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Fjodor Dostojewski - leseprobe.buch.de · Nein, diese Romanschriftsteller! Statt etwas Nützliches,...

Date post: 10-Sep-2019
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F jodor Dostojewski Arme Leute Aus dem Russischen von Hermann Röhl Anaconda
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Fjodor Dostojewski

Arme Leute

Aus dem Russischen vonHermann Röhl

Anaconda

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Titel der russischen Originalausgabe: Bednye ljudi (Petersburg 1846). Die Übertragung von Hermann Röhl erschien zuerst 1921als Band 1 der Sämtlichen Romane und Novellen im Insel Verlagin Leipzig. Der Text wurde den Regeln der neuen deutschenRechtschreibung angepasst. Die Umschrift russischer Namenund Begriffe blieb unverändert.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2013 Anaconda Verlag GmbH, KölnAlle Rechte vorbehalten.Umschlagmotiv: Edwin Harris (1855–1906), »News from Abroad«, Private Collection / Bourne Gallery, Reigate / bridgemanart.comUmschlaggestaltung: agilmedien, KölnSatz und Layout: InterMedia, RatingenPrinted in Czech Republic 2013ISBN [email protected]

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Nein, diese Romanschriftsteller! Statt etwas Nützliches, An-genehmes, Erfreuliches zu schreiben, graben sie allerlei Ge-heimnisse aus der Verborgenheit aus! … Ich würde ihnen ge-radezu verbieten zu schreiben! Was hat man davon: Man liest und versinkt unwillkürlich in Gedanken, und dann kommt einem aller mögliche Unsinn in den Kopf! Wirklich, ich würde ihnen verbieten zu schreiben; einfach ganz und gar verbieten würde ich es ihnen.

Fürst W. F. Odojewski.

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Den 8. April.Meine teure Warwara Alexejewna!Gestern war ich glücklich, über die Maßen glücklich, unglaub-lich glücklich! Wenigstens einmal im Leben haben Sie auf mich gehört, Sie Eigensinn! Am Abend so um acht Uhr wachte ich auf (Sie wissen, liebes Kind, dass ich nach dem Dienst gern ein oder zwei Stündchen schlafe), stellte die Kerze auf den Tisch, legte meine Papiere zurecht, machte die Feder rein, hob auf einmal zufällig die Augen in die Höhe – wahrhaftig, das Herz fing mir ordentlich an zu hüpfen! Also haben Sie doch verstanden, was ich wünschte, was mein Herz begehrte! Ich sah ein Eckchen des Rouleaus an Ihrem Fenster zurückgeschla-gen und an den Balsaminentopf gehängt, genauso wie ich es Ihnen damals andeutete; und zugleich schien es mir, dass auch Ihr Gesichtchen einen Augenblick am Fenster sichtbar würde, dass auch Sie aus Ihrem Zimmer nach mir hinblickten, dass Sie an mich dächten. Und wie bekümmert war ich darüber, mein Täubchen, dass ich Ihr hübsches Gesichtchen nicht or-dentlich unterscheiden konnte! Es hat eine Zeit gegeben, wo auch ich gut sehen konnte, liebes Kind! Das Alter ist keine Freude, meine Teure! Jetzt flimmert es mir immer vor den Augen; wenn ich am Abend ein bisschen gearbeitet und etwas geschrieben habe, so sind mir am andern Morgen gleich die Augen gerötet, und die Tränen fließen mir, sodass ich mich vor Fremden geradezu geniere. Aber vor meinem geistigen Blick leuchtete Ihr Lächeln auf, mein Engelchen, Ihr gutes, freundliches Lächeln, und in meinem Herzen hatte ich ein ganz ebensolches Gefühl wie damals, als ich Sie küsste, liebe Warwara, – erinnern Sie sich wohl, mein Engelchen? Wissen

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Sie, mein Täubchen, es schien mir gestern sogar, als drohten Sie mir mit dem Finger. Stimmt das, Sie Schelmin? Schreiben Sie mir das alles jedenfalls recht ausführlich in Ihrer Antwort!

Nun, und wie denken Sie über unsere Erfindung mit Ihrem Rouleau, liebe Warwara? Allerliebst, nicht wahr? Sitze ich bei der Arbeit, oder lege ich mich schlafen, oder wache ich auf, immer weiß ich, dass auch Sie an mich denken, sich meiner erinnern und selbst gesund und heiter sind. Lassen Sie das Rouleau herunter, so bedeutet das: »Gute Nacht, Makar Ale-xejewitsch; es ist Zeit, schlafen zu gehen!« Ziehen Sie es in die Höhe, so bedeutet das: »Guten Morgen, Makar Alexejewitsch, wie haben Sie geschlafen? Wie ist Ihr Befinden, Makar Alexe-jewitsch? Was mich betrifft, so bin ich, Gott sei Dank, gesund und munter!« Sehen Sie, mein Herzchen, wie geschickt das ausgedacht ist; da brauchen wir uns gar keine Briefe zu schrei-ben! Schlau, nicht wahr? Und das ist meine Erfindung! Was meinen Sie, verstehe ich mich auf diese Dinge nicht meister-haft, Warwara Alexejewna?

Ich vermelde Ihnen, liebe Warwara Alexejewna, dass ich diese Nacht recht gut geschlafen habe, womit ich sehr zufrie-den bin. Es war das ganz gegen mein Erwarten, da man ja in neuen Wohnungen nach dem Umzug meist nicht besonders schläft: Es ist einem alles nicht so, wie man’s haben möchte! Als ich heute aufstand, fühlte ich mich frisch und munter wie ein Falke und war seelenvergnügt. Was ist das heute für ein schöner Morgen, liebes Kind! Bei mir steht das Fenster offen; die liebe Sonne scheint; die Vögelchen zwitschern; die Luft ist von Frühlingsduft erfüllt und die ganze Natur wie neu be-lebt – na, und auch alles Übrige war hier dementsprechend, alles in Ordnung, frühlingsmäßig. Ich habe mich heute sogar recht angenehmen Träumereien überlassen, und diese meine Träumereien bezogen sich alle auf Sie, liebe Warwara. Ich ver-

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glich Sie mit einem Vögelchen unter dem Himmel, das zur Freude der Menschen und zur Verschönerung der Natur ge-schaffen ist. Und dann dachte ich noch, liebe Warwara, dass wir Menschen, die wir in Sorge und Unruhe leben, eigentlich die Vögel unter dem Himmel um ihr sorgloses, unschuldiges, glückliches Dasein beneiden müssten, – na, und dann dachte ich noch manches von derselben Art, dem Ähnliches; das heißt, ich stellte lauter solche kühnen Vergleiche an. Ich habe da ein Büchelchen, liebe Warwara, in dem ist ganz dasselbe, genau dasselbe sehr ausführlich geschildert. Ich schreibe dies deswegen, weil es ja verschiedene Arten von träumerischen Gedanken gibt, liebes Kind. Jetzt ist nun Frühling; da sind auch die Gedanken alle so angenehm und klar und erfinde-risch, und es kommen einem zärtliche Fantasien, und man sieht alles in rosigem Licht. Deswegen habe ich dies alles nie-dergeschrieben; übrigens habe ich es alles aus dem Büchelchen entnommen. Dort äußert der Verfasser einen ebensolchen Wunsch in Versen und schreibt:

»Oh, wär ich doch ein Vogel, ein Falke oder Aar!«Na und so weiter. Da stehen auch sonst noch allerlei Ge-

danken, die ich weglasse! Aber was ich sagen wollte: Wohin gingen Sie denn heute Morgen, Warwara Alexejewna? Ich hatte mich noch nicht fertiggemacht, um zum Dienst zu gehen, als Sie schon, wirklich so fröhlich wie ein Vögelchen im Früh-ling, aus dem Zimmer und über den Hof gingen. Wie freute ich mich, als ich Sie so sah! Ach, liebe Warwara, liebe War-wara! – Grämen Sie sich nur nicht zu sehr; Tränen, sagt das Sprichwort, helfen nicht gegen das Leid; das weiß ich, liebes Kind, das weiß ich aus Erfahrung. Jetzt haben Sie ja schöne Ruhe, und auch Ihre Gesundheit hat sich ein bisschen gebes-sert. – Na, was macht Ihre Fedora? Ach, was ist das für eine gute Person! Schreiben Sie mir doch, liebe Warwara, wie Sie

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