+ All Categories
Home > Documents > Flüssig vorhergesagt

Flüssig vorhergesagt

Date post: 11-Dec-2016
Category:
Upload: andreas
View: 216 times
Download: 0 times
Share this document with a friend
3
Biochemie Flüssig vorhergesagt Arnim Hellweg, Andreas Klamt Das Kontinuumsolvensmodell behandelt Lösungsmittel nicht als aus einzelnen Molekülen bestehend, sondern als gleichmäßiges Medium. Ein verbessertes Modell berücksichtigt zudem gerichtete Wechselwirkungen wie Wasserstoffbrückenbindungen. Damit sind physiko-chemische Eigenschaften von Flüssigkeiten ohne lange Rechenzeit vorherzusagen. Viele industriell interessante Reaktionen und nahezu die gesam- te Biochemie spielen sich in Lö- sung, in flüssiger Phase ab. Die theoretische Chemie – genauer die Computerchemie – bietet numeri- sche Mittel, um die Eigenschaften von Molekülen in der Gasphase oder im Festkörper zu berechnen. Dagegen ist es oft technisch und konzeptionell schwierig, Flüssig- keiten zu modellieren. Die Methoden, welche die Com- puterchemie zur Berechnung von Flüssigkeiten nutzt, sind unter- schiedlich genau und brauchen unterschiedliche Mengen an Com- puterressourcen und Rechenzeit. Leider sind im Allgemeinen die genauesten Methoden auch die zeit- aufwendigsten. Aggregatzustände simulieren In der Gasphase lassen sich Mole- küle mit Methoden berechnen, die näherungsweise die Schrödinger- gleichung lösen. Dabei liefern die Rechenverfahren mittlerweile fast genauso exakte Ergebnisse wie expe- rimentelle Untersuchungen. Dies gilt zumindest für kleine Moleküle. Bei Festkörpern nutzen Berech- nungen zur Vereinfachung die Peri- odizität von Festkörpern und errei- chen so ebenfalls genaue Resultate. Um Flüssigkeiten zu simulieren, ist ein Ensemble von verschieden konfigurierten Molekülen zu be- rechnen. Diese entstehen mit Newtonscher Mechanik aus simu- lierten Atombewegungen entlang diskreter Zeitschritte (Moleküldyna- mik, MD) oder durch Zufallsgene- rierung (Monte-Carlo-Simulation, MC). Insbesondere mit der MD lassen sich molekulare Prozesse in Flüs- sigkeiten näher betrachten. Die Rechnungen sind allerdings extrem zeitaufwendig und makroskopische Größen sind nur bedingt aus den molekularen Eigenschaften abzulei- ten. Dem Bottom-up-Vorgehen aus- gehend vom Molekül wie bei der MD oder der MC lässt sich eine Top-down-Strategie gegenüberstel- len: Makroskopische Daten geben Hinweise auf mikroskopische oder molekulare Eigenschaften. Die wichtigsten dieser phänomenologi- schen Ansätze sind das Erstellen quantitativer Struktur-Wirkungs- beziehungen (quantitative structure activity relationship, QSAR) und die Gruppenbeitragsmethoden (group contribution methods, GCM). Die medizinische und pharma- zeutische Chemie nutzt die QSAR- Hypothese häufig zur Wirkstoffent- Abb. 1. Oberflächenladungen r, aufgetragen als Histogramm, vereinfachen 3D- zu 2D-Informationen und liefern ein Profil der Substanz. Nachrichten aus der Chemie | 56 | Oktober 2008 | www.gdch.de/nachrichten 1034
Transcript
Page 1: Flüssig vorhergesagt

�Biochemie�

Flüssig vorhergesagt

Arnim Hellweg, Andreas Klamt

Das Kontinuumsolvensmodell behandelt Lösungsmittel nicht als aus einzelnen Molekülen bestehend,

sondern als gleichmäßiges Medium. Ein verbessertes Modell berücksichtigt zudem gerichtete

Wechselwirkungen wie Wasserstoffbrückenbindungen. Damit sind physiko- chemische Eigenschaften

von Flüssigkeiten ohne lange Rechenzeit vorherzusagen.

� Viele industriell interessante Reaktionen und nahezu die gesam-te Biochemie spielen sich in Lö-sung, in flüssiger Phase ab. Die theoretische Chemie – genauer die Computerchemie – bietet numeri-sche Mittel, um die Eigenschaften von Molekülen in der Gasphase oder im Festkörper zu berechnen. Dagegen ist es oft technisch und konzeptionell schwierig, Flüssig-keiten zu modellieren.

Die Methoden, welche die Com-puterchemie zur Berechnung von Flüssigkeiten nutzt, sind unter-schiedlich genau und brauchen unterschiedliche Mengen an Com-

puterressourcen und Rechenzeit. Leider sind im Allgemeinen die genauesten Methoden auch die zeit-aufwendigsten.

Aggregatzustände simulieren

� In der Gasphase lassen sich Mole-küle mit Methoden berechnen, die näherungsweise die Schrödinger-gleichung lösen. Dabei liefern die Rechenverfahren mittlerweile fast genauso exakte Ergebnisse wie expe-rimentelle Untersuchungen. Dies gilt zumindest für kleine Moleküle.

Bei Festkörpern nutzen Berech-nungen zur Vereinfachung die Peri-

odizität von Festkörpern und errei-chen so ebenfalls genaue Resultate.

Um Flüssigkeiten zu simulieren, ist ein Ensemble von verschieden konfigurierten Molekülen zu be-rechnen. Diese entstehen mit Newtonscher Mechanik aus simu-lierten Atombewegungen entlang diskreter Zeitschritte (Moleküldyna-mik, MD) oder durch Zufallsgene-rierung (Monte-Carlo-Simulation, MC).

Insbesondere mit der MD lassen sich molekulare Prozesse in Flüs-sigkeiten näher betrachten. Die Rechnungen sind allerdings extrem zeitaufwendig und makroskopische Größen sind nur bedingt aus den molekularen Eigenschaften abzulei-ten.

Dem Bottom-up-Vorgehen aus-gehend vom Molekül wie bei der MD oder der MC lässt sich eine Top-down-Strategie gegenüberstel-len: Makroskopische Daten geben Hinweise auf mikroskopische oder molekulare Eigenschaften. Die wichtigsten dieser phänomenologi-schen Ansätze sind das Erstellen quantitativer Struktur-Wirkungs-beziehungen (quantitative structure activity relationship, QSAR) und die Gruppenbeitragsmethoden (group contribution methods, GCM).

Die medizinische und pharma-zeutische Chemie nutzt die QSAR-Hypothese häufig zur Wirkstoffent-

Abb. 1. Oberflächenladungen r, aufgetragen als Histogramm, vereinfachen 3D- zu

2D-Informationen und liefern ein Profil der Substanz.

Nachrichten aus der Chemie | 56 | Oktober 2008 | www.gdch.de/nachrichten

1034

Page 2: Flüssig vorhergesagt

wicklung: Makroskopische Eigen-schaften werden auf molekulare Deskriptoren projiziert, beispiels-weise logarithmische Oktanol-Was-ser-Verteilungskoeffizienten auf die Häufigkeit funktioneller Gruppen. Allerdings sind die Deskriptoren oft nur statistisch und nicht kausal begründbar.

Die technische Chemie und die Verfahrenstechnik arbeiten viel mit GCM. Ein Beispiel ist ein Verfahren, das Aktivitätskoeffizienten schätzt (universal quasichemical functional group activity coefficients, Unifac).

GCM-Methoden nutzen die Tat-sache, dass sich die freie Energie von gelösten Molekülen in erster Näherung additiv verhält. Sie ist aus inkrementellen Beiträgen von Molekülfragmenten zusammensetz-bar. Darin besteht zugleich die Hauptlimitierung der GCM-Metho-den: Die Additivität gilt nicht bei intramolekularen und Wasserstoff-brückenwechselwirkungen.

Max Borns Idee

� Einen Weg von quantenche-mischen Rechnungen in der Gas-phase zu solchen in der kondensier-ten Phase bieten Kontinuumsolvens-modelle (continuum solvent mo-dels, CSM). Dieser Ansatz betrachtet das Lösungsmittel als kontinuierli-ches Medium, nicht als aus einzel-nen Molekülen bestehend.

Die Idee geht auf Max Born zu-rück, der annahm, dass sich die freie Energie gelöster Ionen schät-zen lässt, wenn sie gedanklich von einem dielektrischen Kontinuum umgeben sind.1)

Die CSM benötigen eine sehr kur-ze Rechenzeit, da der Aufwand dabei nur wenig größer ist als bei der Be-rechnung isolierter Moleküle. So las-sen sich Geometrien von Molekülen mit mehr als 100 Atomen im wohl effizientesten Dichtefunktionalpro-gramm Turbomole3) auf Arbeits-platzrechnern innerhalb weniger Stunden optimieren.

Leider beschreiben die CSM-Mo-delle den Lösungsmitteleinfluss nur grob. Lediglich die Dielektrizitäts-konstante modelliert die Lösungs-

mittel im Rechner. Die teilweise sehr großen nicht-dielektrischen Nah-ordnungseffekte und Wasserstoff-brückenwechselwirkungen berück-sichtigen sie nicht.

Flüssigkeiten als ideale Leiter

� Borns Idee ist in molekular-mechanischen und quantenche-mischen Verfahren umgesetzt. Eines davon behandelt das Lösungsmittel als skalierten elektrischen Leiter: das conductor-like screening model (Cosmo).2) Es verwendet nicht die Randbedingungen eines Dielektri-ums sondern die eines skalierten elektrischen Leiters. Dadurch erge-ben sich für die Wechselwirkungs-energien von eingeschlossenen und umgebenden Ladungen Ausdrücke, die mathematisch einfacher und nu-merisch leichter handhabbar sind.

Es gibt analytische Ableitungen von Cosmo-Beiträgen für quanten-chemische Programme, so dass Geo-metrieoptimierungen und Schwin-gungsanalysen möglich sind. Selbst Fehler wie in den Leiter hineinrei-chende Ladungsdichten mildert die-ser Ansatz.

Cosmo-Rechnungen in einem idealen Leiter sind Ausgangspunkt von Conductor-like-screening- model-for-real-solvents(Cosmo-RS)-Rechnungen. Die Grenzfläche zum Leiter wird dabei aus atomaren Ra-

dien so aufgebaut, dass sie annä-hernd das Molekülvolumen in Lö-sung beschreibt. Auf der Grenzflä-che bilden sich Spiegelladungen ent-sprechend der Ladungsverteilung des Moleküls. Nun lässt sich die elektrostatische Information auf die-sen Oberflächensegmenten nutzen, um Wechselwirkungen von zwei in Kontakt stehenden Molekülen zu berechnen.

Die Abschirmladungsdichte r auf den Oberflächensegmenten (Abbil-dung 1) ist die einzige Information, die für eine statistische Behandlung wechselwirkender Oberflächen der effektiven Größe aeff notwendig ist. Berühren sich die Oberflächenla-dungssegmente zweier Moleküle, ist dafür im Allgemeinen zusätzliche elektrostatische Energie (Emisfit) auf-zuwenden:

Weitere Wechselwirkungen sind Wasserstoffbrücken. Sie führen zu Enthalpiegewinn, gepaart mit einem Entropieverlust aufgrund der erhöh-ten Ordnung. Netto ergibt sich ein Gewinn an freier Energie.

Eine Wasserstoffbrücke bildet sich nach dieser Theorie nur, wenn sich zwei mit unterschiedlichen Vorzeichen stark geladene Segmente berühren. Die Wasserstoffbrücken-energie (Ehb) steigt dann mit zuneh-

Abb. 2. Screenshot von CosmothermX mit 3D-Modellen (unten) und den entsprechenden r-Profilen (links).

Nachrichten aus der Chemie | 56 | Oktober 2008 | www.gdch.de/nachrichten

Molekülberechnung �Biochemie� 1035

(1)

Page 3: Flüssig vorhergesagt

mender Polarität beider Segmente. Einen solchen Zusammenhang be-schreibt

Zusätzlich berücksichtigen ober-flächenproportionale Terme Van-der-Waals-Energien in erster Nähe-rung.

Da Wechselwirkungen nur paar-weise auftreten, reduziert sich die molekulare 3D-Information: Die Ladungsdichte, aufgetragen als His-togramm gegen die Segmentzahl mit der gleichen Ladungsdichte, ergibt das Profil p(r). Mit dieser Größe, der Boltzmann-Konstante k und der Temperatur T lässt sich das chemische Potential µ eines Seg-ments berechnen:

Das chemische Potential eines Stoffes X in einem Lösungsmittel S ist dann:

µC,S ist hierin ein kombinatori-scher Term, der nur auf den Cosmo-Oberflächen und -Volumina von Sol-vat- und Solvensmolekülen aufbaut.

Eine Gleichung für alles

� Mit Gleichung 4 ist in der Cosmo-RS-Theorie4) prinzipiell die flüssige Phase von allen Reinstoffen und Mi-

schungen zugänglich. Im Cosmo-therm-Programm (Abbildung 2) las-sen sich so thermodynamische Ei-genschaften berechnen wie Verdamp-fungswärme, Dampfdruck, Vertei-lungskoeffizienten und Mischungs-enthalpien.5)

Beispielsweise bestimmen Cos-mo-RS-Rechnungen den Aktivitäts-koeffizienten c nach

Ohne Parameter anzupassen oder einzuführen, berechnete so die erste theoretische Arbeit zu ionischen Flüssigkeiten die Aktivitätskoeffi-zienten von organischen Molekülen in diesen Medien und bewies damit die Vorhersagekraft der Cosmo-RS-Theorie.6)

Die Cosmo-RS-Methode gewann unter anderem den ersten Vorhersagewett be werb für Flüssig-keitseigenschaften, den das ame-rikanische Institut für Standards und Technik im Jahr 2005 ver-anstaltete.7)

Verfahrenstechnik und Wirkstoffentwicklung

� Die Verfahrenstechnik sagt Akti-vitätskoeffizienten mittlerweile mit Cosmo-RS vorher, insbesondere bei multifunktionalen und neuartigen Molekülen und Lösungsmitteln bis hin zu ionischen Flüssigkeiten.

Die Softwareerweiterung Cosmo-mic [Nachr. Chem. 2008, 56, 772] modelliert oberflächenaktive Mizel-len oder Biomembranen. Das Pro-gramm teilt sie vor der Berechnung in einzelne Flüssigkeitsschichten. Daraus ergeben sich Verteilungs-koeffizienten, die Lösungsmittelver-teilung innerhalb einer Schicht und das Profil der freien Energie oder der Permeabilität (Abbildung 2).

Die r-Profile, die molekulare In-formationen für die Berechnung thermodynamischer Eigenschaften enthalten, sind auch für das Verhal-ten von Wirkstoffen in Lebewesen relevant: Aufnahme, Verteilung, Stoffwechsel und Ausscheidung las-sen sich so bestimmen.

Ein Ähnlichkeitsvergleich von r-Profilen identifiziert mit dem Cosmosim-Ansatz Bioisostere von Wirkstoffen. Cosmosim beschränkt sich dabei nicht aufgrund von molekularen Strukturähnlichkeiten wie andere Programme auf be-stimmte Molekülklassen.

Ebenfalls in der Wirkstoffent-wicklung arbeitet die Cosmofrag-Softwareerweiterung. Sie bestimmt die r-Profile nicht mehr mit quan-tenchemischen Rechnungen. Statt-dessen konstruiert das Programm die Profile über einen Ähnlichkeits-abgleich aus Fragmenten von vo-rausberechneten Molekülen. Die nachfolgende Cosmotherm-Rech-nung ist ungenauer als ohne die Er-weiterung. Das Verfahren arbeitet aber schneller, da die quantenche-mische Rechnung in der Cosmo-RS-Theorie der zeitkritische Schritt ist. Weit mehr als ein Wirkstoff-molekül pro Sekunde berechnet diese Methode und erlaubt so High Throughput Screening für Wirk-stoffanalysen.

Prinzipiell lässt sich die gesamte Chemie mit der elektronischen Schrödingergleichung vorhersagen. In der Realität ist dies allerdings nur für kleine Systeme machbar. Thermodynamische Eigenschaften sind nicht ab initio zugänglich. Der Cosmo-RS-Ansatz dagegen verbin-det die Quantenchemie mit dem Chemieingenieurwesen. So liefert er viele industriell und akademisch interessante Eigenschaften von Mo-lekülen.

Die theoretischen Physiker Arnim Hellweg

und Andreas Klamt arbeiten in Leverkusen

beim Unternehmen für Computerchemie

Cosmologic, dessen Gründer und Geschäfts-

führer Klamt ist.

[email protected]

Literatur

1) M. Born, Z. Phys. 1920 , 1, 45.

2) A. Klamt, G. Schüürmann, J. Chem. Soc.

Perkin Trans. 1993, 2, 799.

3) www.turbomole.de.

4) A. Klamt, J. Phys. Chem. 1995, 99, 2224.

5) www.Cosmologic.de.

6) M. Diedenhofen, F. Eckert, A. Klamt,

J . Chem. Eng. Data 2003, 48, 475.

7) http://fluidproperties.org/challenge/

champs.htm

� QUERGELESEN

�� Jedes einzelne Molekül in einer Flüssigkeit zu

berechnen, ist sehr zeitaufwendig.

�� Flüssigkeiten lassen sich als dielektrisches

Kontinuum auffassen.

�� Rechnungen in idealen Leitern sind Ausgangs-

punkt, um Eigenschaften realer Flüssigkeiten zu

modellieren.

�� Der Cosmo-RS-Ansatz schätzt Aktivitätskoeffi-

zienten, prognostiziert das Verhalten von Wirk-

stoffen im Körper und modelliert Biomembranen.

�Biochemie� Molekülberechnung 1036

Nachrichten aus der Chemie | 56 | Oktober 2008 | www.gdch.de/nachrichten

(2)

(3)

(4)

(5)


Recommended