Cas-sina den „Staatsfeind Nummer Eins" gefangen hatten, war auch Mario an den Kämpfen beteiligt gewesen.

„Ja. Auf Cassina. Wir sind im stäh-lernen Turm der Dherrani."

Cliff lief mit untrüglicher Sicherheit auf den Ausgang am Fuß des Turmes zu. Das Sonnenlicht fiel durch kleine Luken herein. Das Licht wurde durch massive Schichten aus dickem Glas gefiltert und zerstreut; noch deutlicher wurden die Informationen aus der Vergangenheit, und die Gewißheit, daß sie tatsächlich auf Cassina gelandet waren, nahm zu. Cliff wußte, wo der Eingang oder Ausgang dieses kühnen Bauwerks war, rannte über eine leichte Schräge zu einem quadrati-schen Rahmen hinauf und rief:

„Wenn keine kosmische Katastrophe

eingetreten sein sollte, können wir in Kürze auch unsere Raumanzüge öffnen."

„Das erscheint mir im Augenblick keineswegs so wichtig zu sein", gab Hasso zurück. „Vorsicht! Denke an den freien Raum um den Turm und an den gefährli-chen Dschungel mit seinen elektrischen Nüssen."

„Auch daran denke ich!" Sie liefen hinter Cliff her. Die Überra-

schung war gewaltig, vorausgesetzt, die Wahrscheinlichkeit verdichtete sich zur Gewißheit. Mit einem wilden Ruck riß der Commander die schwere Stahlplatte auf. und schlagartig brandete helles Tageslicht in den Turm, verwandelte die Ebenen und die vielen Winkel, Wände und Spiraltrep-pen aus dicken Glasschichten in eine Art funkelndes Mosaik aus mehreren Farben.

„Tatsächlich. Die Stahlwandungen! Die stählernen Kanzeln, der leere Kreisring um den Turm. Und sogar der Dschungel dort drüben. Wir sind wirklich im äußersten Bezirk der Neunhundert-Parsek-Raumkugel."

Cliff rief so laut, daß die Helmlaut-sprecher der vier Raumfahrer zu klirren begannen.

„Es gibt keinen Zweifel! Ein direkter Weg führt vom Mars hierher. Ich weiß nicht, was das für uns bedeutet, aber unsere Entdeckung ist von größter Wichtigkeit. Eine atemberaubende Sache."

„Ganz sicher", entgegnete Mario, fie-bernd vor Aufregung. Sie kamen hinter dem Commander aus dem Fuß des Turmes hervor ins Freie. Wolkenloser, strahlend blauer Himmel wölbte sich über dem freien Raum zwischen dem aufragenden Turm mit den perspektivisch verzerrten Stahlkanzeln und den vielen ausge-waschenen Ringen in der Außenhülle.

Alles war so, wie sie es in der Erin-nerung hatten:

Der gewaltige stählerne Turm. Die breite, freie Fläche zwischen der wie abgeschnitten wirkenden Mauer des

Page 32: Fluchtburg im Weltraum

Dschungels und der Wandung der Turm-basis. Zwischen dem Anfang des Dschun-gels, der seltsam unbelebt wirkte, und der Stelle, wo die nach außen gewölbte Mauer des Dherrani-Turmes mit dem schräg abfallenden Boden verschmolz, wuchs noch immer nichts anderes als seltsam kriechendes Gras und verkrüppelte kleine Büsche. Flüchtig blickte Cliff auf den Atemluftindikator. Das Gerät zeigte Werte an, die er ebenfalls erwarten mußte. Sie würden risikolos die Raumanzüge öffnen können.

„Es sieht so aus", sagte Hasso bedächtig, „als ob dieser Turm tatsächlich niemals bewohnt worden wäre. Nur Stein, Stahl und Glas befinden sich dort."

Helga packte Cliffs Arm und deutete hinüber zum Dschungelrand.

„Ich habe mein Außenmikro auf volle Leistung geschaltet. Aber es ist so gut wie nichts zu hören."

„Ich kann mich an verschiedene unan-genehme Erlebnisse im Dschungel Cassinas erinnern, Cliff", sagte Mario, in tiefes Nachdenken versunken. „Ich kann mich sogar sehr genau daran erinnern, daß erstens wir selbst und zweitens viele terranische Forscher, Wissenschaftler und Techniker diesen leeren Turm untersucht haben. Wie ist es denkbar, daß wir alle diesen Einstieg übersehen haben?"

Hasso erwiderte: „An dieser Stelle habe ich nicht gesucht.

Die Möglichkeit, daß es im untersten Keller einen solchen Einstieg gibt, erschien wohl jedem als völlig aus der Luft gegriffen. Niemand dachte daran, also suchte niemand danach. Ist das als Erklärung brauchbar?"

„Vermutlich, da alle Maschinen und sämtliche technischen Aggregate, an die ich mich erinnern kann, sich noch in den untersten Stockwerken befinden. Wir haben heute den allertiefsten Keller betreten."

Arlene, die seinerzeit während der

besprochenen Ereignisse noch nicht im Schwerefeld oder besser Bannkreis der ORION gewesen war, warf mit allen Zeichen der Ungeduld ein:

„Ich beginne, unter Platzangst zu leiden. Auch mein Indikator zeigt an, daß wir die Anzüge öffnen können. Was meint der Kommandant?"

Endlich schien Cliff mit seiner Überra-schung fertig geworden zu sein. Er drehte sich langsam um und sagte:

„Wir haben damals auf Cassina keine Atembeschwerden bekommen, also werden wir auch diesmal überleben. Einverstanden. Frische Luft tut not."

„Und ein längerer Schlaf ebenfalls." Mario gähnte provozierend.

Sie schalteten die Luftversorgung aus, nachdem sie die Helme geöffnet und zurückgeklappt hatten. Noch immer standen sie ein Dutzend Schritte von dem Eingang in der Turmbasis entfernt. Und unverändert starrten sie hinüber zum Rand des Dschungels, etwa drei Minuten Wegstrecke entfernt.

Ihre Ohren gewöhnten sich an die eigen-artige Stille. Und dann spürten die Raumfahrer den stechenden Aasgeruch, den ein sanfter Windstoß vom Dschungel-rand zu ihnen herüberwehte.

„Keine Insekten, Cliff!" sagte Helga leise. Die Crew machte einige Schritte auf den Rand des Dschungels zu.

„Aber dafür ein Geruch, der das Schlimmste befürchten läßt", meinte Mario de Monti. „In meiner Erinnerung finde ich keine solche Komponente."

„Ich auch nicht, Mario", sagte der Commander kurz. Die Umgebung berührte ihn auf merkwürdige Weise. Irgendetwas war fremd. Etwas paßte nicht mehr mit der Erinnerung zusammen.

Für einen kurzen Augenblick schloß Cliff die Augen und dachte nach. Nicht nur auf den ersten Blick wirkte alles vertraut und ungefährlich. Aber die Lähmung, die von der Stille ausging, und

Page 33: Fluchtburg im Weltraum

dazu der stechende Geruch, der keines-wegs geringer wurde, sondern mit jedem Schritt zunahm, störten ihn. Verfaulten dort riesige Mengen toter Tiere? Dann hätten sie das wütende Krächzen von Aasvögeln oder Aasfressern hören müssen. Was war hier falsch?

Cliff, der sich am weitesten vom Turm entfernt hatte, stolperte kurz und sah zu Boden. Sein Raumanzugsstiefel hatte die Wirbelsäule eines Tierskeletts zertreten. Es hatte nicht einmal geknackt, es gab nur ein reißendes Geräusch, als sei er auf einen durch und durch faulen Ast getreten. Das Skelett mußte seit überraschend langer Zeit hier liegen. Seit mehr als sechzig, siebzig Jahren? Schon möglich.

Zehn Schritte später wurden sie alle abermals abgelenkt. Peitschende Geräu-sche und die Laute von splitternden Ästen und zerfetzten Ranken schreckten die Crew auf. Wilde Bewegungen entstanden in fünfzehn Metern Höhe direkt vor ihnen in den Zweigen des Dschungels.

Sie blieben stehen und griffen im Reflex nach den Waffen.

„Es sind nur Pflanzen", rief Hasso halblaut. Aber auch seine Stimme klang erschrocken.

Dort oben tobte ein merkwürdiger Kampf. Es wirkte auf die Raumfahrer, als ob eine riesige, blütenübersäte Schling-pflanze sich plötzlich in eine Riesen-schlange verwandelt hätte. Sie kämpfte mit einem mächtigen, blaugrünen Baum mit weißfleckigem Stamm. Zweige, Ranken und Äste, Dornen und peitschenartige Fortsätze wirbelten durch die Luft, verfilzten sich ineinander, rissen sich wieder los und ließen einen Regen von Blättern zu Boden segeln. Äste brachen, helle Holzsplitter flogen wie Pfeile nach allen Seiten.

Der Dschungel feuerte mit einer Serie krachender, aufstäubender Explosionen eine Anzahl dunkler, runder Körper nach allen Seiten. Einige davon fielen nach

einer flachen Flugbahn in das niedrige Gestrüpp des freigehaltenen Kreises. Sofort bewegten sich die Büsche an den betreffenden Stellen. Sie wirkten wie Teile einer blind reagierenden Amöbe aus grünlichem Schaum, bogen sich vor und zurück, schüttelten sich, als ob ein Sturmstoß sie gepackt hätte.

Langsam sagte Cliff mit bleichem Ge-sicht:

„Ich weiß nicht, was es ist, aber Cassina hat sich verändert, seit wir zum letztenmal von hier gestartet sind."

Damals war der Dschungel voller Über-raschungen und Gefahren gewesen. Aber jetzt wirkte er wie ein bösartiger, wilder und pervertierter Organismus, der aus Millionen Blütenaugen die Raumfahrer anstarrte und überlegte, wie er sie töten konnte.

7. Zwanzig Meter vor der grünen, wild um

sich schlagenden Wand des Dschungels blieben die Raumfahrer stehen. Fassungs-los sahen sie zu, wie eine Pflanze die andere zu vernichten drohte.

Hasso Sigbjörnson sagte nach einer langen Pause:

„Die Pflanzen sind miteinander verfilzt, wie ich es noch in keinem Dschungel gesehen habe. Auf mich wirkt es krank-haft."

„Vor allem dieser Aasgestank ist mörde-risch", erklärte Mario. „Ich kann mir vorstellen, daß er nicht nur uns vertreibt, sondern auch Tiere, selbst Insekten. Jedenfalls haben wir noch nicht einmal einen Vogel zu Gesicht bekommen."

Wieder schleuderte eine Pflanze mit peitschenartig um sich schlagenden Ranken ein paar Samenkapseln, die wie große, schwarze Nüsse aussahen, aus der Baumkrone. Diesmal schien der Wurf besser gezielt worden zu sein, denn von

Page 34: Fluchtburg im Weltraum

dem halben Dutzend der schweren Geschosse prasselten mindestens vier vor und neben den Raumfahrern in die Gräser und Kriechbüsche.

„Die Pflanzen kämpfen miteinander wie lebende Wesen, murmelte Arlene. „Was hat das zu bedeuten, Cliff?"

„Das weiß ich selbst nicht, Arlene", sagte er mürrisch und ging weiter. Dort, wo sie eben gestanden hatten, schienen sich die aufgeregten Pflanzen zu beruhi-gen. Der gräßliche Gestank blieb und peinigte die Raumfahrer.

Helga blickte sich um und sah, ziemlich weit von ihnen entfernt, den offenen Eingang in den Turm. Sie war sofort beruhigt und folgte Cliff, der in achtungs-vollem Abstand auf dem Kreisring weiterging.

„Ich suche einen Tierpfad oder einen Weg in den Dschungel. Vielleicht erfahren wir, warum sich die Pflanzen so irrsinnig verhalten", meinte er sachlich.

Rund zwanzig Meter weiter vorn stand ein riesiger, uralter Baum. Cliff glaubte sich an ihn erinnern zu können. Als sie sich ihm näherten - immerhin waren sie keineswegs so tollkühn, zu nahe heranzu-gehen - begann sich der Baum zu verhal-ten wie ein hungriges, wildes Tier. Er griff unvermittelt an.

Zuerst schleuderte er schotenförmige Früchte nach den fünf Raumfahrern, die mit großen Sätzen in alle Richtungen auseinandersprangen. Diese länglichen, stachelbewehrten Geschosse bohrten sich mit einem knirschenden Geräusch in den Boden und platzten auf. Aus ihrem Innern quollen sternförmige, schwefelgelbe Sporen, die nicht etwa vom Wind wegge-blasen wurden, sondern sich zu kleinen Schwärmen formierten und die Raumfah-rer attackierten.

„Achtung! Bringt euch in Sicherheit!" brüllte Mario laut.

Seine Stimme wirkte wie ein An-griffssignal. Die etwa faustgroßen Ballen

aus langen, gierig zitternden Haaren wechselten den Kurs, ließen von Cliff, Arlene und Hasso ab und schwirrten träge, aber zielbewußt in die Richtung Mario de Montis. Cliff riß die HM 4 aus der Tasche, stellte blitzschnell den Strahlenkegel ein und feuerte einige Schüsse in die dichte-sten Stellen des treibenden Schwarmes. Knisternd und schmorend lösten sich die leichten Sporen auf und fielen zu Boden. Augenblicklich stürzten sich die Gräser darauf und begannen mit langen, grünen Fingern nach den rauchenden Überbleib-seln zu fassen.

Wieder flogen einige Früchte nach den Eindringlingen.

Dann bog sich der Baum langsam in die Richtung der Raumfahrer Ranken und Äste rissen und brachen. Die Zweige begannen sich in Peitschen oder Tentakel zu verwandeln und züngelten intensiv. Der Baum schien die Menschen direkt wahr-zunehmen. Und die Pflanzen, die ihn eben noch umschlungen und angegriffen hatten, hörte plötzlich mit ihrem Reißen und Zerren auf.

Eine feuerrote Blüte faltete sich schnell auseinander, schien Mario anzustarren und blies dann mit erstaunlicher Wucht aus einigen Staubgefäßen lange, gelbe Rauch-fahnen genau auf Marios Kopf. Wieder sprang der Erste Offizier zur Seite und rettete sich durch einen schnellen Spurt.

„Die Pflanzen greifen uns an!" rief Helga.

Der riesige Zweig bog sich weiter durch, pendelte suchend hin und her und erzeugte ein fauchendes Geräusch. Immer wieder zischten die giftigen Gase, die die Schleimhäute reizten und die Raumfahrer husten ließen, durch die Luft. Neben dem Baumriesen brachen braune Pflanzen aus den Büschen hervor. Sie waren mannsgroß und bewegten ihre Luftwurzeln wie Stelzen. Lange Lianen verbanden sie mit der Mutterpflanze, die sich hinter dem grünen, zitternden Wall verbarg. Minde-

Page 35: Fluchtburg im Weltraum

stens ein Dutzend dieser neuen pflanz-lichen Angreifer kam spinnenbeinig auf die Crew zu. Zwei Schüsse fauchten auf und ließen die knorrigen Luftwurzeln brennen wie Papier.

„Wir sollten uns zurückziehen", sagte der Commander laut. „Sie werden uns nicht passieren lassen, selbst wenn wir einen Pfad finden. Die Pflanzen scheinen anderen Organismen den Kampf angesagt zu haben."

„Und zwar allen nichtpflanzlichen Organismen!" schrie Mario wütend und schoß nach dem Hauptast des Baumgigan-ten, der sich immer mehr neigte und ihm gefährlich nahe kam. Sengend fuhren die Feuerstrahlen durch die Blätter und zündeten die Gasströme an. Sie verwan-delten sich sofort in fauchende, lange Feuersäulen.

Cliff riß den Arm hoch und rief laut: „Wir ziehen uns zurück. Wir gehen

durch den Transmitter. Hier haben wir nichts mehr zu suchen."

Die ORION-Mannschaft hielt nichts von panischer Flucht. Während weitere stelzenbeinige Pflanzen aus dem Dschun-gel hervorströmten und wippend auf sie eindrangen, während dicke Nüsse durch die Luft flogen und dort, wo sie auftrafen, schwere, knatternde elektrische Entladun-gen von sich gaben, gingen die Raumfah-rer feuernd Schritt um Schritt rückwärts auf den schützenden Turm zu.

Nach einer Weile sagte Cliff: „Meine kühnste Phantasie versagt angesichts dieser Überraschung. Wir haben nur einen kleinen Ausschnitt erlebt. Wie mag es auf anderen Teilen des Planeten aussehen?"

Ihre Erinnerungen an Cassina waren, was die landschaftliche Schönheit betraf, recht angenehm. Sie konnten sich einen Planeten, auf dem die Pflanzen miteinan-der kämpften und sich einig waren, wenn es gegen Tiere und Menschen ging, nur schwer vorstellen. Natürlich dachte keiner von ihnen, daß die Pflanzen eine Intelli-

genz entwickelt hätten; die chorophylltra-genden Organismen reagierten nur auf Bewegungen, Wärme und einige andere primitive Schlüsselreize.

„Unter Umständen noch schlimmer", sagte Arlene. Sie nahm erstaunt zur Kenntnis, daß die Pflanzen ihnen folgten. Nicht die Bäume, aber jene braunen Lianendinger, dahinter kleine Büsche, die hin und her rollten und sich mit Hilfe von Ranken fortbewegten.

Cliff wirbelte herum und suchte mit den Augen den Eingang. Zunächst realisierte er nicht, was passiert war.

Die Metallplatte war verschlossen! Sie fügte sich nahtlos in die stählerne Run-dung des Turmes ein und war von hier aus nicht als Unterbrechung zu erkennen. Cliff unterdrückte seinen kalten, plötzlichen Schrecken, zwang sich zur Ruhe und sagte halblaut:

„Wir bekommen noch mehr Schwierig-keiten. Die Tür hat sich geschlossen. Oder jemand hat sie zugeschlagen. Von innen natürlich."

Die Freunde reagierten überraschend ruhig. Cliff deutete auf die zögernd näher kommenden Pflanzen, die in blinder, animalischer Reaktion einen Keil gebildet hatten. Dann rief er:

„Arlene, Helga und Hasso - ihr haltet uns diese grünen Bestien vom Leib. Brennt sie nieder!"

„Verstanden", gab Hasso zurück. Sie bauten sich in einer weit ausein-andergezogenen Linie auf und begannen gezielt und langsam zu feuern.

„Und wir kümmern uns um dieses verdammte Tor", murmelte Mario wütend.

Mit drei Sprüngen waren sie an der Wandung des Turmes. Sie sahen auf den ersten Blick die breiten Spuren des Regenwassers, das die pflanzen-schädlichen Bestandteile aus dem Spezial-stahl herausgewaschen hatte. Und sie entdeckten auch die feinen Linien, die auffallenden Rundungen an den Ecken der

Page 36: Fluchtburg im Weltraum

großen, fast viereckigen Tür. Drei Milli-meter breit, etwa ebenso tief - es gab, und daran erinnerten sie sich beide jetzt ganz genau, keinen Hebel und keinen Griff - und völlig ungeeignet, um ein Werkzeug anzusetzen.

„Ohne Zweifel. Die Tür ist ge-schlossen", sagte Mario dumpf. „Wir waren leichtsinnig. Wir haben damals schon Teile der Maschinen zum Leben erwecken können."

Cliff warf ihm einen langen, un-schlüssigen Blick zu und bewegte die Rändelschraube in der Mitte des schlanken Strahlwaffenlaufs.

„Wir sind vom Erfolg verwöhnt. Ich bin sicher, daß das V'acora nicht im geringsten helfen wird."

„Bin deiner Meinung. Versuchen wir es mit den Waffen."

Sie wußten ungefähr, wo sich die Zuhal-tungen befanden. Auch ihre Erinnerung trug etwas zu diesem Wissen bei; sie hatten Bilder von runden, vergüteten Riegeln, die sich an zwei Stellen aus dem Rahmen der Tür schoben und mit dem letzten Druck die Tür gegen flache, aber außergewöhnlich exakt verarbeitete Lager drückten und somit nahezu luftdicht schlossen. An diesen Stellen setzten sie jetzt die scharfen, eng gebündelten Strahlen der beiden HM 4 ein.

Zischend und fauchend trafen die fin-gerdünnen Feuerstrahlen auf das Metall.

Zunächst sprühten dicke Garben weißer, schmelzender Funken nach allen Richtun-gen und erzeugten im Moos schwelende Flecken.

Dann verschwanden die Strahlen an zwei Stellen des schmalen Spaltes. Rauch quoll auf und zog langsam nach oben ab. Die aus dem Stahl herausgebrannten Chemikalien erzeugten einen ätzenden Qualm, der Cliff und Mario zwang, weiter zurückzutreten. Aber nach zwanzig Sekunden Dauerbeschuß, der die Ener-giemagazine beängstigend schnell leerte,

glühte das Metall nicht einmal an einer einzigen Stelle. Und geschmolzen war nicht ein winziger Punkt der Einfassung.

Mario begann zu fluchen. Cliff sah nach der Ladeanzeige und schoß weiter.

Hinter seinem Rücken hörte er, wie sich die drei anderen Raumfahrer verständig-ten, sich gegenseitig die Ziele zuriefen und auf die angreifenden Pflanzen feuerten.

„Sie haben seinerzeit einen hervor-ragenden Stahl verwendet!" rief Hasso durch das Chaos der verschiedenen Geräusche.

„Die Dherrani bauten offensichtlich tatsächlich für die Ewigkeit", erwiderte ebenfalls so laut de Monti.

„Und in diesem Fall bauten sie zu gut für uns", gab Cliff zu und setzte die heißgeschossene Waffe ab.

An der Tür und am Rahmen zeigten sich nicht die geringsten Spuren. Es war absolut sinnlos, den Versuch weiter fortzusetzen. Sie waren ausgesperrt und allein mit dem wahnsinnig gewordenen Dschungel.

Die Situation war ziemlich gefährlich, ja, fast hoffnungslos. An einer Front von mindestens zweihundert Metern hatte sich der Rand des Dschungels vorgeschoben. Die grüne, hochragende Wand der Bäume, die sich jenseits des freigehaltenen Kreisrings erhob, beulte sich in Form eines unregelmäßigen Dreiecks aus, dessen Spitze genau auf die Gruppe der Eindring-linge deutete.

Cliff hob die Waffe und feuerte. Wäh-rend er zielte und schoß, rief er Helga, Arlene und Hasso zu:

„Wir können nicht mehr in den Turm zurück. Das Tor läßt sich mit nichts, was wir haben, öffnen."

„Wir sind also in der Falle?" schrie Helga zurück.

„So sieht es aus", gab der Commander zu.

Für einen kurzen Augenblick kam der Angriff der verschiedenen Pflanzen zum

Page 37: Fluchtburg im Weltraum

Stehen. Cliff deutete nach links und rief: „Fünf

Leute gegen einen riesigen Dschungel. Das entschuldigt jede Flucht. Sie sind keineswegs mit übersinnlichen Kräften ausgestattet. Bringen wir den Turm zwischen uns und diese grüne Flut. Los, kommt!"

Er begann nach links zu rennen, verfolgt von länglichen Fruchtgeschossen, elektri-schen Riesennüssen und flammenden Gasausstößen. Arlene, Helga, Mario und Hasso rannten sofort hinter ihm her. Sie liefen dicht neben dem Turm, wurden schneller und registrierten ohne son-derliche Überraschung, daß die Gräser, Moospolster und die verkrüppelten Büsche der freien Ringzone sie nicht angriffen. Vermutlich hatte sie das Pflanzengift aus dem Stahlmantel gegen den Wahnsinn der pflanzlichen Mutation immun gemacht.

Als nichts mehr von dem rauchenden Dreieck zu sehen war, blieben die Raum-fahrer stehen und sahen sich an.

Es war eine Erholung nach dem Ver-such, den Dschungel zurückzuschlagen. Die vage Stille wurde nur von den keuchenden Atemzügen der Crew unter-brochen. Aber der Gestank, der aus dem Dschungel hervortrieb, war geblieben. Er erzeugte Kopfschmerzen und Brechreiz.

„So", sagte Cliff erschöpft. „Wir waren wieder einmal klüger als alle und sind nun dümmer als jeder. Wir sitzen mitten in einer schönen, mit einiger Sicherheit tödlichen Falle. Immerhin befindet diese sich auf einem uns bekannten Planeten. Cassina."

Er versuchte ein zögerndes Lächeln, das Arlene zurückgab. Die Raumanzüge und die Gesichter der Crew waren rußge-schwärzt, und der Schweiß hatte breite Bahnen in die Schicht hineingezogen.

„Aber Cassina heute ist nicht der roman-tisch-wilde Planet, den wir kennen. Der Dschungel verhält sich, wenn ich diesen Ausdruck benützen darf, höchst unpflanz-

lich", murmelte Hasso und wischte sich Schmutz und Schweiß aus den Augen.

„Und er wird wieder angreifen", erklärte Mario überzeugt. „Es gibt keinen Weg in diesen vermaledeiten Turm hineinzukom-men. Ein einziges Flugaggregat würde uns retten."

„Das nächstemal denke ich daran", versprach Hasso sarkastisch lachend. „In ein paar Minuten greifen diese grünen Bestien wieder an. Wir können nicht ewig um den Turm herumlaufen."

Er sah auf die Uhr und merkte, daß sie sich seit vier Stunden hier aufhielten und seit rund hundertachtzig Minuten gegen den Dschungel kämpften.

„Ewig nicht, aber ziemlich lange. Trotz-dem bringt uns das nicht weiter. Auf alle Fälle sind wir zuletzt die Verlierer", meinte Arlene und deutete auf den Rand des Waldes. Sie alle befanden sich jetzt nicht ganz hundertachtzig Grad von ihrem bisherigen Standort entfernt. Die Pflanzen reagierten überraschenderweise jetzt auf einen weitaus größeren Abstand.

„Dort." Auch hier begann der Rand des Dschun-

gels zu leben, sich zu bewegen und auszubeulen. Eine Art Nervengeflecht schien die einzelnen Pflanzen zu verbin-den. Und trotz dieser gefährlichen Bilder wußten die Raumfahrer, daß die stumpfen Sinnesorgane der Bäume, Lianen, Büsche und Schmarotzer lediglich auf Wärmeaus-strahlung oder ähnliches reagierten. Ihr Angriff war die einfache Antwort auf einen einfachen Tatbestand: Lebende Wesen waren hier, und sie mußten ausge-rottet werden.

„Zehn Minuten. Mehr Zeit gebe ich uns nicht, ehe wir uns wieder wehren müssen", schaltete sich die Funkerin ein.

Atan Shubashi und inzwischen sicher auch Han Tsu-Gol würden sich ärgern und, was sicher war, außerordentlich besorgt sein. Niemand konnte auch nur im entferntesten ahnen, wohin der Transmitter

Page 38: Fluchtburg im Weltraum

die Crew geschleudert hatte. Niemand dachte in diesem Zusammenhang ausge-rechnet an Cassina.

„Warten wir es ab", sagte der Com-mander und schaute hinauf zu der nächst-tieferen Stahlkanzel. „Ich bin sicher, daß uns irgendwann ein rettender Gedanke kommt. Wir müssen in den Turm zurück."

Und wieder rückte der Dschungel in ihre Richtung vor.

„Freunde", sagte Cliff fatalistisch, „ich habe nicht die leiseste Idee, wie wir hier siegen und uns unbeschädigt zurückziehen können. Versuchen wir es noch einmal mit Feuer und Flammen."

„Ich sage dir, daß diese Pflanzen zu dumm sind, um zu begreifen, wann sie geschlagen sind. Noch die Asche dieses Dschungels wird uns angreifen", wider-sprach Mario gereizt.

Er würde vermutlich recht behalten. Die fünf Raumfahrer setzten sich in

Bewegung und gingen den vorrückenden Pflanzen entgegen. Jeder hielt den Strahler schußbereit in der Hand. Sie würden ihr Leben teuer verkaufen. Leise sprachen sie sich ab, wie sie vorgehen würden. Diesmal mußten sie versuchen, mit Hilfe eines Waldbrands größten Ausmaßes die Pflanzen auf breiter Front zurückzuschla-gen.

Der erste Schuß fauchte auf.

8. Es war wie eine Szene aus einem Alp-

traum. Hunderte von verschiedenen Pflanzen rückten vor und griffen an. Diesmal feuerten die Raumfahrer erst nach sorgfältigem Zielen. Die vernichtenden Strahlen aus den langläufigen Waffen schnitten die Büsche in Fetzen, trennten die wirbelnden Äste ab und verwandelten die einherstakenden Luftwurzel-Sträucher in hilflos zuckende, pflanzliche Kreaturen.

Diesmal schienen die vorrückenden

Pflanzen auf andere Weise zu reagieren. Sie bildeten keinen Keil, sondern drangen in breiter Front vor, deren beide Ecken sich immer weiter auseinanderzogen. Die grüne Flut aus dem Dschungel, der immer wieder Nachschub lieferte, wollte die fünf Organismen offensichtlich umzingeln und einschließen.

„Hasso und Mario - nehmt die beiden Ausläufer unter Feuer", rief Cliff ängstlich aus.

„Schon unterwegs. Keine Sorge, sie bekommen uns nicht, diese wahnsinnigen Gänseblümchen."

Sigbjörnson und de Monti rannten feuernd auseinander. Die Pflanzen hatten sich etwa zwanzig Meter vom Dschungel-rand entfernt, und die Crew stand in der Mitte des verbliebenen Raumes zwischen Turmbasis und den ersten brennenden Vorposten der Angreifer. Immer wieder hoben Arlene, Cliff und Helga die Waffen, zielten sorgfältig und zerschnitten verbin-dende Nervenfasern, setzten Büsche in Brand, feuerten in die dicken Blätter hinein und verdampften das gespeicherte Wasser, ehe es die vielen kleinen Brände löschen konnte. Vor den nachdrängenden Dschungelgewächsen türmte sich ein Wall aus Reisig, aus brennenden Pflanzenteilen aller Art, aus explodierenden und auf-flammenden Früchten und Samenkapseln, aus ineinander verfilzten Lianen und dor-nigen Ranken. Die Pflanzen, die un-ablässig aus den Reserven des Regenwalds hervorkrochen, schoben diesen Wall vor sich her, entzündeten sich selbst daran und gerieten in das Feuer der Raumfahrer. Inzwischen wurde im Zentrum der grünen Massen aus vielen kleinen Brandstellen ein großes Feuer, das mit gierigen Flam-menzungen um sich griff. Über dem Kreisring rund um den Turm begann sich eine gewaltige, dunkelgraue Rauchwolke auszubreiten.

Der gesamte Dschungel rundum schien in Bewegung zu geraten. Das Feuer

Page 39: Fluchtburg im Weltraum

weckte eine Serie anderer Reflexe oder Reaktionen der sonst kaum beweglichen und ortsveränderlichen Gewächse. Wenn der Dschungel von allen Seiten gleich-mäßig gegen den Turm der Dherrani vorrückte, waren die Raumfahrer verloren. Sie würden erstickt und zermalmt werden.

An den Randbezirken des Feuers scho-ben sich abermals die Kampftruppen des Planeten heran.

„Helga! Dort drüben, Achtung -Dauerfeuer", schrie der Commander und schnitt eine wie besessen um sich schla-gende Baumkrone ab, die mitten in das aufprasselnde Feuer fiel. Funken und brennende Äste wurden nach allen Seiten geschleudert. Helga nahm einen Pulk stacheliger, lederhäutiger Gewächse unter Beschuß.

„Arlene, paß auf! Da hinten kommen wieder diese Stelzenwurzeln!"

„Schon gesehen." Von drei Seiten trieb Rauch auf die

Crew zu. Direkt vor ihnen loderte das riesige Feuer, an vielen anderen Stellen schwelten und flackerten kleinere Brände. Aber selbst dieses Chaos schlug den angreifenden Wald nicht zurück, sondern schien das Vorrücken der Pflanzen und die Anzahl der beteiligten Büsche und Bäume noch zu verstärken. Ununterbrochen gab Cliff nun seine Schüsse ab und versuchte damit, besonders aktive Pflanzenteile abzutrennen. Das Feuer strahlte eine gewaltige Hitze ab, die den Raumfahrern entgegenschlug. Die aufsteigende Warm-luft erzeugte einen gewaltigen Sog, der den Rauch und die Flammen noch mehr schürte. Die Lage wurde von Minute zu Minute bedrohlicher.

Wieder wichen die fünf Raumfahrer in die Richtung auf den Turm zurück, aber sie verteidigten sich heldenhaft und verbissen. Keine der Pflanzen vermochte eine unsichtbare Linie zu überschreiten, denn sobald sie sich vorwagte, vereinigten sich die Schüsse der Crew auf diesem

Punkt. Keiner von ihnen blickte in die Höhe;

sie waren mit dem Versuch, zu überleben, vollauf beschäftigt.

Aus der Höhe des Turmes schwebte ein sonderbarer Apparat lautlos heran und glitt tiefer. Der rund zwanzig Meter lange Flugkörper schimmerte in einem intensi-ven, metallischen Blau und sah aus wie einer jener Rugbybälle. Sein größter Durchmesser mochte etwa sechs Meter betragen. Die äußerste, schimmernde Hülle war keineswegs glatt, sondern trug ein geriffeltes, wellblechähnliches Muster. Langsam näherte sich der Flugkörper, der unter Umständen das Beiboot eines viel größeren Raumschiffs sein konnte, der Stelle, an der die größten und dunkelsten Rauchwolken hochzogen.

Die Insassen, falls es solche gab, schie-nen den nahezu aussichtslosen Kampf der fünf Menschen gegen das Feuer und die vorrückenden Dschungelpflanzen zu betrachten. Dann bewegte sich der ovale Flugapparat abermals, tauchte in die Rich-tung von Mario de Monti und verharrte regungslos etwa fünfzehn Meter über ihm in Rauch und treibenden Ascheflocken.

Innerhalb eines Sekundenbruchteils verschwand Mario. Keiner von der Crew sah etwas davon. Sie waren mit sich selbst und der Gefahr von vorn beschäftigt. Wieder bewegte sich der blauschimmernde Flugkörper weiter und blieb über Helga Legrelle stehen. Das Mädchen verschwand ebenfalls. Auch jetzt hatte noch niemand dieses Verschwinden bemerkt.

Eine erneute Flugbewegung, Cliff Mc-Lane verschwand, dann Arlene, und zuletzt war nur noch Hasso Sigbjörnson übrig. Gerade in dem Augenblick, als er herumwirbelte und Cliff etwas zurufen wollte, befand sich das blauschimmernde Ei direkt über ihm und nahm ihn auf.

Für Cliff kam er plötzliche, völlig uner-wartete Wechsel ebenso überraschend und lähmend wie für die anderen.

Page 40: Fluchtburg im Weltraum

Eben waren sie noch mitten im Kampf mit den hysterischen Dschungelgewächsen gewesen, jetzt fanden sie sich wieder in einem kühlen, ruhigen Raum, der wie bläuliches, halb durchsichtiges Glas wirkte. Fast instinktiv erfaßten die Menschen, daß keiner der Crew fehlte.

Sie sahen, ohne es richtig verstehen zu können, daß rund um sie Bewegung stattfand. Eine größere Menge kleiner, humanoider Gestalten hatte einen unre-gelmäßigen Kreis um die Menschen gebildet, die den stechenden Geruch der Pflanzen und des Schmutzes ausströmten.

Ein verwaschener Eindruck von blauer Haut, von großen Augen und geschlitzten Pupillen, von schnellen Bewegungen kleiner Hände - dann gaben fast gleichzei-tig die Knie der Raumfahrer nach. Ohne schmerzhaften Schock, aber ganz plötz-lich, verloren sie das Bewußtsein.

Sie merkten nicht mehr, daß die kleinen Gestalten vorwärtssprangen und versuch-ten, die Stürze abzufangen.

Stille breitete sich aus, Ruhe, Ent-spanntheit. ..

*

Erethreja betrachtete die Fremden

schweigend. Die riesige Rauchwolke neben dem Turm hatte die Planeten-aufsicht alarmiert, und die Vorthanierin war mit ihrer Mannschaft und dem Boot hinunter an den Schauplatz der Auseinan-dersetzung gestartet. Sie kannte diese fünf Menschen nicht, aber sie kannte die Gat-tung dieser Lebewesen. Erethreja sah zu, wie die Mannschaft die fünf Körper hochhob und davontrug, um sie auf die Lager zu betten, während das Beiboot wieder vom Planeten startete.

Erethreja war humanoid, aber sie war kein Mensch.

Während sie etwas später in der Steuer-kabine stand und sah, wie der Rauch, die Flammen und der scheinbar kochende und

wuchernde Dschungel kleiner wurden, zusammen mit dem stählernen Turm, dachte sie kurz daran, daß ihr schneller Entschluß fünf lebende Wesen gerettet hatte. Im Augenblick erkannte sie noch keinen Sinn und keinerlei Folgerungen, aber bald würden sie sich mit den Gerette-ten verständigen können. Das Beiboot raste mit halber Geschwindigkeit aus der Lufthülle des Planeten heraus und nahm fast selbständig genauen Kurs auf das Raumschiff.

Erethreja fühlte, wie ihre innere Ruhe zurückkehrte. Immer dann, wenn sie gezwungen war, das Leben auf einer Welt zu beobachten und, wie eben, in die Abläufe eingreifen zu müssen, spürte sie diese eigentümliche Scheu. Alle jene und alles, was auf einer Welt lebte, war in ih-ren Augen entartet.

Trotzdem war sie sicher, daß sie sich mit diesen fünf Wesen schnell und gut würde verständigen können.

*

Mario de Monti wachte als erster auf. Blitzartig entsann er sich der Rettung

aus Rauch und Flammen und der unendli-chen Überraschung, die ihn überfallen hatte, als er sich inmitten kleiner, blauhäu-tiger Wesen in dem merkwürdig durch-scheinenden Schiff wiedergefunden hatte. War er Gefangener?

Er versuchte, die Augen nicht zu öffnen, bewegte prüfend die Arme und Beine und stellte fest, daß er keineswegs gefesselt war. Er lag auf einer flachen, nicht unangenehm harten Unterlage. Jetzt unterschied er auch einzelne Geräusche. Atemzüge von verschiedenen Individuen. Schlagartig fielen ihm die vier Freunde ein und die Ereignisse der letzten Stunden. Jetzt öffnete er die Augen ... ... und sah etwa neben seinen Knien einen der Fremden stehen. Augenblicklich korrigier-te er sich. Das Wesen war eindeutig

Page 41: Fluchtburg im Weltraum

weiblich. Etwas größer als hundertsechzig Zentimeter, schätzte er, als er in die goldfarbenen Augen mit den auffallenden Schlitzpupillen blickte. Eindeutig huma-noid, aber gerade so exotisch, daß eine deutliche Verwandtschaft nicht nur angenommen, sondern vorausgesetzt werden konnte. Die Fremde änderte ihren Gesichtsausdruck; etwas wie ein auffor-derndes Lächeln kam zustande. Das Gesicht war erstaunlich „menschenähn-lich", abgesehen von der hellblauen, samtartigen Haut und den eng anliegenden Ohrmuscheln. Sein nächster Impuls, über die samtige Haut streicheln zu wollen, blieb im ersten Ansatz stecken, aber immerhin richtete sich Mario auf, lächelte etwas gezwungen zurück und stützte sich auf die Ellenbogen.

Die Fremde trug einen silbernen Overall, der geradezu atemberaubend gut geschnit-ten war und irdischen Erzeugnissen nicht im geringsten nachstand.

Der schmale Schädel der Fremden bewegte sich unruhig, dann griff sie mit einer fünffingrigen Hand mit hellblauer Haut nach einem Fach in der Wand und zog dort zwei doppelt fingerbreite, goldfarbene Reifen hervor, die nicht ganz geschlossen waren. Einen davon legte sie um die eigene Stirn, den anderen schob sie zögernd Mario über den Kopf.

„Soll das ein Lorbeerkranz sein ...?" brummte Mario, der keinerlei Feindselig-keit feststellen konnte. Inzwischen hatte er sich vergewissert, daß Cliff und Arlene, Helga und Hasso friedlich neben ihm la-gen und zu schlafen schienen.

In seinem Verstand formierten sich zunächst undeutliche, dann exaktere Gedanken und Bilder. Wer bist du, Fremder? Langsam und präzise dachte er zurück:

Wie der Name schon sagt, bin ich ein Fremder. Wir wurden auf diesen Planeten verschlagen. Aber wer seid ihr?

Ich bin Erethreja. Vorthanierin. Wir

haben euch gerettet, weil wir den Brand gesehen haben.

Danke! dachte Mario wahrheitsgetreu. Dann schwiegen sie auf jene lautlose

Weise, sahen sich an und wurden von Sekunde zu Sekunde unsicherer. Mario sah Erethreja unverwandt an. Der Kopf trug anstelle der von den Terranern gewohnten Haare einen feinen, weißlich-silbernen Flaum, der sich über den Nacken hinzog und vermutlich auch die Schulter be-deckte. Selbst nach terranischen Maßstä-ben wirkte Erethreja hübsch und begeh-renswert. Sie war eindeutig eine starke wichtige Persönlichkeit hier an Bord. An Bord? Mario dachte an ein Raumschiff und setzte sich noch mehr auf.

Wo sind wir? dachte er fragend und bemühte sich, Wörter und Bedeutungen exakt zu formulieren.

In einem kleinen Raumschiff, das zum Mutterschiff fliegt. Das Mutterschiff ist auf dem Kurs nach Vortha. Was ist Vortha?

Unsere Heimat. Wir wohnen und leben in Vortha.

Ich verstehe. In Wirklichkeit verstand Mario nur ein

Drittel. Aber er sagte sich, daß ein längerer Kontakt alle offenen Fragen würde klären können. Jedenfalls waren sie alle der Hölle des brennenden, aggressiven Dschungels entkommen und hatten allen Grund, sich in der ruhigen Kühle dieses Raumes wohl zu fühlen. Unverändert sah er Erethreja an.

Wir haben hunderttausend Fragen an dich, an euch, dachte er und deutete auf seine Kameraden.

Unsere Fragen sind nicht weniger zahlreich, erwiderte sie augenblicklich.

Begreiflich. Wann sind wir im Mutter-schiff?

In ganz kurzer Zeit. Wenn du es sehen willst und stark genug bist . . . komm mit mir zum Sessel des Steuermanns.

Mit dir, dachte Mario in einem Anflug bodenlosen Leichtsinns, gehe ich bis zum Ende des Universums.

Page 42: Fluchtburg im Weltraum

Er hatte dies noch niemals erlebt: Ein unhörbares, telepathisch übermitteltes Gelächter schien seine Gehirnzellen mit Heiterkeit zu überfluten.

Einigermaßen mühsam stand er auf und betrachtete die Freunde. Jeder von ihnen bewegte sich bereits unruhig. Es war nur noch eine Frage von Minuten, bis sie alle aus der Bewußtlosigkeit erwachten. Von Terra auf herkömmlichem Weg zum Mars, dort durch die Felsengänge in einen Transmitter, der sie nach Cassina brachte, und jetzt vom stählernen Turm der Dherrani nach Vortha, was immer das sein mochte. Sie kamen, ohne es zu wollen, weit herum. Mario ging, zunächst noch etwas unsicher, hinter dem Mädchen oder der jungen Frau des fremden Volkes her, verließ den kleinen Raum durch einen offenen Durchgang und betrat nach etwa fünf Metern einen Raum, der an eine Flugzeugkanzel oder an den Leitstand einer Mondfähre erinnerte; nicht viele, aber sinnreich angeordnete Instrumente, die alle in Betrieb waren, gab es und eine einfache Steuerung, die aus einem Dut-zend verschieden langer Hebel bestand. Einer der blauhäutigen Fremden saß in einem zierlichen Sessel und hatte über seinem Kopf einen Bügel mit Mikrophon und Lautsprecher befestigt. Also nichts, dachte Mario ungenau, was es nicht auch auf der Erde gegeben hätte.

Offensichtlich hatte er diese seine Ge-danken nicht exakt genug formuliert, denn Erethreja erwiderte nichts.

Der Blick aus der durchsichtigen Kuppel bot nichts Aufsehenerregendes. Vor dem Verbindungsboot schwebte, halb von der Sonne Cassinas angeleuchtet, ein großes Raumschiff. Die wahre Ausdehnung des rugbyballförmigen Raumflugkörpers konnte Mario wegen fehlender Größen-vergleiche und aus Mangel an Bezugs-punkten nicht abschätzen, aber er nahm richtig an, daß die weit geöffnete, von strahlendem Licht erfüllte Luke ein

Hangar für das Schiffchen war, in dem er sich befand.

Er hielt sich an der Rückenlehne des Sessels fest und fragte intensiv:

Sind wir Gefangene? Die Antwort kam sofort und lautete: Fühlt ihr euch wie Gefangene? Keineswegs. Im Mutterschiff werdet ihr euch frei

bewegen können. Hier gibt es aus begreif-lichen Gründen nur wenig Platz.

Erethreja sagte einige kurze Sätze zu dem Piloten. In Marios Gedanken zeichne-ten sich nur unbekannte technische Impressionen ab. Er blickte hingerissen auf die Linie des Halses und des schmalen Schädels und unterdrückte abermals seinen Wunsch, über die feinen, weißen Härchen zu streichen. Die Frau schien seine Gedanken, auch wenn sie nicht klar formuliert waren, deutlich zu spüren, denn das Nackenfell richtete sich langsam auf, als würde ein Windhauch darüberfahren.

In diesen wenigen Minuten, in denen das Verbindungsboot in die schützende Hülle des weitaus größeren Raumschiffs hineingesaugt wurde, begann Mario de Monti zu begreifen, was eigentlich wirklich geschehen war. Die Vorthanier oder wie immer sie sich nannten, befanden sich innerhalb des historischen Einflußbe-reichs der Erde und waren eindeutig ein fremdes, aber menschenähnliches Plane-tenvolk. Sie hatten fünf Menschen gerettet, und erst die nächste Zeit konnte zeigen, welche Beziehungen zwischen jenen Fremden und den Terranern herrschten. Wieder einmal war, nach einer kleinen Odyssee, für die Mannschaft der ORION die Situation vollkommen undurchsichtig.

Schwere Haltelager preßten sich gegen den Rumpf des Verbindungsboots. Undeutlich hörte man von draußen das Zischen dekomprimierten Gases. Sie waren angekommen. Mario war in dieser Hinsicht Pragmatiker, und er sagte sich, daß es für ausgezeichnete Manieren immer

Page 43: Fluchtburg im Weltraum

an der Zeit war, und daß man sich die Schwierigkeiten harter Verhandlungen erst so spät wie nur irgend möglich aufhalsen sollte. Mario ahnte, daß es Schwierigkei-ten geben würde, denn so infantil, anzu-nehmen, daß die Vorthanier sie alle sofort zur Erde zurückfliegen würden, war keiner von ihnen.

Ich möchte meinen Freunden sagen, was ich weiß. Etwas dagegen einzuwenden, schönste aller goldäugigen Vorthanierin-nen? dachte er konzentriert.

Eine kurze Welle verbüffter Heiterkeit überschwemmte ihn, dann kam die klare und unmißverständliche Erwiderung.

Nicht das geringste. Die Vertreter der Lehre Unandats werden sich mit euch treffen, und dann können wir Fragen stellen und beantworten.

Mario versuchte sein schönstes Lächeln und wußte noch immer nicht, aus welchen Gründen das ganze Team betäubt worden war, kaum daß sie sich im Beiboot befunden hatten.

Und wer oder was war Unandat?

9. Rund eine Stunde später: Man hatte ihnen fünf geräumige Kabi-

nen zur Verfügung gestellt. Die Raumfah-rer benutzten zunächst die Duschen und die zum Teil etwas fremdartigen Armatu-ren, um sich zu säubern, zu trocknen und mit rätselhaften Düften übersprühen zu lassen. Zwei schweigende junge Männer stellten in jede Kabine ein großes Tablett voller Speisen und Getränke, die ebenfalls fremd aussahen, aber durchaus irdisch schmeckten. Die Raumfahrer fühlten sich wohl, aber keiner von ihnen überschaute begreiflicherweise die Umstände. Cliff strich sein feuchtes Haar nach hinten und lehnte sich an den Rahmen des Verbin-dungsschotts. Er mußte den Kopf einzie-hen, weil das gesamte Mutterschiff

logischerweise auf die Größenverhältnisse der Vorthanier zugeschnitten war.

Aus dem Regen sind wir heraus, dachte er und sah zu, wie sich Arlene kämmte. Befinden wir uns jetzt in der berühmten Traufe oder nicht? Laut sagte er:

„Mario sagte vor einigen Minuten, daß seine hinreißende Bekanntschaft uns abholen wird. Wir sollen uns mit der Schiffsführung unterhalten. Vielleicht bekommen auch wir diese Kommunikati-onsringe."

Arlene warf ihm ein flüchtiges Lächeln zu.

„Mit Sicherheit, denn sonst wäre eine Unterhaltung einseitig. Ob unsere neuen Freunde auch für den entarteten Dschungel verantwortlich sind?" meinte Arlene.

„Diesen Aspekt habe ich noch nicht bedacht."

„Solltest du aber tun", empfahl sie. „Jedenfalls kochen sie gut, was immer das gewesen sein mag."

Das Mutterschiff schien sich, nach allem, was sie kurz vor dem Einschleusen gesehen hatten, in einem Orbit um Cassina befunden zu haben. Mit Hilfe einigerma-ßen scharfer Instrumente war ein Wald-brand dieser Größenordnung leicht zu entdecken - wenn man wußte, wo und wo-nach man zu suchen hatte.

„Ja. Aber im Augenblick herrscht ein Ausnahmezustand. Wir sind mehr oder weniger hilflose Schiffbrüchige, die man vor dem Dschungel gerettet hat. Das macht großzügig und erzeugt Edelmut", meinte Hasso, der in Cliffs Kabine gekom-men war.

„Jeder hat recht, der in dieser Phase skeptisch bleibt", entschied Cliff. „Nur Mario scheint sich zur freundschaftlichen Kooperation entschieden zu haben."

„In dieser Disziplin", machte sich de Monti bemerkbar, „war ich nur selten in der Gruppe der Verlierer zu finden."

„Kein Eigenlob, Raumfahrer", rief Helga. „Unandat wird dich in deine

Page 44: Fluchtburg im Weltraum

Schranken weisen." Sie waren gerade damit fertig, sich zu

erholen, als die junge Vorthanierin erschien, mit der sich Mario angefreundet hatte. Sie selbst trug einen Kommunikati-onsring um die schmalen Schläfen und hielt weitere vier Ringe in der Hand. Mario setzte schnell seinen goldfarbenen Ring auf und lächelte ein wenig einfältig, wie Cliff fand.

Erethreja sagte etwas Unverständliches und verteilte lächelnd die Ringe. Die Crew setzte die notwendigen Geräte auf und hatte keine größeren Schwierigkeiten, sich an diese Art der lautlosen Unterhaltung zu gewöhnen. Sie mußten seit Jahrzehnten ihre Gedanken klar formulieren können.

Kommt bitte mit mir. Der Rat, der die Verkörperte Lehre vertritt, will Fragen stellen und Fragen beantworten.

Wir sind im Mutterschiff, nicht wahr? fragte Cliff.

Ja. Und das große Schiff befindet sich auf dem Kurs nach Vortha. Wir alle leben in Vortha, unserer kosmischen Fluchtburg, dachte Erethreja zurück.

Wir werden auch Vortha kennenlernen? Ganz gewiß. Erethreja ging voraus, die Crew folgte.

Die Einrichtung des Mutterschiffs war andersartig, aber keineswegs so fremd, daß sie ununterbrochen hätten staunen müssen. Es war ein riesiges Raumschiff, hervorra-gend und für einen sehr langen Aufenthalt im Weltraum eingerichtet. Die Großzügig-keit verschiedener Korridore und freier Flächen ließ keinerlei Beklemmung aufkommen. Hin und wieder kreuzten andere Insassen dieses Schiffes den Weg der kleinen Gruppe, grüßten kurz, aber keineswegs unfreundlich, verschwanden wieder in irgendwelchen Korridoren. An vielen Stellen standen raumfest angebrach-te Spezialtanks, aus denen lange, grüne Rankenpflanzen wuchsen.

Eine Frage, Erethreja, dachte Cliff gezielt. Er war sich bewußt, daß diese Art

von Unterhaltung so gut wie keine private Sphäre vertrug. Das Mädchen drehte sich um und nickte.

Was willst du wissen, Kommandant Cliff?

Cliff entschloß sich, ein wenig zu pro-vozieren. Ab jetzt würde er nicht nur gezielt denken, sondern auch laut spre-chen. Das nahm der Unterhaltung die Stille der Feierlichkeit.

„Ständig wird der Ausdruck ,Unandat' gebraucht. Was ist das?"

Schlagartig zerstob die Ruhe. Cliffs Worte hallten wider wie die Schritte der Raumfahrer.

„Unandat, das ist der Name der Ver-körperten Lehre. Vortha, die Fluchtburg unserer Ahnen, gehört auch zu den angewandten Maximen der Lehre. Wir alle, die in Vortha leben, richten uns danach."

„Danke", murmelte Hasso. „Unandat, das klingt wie die Kurzform für eine Rechenmaschine."

In Gedanken schlug ihm schärfste Miß-billigung entgegen. Erethreja schien diese Bemerkung nicht gerade als Lästerung, aber zumindest als unpassend zu empfin-den. Die Gruppe marschierte in mäßiger Eile durch ein Gewirr von sich kreuzenden und verzweigenden Gängen, über Rampen und Verteiler, und schließlich befanden sie sich in einem mittelgroßen Saal, der freien Blick in den Weltraum gewährte. Eine etwa meterhohe Spezialscheibe zog sich quer über eine Wand des Raumes. Viele kleine Sessel standen um einen runden Tisch.

Hasso ging an die Scheibe, spähte hin-aus und sagte leise:

„Wir haben Fahrt aufgenommen. Dort ist Cassina. Der Planet ist inzwischen sehr klein geworden, wir haben uns also ziemlich weit entfernt."

Wir sind auf dem Weg nach Vortha, dachte Erethreja in alle Richtungen. Ich sagte es bereits mehrmals.

Page 45: Fluchtburg im Weltraum

Sie machte eine einladende Bewegung. Die Mannschaft der ORION setzte sich vorsichtig in die kleinen Sessel. Erethreja nahm neben Mario Platz und blickte unentschlossen von einem Raumfahrer zum anderen. Dann öffnete sich das Schott wieder. Etwa ein Dutzend männliche Raumfahrer kamen herein und verbeugten sich liebenswürdig. Sie schienen völlig entspannt zu sein und sahen wohl die Raumfahrer als ihresgleichen an. Alle hatten sie goldfarbene Augen und hell-blaue Haut.

Einer der ältesten Vorthanier breitete beide Arme aus und dachte scharf:

Willkommen im Schiff der Vorthanier. Daß wir euch gerettet haben, war selbst-verständlich. Gut, daß wir das Feuer sahen.

Cliff hob in einer grüßenden Bewegung die Hand und erwiderte:

„Es gilt selbst in unseren Kollegen-kreisen als unfair, Notleidende an ihre Notlage zu erinnern. Trotzdem vielen Dank für alles. Wir waren tatsächlich in einer üblen Lage. Wir kamen von einem Planeten namens Erde hierher, aber der Name wird euch nicht viel sagen."

Es erfolgte keine Reaktion, die ihnen weitere Informationen hätte liefern können.

Hasso blickte den älteren Mann genau an; er glaubte, das Alter an der gelben Färbung des Nackenpelzes erkennen zu können. Es entsprach wohl seinem eigenen weißen Haar.

„Warum befand sich das Mutterschiff im Orbit um Cassina? Cassina, so nennen wir diesen Planeten. Wir kennen ihn, waren vor kurzer Zeit selbst dort."

Helga Legrelle kicherte nervös. Vor kurzer Zeit!

Wir untersuchten den Planeten, um herauszufinden, ob er uns dienlich sein kann.

„Konnte er euch dienlich sein?" setzte Cliff sofort nach.

In bescheidenem Umfang. Ihr seid ausgesetzt worden?

Hasso schüttelte den Kopf. „Nein. Wir entdeckten einen Zugang

durch den Turm. Dieser Zugang verschloß sich, und wir waren mit den wahnsinnigen Pflanzen allein. Sie griffen uns sofort an."

Alle Mitglieder der ORION-Crew hatten gleichzeitig den Eindruck, als habe eine deutliche Unruhe und Unsicherheit die Vorthanier ergriffen. Aber diese Empfin-dung verging schnell. Dann wechselten Fragen und Antworten schneller und ohne Vorbehalte ab. Wenigstens hatten die fünf Terraner Grund zur Annahme, daß die Vorthanier ehrlich antworteten.

Vor sehr langer Zeit hatten die Vortha-nier einer gewaltigen kosmischen Macht gedient. Heute erzählten nur noch undeut-liche Legenden von dieser fernen Zeit.

Heute wurden ihre Handlungen und alle Maximen ihres Lebens von der Lehre Unandats bestimmt. Auch hierüber gab es mehr sagenhafte Erklärungen als präzise Fakten; es war durchaus möglich, daß es sich bei dieser gewaltigen Sammlung von Texten und Erklärungen, Sinnsprüchen und verschieden auszulegenden Hinweisen aller nur denkbaren Art tatsächlich um die Hinterlassenschaft eines riesenhaften Rechners handeln konnte.

Vortha selbst war eine gigantische Raumstation. Man bezeichnete sie als die Fluchtburg der Ahnen. Man lebte nicht auf, sondern in Vortha.

Die Überlebenden der Ahnen, die durch eine kosmische Katastrophe dezimiert worden waren, hatten sich seinerzeit - auch in sagenhaft ferner Geschichte - in diesen Schlupfwinkel zurückziehen können. Nach der Lehre Unandats war auch die galaktische Position Vorthas programmiert. Sie veränderte sich, ohne daß die heute lebenden Vorthanier ein-greifen konnten oder wollten.

„Wißt ihr den Namen derjenigen Kraft oder galaktischen Macht, der eure Ahnen

Page 46: Fluchtburg im Weltraum

dienten?" fragte Cliff. Natürlich hatte er das Rudraja im Sinn, als er diese Frage stellte.

Wir kennen den Namen. Er lautet in unserer Sprache Uaha.

Uaha, das konnte eine Verballhornung von Rudraja sein. Aber auch das ließ sich herausfinden. Viele Alternativen gab es in diesem Zusammenhang nicht. Für die ORION-Crew war es klar, daß die Ahnen der heute lebenden Vorthanier dem Ru-draja gedient und als Hilfsvolk den Mars besetzt hatten - die Transmitterverbindung zwischen Cassina und dem Mars schien diese These noch zu untermauern.

„Kennt ihr den Planeten, auf dem euer Volk geboren wurde?" fragte Helga.

Wir sind sicher, daß es Vortha ist. Für unser Volk ist es selbstverständlich, in einer Welt zu leben. Wir wissen zwar, daß es Planetarier gibt, die auf Planeten leben, also im Licht der Sonne, gefährdet und auf entartete Weise, aber wir verachten diese Art, zu existieren.

Cliff warf mit ausdruckslosem Gesicht ein:

„Unser Volk beispielsweise lebt auf seiner Heimatwelt und auf einigen Kolonien auf die eben beschriebene Art. Wir sehen nichts Verwerfliches daran."

Das kann jedes Volk halten, wie es diesen Umstand für richtig erachtet.

„Es gibt sicherlich irgendwo in der Milchstraße einen Planeten, der um die Sonne kreist. Auf diesem Planeten hat sich das Volk eurer Ahnen entwickelt, ob es nun pervers ist oder nicht. Und ihr alle", versicherte Mario kategorisch, „stammt von diesen entarteten Wesen ab, ob ihr es nun gern hört oder nicht Vielleicht sagt Unandat darüber etwas anderes, aber wenn er dies tut, dann irrt er, dann sind seine Lehren korrekturbedürftig."

Der gedankliche Aufruhr, den diese ketzerische Ansicht hervorrufen mußte, hielt sich in Grenzen. Offensichtlich hatten auch die lebenden Vorthanier, was das

Problem ihrer Herkunft betraf, keinen dogmatischen Ehrgeiz. Trotzdem würden sie unfähig sein, diese hauptsächlich psychologisch bedingte Schwelle zu überwinden und beispielswiese auf Cassina zu siedeln.

Von diesem Planeten, falls es ihn wirk-lich gibt, warf Erethreja entschieden ein, wissen wir nichts. Wir würden ihn auch nicht wiederfinden können, selbst wenn wir ihn suchen würden. Jetzt jedenfalls sind wir alle auf dem Weg nach Vortha, und dies ist auch euer Ziel.

„Unser Ziel wird indes unser Hei-matplanet bleiben", versicherte Cliff. „Aber um diese Frage zu klären, sollten wir noch etwas warten, bis wir uns besser kennen."

Das meine wir auch. Mario rekapitulierte, was sie erfahren

hatten. Auch die Vorthanier bewegten sich in einem gedanklichen Kreis. Alles ging angeblich von Vortha aus, der Heimat der Ahnen. Und jetzt lebten die letzten Nachkommen dieses Hilfsvolks des Rudraja wieder in der kosmischen Fluchtburg.

„Warum sind wir, kaum daß ihr uns gerettet hattet, von euch betäubt worden?" erkundigte sich Cliff unvermittelt nach einer kurzen Pause.

Wir hielten euch für eine Gefahr. Im-merhin kamt ihr von der Oberfläche der Welt Cassina, wie ihr sie nennt.

Erethreja hob beide Hände bis in Au-genhöhe und dachte ergänzend:

Wir sahen, wie ihr mit den Strahlwaffen den Dschungel zurückgeschlagen habt. Für uns galt es, kein Risiko einzugehen.

„Und während wir bewußtlos waren, habt ihr euch überzeugen können, daß wir friedliche und harmlose Raumfahrer sind?" erkundigte sich Arlene mit unver-kennbarem Sarkasmus.

So war es. Wieder wurde die Unterhaltung unter-

brochen, als junge Mädchen kamen und

Page 47: Fluchtburg im Weltraum

Becher mit einem grünen, moussierenden Getränk brachten, das milde berauschend wirkte wie schlechter, süßer Champagner. Die Crew trank gern; die Raumfahrer befanden sich noch immer in entspannter Stimmung. Man behandelte sie als Gäste, aber durchaus reserviert und kühl, und zweifellos würde man sie bis zu - einem bestimmten Punkt überwachen. Sie selbst hätten es im umgekehrten Fall nicht anders gehalten.

Die Antwort auf die Frage, warum man sie bewußtlos gemacht hatte, befriedigte keineswegs. Da war etwas vor sich gegangen, was noch der Aufklärung harrte. Cliff dachte verschwommen an Mario, der leise mit Erethreja zu sprechen schien, aber der Schein trog: Mario und Erethreja lehnten ihre Köpfe aneinander, um die direkte Wirkung des Kommuni-kationsreifens zu verstärken. Sie flüsterten sozusagen lautlos. Eine überraschende Erkenntnis.

Cliff beschloß - in diesem Augenblick gab er sich den Anschein, als ob der Stirnreifen ihn belästigen würde, und er hob ihn für einen langen Moment vom Schädel -, alles zu tun, um die Situation zu entspannen. Er setzte den Reifen wieder auf und machte eine Bewegung, die seinen Freunden und nur ihnen sagte, wie er es meinte. Er begann zögernd und wurde scheinbar immer sicherer.

„Die offenen Fragen werden wir in freundschaftlicher Ruhe miteinander klären. Wir denken, daß der Weg bis nach Vortha einige Zeit dauert und daß wir genügend Kontakte haben werden.

Ich bin der älteste Bruder, sozusagen und gewissermaßen, von uns fünf. Ich spreche im Namen aller. Wir bedanken uns bei euch auf das allerherzlichste, weil ihr uns nachweislich das Leben gerettet habt. Im Augenblick haben wir ein Defizit, was Ruhe und Schlaf betrifft - können wir diese erste Runde als beendet betrachten?

Ihr kennt unsere Namen, ihr wißt selbst-

verständlich, wo unsere Kabinen liegen, und gern ist jeder von uns bereit, jede neu entstehende Frage wahrheitsgetreu zu beantworten.

Dürfen wir uns jetzt zurückziehen?" Augenscheinlich war derjenige, den sie

alle als den „Ältesten" identifiziert hatten, wirklich eine Art Chef dieses Schiffes, womöglich sogar der Kommandant. Er stand ebenfalls auf und dachte als Ant-wort:

Ihr seid unsere Gäste. Daß wir euch vom Planeten gerettet haben, sagt nichts; es ist unsere Pflicht, jedem zu helfen, der in Gefahr gerät. Wir werden eine gewisse Zeit benötigen, um bis nach Vortha zu kommen - wir kennen eure Zeiteinteilung nicht. Es entspricht etwa acht Cassina-Umdrehungen. Wir wissen, daß ihr euch wie Gäste verhalten werdet. Auch in Vortha wird für euch gesorgt werden. Und dort wird auch entschieden werden, auf welchem Weg und wann ihr euren Hei-matplaneten wiedersehen werdet. Alles, was ihr braucht, bekommt ihr, wenn ihr bestimmte Knöpfe in den Kabinen drückt. Und wie ich sehe, versteht sich der Erden -mensch Mario mit unserer Erethreja, einer wichtigen Person im Vortha, bestens. Wendet euch also an ihn, wenn ihr Fragen habt. Wir danken euch, daß ihr derart aufgeschlossen wart.

Er verbeugte sich ein wenig, dann ver-ließ die gesamte Delegation bis auf die junge Frau den Raum.

Der Planet Cassina war inzwischen zu einem winzigen Lichtreflex inmitten der Sternenkulisse geworden.

Cliff nahm seinen Stirnreifen ab, und selbst auf die Gefahr hin, daß über diesen Reifen die Vorthanier es geschafft hatten, ihre Sprache zu analysieren, sagte er:

„Für die Zeit, die rund einer irdischen Woche entspricht, sind wir auf Eis gelegt. Warten wir also bis Vortha. Bis dorthin haben wir ein Konzept."

Arlene gab zurück:

Page 48: Fluchtburg im Weltraum

„Ich darf gar nicht daran denken, was Han Tsu-Gol inzwischen denkt. Er wird von einem Infarkt in den anderen Fallen."

„Mit dem", widersprach Helga, „was wir an Erkenntnissen zurückbringen, machen wir ihn wieder zum gesunden, freundli-chen Ministerpräsidenten."

„Hoffentlich!" Tatsächlich hatte der Boß recht", sagte

Arlene und gähnte, „und ich stelle fest, daß ich todmüde bin. Nach einem langen Schlaf sieht alles immer ganz anders aus."

„Gib nur acht, daß dich die Zimmer-pflanze auf dem Korridor heute nacht nicht erdrosselt", murmelte Hasso. Mario riß sich endlich aus dem doppelt schweigen-den Dialog los und sagte:

„Ich werde vor dem Einschlafen mir von Erethreja die Sterne zeigen lassen. Wir beide haben uns nicht gesucht, aber offensichtlich gefunden."

Nickend stimmte Cliff zu. „Ich war schon immer für jede Form der

möglichen Fraternisierung. Viel Glück, und viel Spaß."

Mario nahm seinen Kommunika-tionsreifen ab und sagte trocken:

„Sie findet mich exotisch, ich finde sie exotisch, und das bringt schon eine ganze Menge gemeinsamer Interessen und Absichten mit sich."

Cliff versicherte ebenso lakonisch: „Wir alle glauben es dir, Mario. Natür-

lich weißt du, wo, abgesehen von deinen eigenen, die wichtigsten Interessen liegen?"

„Wie könnte ich dies jemals vergessen!" Erethreja führte Cliff und die Freunde

zurück zu ihren Kabinen. Unterwegs versuchten sie, sich den Weg und die Innenaufteilung des Schiffes einzuprägen, um etwas selbständiger zu werden. Aber kaum waren sie in den Kabinen angekom-men, überfiel sie die Müdigkeit als starke Reaktion auf die überstandenen Gefahren und Strapazen. Sie schafften es gerade noch mit einiger Mühe, die Lagerstätten

aus den Wänden zu klappen, sich auszu-ziehen und unter die leichten, nach Chlorophyll riechenden Decken zu kriechen. Dann schliefen sie ein und erwachten erst, als das Mutterschiff abermals eine gewaltige Strecke auf dem Weg nach Vortha zurückgelegt hatte.

Dies galt nicht für Mario.

10. Mario drehte sich herum und stützte sich

auf; seine Augen befanden sich keine Handbreit vor dem linsenartigen Bullauge. Der Raum war so dunkel, daß sich keine Einzelheiten im Glas spiegeln konnten. Vor ihm waren nur die Sterne, und irgendwo dort vorn, ein oder zweimal vierundzwanzig terranische Stunden entfernt, schwebte die gewaltige, kugel-förmige Raumstation namens Vortha. Mario tastete mit seinem rechten Arm in der Dunkelheit und fand augenblicklich die Schultern und den Rücken Erethrejas.

„Was sagtest du vorhin, die Dschungel Cassinas betreffend, du exotische Gelieb-te?" fragte er scheinbar desinteressiert. Weder er noch sie trugen die Stirnreifen; sie verständigten sich aber dank der vergangenen Tage und dieser Ein-richtungen inzwischen fast fließend in der Sprache der Vorthanier.

„Wir haben unser Programm beendet", sagte die Raumfahrerin und strich zärtlich über seinen Oberarmmuskel, der sich unter der leidenschaftlichen Berührung spannte, „als euer Kampf anfing und wir den Rauch sahen. Wir beeinflußten die Pflanzen seit langer Zeit durch genetische Manipulatio-nen."

„Warum habt ihr diesen armen Dschun-gel mutieren lassen?" murmelte Mario schläfrig und zog Erethreja zu sich heran. Ihr Körper war wunderbar kühl. Und sehr leidenschaftlich.

„Wir mußten eine schnelle Evolution

Page 49: Fluchtburg im Weltraum

hervorrufen. Wir brauchen starke und stärkste Vitalitätsfelder."

„Ich bin nur ein dummer Raumfahrer, der von den mutierten Büschen und Strünken um ein Haar umgebracht worden wäre. Jetzt sehe ich noch immer keinen Sinn in meinem Kampf gegen die Pflanzen Cassinas."

Sie richtete sich halb auf und biß ihn zärtlich in den Hals.

„Du bist wirklich nicht klug. Du ver-stehst nichts ..."

„Sagte ich eben schon." Erethreja holte einen Behälter, schüttelte

den massiven, anscheinend gläsernen Becher voll mit jenem süßlichen, berau-schenden Getränk und erklärte mit erhobenem Zeigefinger:

„Ich vertraue dir, deswegen kann ich dir mehr sagen als deinen Freunden. Die Pflanzen auf Cassina schlossen sich zu einer Art Interessengemeinschaft zusam-men. Die Partnerschaft ist nicht symbion-tisch, sondern parasitär. Sie kämpfen er-bittert miteinander um Lebensraum. Vielleicht habt ihr solche Kämpfe sogar gesehen."

Mario de Monti erinnerte sich genau. Während er hier lag und Erethreja liebte, erfuhr er verblüffende Dinge. Er nahm einen tiefen Schluck und reichte den Becher der jungen Frau zurück.

„Die Pflanzen, alle Pflanzen, pro-duzieren mehr Samen und Stecklinge, beschleunigen ihr Wachstum, die schwä-chere Pflanze unterliegt der stärkeren, und nur gegen alles, was nicht Pflanze ist, halten sie in einer Art Instinkt zusammen."

Auch daran erinnerte sich der Ky-bernetiker sehr genau. Sie waren beinahe die Opfer dieser Entwicklung geworden.

„Inzwischen ist die gesamte Fauna Cassinas ausgerottet. Unser Ziel ist es, durch die rasende Evolution nur eine einzige Pflanzenart zu gewinnen, den stärksten Sieger. Diese Siegerpflanze verfügt über eine derart starke und große

Vitalität, daß der Planet von dem Vitali-tätsfeld umgeben ist. Noch ist es auf Cassina nicht soweit; es wird noch einige Umläufe dauern."

„Und zu welchem Zweck soll dieses Vitalitätsfeld dienen?" fragte Mario beklommen. Je mehr er hörte, desto mehr erklärte sich und desto abwegiger und gefährlicher wurden die Linien der unmittelbaren Zukunft. All das klang recht abenteuerlich, aber er zweifelte keine Sekunde lang daran. Vor Schreck erstarrte er förmlich.

„In diesem Feld leben schwangere Frauen aus unserem Volk bis zur Geburt der Kinder. Die Kinder übertreffen an physischer und auch psychischer Kraft alle normalgeborenen Kinder, und sie werden mit einiger Sicherheit auch parapsychische Kräfte und Begabungen haben."

„Und warum das alles? Was habt ihr mit den Wunderkindern vor?" fragte er und sah zu, wie zwischen seinen Fingerspitzen und den feinen Härchen des Kopf- und Nackenpelzes winzige Blitze zuckten, die einen milden Flackerschein auf die Wände und das Bullauge warfen.

„Das darf ich niemandem sagen. Ich darf nicht einmal mit den Kommandanten des Mutterschiffs darüber sprechen, obwohl sie mir ranggleich sind", sagte sie leise und küßte ihn.

Mario hatte in den letzten Tagen ge-merkt, wie aus der als flüchtig gedachten Bindung zwischen Erethreja und ihm eine ernsthafte Sache zu werden begann, mit allen Vor- und Nachteilen. Und das Erstaunliche war dabei, daß er sich wohl fühlte. Er zuckte in Gedanken mit den Schultern und murmelte:

„Und was sollen die Durchsagen, die ab und zu ertönen und euch auffordern, nach der Lehre Unandats zu leben und zu handeln?"

„Sie erinnern uns immerzu an die Lehre. Wir betrachten die Lehre als Maxime unseres Lebens, Denkens und Handelns."

Page 50: Fluchtburg im Weltraum

Er hatte bisher allerdings kaum für längere Zeit vergessen, daß die Vorthanier in Wirklichkeit ein Hilfsvolk des Rudraja waren - noch immer waren! - und daß seine Interessen bei der Crew und letzten Endes auf Seiten der Erde lagen. Mario hörte den folgenden Satz in einer Art Starre des Erschreckens.

„Auch dein Volk wird bald auf die Stimme Unandats hören. Auf anderen Planeten gibt es bereits Siegerpflanzen, und einzelne Kinder, die in ihrem Vitali-tätsfeld herangewachsen sind, befinden sich bereits im Stadium der Erwachsenen.

Du hast mich so oft gefragt, warum wir euch betäubt haben. Wir brauchten die Koordinaten eures Heimatplaneten. Natürlich haben wir sie. Die erwachsenen Kinder, also diejenigen, die in Vitalitäts-feldern heranwuchsen, sind schon auf dem Weg zur Erde. Sie werden euch die heil-same Lehre Unandats bringen und euch lehren, nach diesen Maximen zu leben. Dann werdet ihr so wie wir."

Mario versicherte leise, aber sarkastisch: „Das ist sicherlich ein erstrebenswertes

Ziel." Sie verstand die Ironie nicht und nickte

bekräftigend. Erethreja stellte den Pokal ab und schmiegte sich wieder an Mario. De Monti fühlte, wie er innerlich zu vereisen begann, aber wenn er jetzt falsch reagierte, war jede Chance zur Rettung verdorben. Welch ein gräßliches Geheimnis! Was für eine atemberaubend niederschmetternde Vorstellung!

Es gab nur einen einzigen Weg, diese Entwicklung zu verhindern. Er mußte so tun, als sei ihm alles völlig gleichgültig, und in dem Augenblick, da sie Vortha erreichten, mußten sie ein Raumschiff entern und zur Erde zurückrasen, um diese Übermenschen oder besser Übervorthanier zu finden. Eine Menschheit, die einem von den Rudraja-Helfern vor Jahrtausenden programmierten Komputer gehorchte ... das war die vollendete Diktatur der

Elektronen. Er selbst kannte Rechner und deren Beschränktheit besser, als wohl jeder andere hier an Bord.

Er begann sich zu fürchten. Mechanisch begannen seine Finger, das

knisternde und energiesprühende Nacken-fell zu streicheln. Bei der nächsten Gelegenheit mußte er Cliff alle seine Erkenntnisse berichten und einen Schlachtplan ausarbeiten. Die nächste Gelegenheit war der Wechsel zwischen Ruhepause und Aktivbetrieb in diesem Teil des Raumschiffs.

*

Als Mario, flüsternd und mit schweiß-

bedeckter Stirn, endlich zu sprechen aufhörte, schwiegen Hasso, Helga und Arlene und Cliff einige Minuten lang. Auch sie waren alle wie betäubt. Sie befanden sich im

Zentrum eines Verteilerkreisels, und hier konnten sie ziemlich sicher sein, daß niemand sie belauschte. Nachdem Mario berichtet hatte, was er in der letzten Nacht gehört hatte, schaltete sich wieder der Ableger Unandats an Bord ein und gab die erste Parole dieses „Tages" durch.

„Und niemand weiß, wie die ge-meinsame Aufgabe von Über-Vorthaniern und normalen, eben von einer Diktatur genesenen Menschen aussehen soll?"

Mario schüttelte den Kopf und versi-cherte wahrheitsgemäß:

„Ich habe den sicher richtigen Eindruck, daß es weder Unandat weiß noch die Insassen dieses Schiffes."

„Dann bleibt uns nur der Versuch, die Erde zu warnen!" sagte Cliff leise.

„Wenn es nicht schon zu spät ist. Wir befinden uns an einer unbekannten Stelle, vielleicht sogar außerhalb der Raumkugel, denn wir wissen nicht, wo Vortha schwebt. Es kann ebensogut außerhalb der Neun-hundert-Parsek-Raumkugel sein."

Hasso grinste kalt und flüsterte:

Page 51: Fluchtburg im Weltraum

„Wie die Vorthanier richtig merkten, haben wir die Koordinaten der Erde im Kopf. Gebt mir ein Schiff, und ich bringe es dorthin. Ebenso Cliff, nicht wahr?"

„Taub, stumm und mit verbundenen Augen", erklärte der Commander.

Sie verständigten sich mit einigen Blik-ken. Noch neunzehn terranische Stunden bis zu dem Zeitpunkt, an dem das Mutter-schiff in Vortha anlegte und mit diesem Riesensatelliten verschmolz. An der Stelle, wo das Schiff eingeschleust wurde, befan-den sich mit größter Sicherheit andere, kleinere Einheiten, mit denen man flüchten und die Erde erreichen konnte.

Cliff schloß beunruhigt und sehr leise: „Bis zu diesem Zeitpunkt sehen wir uns

um. Hoffentlich erwischen wir die richtige Stunde zur Flucht."

Jeder von ihnen wußte, was er zu tun hatte. Während der nächsten Aktivphase im Raumschiff drangen sie in der Tarnung als harmlose, interessierte Raumfahrer bis zu fast allen Punkten vor, die für sie von Interesse waren.

*

Kurze Zeit vor dem Andocken ver-

schwand einer der Terraner nach dem anderen. Sie hatten ihre Raumanzüge zurückgelassen und nur die wichtigsten Ausrüstungsgegenstände mitgenommen, darunter das V'acora.

Auf verschiedenen Wegen näherten sie sich dem Teil des Schiffes, in dem sich die größten Luken befanden. Sie trafen sich in einem Hangar, in dem eines der rugbyball-förmigen Verbindungsboote stand. Falls sie nach dem Andocken das Raumschiff durch den Personenausgang verließen, wurden sie binnen Sekundenbruchteilen identifiziert. Falls sie durch diesen Schiffshangar in die Fluchtburg eindran-gen, hatten sie größere Chancen.

„Wir müssen unbedingt versuchen", sagte Hasso, schaltete Bildschirme und

Lautsprechersysteme an und betrachtete die ersten Anlegemanöver, die sich in nichts von ähnlichen Vorgängen neben terranischen Schiffen unterschieden, „ge-nügend Zeit zu bekommen. Keiner von uns kann ein Fernraumschiff innerhalb weniger Minuten beherrschen lernen."

Mario zog die Schultern hoch und sah aus wie ein kranker Vogel. Sein Flirt hatte dieselbe Wirkung gehabt wie eine unbe-kannte Medizin - niemand konnte die Nebenwirkungen genau vorhersagen.

„Ich hätte doch Erethreja mitnehmen sollen. Sie kann's."

„Sicher eine bestechende Idee." Cliff und Arlene gingen unruhig in dem

winzigen Hangar hin und her. Sie testeten die Zuhaltungen und die raumfesten Dichtungen, während die Lautsprecher den Stand des Einschleuseverfahrens schilder-ten und die Bilder zeigten, wie das große Schiff in die noch größere, von hellgrünen Lichtfluten erfüllte Schleusenkammer hineinglitt. Noch herrschte draußen das Pseudovakuum des Weltraums, aber schließlich glitten die Tore zu, und der Druckausgleich wurde mit beträchtlicher Perfektion und Schnelligkeit durchgeführt.

Hasso flüsterte: „Wir schaffen es. Genau gegenüber

unserem Hangar befindet sich eine Wartungsplattform oder etwas Ähnliches. Von dort gelangen wir über ein Treppen-system in einen Außenteil von Vortha. Ich habe es genau auf dem Bildschirm gesehen."

„Alles klar", sagte Cliff, packte die Nadelwaffe, die Lähmungsgeschosse abfeuerte, und klappte einen schweren Sicherheitshebel nach unten. Ein dick isoliertes Mannluk öffnete sich im Schleusenportal, und tatsächlich befand sich keine dreißig Zentimeter von der Schiffswand entfernt die Plattform. Die Außenhülle des Raumschiffs verströmte eine eisige Kälte, Dampfwolken bildeten sich und lösten sich auf.

Page 52: Fluchtburg im Weltraum

„Los jetzt!" Nacheinander schlüpften die Raumfah-

rer aus dem Schiff und hinaus auf die Plattform. Sie sprangen durch den Nebel und fühlten, daß sie sich abermals in einer Ein-g-Zone befanden. Sie waren völlig lautlos, und als sie sich auf ihrem rasenden Weg über Stufen und Treppen umsahen, glaubten sie sicher zu sein, daß ihnen niemand zusah. Sie brauchten eine große Menge Glück.

„Schneller, Freunde", wisperte Arlene. Auf halber Höhe einer Zickzacktreppe wandten sie sich nach rechts, liefen einen Verbindungssteg entlang und kamen an ein weiteres Schott. Schriftzeichen, die sie mehr erahnten als lesen konnten, deuteten nach rechts. Dies deckte sich mit Hassos Schilderung. Die Crew öffnete das Schott, das sich zwischen dem Riesenhangar und dem Innenraum eines Teiles von Vortha befand, schlossen es hinter sich und rannten noch schneller einen verlassenen Korridor entlang.

Wieder einmal befanden sie sich auf der Flucht und in unbekanntem Gelände. Sie handelten zu zwei Dritteln instinktiv, und nachdem sie mehrere Räume, Magazine und Werkstätten durcheilt hatten, jedesmal hinter sich sorgfältig die Türen, Portale oder jeweils ein dickes Schott verschlie-ßend, befanden sie sich plötzlich auf einer gitterförmigen Rampe, die ein etwa fünfzig Meter langes, blauschimmerndes Schiff von der bekannten Form auf halber Höhe umgab.

„Hier sind wir richtig", zischte Cliff. „Der Einstieg im Beiboot war mittschiffs Steuerbord."

Sie fanden ihn ohne Schwierigkeiten, denn sowohl einige Tiefstrahler leuchte-ten, das Schiff an, der Einstieg ließ sich leicht öffnen, und genau vor der runden Nase des Schiffes befanden sich die vier Segmente der Hangarschleuse.

„Hinein." Auch die Orientierung in diesem Fern-

schiff bereitete keine Schwierigkeiten. Sie kannten die Einteilung der Räume und wußten, wo die Steuerkabine lag; dieser Punkt war von ihnen bereits kurz nach dem Start von Cassina geklärt worden. Cliff und Hasso setzten sich augen-blicklich vor die unbekannten Steuersy-steme, und jetzt begann es wirklich schwierig und riskant zu werden.

„Einige Dinge beherrsche ich. Dieser Instrumenten- und Schalterblock ist für die Schleusenanlage. Wir benutzen ihn erst, wenn die Maschinen laufen. Denke daran, Cliff, daß die Vorthanier uns mit Sicher-heit verfolgen werden."

„Woran, glaubst du, denke ich, seit wir das Raumschiff vorhin verlassen haben?"

An einige Schaltungen und Instrumente erinnerte sich Cliff. Andere wurden ihm von Mario erklärt, der zusammen mit Erethreja oft in der Kanzel des anderen Schiffes gewesen war und versucht hatte, anhand der Sternkonstellationen die Position herauszufinden - vergeblich aller-dings.

„Die Antriebssysteme basieren auf ganz anderen Prinzipien als die unserer ORION!" murmelte Cliff schwitzend.

Die fünf Terraner versammelte sich um die Pulte und versuchten, herauszufinden, wie sie das Schiff starten konnten. Sie wurden nervös, weil kostbare Zeit unge-nutzt verging. Etwa ein Drittel der Instru-mente zeigte verständliche Werte an, aber es dauerte lange, zu lange . ..

Lautlos tauchten in der geräumigen Kanzel einige Vorthanier auf, richteten ihre Waffen auf die Raumfahrer, dann schob sich Erethreja durch die Wachtruppe und schrie einen Befehl.

Die Betäubungswaffen fauchten viermal auf. Mario fuhr herum und sah, daß sich die Waffen auf ihn richteten, seine Freunde aber in den Sesseln und daneben zusammengebrochen waren. Er sagte dumpf:

„Wir haben verloren."

Page 53: Fluchtburg im Weltraum

Mit beherrschten Gesichtern sahen ihn die Wächter an. Die junge Frau trat ganz nahe an ihn heran und fragte leise, aber scharf:

„Warum habt ihr versucht, ein Schiff zu stehlen, Geliebter?"

Aus einem völlig irrealen Grund emp-fand Mario plötzlich, gerade jetzt in dieser aussichtslosen Situation, ein Gefühl großer Zärtlichkeit für die Frau aus dem Volk der blauhäutigen Rudrajadiener.

„Wir mußten zur Erde und dort versu-chen, unsere Mitmenschen zu warnen."

„Wozu warnen? Wovor?" Sie schien noch immer unverändert zu

denken, daß der Einsatz der vitalitätsgela-denen Fremden auf der Erde für die Menschen der reine Segen und der beste Weg zum ewigen Glück sein würde. Sie sah die Problematik nicht, Mario hingegen erkannte sie klar.

„Vor euren Superzüchtungen. Sie wer-den uns beherrschen. Ich will nicht, daß meine Mitmenschen zu Sklaven werden!" sagte er erbittert und leise.

„Wie kann eine segensreiche Ent-wicklung Versklavung sein?" stieß sie erregt hervor. Die Wachen hoben die Bewußtlosen auf und verluden sie auf Robotplattformen, die aus der Kanzel

hinausschwebten. „Das verstehst du nicht!" murmelte

Mario de Monti. Sie hatte nicht erkannt, daß er und sie in dieser Beziehung unversöhnliche Gegner bleiben würden.

„Wir wollen nur das Beste für alle, auch für euch", wandte sie ein und sah ihn liebevoll an. Aber die Betäubungswaffe deutete auf Marios Brust.

„Das Beste von Vortha ist nicht un-bedingt das Beste für die Erde", erwiderte er.

Wie groß war die Gruppe der Superintel-ligenzen? Was konnten sie wirklich? Hatten sie die Erde schon erreicht und mit der Herrschaft angefangen?

Wann würden die ORION-Raumfahrer wieder die Erde erreichen, die dann schon wieder unter einer neuen Art von Diktatur leiden würde ...?

Mario ließ die Schultern fallen und resignierte. Sie hatten hoch gespielt und alles verloren. Die Gefahr griff nach dem Herzen der Raumkugel. Und niemand war dort, der auch nur eine Winzigkeit davon ahnte. Er stöhnte auf und wandte sich um, ohne Erethreja anzusehen. Langsam verließ er die Steuerkanzel des sum-menden, vibrierenden Raumschiffs ...

ENDE Fünf Mitglieder der ORION-Crew gelangten durch einen subplanetarischen Transmitter der Invasoren zu dem stählernen Turm der Dherrani auf dem Plane-ten Cassina, der ihnen von einem lange zurückliegenden Einsatz vertraut war. Aber Cassina entpuppte sich als eine Welt, die auf unheimliche Weise verändert worden war — und die zur Todesfalle für die Raumfahrer geworden wäre, wenn nicht plötzlich Fremde eingegriffen hätten. Doch bald stellt sich heraus, daß diese Fremden nichts Gutes mit der Menschheit im Sinn haben. Im ORION-Roman der nächsten Woche erzählt H.Q. Francis, wie sieben vom Kraftfeld einer ,,Siegerpflanze" manipulierte Fremde die Menschheit unterjochen und wie es im Amazonas-Dschungel zu einer schicksalhaften Begegnung kommt. Der Roman trägt den Titel

DIE KINDER DER BLAUEN BLUME


Recommended