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Filmphilosophie: Michael Kohlhaas

Date post: 08-Jul-2015
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Zum Thema Gerechtigkeit wurde im Rahmen der Reihe Film(&)Philosophie im Schlachthofkino Soest die Neuverfilmung von Michael Kohlhaas gezeigt und diskutiert.
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Michael Kohlhaas Film(&)Philosophie Akademie für angewandte Philosophie http://akademiephilosophie.de Ich will nur, was mir zusteht. Dr. Thomas Wachtendorf
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Michael KohlhaasFilm(&)Philosophie

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Ich will nur, was mir zusteht.

Dr. Thomas Wachtendorf

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Das historische Vorbild !• Hans Kohlhase, Kaufmann in Cölln • Auf einer Reise zur Messe in Leipzig wurden ihm

zwei angeblich gestohlene Pferde abgenommen • Alle Rechtsmittel bleiben erfolglos • Kohlhase erklärt die Fehde und verwüstet Städte • Er wird aufgegriffen und hingerichtet

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Kleists Fassung (1810) !• Michael Kohlhaas werden auf dem Weg zur Messe

zwei Pferde als Pfand abgenommen, weil er einen (nicht existenten) Passierschein nicht hat

• Alle Rechtsmittel scheitern aufgrund von Kungelei, Kumpanei und unlauteren Machenschaften

• Kohlhaas erklärt die Fehde, wird am Ende festgenommen

• Im Prozess bekommt er in seiner Sache Recht, wird aber gleichzeitig zum Tode verurteilt, was ihn nicht berührt, weil er sein Ziel erreicht hat

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Arnaud des Pallieres !• Verlagert die Handlung nach Südfrankreich, strafft

und modernisiert sie • Im Zentrum steht der Konflikt des absolutistischen

Rechtssystems mit dem aufgeklärt bürgerlichen, der sich auch in den Bauernaufständen in Südfrankreich zeigt

• Insgesamt wird die Geschichte auf die Frage der Gerechtigkeit hin verschärft

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Was nun aber ist Gerechtigkeit? !• Kein rein ethischer Begriff • Gerechtigkeit hat nichts mit Recht zu tun • Gerechtigkeit hat nichts mit Rechtssprechung zu

tun • Gerechtigkeit bezieht sich auf richtiges Handeln von

vernunftfähigen und damit verantwortungsfähigen Personen

• Gerechtigkeit hat immer auch eine politische Dimension

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Was ist richtiges Handeln? !Antike !• Ausgleichende Gerechtigkeit (Achill und

Skamander) • Gerechtigkeit ist hier keine Tugend neben anderen,

sondern diejenige Tugend, die die anderen erst zum richtigen Handeln führt (Platon)

• Das gerechte Leben ist das höchste Lebensziel

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Was ist richtiges Handeln? !Moderne !• Die großen Erzählungen sind zu Ende und damit

auch die Verankerung der Gerechtigkeit in diesen. • Anker der Gerechtigkeit ist nun der Staat • Doch wie kann ein Staat Gerechtigkeit herstellen? • Absolutismus vs. Vertragstheorien • Absolutismus ist offenbar per definitionem

ungerecht • Vertragsstaaten jedoch haben nicht notwendig einen

Inhalt, sie sind neutral. Wie lässt sich dann Gerechtigkeit begründen?

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Was ist richtiges Handeln? !John Rawls (1921-2002): Eine Theorie der Gerechtigkeit !• Entscheidung über die Gerechtigkeitsprinzipien

durch einen „Schleier des Nichtwissens“ • Ziel: Überlegungsgleichgewicht • Aber warum sollte man sich für Gerechtigkeit

einsetzen? Ein formales System ist immer blutleer, weil der Mensch immer auch Inhalt ist. Das heißt: Menschen sind verschieden, auch in ihrem Unvermögen

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• Kohlhaas verlangt etwas, das ihm aufgrund von Resten des barbarisch-absolutistischen Systems verwehrt bleibt: Das Recht kann nicht greifen, solange die Verantwortlichen sich nicht daran halten

• An einem Staat, der diese Fehler nicht beseitigen kann, aus formalen Gründen festzuhalten, muss notwendig ungerecht sein

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• Müssen also alle Menschen gleich sein? Sicherlich nicht, das würde sie formalisieren

• Aber sie müssen gleichen Zugang zum Recht und zum System haben (dieselben Möglichkeiten)

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Damit allein ist es aber nicht getan:

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Es bedarf noch zwei anderer Arten der Gerechtigkeit: !

• Bedarfsgerechtigkeit: wer Hilfe braucht, muss sie bekommen, Schutz vor nicht selbst zu verantwortenden Risiken

• Verteilungsgerechtigkeit: Schutz vor sozialer Instabilität

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Warum braucht es diese beiden Arten der Gerechtigkeit? !

• Bedarfsgerechtigkeit: Sozialleistungen meinen nicht, jemanden nicht verhungern zu lassen, sondern ihm Teilhabe zu ermöglichen

• Verteilungsgerechtigkeit: Menschen in sozial schwachen Gebieten beteiligen sich signifikant wenig am politisch-gesellschaftlichen Leben

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• Aufgabe des modernen Staates muss es also sein, diese drei Gerechtigkeiten herzustellen, damit allen die Teilhabe am Staat, also an dem, was sie selbst betrifft, möglich wird

• Die Institutionen, die der Mensch notwendig schafft, dürfen sich nicht verabsolutieren

• Tun sie das, wird der Mensch machtlos • Handelt Kohlhaas also gerecht, wenn er dem

Staat die Fehde erklärt, bis dieser ihn erhört?

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• Ist denn wirklich der Staat ungerecht, gegen den Kohlhaas vorgeht? Oder sind es einzelne korrupte Menschen?

• Das deutsche Grundgesetz spricht eine klare Sprache (Artikel 20):

!

„ (4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“

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Kohlhaasens Staat ist nicht der eigentliche Gegner, deshalb scheint Kohlhaas falsch zu handeln und seine Fehde wird zur Rache. Das ist zunächst auch Luthers Position. !

Diese Analyse enthält aber eine ungeheure Perfidität, weil sie den formalen Staat verabsolutiert.

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Die gegenwärtigen Theorien der Gerechtigkeit binden diese daher immer an eine materiale Bestimmung.

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Avishai Margalit (*1939): Die Politik der Würde !Gerechtigkeit, Achtung und Demütigung sind die zentralen Begriffe, an denen sich Gerechtigkeit bemisst: !„Demütigung, so behaupte ich, ist der Ausschluß eines Menschen aus der ,Familie des Menschen‘; sie bedeutet, daß Menschen so behandelt werden, als ob sie keine Menschen oder nicht menschlich wären, womit gesagt ist, daß sie behandelt werden, als ob sie Gegenstände oder Tiere wären. Daß eine Demütigung sehr häufig durch Gesten zugeführt wird, rührt daher, daß es zu ihrem Wesen gehört, andere Menschen so zu behandeln, als ob sie etwas anderes wären: leblose Objekte, Werkzeuge oder Tiere.“

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Daraus folgt: !

„Eine anständige Gesellschaft bekämpft Verhältnisse, durch die sich ihre Mitglieder mit Recht gedemütigt fühlen können. Eine Gesellschaft ist dann anständig, wenn ihre Institutionen den Menschen, die ihrer Autorität unterstehen, keine berechtigten Gründe liefern, sich als gedemütigt zu betrachten.“

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Die modernen Gesellschaften sind im Regelfalle dieser Analyse folgend nicht anständig und tendieren im Gegenteil gar zur feudalistischen Spaltung. Für die BRD gilt etwa: !

• „Bildungsverlierer“ • „Hartz IV“ • „Unattraktive“ Menschen sind benachteiligt • „Hartz IV-Behörde“, Finanzamt • So genannter „Fachkräftemangel“ !

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Moderne Gesellschaften produzieren, so Zygmunt Bauman (*1925), notwendig eine Gruppe von Menschen, die keinen Platz in der Gesellschaft haben: menschlichen Abfall. Denn: „Unser Planet ist überfüllt.“ Wenn dann Menschen einen Platz innerhalb der Gesellschaft wollen, muss es notwendig solche geben, die draußen sind. „Für überflüssig erklärt zu werden bedeutet, weggeworfen zu werden, weil man ein Wegwerfartikel ist.“

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Gegen diese Unanständigkeiten schützt das Grundgesetz nicht. !Es braucht also einer starken Fundierung, auf die man sich berufen kann. !Ronald Dworkin (1931-2013): Werte und die Würde des Menschen müssen der Maßstab allen – auch des staatlichen Handelns – sein. !Im Moment ist der Maßstab staatlichen Handelns grundsätzlich die Ökonomie („Sachzwangpolitik“).

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Kohlhaas geht es um Gerechtigkeit, die die Würde der einzelnen und vor Demütigungen schützt. Er respektiert den Staat und das Recht und kämpft gegen Entwürdigung und Demütigung. Sein eigentlicher Feind ist nicht der Staat, sondern das „Diktatorenproblem“.

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Gerechtigkeit

Ethik: Das gute Leben

Politik: Das

ZusammenlebenGerechtigkeit:

Das geordnete Zusammenleben: • Keine Demütigung • Schutz der Würde des einzelnen • Jeder muss in die Lage versetzt werden, das bestmögliche Leben zu

führen • Vernunft und Verantwortung sind

Voraussetzung

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Literatur !• Bauman, Zygmunt: Verworfenes Leben, Hamburger

Edition, 2005 • Dworkin, Ronald: Gerechtigkeit für Igel, Suhrkamp,

2012 • Hessel, Stephane: Empört euch!, Ullstein, 2011 • Margalit, Avishai: Politik der Würde, Suhrkamp, 2012 • Sandel, Michael: Gerechtigkeit, Ullstein, 2009 • Sandel, Michael: Was man für Geld nicht kaufen kann,

Ullstein, 2012 • Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Suhrkamp,

1979 • Wachtendorf, Thomas: Drinnen und draußen, Berliner

Republik, 2/2013

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