of 70
7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen
1/70
Vom Einen zum Vielen
er
neue ufbruch der Metaphysik
im
12
Jahrhundert
Eine Auswahl zeitgenossischer Texte des
Neoplatonismus
Herausgegeben eingeleitet i.ibersetzt
und
kommentiert
von
Alexander
idora
und
Andreas
Niederberger
Vittorio Klostermann
rankfurt
am
Main
7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen
2/70
Die Deutsche Bibliothek-
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7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen
3/70
lNHALT
Vom
Einen zum Vielen -
Der
Neoplatonismus
und seine Rolle fi ir die Philosophie des
I2
Jahrhunderts
VII
T exte und bersetzungen
THIERR
Y VON CHARTRES
De sex dierum operibus / Vom Sechstagewerk Auszug)
ISAAK
VON
STELLA
Sermo Vigesimus secundus / Zweiundzwanzigste Predigt 20
ACHARD
VON
SANKT
VIKTOR
De unitate Dei) et pluralitate creaturarurn / ber die Einheit
Gottes und die Vielheit der Geschopfe Auszug)
34
ANONYMUS
Liber
de
causis / Buch der Ursachen Auszug)
S
DOMINICUS GUNDISAL VUS
De unitate et uno / Von der Einheit und vom Einen 66
ANONYMUS
Liber viginti quattuor philosophorum /
Buch der vierundzwanzig Philosophen Auszug)
ALAlN
VON
LILLE
Regulae caelestis iuris /
Die Regeln des hirnmlischen Rechts Auszug)
Konunentare zu den T exten
Auswahlbibliographie
80
90
IOI
. 167
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4/70
V
OM
EINEN ZUM VIELEN
DER NEOPLATONISMUS
UND SEINE ROLLE
FOR
DIE
PHILOSOPHIE
DES 12. JAHRHUNDERTS
Platon, Platonismus und Neoplatonismus
Eine T radition von der Ancike bis ins Miccelalter
T rotz aller Vorbehalte gegen Periodisierungen in der
e s c h i ~ h t e
der Philosophie hat sich nichc zuleczc dank der einschlagigen Arbeiten
etwa von Clemens Baeumk.er
1
, Raymond Klibanskf, J hannes Hirsch
berger1 und anderer das mittelalterliche Denken vor dem massiven
Einsetzen der Aristoteles-Rezeption
als
durch und durch platonisch
gepragt erwiesen. Den Autoren gelang
es
zu zeigen, dass das Denken
des Mittelalters durch verallgemeinemde Besrimmungen wie die Be-
schrankung seiner philosophischen V erdienste auf den Aristotelismus
ab dem 13. Jahrhundert und die damit einhergehende Erklarung aller
friiheren Leistungen allein
aus
der Auseinandersetzung mit den tra
dierten theologischen Fragen einem GroBteil der Scholaren und Schu
len bis zum Ende des 12. Jahrhunderts nicht gerecht wird. Scattdessen
erkannten sie, dass auch
die
theologischen Reflexionen gerade
des
I 2
Jahrhunderts von Gedankenfguren durchdrungen sind, die auf den
1
Vgl. Clemens Baeumker, .,Der Plaronismus
im
Mimlalcer ,
in:
ders.,
St:udien
und
Charakcerisciken
zur
Geschichce der Ph1losophie insbesondere des Miccel:ilcers
Beicrage zur Geschichce der Philosophie
des
Miccelalcers XXV,
I/2),
Munscer
1927,
S.
39- 79
(erneuc in: Werner Beierwalces [Hg.].
Phconismus
in
der Ph1lo
sophie des Mitcel:ilcers.
Darmscadt
1969,
S.
1-55).
Siehe Raymond Klibansky,
The Concinuicy
o
che
hconic
Tradition dun ng che
iYhddleAges.
London
2
I95I.
3
Vgl. Johannes Hirschberger, .,Plaronismus und Mimlalcer ,
in: Philosophisches
J:ihrbuch a'er Gorres-GeselJschafr63 (I955), S. 120-130
(erneut in: Werner Beier
waltes [Hg.].
Phconismus in der Philosophie des
Jv J'ccel:ilcers, a.a.O., S.
56-72).
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5/70
VIII
Vom Einen
zum
Vielen
Einfluss der antiken Philosophie,
und
zwar insbesondere jener Platons
und der sich auf ihn beziehenden spatantiken Schulen zuriickgehen.
Allerdings rnussten die Philosophiehistoriker zugleich eingestehen,
dass der auf solche Art diagnostizierte Platonisrnus weder auf Quellen
beruht, die allen Autoren gerneinsarn sind, noch eine einheitliche Ge
stalt annirnrnt. Vielrnehr bezeichnet dieser
Titel
verschiedene Motive,
Argurnente und explizite Aufnahrnen antiken Denkens, die zahlreiche
Problerne und Fragestellungen der Philosophie betreffen und von
keinern der rnittelalterlichen Philosophen und Theologen
in
ihrer
Gesarntheit thernatisiert werden. Richtigerweise spricht Marie-Dorni
nique Chenu daher von den ,Platonismen' des 12. J ahrhunderts irn
Plural.'
Diese Vielfaltigkeit der Platonisrnen des friihen und hohen Mittel
alters ergibt sich jedoch nicht ausschlieBlich aus den verschiedenen
Interessen und Kontexten der rnittelalterlichen Autoren,
sondem
sie
hat ihren Ursprung bereits in den philosophischen Schulen der Antike
und der Spatantike, in denen das platonische W erk auf vielschichtige
W eise rezipiert wird und dabei jeweils verschiedene Elernente eine
Fortentwicklung erfahren, die bei Platon selbst z.T. nur irn Ansatz
vorliegen. Wird namlich ein Blick in das Schicksal des Denkens Pla
tons geworfen, dann ist zunachst fur die ersten J ahrhunderte nach
seinern T od irn Jahre 47 v. Chr. zu beobachten, dass sich die von ihm
in Athen begriindete Akadernie unter Speusippos, Xenokrates, Pole
rnon und Krates zunehmend von den weitreichenden rnetaphysischen
und
episternischen Anspriichen verabschiedet, fur die bis heute die
platonischen Dialoge prirnar stehen. Stattdessen unterstreichen diese
Denker den in der sokratischen Haltung gegeniiber dern jeweiligen
Gesprachspartner zurn Ausdruck kornrnenden Skeptizisrnus. n der
Neubegriindung der Akadernie, der sogenannten Mittleren (3. Jahr
hundert v. Chr.) und Neueren Akadernie (ab dern 2. Jahrhundert v.
Chr.), fiihreri die wichtigsten Reprasentanten diese T endenz fort
und
nehmen teilweise auch eklektizistische Haltungen an, so etwa Arkesi
laos, Kameades sowie Antiochos von Askalon und sein Schiiler Ci-
' Siehe Marie-Dominique Chenu,
Les
Placonisrnes du XIIe sicle ,
in:
ders., l
thologie
au
XI le siede, Paris 1957, S. 108-141 (dr. in: Werner Beierwakes [Hg.],
Placonismus in der Ph1losophie
des Jv/icre alcers,
a.a.O.,
S.
268-3 I 6).
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6/70
Vom Einen
zum
Vielen
IX
cero,
5
wodurch dieser fruhe Platonismus Motive der Stoa und des
Epikureismus integrieren kann.
Unter
genuin metaphysischen
und
epistemischen Gesichtspunk:ten
betrachtet wird das W erk Platons erst wieder vom sogenannten
Mittelplatonismus, unter dessen
Namen
verschiedene Autoren der Zeic
zwischen 50
v.
Chr. bis zur Begrtindung der Schule Plotins in Rom
m
J ahre
244
n. Chr. versammelt werden. Die Mittelplatoniker, die sich in
ihren Auffassungen deutlich vom Skeptizismus
und
Eklektizismus der
Akademie abheben, eignen sich zentrale Gedanken Platons, wie etwa
seine Kosmologie und seine Ideenlehre, emeut an, vollziehen diese
Aneignung aber im Rahmen insbesondere der philosophischen
Theo
logie, die in der aristotelischen
Mecaphysik
entworfen ist.
6
Im
zweiten
nachchristlichen Jahrhundert deutet Albinus
e i ~ p i e l s w e i s e
die platoni
schen Ideen als ewige Gedanken im Geiste (nous) Gottes
und
erlautert
damit nicht
nur
auf neue W eise die ariscocelische Lehre vom sich
selbst denkenden Geist (nous nokos),
sondem
gibt zugleich der
Lehre Platons eine neue Funktion im Gesamt der Philosophie.
7
Placons
Dialoge ki:innen somit im Anschluss an die deutlich analytischeren
Texte
des
Aristoteles
fi.ir
die namrphilosophischen, metaphysischen
und theologischen Diskussionen der
Zeit
einen wichtigen Beitrag
leisten. Denn sie erlauben es die aristotelischen berlegungen an jenen
Stellen, an denen diese bloB skizzenartig sind und eine Suchbewegung
beschreiben, material
zu
fassen,
wie
etwa im Falle der stark formali
sierten aristotelischen nous-Lehre.
Der
Neoplatonismus greift die im Mittelplatonismus vorliegende
Bearbeitung der kosmologischen Fragen sowie der Rolle der Ideen im
Schi:ipfungsprozess der W
elt
insbesondere unter der Perspektive der
Frage nach der Entstehung des Vielen, d.h. der W elt, aus dem Einen
auf. So integriert Plotin
205-270),
der Begrtinder der ri:imischen
Schule des Neoplatonismus, diese berlegungen in einen philosophi-
5
VgL
Heinrich Dorrie,
ie geschichdichen ~ V u a e l n des Placonismus,
Stuttgart
1987, s. 42-45.
6
'Vgl. zum Mittelplatonismus
v.a.
Philip Merlan,
From Placonism o Neoplaconism,
Den Haag
1953
sowie Clemens Zintzen (Hg.).
er Micce placonismus,
Dannstadt
1981.
7
Siehe
o ~ e r
Miller Jones, ,,The Ideas
as che
Thought
of
God ,
in: Classica Ph1lo
logy 2l (1926), S. 317-326
(dt.
in:
Clemens Zintzen [Hg.],
DerMitcefplaconis
mus, a.a.O., S.
187-199).
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7/70
X
Vom Einen zum
Vielen
schen Gesamtentwurf, der ontologisch den Hervorgang des Geistes
und mit
ihm der Formen bzw. Ideen), der Seele und der
Welt
aus
dem gottlichen Einen analysiert und es zugleich erlaubt, die erkennt
nistheoretische Relevanz dieser Seinsstufen oder Hypostasen zu be
greifen.8 n diesem Sinne bestimmt er in seinen
Enneaden
das Eine
(hen) als Grund und Bewahrer alles Seienden, der zugleich jedoch
auf
eine solche Art transzendent ist, dass er weder bezeichnet noch erkannt
werden kann:
Das Erste narnlich muss ein Einfaches, vor allen Dingen Liegendes
sein, verschieden von allem, was nach ihm ist, fiir sich selbst seiend,
nicht vermischt mit etwas, was von ihm stammt, und dabei doch in
anderer W eise wieder fahig, den
andem
Dingen beizuwohnen,
wahrhaft Eines seiend und nicht zunachst etwas anderes und dann
erst Eines, von welchem schon die Aussage, dass es Eirn;s sei, falsch
ist, von welchem es ,keinen B e ~ r i f f und ,keine Wissenschafr' gibt,
vori welchem
es dann auch heifit, dass
es
jenseits des Seins ist.
9
Aber wie soli aus einem solcherart bestimmten Einen die Vielheit
und Verschiedenheit
des
weltlichen Seienden hervorgehen konnen,
ohne dass jenes dabei selbst zwangslauf.g
als
vielfaltiges gedacht wer
den muss
:....
ein Problem, das bereits Platon in seinem Pannemdes
umtrieb?IO Plotin beginnt die Erklarung der Vervielfaltigung des vom
Einen ursprunglich bewirkten Seienden, indem er als erste Seinsstufe
nach dem Einen den Geist nous) einfuhrt. Er wird zunachst als die
Ruckwendung oder Reflexion des Einen
auf
sich selbst bestimmt,
wodurch
es
zu einer ersten V erdopplung kommt, da Erkennendes und
Erkanntes verschieden sein mussen:
Wir nennen aber, denn wir mussen uns deutlicher ausdriicken, den
Geist ein A b ~ i l d v o ~ J nerr: [ d.h . dem Ei;ien
J
ers_dich darum, weil
das Erzeugte lil gew1ssem S1nne em Jenes sem, v1eles von
Ihm
be
wahren und AhD.lichkeit mit Ihm haben muss, wie sie auch das
8
Vgl.. zum Ge,samtzusammenhang der Philosophie Plocins Dominic J. O'Meara,
P ocinus
-
n
. ncroduct:ion
co
che Enneads,
Oxford 1993 sowie Lloyd
P.
Gerson,
P otinus,
London 1994.
P ocin,
See e - Geisc - Eines,
gr.-dc. hg.
von Klaus Kremer,
Hamburg 1990, 5.
25
V
4 [7),
1).
.
10
Ygl. dazu E R. -Oodds, The
Rumemdes
of Placo and
che
Origin of
che
Neoplato
nic ,One"',
in:
The
Classica Quarrerly22
(1928), 5. 129-142.
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Vom
Einen zum Vielen
XI
Licht mit der Sonne hat. Aber doch ist Jenes nicht Geisc; wie kann
es da den Geisc erzeugen? Nun, in dem Gerichtetsein auf sich selbst
erblickte es sich selbst, und dies Erblicken ist der Geist.
11
Obwohl der Geisc also nichts
zum
Einen hinzufugt, ist durch
ihn
damit die Grundlage fiir die spatere Vielheit der W elt gelegt, da er das
Eine in vielfaltigen Formen erfasst, die ihrerseits die Ideen bzw. Exem
plarursachen der W elt darstellen:
Das Denken [ d.h. der Geist] aber sieht das Gedachte, wendet sich
zu diesem hin und wird erst von ihm gleichsam
zur
Erfiillung ge
bracht, insofem
es
an sich unbestirnmt ist wie das Sehen
und
erst
durch das Gedachte seine Bestimmtheit erhalt; weshalb denn auch
gesagt ist, dass aus der unbestimmten Zw.eihe.it
und
dem Einen die
Ideen und Zahlen hervorgehen, das namhch
1st
der
Ge1st
Deshalb
ist der Geist nicht einfacfi, sondem Vielheit, und weist bereits eine
Zusammensetzung auf [ ] und erfasst bereits schauend die Viel
heitY
Di
e ontologische Vielheit der W elt wird damit erkenntnistheore
tisch in der Selbstreflexion des Einen
als
Geist begrundet, wodurch
zugleich die grundsatzliche Erkennbarkeit alles Seienden auch fiir die
zur Erkenntnis fahigen W esen nach dem Einen
qua
ihrer T eilhabe am
Geist) gewahrleistet ist. Allerdings sind die Formen
im
Geist nicht
hinreichend fur die Erklarung des Entstehens des innerweldich Seien
den, zu dessen Belebung Plotin noch eine dritte Hypostase, namlich
die Welt-
)Sede
psych), annirnmt. Mit den drei Hypostasen gelingt
es
ihm so, eine differenzierte Antwort auf die Frage nach dem Hervor
gang
proodos)
des Vielen aus dem Einen
zu
skizzieren, deren spezif
sche Leistung gegeniiber dem Mittelplatonismus darin besteht, dass sie
den Geist
als
Vermittlungsprinzip im Schipfungsvorgang zwischen
dem absolut transzendenten Einen und der Immanenz des Seienden
ansiedelt.
Damit
wird aber die Systematik der aristotelischen Metaphy
sik und Naturphilosophie aufgegriffen und zugleich m Rahmen eines
zentralen platonischen Gedankens neu interpretiert. So werden freilich
bereits in Aristoteles
Metaphys/k
sowohl ontologische
als
auch prin
zipientheoretische berlegungen angestellt; da diese aber in erster
Plotin, a.a.O., S 49 V I [IO], 7).
2
Plotin, a.a.O., S 27ff.
V
4 [7], 2).
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XII
Vom Einen
zum
Vielen
Linie vom innerweltlich Seienden her
als
dessen Erl
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Vom Einen zum Vielen
XIII
Jamblichs berlegungen am Beginn des 4. Jahrhunderts eine Alterna
tive zu Plotins Li:isungsansacz dar, bei dem letzclich die Frage unge
klarc bleibt,
wie
aus dem unbestimmten
und
absolut transzendenten
Einen die konkrete Fahigkeit, sich selbst zu betrachten, erwachsen
kann. So verlagert Proklos
in
seiner
Element:at:io Theologica (Element:e
er
Tlieologie) die Vermittlung der Vielheit in die Henaden, etwa
Sein und Leben, die als urspriingliche Einheiten unmittelbar auf das
Eine folgen:
Gibt es niirnlich ein Eines an sich, so gibt
es
auch ein zuersc an
demselben Teilhabendes und ein zuerst Geeintes (hnomenon).
Dieses besteht aus Henaden [ d.h. Einheiten
.
Denn wenn es aus
Geeinten bestehen
wi.irde
dann wi.irden auch diese Geeinten aus
denselben bestehen und so ins Unendliche.
14
Die
Nii.he
der Henaden
zum
Einen gewii.hrleistet ihre Einheit, auch
wenn die Dinge an ihnen im Gegensatz
zum
Einen teilhaben ki:innen.
In diesem Zusammenhang denkt Proklos sich die T eilhabe dergestalt,
dass jede Gattung des Seienden an genau einer Henade teilhat, wobei
die
Nii.he
der jeweiligen Henade
zum
Einen sich proportional
zum
Allgemeinheitsgrad der Gattung verhii.lt:
n jeder gottlichen Henade hat irgendein Seiendes unmittelbar teil
[
..
]. Und diese Henaden, an denen etwas teilhat, sind genauso vide
wie die [ an ihnenJ teilhabenden Gattungen des Seienden. r
J
n
jedem existierenden allgemeineren Gott, der dem Ersten naher ge
stellt ist,
hat
eine allgemeinere Gattung der Seienden teil, an dem
besondereren und eni:fernteren [Gott] eine besonderere [Gattung
der Seienden].
5
14
Proclus,
Tlie E emencs ofTheo ogy.
gr.-engl. hg. von E. R. Dodds, Oxford 1963,
S. 6 Prop. 6).
5
A.a.O., S. 120 Prop. 135, 136).
6
Z.B. Plotin, a.a.O.,
S.
117 V 3 [49], 15).
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X V
Vom Einen zum
Vielen
urn aus dem Einen-Vielen gleichsarn viele Eine zu rnachen, wodurch
die Darstellung der Henaden zwangslaufg einen z.T. auBerordentlich
schernatischen Zug bekomrnt.
Es wurde bereits
auf
die hohe Systernatizitat der proklischen
berlegungen verwiesen, die sich insbesondere in seiner
Methodik
widerspiegelt, welche in enger Anlehnung an die euklidische Axiornatik
ein deduktives Modell prasentiert. Dabei ist diese Methode, die auch
und gerade irn pejorativen Sinne als ,scholastisch' bezeichnet wurde,
den beschriebenen Sachverhalten auf keinen Fall auBerlich, sondem
zurnindest fur Proklos ein erkenntnistheoretischer Beitrag zur Er
schlieBung der ontologischen V erhalcnisse selbst.
In
seiner urspriinglichen, hier fur Plotin
und
Proklos skizzierten
Gestalt ist der Neoplatonisrnus von der doctrina chrisana zunachst
zu unterscheiden, da er seine Kosrnologie in erster Linie aus dern anti
ken griechischen Denken, insbesondere dern platonischen
Iina/os
heraus entwickelt. In diesern Kontext wird vor allern bei' Proklos auch
die griechische Mychologie produktiv integriert, wenn dieser die
He
naden mie den griechischen Gi:ittem identifiziert. Allerdings steht der
Neoplatonisrnus nicht einfach in der T radition der Amike,
sondem
ist
gerade hinsichtlich seines zentralen Anliegens, narnlich der Frage nach
der Entstehung der W elt, auch vorn judisch-christlichen Denken der
Schopfung
ex nih1lo
und der absoluten T ranszendenz Gottes beein
flusst.I7 Es ist daher nicht verwunderlich, dass auch die lateinischen
Kirchenvater sich spatestens ab dern 4. nachchristlichen Jal1rhundert
intensiv mie der philosophisch-religiosen W eltdeutung des Neoplato
nisrnus auseinandersetzen.
Die
erste groBe Synthese von platonischer
bzw. neoplatonischer Philosophie
und
christlicher Lehre legt Augusti
u ~ 354-430) in seinern urnfangreichen Werk vor, das z.T. bereits
durch die Dialogform an Platon erinnert
und
das inhaltlich besonders
an dessen Ideenlehre
und
die neoplaconische Stufenontologie an
schlieBt. eitere zentrale neoplatonische Elernente seines Denkens
sind die Ineinssetzung von Sein und Gucsein und die Bestimrnung des
Bosen als .nicht-seiend, die gerneinsarn zugleich darauf hinauslaufen,
7
Vgl. dazu Klaus Kremer,
,,Bonum est dillUsivum sui
Ein Beitrag zum Verhaltnis
von Neuplatonismus und Christentum , in: Wolfgang Haase (Hg.),
Au Stieg un
Medergang der r6mischen Welt36/2, Berlin u a 1987, S 994-1032.
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Vam Einen
zum
Vielen
xv
allein dem Hochsten, d.h. dem Gott der christlichen Offenbarung,
wahres Sein und damit auch wahre Gute zuzuschreiben.
18
Mindestens
ebenso wirkmachtig fur die Philosophie des Mittelalters wie Augusti
nus sind die Schrifren des
A
M.
S
Boethius 480 524 , der selbst bei
Ammonios Hermeiou an der neoplatonischen Schule in Alexandrien
studiert haben di.irfte.
n
seinen sogenannten
Theologi.schen Trala:acen
die wichtige griechische philosophische Termini erstmals in lateini
scher Sprache wiedergeben, fasst er die wissenstheoretischen berle
gungen der aristotelischen
Mecaphys/k
zusammen und verbindet diese
mit einer neoplatonischen Ontologie mit dem Ziel, der christlichen
Trinitatslehre ein philosophisches Fundament zu geben.
19
Wie
eng die Verbindung von Christentum
und
Neoplaconismus in
der Zeit des bergangs von Spatantike
zu
Mittelalter wird, zeigt der
Fall eines griechischen Textkorpus aus dem
6
Jahrhundert, durch das
zahlreiche neoplatonische Gedanken
als
originar und aucoritativ ver
bi.irgter christlicher Lehrgehalt etabliert werden. Denn durch die
Selbstidentifkation des Aucoren als des Dionysios vom Areopag aus
der Apostelgeschichte prasentiert sich dieser mit der Aucoritat eines
Zeitgenossen des Paulus, worin die christlichen Autoren des 6 und
spaterer J al1rhunderte eine Legitimation fur ihre eigene bemal1me der
neoplatonischen Philosophie sehen. Aufgrund ihrer inhaltlichen Breite
werden die funf Schriften des Pseudo-Dionysios Areopagita schnell zu
wichtigen Quellen, weshalb sie auch zu den ersten griechischen T ext
korpora gehoren, die bereits im
9
Jahrhundert von Johannes Scotus
Eriugena ins Lateinische i.ibersetzt und kommentiert werden. Im Zen
tmm des Interesses steht dabei zum einen die bereits bei Plotin
und
Proklos angelegte negative Theologie, die Pseudo-Dionysios unter
Rekurs auf sprachtheoretische berlegungen erkennmistheoretisch
begri.indet: So lasst sich
i iber
Gott wegen seiner absoluten T ranszen-
18
Eine Gesamtdarstellung zu Augustinus, die auch auf seine neaplatonischen Einfliisse
eingeht, bietet Kurt Flasch, August:inus - Ein/iJhn111g in sein Denken, Stuttgart
2
1994.
9
Ausfuhmngen zu den neaplatanischen Hintergriinden der
Theologischen T
rakt:at:e
fmden sich in der Einfuhrung und Kammentierung van Michael Elsasser zu
A
M. S Baethius, Die r:heologischen Trakrace lat.-dt.
hg
van Michael Elsasser,
Hamburg 1988. Siche femer Matthias Lutz-Bachmann, Das Verh.i mis von Phifo-
sophie
und
Theofogie in den
,
Opuscu a Sacra' des A M S .Boer:hius Eine Scudie
zurEncwiddung der nachchalcedonischen Theo ogie, Miinster I 9 84.
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XVI
Vom Einen
zum
Yielen
denz nur in Negationen oder in bersteigerungen des innerweltlich
Seienden reden, z B als ber-Leben und ber-Weisheit. Zurn anderen
i.ibertragt Pseudo-Dionysios die neoplatonische Stufenontologie in
hirnrnlische und kirchliche Hierarchien, wornit er die abstrakte Seins
ordnung konkretisiert
und
buchstablich verbildlicht.
20
Zwar ist die beschriebene Vielfaltigkeit der Platonisrnen und Neo-
platonisrnen sowie ihrer christlichen Aufnahrne in Antike
und
Spatan
tike ein wesentlicher Grund dafiir, dass das rnit ,Platonisrnus irn
Mit-
telalter' Bezeichnete die zu Beginn konstatierte Heterogenitat und
Mehrdirnensionalitat besitzt; doch zeigt der vorangegangene Aufriss
zugleich, dass es durchaus wiederkehrende Motive in der Geschichte
des Platonisrnus insgesarnt gibt, wie etwa die absolute T ranszendenz
des Hochsten, sei es nun als Gutes, Geist, Eines oder Gott, die Hierar
chie der Ideen und der Seinsweisen sowie die
e n t r a l i t ~ t
der Frage
nach der Entstehung des Vielen aus dern Einen und dessen Ruckgang
in dieses. Diese sich durchhaltenden Elernente bleiben tro'tz .der neuen
Fragen, Reflexionen und Arbeitsweisen der Offenbarungstheologie
zurnindest fiir das philosophische Denken bis zurn Ende des 12. Jahr
hunderts bestirnrnend, weshalb W emer Beierwaltes zu
Recht
von ei
nern ,Platonisrnus irn Christenturn' spricht.
21
Allerdings werden diese
Motive zurneist nicht aufgrund der direkten Lekti.ire der antiken und
spatantiken griechischen T exte entwickelt, die groBtenteils gar nicht
zur V erfiigung stehen - von Platon selbst etwa ist bis weit ins Mittel-
alter hinein ausschlieBlich der erste T eil des Timaios in der berset
zung des Chalcidius aus der ersten Halfte des 4. Jahrhunderts bekannt.
Vielmehr verdanken sich diese
Motive
der breiten T radierung eines
allgemeinen Platonismus,
22
der ausgehend von den W erken Ciceros,
des Boethius
und
der Kirchenvater irn gesamten philosophischen
und
theologischen Schrifttum des Friih- und Hochrnittelalters Verbreitung
fndet,
10
Ygl. zu .Pseudo-Dionysios auch Wemer Beierwaltes, Placonismus im Christentum,
Frankfurc
2
2001,
S
44-84.
2
Ygl. Wemer Beierwaltes, ,,Vorworc , in:
ders
(Hg.), Platonismus in der Ph1 oso-
phie
des Mi:tela ters, a.a.O., S VII-XlY; ders., Placonismus irn Christentum, a.a.O.,
S
7-24.
22
Siehe Richard W Sour:hem, Platonism, Scho asa
ethod and che
Schoo r
Chartres Reading 1979, S 6ff.
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Vom Einen
zum
Vielen
Die placonides 12. Jahrhunderts
Zur Erlauterung unserer T extauswahl
XVII
Angeregt durch neue naturphilosophische, wissenscheorecische und
metaphysische Interessen setzen die Autoren, die nach Charles
Horner
Haskins als Protagonisten der ,,Renaissance des 12. Jahrhunderts
23
bezeichnet werden, eigene Akzence und vertiefen die Auseinanderset
zung rnit den platonischen Problemen auf eine W eise, die sie in die
Niihe der spiitantiken neoplatonischen Verrnittlungsversuche platoni
scher Kosrnologie
und aristotelischer Metaphysik riickt. Kaum ver
wunderlich konzentrieren sie sich dabei unter
den
ihnen bekannten
T e;xten insbesondere auf das Fragrnent des platonischen
Jmaios
und
die
Theologischen
Trakcace
des Boethius, die sie gezielc nach Aus
kunften i.iber das Ent- und Bestehen
der
W elt sowie hinsichtlich des
Verhiilmisses der Wissenschaften zueinander befragen.
24
In
dieser
doppelten Perspektive ist auch ihr Interesse an den erse ki.irzlich aus
dern Arabischen iibersetzten T exten zu erkliiren, da dies e selbst wie
derurn nicht
nur
aristotelisches,
sondem
irnrner auch neoplatonisches
Gedankengut tradieren. Die vorliegende T extauswahl beanspruchc
folglich auch zu demonstrieren, dass zumindest die hier versamrnelten
Autoren durch ihre Bezugnal1rne auf neoplatonische Gedanken und
Schriften und ihre eigene Leistung zu spezifsch neoplatonischen Posi
tionen innerhalb
der
,Platonisrnen' des Mittelalters komrnen.
Oer erste unserer T exte stamrnt von
Thierry
von Charcres, einern
Bretonen, der
in
den I I 40er J ahren der beriihrncen Kathedralschule
von Chartres als Kanzler vorsceht
und
nach seinern
Ruckzug
von der
Lehrtiitigkeit in das
kli:iscerliche Leben urn I I
56
verstirbc. Yon der
Reputation seiner Chartreser Vorlesungen zeugen
noch
heute einer
seits die Elogen seiner Schi.iler, etwa des Herrnann von Carinchia, eines
in Spanien arbeitenden bersetzers arabischer W erke zur Astronomie,
der seinen ,,gewissenhafren Lehrer
Thierry
gar ;,is die ,,den Sterbli-
"-
V
gl.
Charles
Homer
Haskins,
The
Renaissance
o
che T welfch Cenrury
Cam
bridge/Ma. 1927.
4
Siehe Alexandcr Fidora / Andreas Niederberger, ,,Philosophie und Physik zwischen
notwendigem und hypothetischem Wissen. Zur
wissenscheoretischen Bescimmung
der Physik in der Ph1losophia des Wilhelm van Conches , in: Earf;.
ence and
Medicine
6 (2001
, S.
22-34.
7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen
15/70
XVIII
Yom Einen zum
Vielen
chen vom Himmel wiedergeschenk.te Seele Placons bezeichnet.
25
Andererseits wird Thierry mittlerweile ein reicher, obschon anonym
uberlieferter T extbestand zugeschrieben, der aus seinen in Chartres zu
den septem artes liberales gehaltenen V orlesungen hervorgegangen sein
diirfre. T ypisch fur den Chartreser Platonismus insgesamt sind unter
diesen T exten vor allem die zahlreichen Kommentare zu Boethius'
Theologischen Tra.ktaten; in besonderer W eise charakteristisch fur
Thierry ist dagegen der
Traccacus de sex dierum operibus (Tra.ktat vom
Sechscagewerk), ein Fragment gebliebener Kommentar
zu
den ersten
Kapiteln des biblischen Schi:ipfungsberichtes.
Einer von Thierrys engsten Schiilem, Clarembald von Arras,
schickt ein
J
hrzehnt nach dessen T od ein Exemplar dieser Schrift
zusammen mit einem sich an dies e anlehnenden eigenen T raktat an
eine edle Dame,
6
der er folgende Erklarung uber Thierry
und
dessen
W erk beigibt:
Ich habe also Eurer Hoheit das Buchlein
Vom
Sechstagewer.k
zugeschickt, das von Thierry, meinem Lehrer, verfasst wurae und
das Rom bereits in seine Archive aufgenommen hat. Wieviel an
Philosophie hierin enthalten ist, wird darin deutlich, dass dieser -
gewiss der hervorragendste unter den Philosophen ganz Europas -
Iehrt, wie die in der Materie wirkende Exemplarursache alles her
vorgebracht hat, und zwar gemaB physikal1sch-naturphilosophi
schen Argumenten.
7
25
Dieser T ext
aus
dem Vorworc Hermanns zu seiner berseczung der
P anisphiiren
van Ptolemaios ist neu veroffentlicht in Hermann von Carinthia,
De
essenai:S,
lac.-
. engl. hg. van Charles Bumett, Leiden/Kiln 1982,
S.
347-349, hier
S.
349:
[
...
]
cibi
,inquam, diligemissime praeceptor Theodrice, quem haut equidem ambigam,
Platonis animam celcius iterum morcalibus accomodatam.
2
Die Identitat der Adressatin ist unklar; womoglich handelt es sich um die Kaiserin
Mathilde. Ygl. Richard W. Southern, ,,Thierry
of
Chames , in: ders., Scholasdc
Humanism and m Unificacion o Europe - VoL
. . :
The Heroic Age, Oxford
2001, S. 79-89, hier S. 83.
7
Clarembald von Arras,
Episwla
ad
Dominam, in:
Nikolaus M. Haring (Hg.), ifr
and
~ o r k s
o Clarembald
o/
Aaas. A Twe lh-Cencu17' Yfascer
o/ m
School
of
CharcreS,
T oromo I 965,
S.
225-226:
,,Direxi itaque Y estrae Sublimitati libellum
quem magister Theodoricus, meus doctor,
De sex dierum open'bus
edidit quem ,
Roma iam suis commisit archivis. n quo quantum philosophiae contineatur, li
quido apparet cum ipse - urpote totius Europae philosophorum praecipuus - qua
liter exemplaris forma in materia operans cuncta produxerit, iuxta physicas tantum
rationes edoceat.
7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen
16/70
Vom Einen zum Vielen
XIX
Diese AuBemng seines Zeitgenossen ist gleichsarn programrnatisch
fiir Thierrys in den 40er Jahren, also relativ spat entsrandene Schrifr
(ja for sein Gesamtwerk i.iberhaupt). Oenn trotz der traditionellen
Form eines Genesis-Kommentars, wie ihn schon Augustinus und an
dere vorlegten, geht es dem Chartreser Magister damm, den biblischen
Schopfungsbericht in einem ganzlich neuen Licht zu interpretieren,
namlich wortlich und unter kosmologischer Ri.icksicht, und zwar unter
bewusster Ausklammemng des moralischen und allegorischen Schrifr
sinnes der traditionellen Exegese.
28
Den Hintergrund dieses neuen
Interpretationsparadigmas stellen zum einen die aus dem Arabischen,
z.B.
von
Hermann
von Carinthia, neu i.ibersetzten naturwissenschafdi
chen T exte dar, zum anderen aber besonders der platonische
Trinaios
im lateinischen Fragment des Chalcidius, dessen charakteristische
Lehre von der
\V
eltseele Thierry thematisiert. Die Identifizierung der
platonischen W eltseele mie dem Heiligen Geist2
9
bildet auch den
Hin-
tergmnd
fi.ir
den in diesem Band ausgewahlten Abschnitt aus Vom
Sechscagewerk,
denn dieser hebt mie der Frage nach der Wirkungs
weise des Heiligen Geistes in der W elt an.
Um
diese Frage jedoch in
ihrer ganzen T ragweite zu erCirtem, muss Thierry an dieser Stelle einen
metaphysischen Exkurs i.iber die Einheit Gottes in seinen drei Perso
nen geben, der sich an der augustinischen Konzeption der T rinitat als
Einheit = Vater) - Gleichheit =
Sohn
- Verbindung beider
= Heiliger Geist)
30
orientiert und die Beziehung der Personen
untereinander sowie ihre jeweilige Rolle fur die Entstehung der
Vielfalt des innerweldich Seienden untersucht. Die unverkennbaren
Parallelen, die sich hierbei zu den neoplatonischen Modellen des Her-
yorgangs des Geistes aus dem Einen ergeben, verdeutlichen in ein-
28
Vgl. Thierry van Chartres,
Tractacus de sex dierum openbus,
in: Nikolaus M.
I faring (Hg.), Commentmes on Boechius
by
Th1el7) ofChartres ;;nd
H S
School,
Toronto 1971, S. 553-575, hier S. 555: ,.De septem diebus et sex operum distinc
tionibus primam Geneseos partem secundum physicam er ad lirreram ego exposiru
ms [ ..] Posrea vero ad sensum lirrerae hisrorialem exponendum veniam ur er allego
r i c ~
mo,;aiem lectionem quae a sanctis docroribus aperre executae sunt
ex
toro
p r ~ \ ~ m 1 t t a m
{: _
D
2
'
Siehe Thierry van Chames, a.a.O., S. 566: ,.Plaro vero in
Timeo
eundem spiritum F
~ i n u n d i animam vocat
1
30
Siche Augusrinus, e
doctrirHI chrisrna,
hg. van Joseph Martin (Corpus chris
tianorum. Series latina 32),
Turnhout
1962, I 5, 5,
S.
9: ,.In parre uniras, in filio
aequalitas, in spiritu sancta unitatis aequaliratisque concordia.
7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen
17/70
xx
Vom Einen zum Vielen
drucksvoller W eise die Aneignung genuin neoplatonischer Moti
ve
fiir
die christliche T rinitarsspekulation.
Damit
einher geht ein an Boethius
und dessen Arisrotelismus geschultes Merhodenbewusstsein, das sich
in wissenstheoretischen Reflexionen sowohl zum Beweisgang selbst
als
auch
zur
epistemischen Dimension der T rinitat fiir die Erkennbarkeit
des innerweltlich Seienden auBert.
Dass Thierry
als
,Reinkamation' Platons galr, wurde bereits er
wahnt; sein Epitaph bringt den komplementaren Zug seines Denkens
in Anschlag, wenn
es
Thierry wohl vor allem
mit
Blick
auf
seine
Boethius-Studien
als
,,wurdigen Nachfolger
des
Aristoteles
(c/Jgnus
Aristoti is successor)
feiert.
31
Auch in der Spannung von Plaron
und
Aristoteles steht Thierry in der
Tradition
des
Neoplatonismus.
Thierry
und
das Chartreser Umfeld sind moglicherweise auch das
Ziel des jungen Englanders Isaak von Stella, unseres zweiten Autoren,
der
um
I I 30 nach einer ersten Ausbildung in den
artes in
seiner
Hei-
mat nach Frankreich reist,
um
dort
zu studieren.
n
Chartres
lemt
er
I
138
womoglich seine Landsleute Johannes von Salisbury
und
Tho-
mas Becket kennen, mir denen ihn eine enge Freundschaft verbinden
wird. Bald jedoch wendet er sich der monastischen W elt
zu und
tritt
in den erst kurzlich, gegen Ende des I I J ahrhunderts gegrundeten
Zisterzienserorden ein. Das genaue Datum seiner Profess ist nicht
iiberliefert, doch schlieBt er sich vermutlich
um
I I 40 den Brudem von
Pontigny an,
um II47
zum Abt
des von dieser Zisterzienserabtei ab
hangigen Klosters von L'toile (lat.
Stella)
zu werden, dem er seinen
Namen
verdankt.
In
dieser Funktion trifft er
auf
Bemhard von Clair
vaux, den einflussreichen Prediger
und
Kirchenpolitiker,
und
wie
dieser
nmmt
auch Isaak selbst Anteil am politischen Geschehen,
als
der
Streit zwischen
Thomas
Becket
und
Heinrich II ausbricht
und
ersterer
in Pontigny Schutz sucht.
Der
Orden
gerat in dieser Situation unter
groBen politischen Druck, doch Isaak verteidigt seinen Freund
Tho-
mas.
Vielleicht sind es diese politischen Wirren, die Isaak dazu bewe
gen,
siCh
I
I 6 7 gemeinsam
mit
einer Handvoll Mitbriider in das groBe
Andr Verner, ,,Une piraphe indire de
Thimy
de Charrres , in: Recue1J de ca-
vaux oflrcs a }d Clovis Brunei. Bd 2,
Paris 1955,
S
660-670, hier
S
670.
7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen
18/70
Vorn Einen
zurn
Vielen XXI
Abenteuer seines Lebens zu
sci.irzen
und sich
auf
ein Eiland zuri.ickzu
ziehen. Lange Zeic war unklar, um welche Insel es sich dabei handelt,
doch konnce mit groBer Sicherheit die Ile de R vor La Rochelle als
jener
Ort identifiziert werden,
32
wo
Isaak und seine Gefahrten ein
neues Kloster gri.inden, um sich bis zu seinem T ode (ca. I I
69
ganz
der harten Arbeit und der Kontemplation zu verschreiben:
Wir haben neben anderen Reichti.imem die ganze Vielfalt der Bu
cher, ja die ganze W elt und beinahe die ganze Menschheit i.iber
Bord geworfen, als wir zu wenigen, nackc und schriffbri.ichig, auf
diese entfemte, vom Ozean umschlossene Insel fluchteten, um
nackt das nackte Kreuz Christi zu urnklammem.
33
Oiese Geste der
Demut darf
jedoch nicht mir einem Anci-Intellek
tualismus verwechselt werden,
wie
er den Zisterziensem bis heute
gem
nachgesagt wird. Gerade in der Einode der le de R wird Isaak seine
bedeutendsten uns erhaltenen Schriften verfassen: die
Seimones.
Ihre
literarische Kunstfertigkeit lasse daran zweifeln, dass Isaak sie tacsach
lich in dieser Form wahrend der Messe oder bei der Feldarbeit, wie
zumindest einige von ihnen suggerieren, spontan entwirft. Vielmehr
handelt es sich um ausgefeilte Abhandlungen, die nicht nur exegetische
und theologische Sachverhalte verhandeln, sondem immer wieder in
die Philosophie zuri.ickkehren und sich aus Platon, Augustinus,
Pseudo-Oionysios u.a. speisen.
34
Den Timaios
hatte Isaak
in
Charcres
Z
Dies ist
das
Verdienst van Franz Bliernerzrieder, ,,Isaak van Stella
I
Beirrage zur
Lebensbeschreibung , in: /ahrbuch liir Ph1losoph1 und spe/wlacive Theolog1
I8
(1904),
S.
I-34. Viele der van Bliernetzrieder gernachten Angaben
zur
Biographie
des lsaak sind jedoch i.iberholr. so dass zurn Leben des Zisterziensers besser das
Vorwort van Anselrn Hoste in Isaak von Stella, Sennons, lac.-frz. hg. van Anselrn
Hosce, 3 Bde., Paris I967-I987, hier Bd. I, S.
7-25
zu vergleichen
isc
.
. Isaak van Scella, a.a.O., Bd. IL S. 8: ,,Sicur cererae plenirudinis, sic nurnerosae codi
.curn
varietacis, et rotius orbis ac generis fere hurnani iacrurarn facienres, in hanc re-
motarn et inclusarn Oceano insularn, nudi ac naufragi, nudarn nudi Chrisci crucern
arnplexi,
pauci evasimus.
JfVgl. die Arbeiten van Andr Fraheboud, ,,Le Pseudo-Denys l'Aropagice panni les
sources. du Cistercien Isaac de l'Ecoile , in: Col eccanea Ordinis Osceransium
e-
fonnacorum
9 (1947),
S.
328-341 u. IO (1948),
S.
3-16; ders., ,,L'influence
de
S.
., Augustin sur le Cistercien Isaac
de
l'toile , in: Col eccanea Ordinis Oscerciensium
\ Ref;macorum II (1949), S. I-17, S.
264-278
u. 12 (1950), S. 5-16; ders., ,,Isaac
de _l Etoile er Platon , in: Colleccanea Ost:erciens 54 (1992), S. 175-191.
7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen
19/70
XXII
Vom
Einen zum
Vielen
kennen lemen konnen, das W erk des Areopagicen z.B. in der Pariser
Abcei von Sankc Viktor.
Beide T exte spielen eine wichtige Rolle auch in dem Predigten
zyklus, dem unsere Schrift, die Predigt
22
entnommen ist, und der
gleichsam einen theologischen Grundkurs fur die Sexagesima, die
vV
o
che des achten Sonntags vor Ostem, darstellt. Den Ausgangspunkt in
Predigt 18 stellt der Vers 8, 5 aus dem Evangelium nach Lukas dar:
,,Ein Sarnann ging aufs Felci, um seinen Samen auszusaen , der in den
Predigten 18 bis 21 untersucht wird
und
zu einem Aufweis der Exis
tenz Gottes sowie zu einer negativen Bestimmung desselben im Sinne
der negativen Theologie des Pseudo-Dionysios fuhrt. Die Predigt
soli demgegenuber auch positive Aussagen uber
Gott
gewinnen,
35
indem, ausgehend von der Identitat von ,Sein' und ,Haben' in Gott,
nach dem gefragt wird, was ihm zugesprochen wird. Damit stellt sich
die Frage nach der Bestimmung des V erhaltnisses von an innerweltlich
Seiendem gewonnenen Begrifflichkeiten
und
dem einen ~ s o l u t trans
zendenten Ursprung des vielfaltigen innerweltlich Seienden. Die er
kenntnistheoretische Losung dieser Frage gibt Isaak im Anschluss an
den Areopagiten, auch wenn er deutlich uber diesen hinausgeht und
das Konzept einer analogen Theologie entwickelt. Ontologisch lost er
das V erhaltnis von Schopfer
und
Geschopf in Auseinandersetzung mit
der platonischen Lehre vom Demiurgen und der aristotelischen Vier
Ursa:hen-Lehre, einem zentralen Gedanken aus dessen Metaphysik.
36
Diese V erschrankung von Elementen aus dem TXmaios dem Cor-
us
d.ton ysiacum und der aristotelischen Philosophie fuhrt zu einer
Form des Neoplatonismus, rnit der Isaak seiner Exegese, ahnlich wie
vor .ihm Thierry, eine beeindruckende metaphysische T ragweite ver
leiht.
Auch der dritte Autor unserer T extsammlung, Achard von Sankt
Viktor, stammt wahrscheinlich aus England,
wo
er um die W ende
35
Ygl. Isaak van Scella, a.a.O., Bd. II, S. 52: .,Duo oscendisci nobis, Domine, servis
cuis, id
esc
ec quod sis
ec
quid non sis;
ec
aescuamus ad cercium,
id esc
scire quid sis.
36
Siehe for den Gesamtzusammenhang der neun Predigcen unseres Zyklus, von denen
hier nur die erscen fonf skizzierc wurden, Franz Bliemetzrieder, .,Isaac de Scella. Sa
spculacion thologique , in: Recherches de Tholog/e andenne ec md/va e 4
1932),
s
134-159.
7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen
20/70
Vom
Einen
zum
Vielen
XXIII
vom I
I zum 12.
Jahrhundert geboren sein diirfre.
37
Seine Zugehorig
keit zu einer normannischen Familie, die erst nach der Eroberung
Englands durch die Normannen dorthin gekommen ist, wird
fi.ir
sein
spateres Leben
und
die es pragenden Entscheidungen bestimmend
bleiben. Zunachst begibt er sich jedoch
zum
Studium nach Paris,
um
dann in der Folge in diesem intellektuellen
Zentrum
der lateinischen
W elt auch zur Lehre zu verweilen. Seit den vierziger J ahren des I 2.
Jahrlmnderts ist Achard
als
Pariser Magister belegt, da er u.a. an der
Seite von
Robert
von Melun in Disputationen
als
Umersti.itzer der
Gegner des wohl wirkmachtigsten Theologen dieser
Zeit, Petrus Lom
bardus, auftritt, wie etwa Robert von Cricklade, ein weiterer Englander
in Paris,
in
seinem
Speculum
fide
festhalt.
38
Zugleich gehort er bereits
in dieser Zeit der von Wilhelm von Charnpeaux begri.indeten Ordens
gemeinschafr von
Sankt
Viktor an die fur die Regularkanoniker i.iber
all in Europa ein wichtiges Vorbild ist. Diese Kanoniker streben eine
monastische Existenzweise auch fur den W eltklerus an, d.h. auch letz
terer soli gemeinschaftlich, asketisch
und
einer die alltaglichen Ver
richtungen regelnden
Ordnung
gemili leben, wobei diese
Ordnung
vor
allem
auf
der sogenannten Augustinusregel berul1t. Untersti.itzt von der
Pariser Geistlichkeit sowie vom franzosischen Konig vermag Sankt
Viktor, ein arn Rand von Paris gelegenes Kloster,
mit
seiner Verbin-
. 'dung von gelebter Spiritualitat
und
in die stadtischen Dispucacionen
hineinwirkender Intellektualitat zu einem herausragenden Beispiel der
Reformbemiihungen zu werden, die von der romischen Kurie ausge
hen. Nach
dem
Tod des
Abtes Gilduin, der dem Kloster uber vierzig
Jahre seit seiner offziellen Gri.indung im Jahre III3 vorstand, wird
mit Achard
II55
ein neuer
Abt
aus der Mitte der Viktoriner gewahlt.
Wie zahlreiche iiberlieferte Briefe demonstrieren, sorgt sich Achard
als
. Abt neben der Verwaltung des unterdessen mehr
als
40 Filiationen
vmfassenden Klosters nicht
nur
um die spirituellen
und
intellektuellen
.Bdange seiner Mitbri.ider,
sondem
er schaltet sich auch in allgemein-
2
den hiographisd1en Hinrergriinden Achards siehe
J
an Chirillon,
Thologie,
.rp111tu 11t et mmph;que dan.r l ceuvre oracoire d Achard de Saint- VIor, Paris
S. II III; zu dem vorliegenden Texr ebd., S. 119-128.
Richard W. Hum, ,.English Learning in che
Lare
Twelfrh Cemury , in: Ri
Sourhern (Hg.), E.r.rap in lvfedievalHisco0 London u.a. 1968, S. 106-
S. 123.
7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen
21/70
XXIV
Vom Einen zum Vielen
und kirchenpolitische Konfliktlagen der Zeit ein, wobei ihm die Nahe
Sankt Viktors zum franzisischen Kinigshof zugute kommt. Vielleicht
unter Anerkennung seiner normannischen
Herkunft
gibt er sein Amt
jedoch schon sechs Jahre spater wieder auf, um
zur
groBen Enttau
schung des franzisischen
Kinigs
Bischof van Avranches zu werden,
einer kleinen Stadt in der Nahe des Mont-Saint-Michel, in der Nor-
mandie also, d.h. dem Herrschaftsbereich Heinrichs IL, des englischen
Kinigs. Als Prediger fuhrt Achard seine spirituellen und intellektuellen
Bemiihungen fort und setzt sich m Rahmen seines administrativen
Spielraums insbesondere fur die Pramonstratenserabtei La Lucerne ein.
Nicht in der Kathedrale van Avranches, sondem in der Kirche van La
Lucerne wird er dann auch nach seinem T
od
im J ahre I I
7
beigesetzt.
Das heute bekannte W erk des Achard besteht im W esentlichen aus
drei verschiedenen Arten van Schriften: aus den bereits genannten
Briefen, einer Vielzahl von Predigten sowie schlieBlich aus zwei philo
s o p h i s h ~ t h e o l o g i s h e n Schriften, dem T raktat
De discretione animae
spiritus
et
mentis (Van der Untersche1dung der Seele, e es Geistes une/
e es Bewusstseins) sowie dem hier in Auszi.igen ausgewahlten De u ~
tate
Dei) et
pluralitate creaturarum (Ober die Einheit Gottes une/ die
Vielheit.der Geschopl). Der Text
De
unitate, der auch unter dem
T itel De
Trinitate
iiberliefert wird, war lange Zeit nur durch eine
sekundare Quelle, das dem J ohannes van Comwall zugeschriebene
Eulog1iim adAlex.wc/rum IJIpapam (Grabschnfr .lr Papst Alex.wder
III.), bekannt.
39
Nachdem Marie-Thrse d'Alvemy endlich ein
Manu-
skript in Padua ausfindig machte,
40
in dem sich die bei Johannes zitier
ten
Passagen fnden,
warf
dies allerdings fur einige
Zeit
ein neues
Problem auf: Wenige Jahre zuvor hatte namlich Andr Combes einen
Text
vn
Johannes van Ripa, einem Franziskaner des 14. Jahrhun
derts, ediert, in dem dieser einen vermeindich von Anselm van Canter
bury stammenden T raktat mir dem
Titel De unitate divinae essentiae
et
plura.litate creaturarum (Van der Ein.heit e es gotdichen Wesens une
39
Siehe Nikolaus M. Haring, ,,The
Eulogium
ad
Alexandrum
papam
cerrium
of
John
of
Comwall ,
in: .iYfediaeval Scudies I3
(1951), S. 253-300,
Zim
von Achard
s. 267.
IO
Vgl. Marie-Thrse d'Alvemy, .,Achard
de
Saim-Vicrnr,
De Trinicace-De
unicace
ec pluralicace creacurarum", in: Revue de chologie anenne ec mdivale 21 ( 1954 ,
s.
299-306.
7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen
22/70
Vom
Einen
zum Vielen
xx
der Vl .he1 der Gesc.hopi) zitiert und resumierc. Offensichdich ist
dieser
Traktat
jedoch identisch mit demjenigen, der im Manuskript
von Padua gefunden wurde,
so
dass sich die Frage stellte, ob
es
sich bei
ihm tatsachlich
um
einen T ext Achards oder eine sehr viel friiher ver
fasste Abhandlung Anselms handelte.
J
an Chatillon hat unterdessen
i.iberzeugend gezeigt, dass es zwar einige Reminiszenzen an das Den
ken Anselms in diesem
Traktat
gibt, dass er aber weder der Gesamtar
gumentation nach zu Anselm passt, noch erklarbar ware, wie es zu
Bezugnahmen auf Gedanken kommen konme, die erst in der ersten
Halfte des 12. Jahrhunderts in den
Mittelpunkt
der philosophisch
theologischen Diskussionen treten.
41
Selbst wenn also ausschlieBlich
das
Eu ogium
die Attribution des T extes zu Achard rechtfertigt,
so
ist
doch Anselm
als
Autor def.nitiv auszuschlieBen.
Die I 98 7 unter dem Titel
De
unica ce Dei) .ecp i
ralica
ce creacura-
rum von
mmanuel Martineau edierte Schrift Achards
von
Sankt
Viktor besteht aus zwei T eilen, wobei sich der erste T eil in metaphysi
scher Perspektive mit dem Problem der Trinitat befasst, wahrend der
zweite vermittels einer Formenlehre die Einheit und Vielheit der Ge
schopfe thematisiert. Die von uns vorgenommene Auswahl beschrankt
sich auf die ersten Kapitel
des
ersten T eils, in denen Achard, bevor er
sich mit der T rinitat unmittelbar auseinandersetzt, zunachst bean
sprucht zu klaren, inwiefern bei der Vielheit innerhalb der W elt
i iber-
haupt richtigerweise von Vielheit zu reden ist, oder ob aufgrund der
dort fehlenden Einheit nicht auch die Vielheit in ihrem eigendichen
Sinne
Gott
vorbehalten werden solite. Hierzu eri:irtert er die
Art
der
Gleichheit, die den innerweltlichen Geschopfen eigentiimlich isr,
und
demonstriert, dass die Gleichheit
nur
bei Gott die Einheit in der Ver
sc:hiedenheit zu stiften vermag, wahrend die Geschopfe in einer Ver
schiedenl1eit verharren, die nur in Gott einer Einheit zugefiihrt werden
kann
Achard muss damit
als
ein Denker gelten, der zwar die Leistungen
zeitgenossischen Philosophie und insbesondere deren neues Inte-
Zur. Geschichte der Zuschreibung
des
T extes vgl. nebeg der bereits erwahncen
Studie von Chatillon Anm. 37 auch das Vorworr von Emmanuel Marrineau zu
des
T extes in Achard von Sankt Viktor,
L 'um de
Dieu
ec
f
plur:i-
cr:itures
De
um:ice
D/
ec plur:ilic:ice cre:iturarum). lar.-frz. hg. von
Martineau, Saint-Lambert
des
Bois
I987, S
I
I-45.
7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen
23/70
XXVI
V orn Einen
zurn Vielen
resse an der vom Neoplatonismus inspirierten Frage nach dem Ver
hiiltnis von Einheit und Vielheit aufnimmt,
sie
zugleich aber aus
schlieBlich auf den Bereich des Gottlichen begre=t Denn
nur
hier
sind die eigenclichen Bedeutungen von Einheit
und
Vielheit zu klaren,
wahrend die Wissenschaften des innerwelclich Seienden sich
mit
Gebrauchsweisen dieser Ausdri.icke begnilgen milssen, die in bestandi
ger Abhangigkeit von den theologischen Explikationen stehen.
Beim vierten hier ausgewahlten T ext ist die Autorenfrage weiterhin
ungeklart und aufgrund seiner hohen Abstraktheit sind auch die
mi:ig-
lichen Schlilsse aus ihm vielfiiltiger
Natur
Gewiss ist alfein, dass der
Liber
de
causis-
das
Buch der Ursachen
-
irgendwann
Z .\'schen
I I 6 7
und I I 8 7 im spanischen
Toledo
von Gerhard von Cremona aus dem
Arabischen ins Lateinische ilbersetzt wird. Der urspri.inglich aus Italien
stammende Gelehrte
kommt
in der zweiten Halfte des 12.
J
hrhun
derts nach Toledo, wo er sich der bedeutenden Obersd:zerbewegung
anschlieBt und neben zahlreichen naturphilosophischen W erken groBe
T eile des
Corpus aristotelicum arabum
ubertragt. Der lateinischen
Obersetzung des Buchs der Ursachen durch Gerhard gehen jedoch
diverse inhalcliche
und
sprachliche Aneignungsprozesse voraus, die
diese Obertragung aus dem Arabischen ins Lateinische als
nur
einen
weiteren Schritt
in
der komplexen Obermitclungs-
und
Rezeptionsge
schichte des antiken bzw. spatantiken Denkens in der Philosophie des
Mittelalters erscheinen lassen. So entstammen die inhalclichen
Grund-
elemente und -argumente des Liber
de
c usis den Elementen der
Theologie des Neoplatonikers Proklos, wie das chriscliche Mittelalter
spatestens seit
Thomas
von Aquin
weiB,
der
als
einer der ersten Latei
ner uber beide T exte verfugte
und
fur den die Parallelen nicht unbe
merkt bleiben konnten. 2 Allerdings ist der Liber mehr als ein bloBes
Exzerpt,
wie
er
hin und
wieder charakterisiert wurde, denn die Lehr
satze der pioklischen Elemente sind in diesem sowohl
um
Gedanken
anderer Neoplarnniker, und d.h. insbesondere Plotins, erweitert
als
auch
in
monotheistisch-theologischer Perspektive prazisiert und
t r a n s f o r m i ~ r t
So greift der arabische Autor des
Liber
etwa
auf
Plotin
42
Siehe
h o r n ~ s
von Aquin, Super Librum de causis exposido
hg.
von Henri-Dorni
nique Saffrey, Fribourg/Louvain I 954.
7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen
24/70
Vom Einen zum Vielen
XXVII
zuriick,
um
der weiter aben aufgedeckten T endenz des Proklas entge
genzuwirken, antalagisch relevante Elemente, wie etwa das Sein, zu
hypastasieren, und stattdessen die Beschreibung bzw. Analyse der
Wirkungsweisen der ersten Ursachen im Wesendichen auf die Trias
van Erstem bzw. Gatt, Intelligenz und Seele zu beschranken. Der
manatheistische Blickwinkel wird sparesrens dann ersichclich, wenn
schan nach wenigen Kapiteln an die Stelle der antik-spatantiken Ewig
keitsvarstellungen der W elt der Gedanke van deren Schopfong tritt.
Auf
dem Hintergrund dieser produktiven arabischen Aneignung ist es
wenig iiberraschend, dass sich auch der lateinische bersetzer z.T.
bemiiht, vermeinclich ader tatsachlich unklare Stellen des arabischen
T extes in seiner bertragung
zu
glatten.
Der arabische V erfasser
ader
vielleicht auch
nur Kampilatar des
Buches der llrsachen
muss nach dem Gesagten sawahl in einem Milieu
gelebt haben,
in dem er Zugang zu Originaltexten der griechischspra
chigen Antike und Spatantike hatte,
als
er auch thealagisch einer
ma-
natheistischen Religian ader Denkweise verpflichtet war. Aufgrund
dieser Kanstellatian sawie der sprachlichen
und stilistischen Gestalt
des
arabischen Originaltextes ist zu vermuten, dass wir
es
mit
einer
Figur aus dem Bagdad des 9. Jahrhunderts zu tun haben,+
auch wenn
weiterhin ratselhafr bleibt, warum der T ext erst nach seiner lateini
schen bersetzung auch im arabischen Denken rezipiert wurde. Fiir
das
lateinische Mittelalter ist die nachfolgende Bedeutung des
Liber
kaum zu iiberschatzen:4+ Nach einer ersren vamehmlich
naturphilasaphischen Rezeptiansphase in der zweiten Halfre des 12.
Jahrhunderts ( etwa bei den beiden anderen Autoren unserer Sammlung
Daminicus Gundisalvus und Alain van Lille) wird er in den friihen
Universitaten des I3. Jahrhunderts zu einem wesendichen Lehrbuch
insbesandere der Metaphysik, wabei er teilweise sagar unmittelbar
dem Aristateles zugeschrieben und
als
das fehlende ,,funfzehnte Buch
Vgl.
Richard
C
Taylor, ,,Remarks
on
the Latin
Text
and the Translator
of
the
Kalam
mahd
al-kha1r / Liber de causi} , in: lfulJecin de philosophie mdivale 3 I
(I989),
S 75-IOZ hier
S 77.
Siche
hier i:u
ausfuhrlicher Alexander Fidora / Andreas Niederberger, ,,Van Toledo
nach Paris. Der Liber de causi i und seine Rezepcion
im
I2. und I3. Jahrlmnden'',
in; dies., Van lfagdad nach Toledo
- Das
,lfuch der lfrsachen
und
seine R ezepa on
./mlvfittefalcer,
Mainz 2001, S.
205-247.
7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen
25/70
XXVIII Vom Einen
zum
Vielen
seiner Mer:aph_ysik erachtet wird.
5
Der
Liber
nimmt auf dies e W eise
groBen Einfluss auf die Neuforrnierung des Denkens im Zuge der
Rezeption der arabischen Philosophie und uber sie verrnittelt auf den
Aristotelismus
ab
der Mitre des 12. Jahrhunderts.
Die vorliegende Kapitelauswahl konzentriert sich
auf
die Frage
nach dem Verhal.tnis der ersten Einheit zur Vielheit der nachfolgenden
Hypostasen bzw. des innerweltlich Seienden. Hierbei werden die cha
rakteristischen Elemente des
Liber de
causis,
wie
etwa die im dritten
Kapitel zuerst in Erscheinung tretende ,,Schopfung mittels der Intelli
genz crear:io
medianr:e
inr:elligenr:ia) oder das bereits in den ersten
Satzen des ersten Kapitels vorgestellte V erstandnis einander uberla
gemder
und
voneinander
nur
nach unten
hin
abhangiger Kausalitaten,
eingefuhrt. Mit der Zusammenfuhrung der Kausalitatstheorie und der
authentisch spatantiken Lehre der spezifschen Einheiq des Ersten
(Prinzips) erlaubt der Liber seinen mittelalterlichen Rezipienten, die
Erorterung der Einheit und Vielheit auf verschiedenen Ebenen auf ein
neues Niveau zu fuhren, wobei naturphilosophische Ausfuhrungen ein
ontologisches Fundament bekommen, wahrend erstere zugleich die
dabei genutzte Ontologie exemplifizieren
und
somit plausibilisieren.
Gleichzeitig verdeutlicht der Neoplatonismus des
Liber
die Moglich
keit und vielleicht auch die Notwendigkeit einer originar philosophi
schen Perspektive filr die Fragestellungen der Ontologie
und
der Lehre
erster Seinsprinzipien, womit er
zu
einem entscheidenden Ereignis filr
das Auseinandertreten von Philosophie und Theologie wird, wie es
sich in den folgenden zwei J ahrhunderten immer deutlicher abzeichnet.
Wie
die lateinische bersetzung des
Buches der Ursachen
so
stammt auch der Traktat
e
unir:ar:e er
uno Von der
Einheir:
und vom
Einen), der larige Zeit filr ein
Werk
des Boethius gehalten wurde, aus
dem T oedaner Umfeld. Zwar wird sein Autor in den Handschriften
nicht genannt, doch deuten alle Anzeichen auf Dominicus Gundisal
vus, der bis I I
9
durch verschiedene Urkunden
als
Archidiakon von
45
Vgl. Cristina d'Ancona Cosca, ,,Un ,quindicesimo libro' per
la
Metafisica di Aristo
tele: l Liber
e
causis in alcuni commemi del XIII secolo , in: Cukura e Scuola I 09
(1989), s 88-96.
7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen
26/70
Vom
Einen zum Vielen
XXIX
Cullar im Raum Toledo belegt ist:f
6
Beginnen diirfre seine dortige
Obersetzertatigkeit etwa ab II40, wobei er zunachst
auf
die Hilfe jii
discher Gelehrter angewiesen zu sein scheint, z.B. Avendauth (Ibn
Daud), die ihm die arabischen T exte zunachst ins Spanische iiberset
zen, damit Gundisalvus sie sodann ins Lateinische iibertragen kannY
Unter
diesen befnden sich bedeutende neoplatonische Schrifren al
Kindis, al-Farabis, Avicennas und
Ibn
Gabirols, durch die dem lateini
schen W esten wichtige Theoriestiicke aus Platon und Aristoteles, wie
etwa die aristotelische Metaphysik. z.T. erstrnals erschlossen werden.
Doch
geht Gundisalvus einen Schritt weiter
als
sein bereits er
wahnter T oledaner Kollege Gerhard von Cremona, insofern er nicht
nur
die wichtigen arabischen Quellen erschlieBt, sondern zugleich auch
um eine eigenstandige Interpretation und eine christliche Synthese des
hier vorgefundenen Neoplatonismus bemiiht isc. So kommt
es
denn,
dass Gundisalvus nicht nur uber zwanzig W erke aus dem Arabischen
ins Lateinische iibertragt, sondern dariiber hinaus auch der Verfasser
von
fonf
selbstandigen Abhandlungen ist. Es sind dies zum einen die
beiden stark an Avicenna bzw. Aristoteles angelehncen Trakcace
De
anima (Van der Sede)
und
De
im morca kcace
ani.mae
Van
der Un
scerblic.hkeic der Seele),
deren erklarces Ziel es ist, zu sicheren Aussa
gen iiber die Seele und ihr Schicksal nicht nur aus der Perspektive des
Glaubens, sondern auch und gerade aus jener der Philosophie zu ge
langen. Der Archidiakon bemuht sich also
um
eine philosophische
Argumentation, die nicht nach au:Berlichen Grunden
fi.ir
die Unscerb
lichkeit der Seele fragt - so die Kricik an der T radicion - sondern
nach Grunden
ex
propriis , womic er eine philosophische Seelenlehre
begriindet. Voi:
gro:Ber
Bedeutung ist ferner die Schrifr De
processione
. Siehe zu Person und Werk
des
Gundisalvus Alexander Fidora, .,Dominicus
Gundissalinus , in:
.8/ographisch-bibh ographisches Kirchenlex1kon
XVII (2000),
Sp.
281-286,
sowie Alexander Fidora /
M.
Jesus Sorn Bruna, .,,Gundisalvus ou
Dominicus Gundisalvi' - Algunas observaciones sobre un reciente arriculo de Ade
.line
Rucquoi ,
in:
Estug ios edesi.iscos
76
(200I),
S.
467-473.
Siehe
zur T oledaner Ubersetzungstechnik die aufschlussreiche
e m e r ~ u n g
Aven
dauths im Prolog zu seiner gemeinsam mit Gundisalvus angefertigcen Ubersetzung
.
Yol)Avicenna,
Liber
de anima seu sextus
de
naturah bus, hg. von Simone van Riet, 2
.Bde. Louvain/Leiden 1968-1972, hier
Bd. I S.
4: .,Habetis ergo librum, nobis
praecipiente et singula verba vulgariter proferente, et Dominico Archidiacono sin
in latinum conve1tente, ex arabico translatum.
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27/70
xxx
Vom
Einen
zum
Vielen
munck Vom
Hervorgang der vVelc)-
Gundisalvus' Metaphysik - die
uber eine zunachst epistemologische Untersuchung zu einer Ontologie
und
schlieBlich zu
Gott als
der einen und ersten Ursache aufsteigt.
Dabei iibemimmt Gundisalvus die weiter oben dargelegte Lehre des
Liber de
causi s von einer Schi:ipfi.mg der Dinge vermittels der Intelli
genz. Wie unschwer zu erkennen ist, kreisen diese drei Schrifren, wenn
auch unter verschiedenen Rucksichten,
um
die drei Hypostasen der
plotinischen Seinsordnung: ,,Eines oder erste Ursache, ,,Intelligenz
und ,,Seele .
Gundisalvus' gewiss bekannteste
und
wirkmachtigste Schrifr, die
den Titel De divisione philosophe Van der Eince1lung der Ph1loso
phie)
tragt, versucht diesen ontologisch-metaphysischen Reflexionen
auf
der epistemologischen Ebene Rechnung zu tragen. So wird durch
dieses W erk nicht nur eine Vielzahl neuer naturphilosophischer Dis
ziplinen in die lateinische Philosophie des Mittelalters eingefuhrt, etwa
Optik (,De aspectibus') und Statik (,De ponderibus'), .Sondem auch
die Metaphysik, die bis zu Gundisalvus dem Namen nach unbekannt
ist: denn weder benutzt die griechische Antike den Begriff der Meta
physik im Singular, noch taucht er in der arabischen Philosophie auf.
Vielmehr. ist sowohl in der griechischen
als
auch in der arabischen
Tradition stets von den ,,metaphysischen Dingen oder ,,Biichern im
Plural die Rede, nie jedoch im Singular als
einer
wissenschaftlichen
Disziplin gleich der Logik, Physik, Mathematik usw.
48
W as nun den hier ausgewahlten Kurztraktat De
unica
ce ec
uno
an
belangt, so kann er gleichsam als in sich geschlossener und stark kom
primierter Gesamtentwurf jener durch die
Eince1lung der Ph1losophie
w i s s ~ n s t h e o r e t i s c h
fi.mdierten neoplatonischen Metaphysik gelesen
werden, die Gundisalvus mit den Seelen-Traktaten und dem Traktat
Vom Hervowang der
vVelc
bereits in ihren verschiedenen T eilen skiz-
48
V
gl
zur Genealogie
des
Begriffs der Metaphysik die leider noch zu wenig bekann
tei: Arbeiten
van_ I s ~ c i o
P r ~ z Femandez, ,,Ve7bizaci6n
Y
nocionizacin de la mern
fls1ca
en la , rad1c10n Siro-arabe, rn: Pensam1enco 3I I 97 5),
S 245-2
7 I sow1e
ders.,
V
erbizacin y nocionizacin
de
la
metafisica en
l
tradicin latina ,
in:
Escu
dios llos6fcos 24 I
97
5), S I 6I-222, wo auch auf die Bedeutung des Gundisalvus
eingegangen wird. Siehe zur Geschichte des Ausdrucks der Mernphysik van der An
tike bis zum Mitrelalter femer auch Luc Brisson, ,,Un si long anonymat , in: Jean
Marc Narbonne / Luc Langlois (Hg.). La mcaphys1que - Son
hwire,
sa cnque,
sesenjew; Paris 1999,
S
37-60.
7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen
28/70
Vom
Einen
zum Vielen
XXX
ziert hac.
9
So legt Gundisalvus hier eine li.ickenlose Beschreibung des
Seinskontinuums vor, das sich von der erscen Ursache, verscanden als
Schopfer, i.iber die Intelligenzen bis zu den Seelen und den leblosen
Korpem erstreckt, die allesamt allein durch die Einheit im Sein gehal
ten werden. Denn die Einheit, so der Archidiakon, ist es, die den Zu-
sammenl1alt von Form und Materie in den Dingen gewahrleistet, der
letztlich der schlechthinnige Grund der Existenz ist: nur dort, wo
Materie und Form zusammenkommen, ist Sein. Damit iniciiert der
Archidiakon im Anschluss an
Ibn
Gabirols Fans
vicae
Quelle des
Lebens) eine der zentralen Debatten der Metaphysik des Mittelalters,
den Screit
um
den Hylemorphismus, der um die Frage kreist, ob alles
Sein der Materie bedarf,
und
wenn
ja,
was
uncer dieser genauerhin
zu
verstehen ist. ,Form', ,Materie', ,Einheic' und ,Sein' verschranken sich
bei Gundisalvus so zu einer aufibn Gabirol fuBenden neoplaconischen
Gesamtdeutung der Wirklichkeit, die, wie bereits fur den
Liberfescge-
stelic wurde, eine streng philosophische, prinzipientheoretische Inter
pretation des Da-Seins der W elt vorlegen mochte.
Ein weiterer T ext, der wie die beiden vorangegangenen Schriften
die Bedeutung der ErschlieBung neuer Corpora fur die Entwicklungen
in der Philosophie des I2 Jahrhunderts unterstreicht, ist der Liber
VIginr i quactaor philosophorum Buch der vierundzwanzig Philoso-
phen) - ein W erk, das nicht olme Grund in der handschrifclichen
Tradition auch uncer dem Namen Riil:selhafre Dellmi:ionen Dellni-
tiones enigmacae)
bekannt ist.
50
Denn
Ratsel gibt dieser Text gleich
in zwei Hinsichcen auf: zum einen mie Blick auf seinen hermetischen
Inhalt ( nicht vpn ungefahr ist dieses Buch dem Hermes T rismegistos
zugeschrieben worden), zum anderen aber auch bezi.iglich seiner Ge
schichte, deren Urspri.inge einige Autoren in der christlichen, andere in
~ I n
diesem Sinne interpretierc auch Manuel Alonso in der Umersuchung, die er
.seiner Edition van
De
un ace
ec
uno
folgen lasst,
das
Opuskel
als
ein Spatwerk
des
Gundisalvus, in dem dieser noch einmal seine philosophischen Grundthesen voran-
. gegangener Werke zusammenfasst und,
wo
niitig, prazisiert. Vgl. Manuel Alonso,
,.El
L1ber de unitace ec
uno Gundisalvo, intrprere de si mismo , in:
Pensamienco
... I3.
(1957). S. 159-202.
50
So die Handschrift Erfurt, Kartause Salvatorberg, C. 27.
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29/70
XXXII
Vom Einen zum Vielen
der griechischen T radirion sehen wollen. Beide Fragen, also inhaltliche
und quellengeschichtliche, sind eng rniteinander verwoben.
Den
wichtigsten Beitrag zur Quellengeschichre der lerzten Jahre,
wenn auch vielleicht nicht' das letzte W
ort
hierzu, hat Franoise
Hudry
vorgelegt.
5
Unter
Berufung
auf
eine alte lateinische Fassung des
Bu-
ches der vienmdzwanz{g Ph1losophen,
welche eine rein neoplatonische
Lehre des Hervorgangs der Hypostasen bietet,
52
zeigt sie dass die
elaborierte T rinitatsspekulation der spateren Manuskripte erst irn
Laufe der
Zeit
durch kleine, aber bedeutende stilistische Eingriffe in
. den T ext entsteht. W enn aber die christliche T rinitatsspekulation in
der urspriinglichen Fassung des T extes nicht weiter expliziert wird, so
scheinr der T ext auch nicht notwendigerweise
auf
einen christlichen
Entstehungskontext beschrankt zu sein, wie einige Autoren behauptet
haben,
53
sondem kann durchaus seine Wurzeln in qer antiken und
spatantiken griechischen Philosophie haben. Dabei weist insbesondere
ein W erk groBe Ahnlichkeit
mit
den Abschnitten des
Buches der
r-
undzwanz(g Ph1losophen auf, namlich der Liber de sapientia ph1lo-
sophorum (Buch der vVeisheit der Ph1losophen),
der m 3. nachchrist
lichen Jahrhundert in Alexandrien entstanden sein soll. Obwohl dieser
T ext
nur
noch in Fragrnenten rekonstruierbar ist,
hat
er deutliche
Spuren in der Philosophie des Mittelalters hinterlassen, die vor allern
nach Toledo fiihren. So fnden sich nicht nur bei den
dort
iibersetzten
Werken des Avicenna und des Ibn Gabirol Spuren dieses Textes, son-
5
V
gl.
Franoise Hudrys aus:fuhrliche Einleitung zu ihrer Edirion
des Liber nginci
quaccuor ph1losophorum
in der Reihe
Hennes
latinus
III/
l (Corpus christianorum.
Continuatio mediaevalis 143A). Turnhout 1997,
bes.
S. V-XXIII.
52
Diesen T ext der in nur einem Manuskript, namlich Laon, Bibliothque Munic.ipale,
412, uberliefen ist, hat Franoise Hudry zusammen mit einer franzosischen Uber
seczung desselben ediert
is
Le
kvre des XX. Vph1losophes,
Grenoble 1989.
53
So Clemens Baeumker (,,Das pseudo-hermetische Buch der vierundzwanzig Meis
ter ,
in:
ders.,
Scudien und Charakcerisciken
zur
Geschichre der Ph1losophie insbe-
sondere des .lvkccelalcers a.a.O., S. 194-214 und Marie-Thrse d'Alvemy (,,Un
rmoin muet des lurres doctrinales du XIIIe sicle ,
in:
Archives d'hiscoirc' d o m ~
nale.er iccraire
du Moyen ge
24
[1949], S. 223-248). Ahnlich urteilt in jungster
Zeit der Reihenherausgeber des
Hennes
lacinus,
Paolo Lucentini, der uocz der
Darlegungen von Hudry an der christlichen Autorschafc
des
W erkes festhak wobei
er sich ailerdings nur auf den spateren T extbestand der Schrift stiitzr und
das
von
Hudry
in.
Anschlag gebrachte Manuskript scheinbar unbeachtet lasst. Siehe Paolo
Lucentini in der Einleitung zu seiner iralienischen Ausgabe
des Libro dei v n t i ~
cuaccro flosof.
Mailand l 999.
7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen
30/70
Vom Einen zum Vielen XXXIII
dem auch bei Dominicus Gundisalvus in seiner Schrift
Vom Hervor-
gang der FVe t;
54
weshalb die V ermutung nahe liegt, dass in Spanien
eine arabisch-lateinische Tradition des .Buches der Weishe1c derPhilo-
sophen bestand. Parallel dazu vermutet Hudry ebenfalls in Spanien
eine griechisch-lateinische berlieferung dieses W erkes, das so
zum
Vorbild fur das
.Buch der vierundzwanz{g Ph1losophen
werden konnte,
das ihrer Ansicht nach aufgrund seiner sprachlichen Eigenart sowie der
Verwendung griechischer Terminologie ( namendich
monas)
eher aus
dem Griechischen
als
aus dem Arabischen adaptiert zu sein scheint.
55
Die hier i.ibersetzten Abschnitte
des .Buches der vierundzwan.z{g
Philosophen
stellen eine Auswahl aus insgesamt vierundzwanzig Ab
schnitten dar, die jeweils eine philosophische Gottesdefnition vorstel
len, die sodann in einem kurzen Kommentar systematisch entfaltet
wird - ein V erfahren, das deudich an das .Buch der l rsachen erinnert
tmd bei Alain von Lille emeut auftauchen wird. Gleichsam program
marischen Charakter fur das gesamte W erk besitzt der erste Lehrsatz,
der mir dem Begriff der monas (Einheit) das zentrale Thema des Neo-
platonismus von Plotin bis Proklos aufgreift, um mir
ihrn
das V erhak
nis einer urspri.inglichen Dreiheit zu erlautem. Diese aber ist - zumin
dest im spateren T extbestand, dem wir hier folgen - nichts anderes
als
die Beschreibung des innergotdichen Lebens, d.h. der T rinitiit, mir
Hilfe numerologischer Reflexionen. Die Parallelen zu Thierry sind
dabei unverkennbar, weshalb etwa Marie-Thrse d'Alvemy den Autor
des .Buches der vierundzwanz1g Philosophen anders als Hudry im
Chartreser Umfeld situierte.
56
Von besonderer Bedeutung ist daneben
Lehrsatz, in dem Gott
als
,,unendliche Sphare beschrieben
- eine Metapher, die
i.iber
das
.Buch der vierundzwanz{g Ph1 oso-
zu Alain von Lille, Meister Eckhart, Nikolaus von Kues und
Pascal gelangen sollte.
57
Wahrend der erste Lehrsatz die
1ttE:re1121 erulilg der Einheit in die reflexive Dreiheit darlegt, betont der
iber nginriquaccuorph1Josophorum, a.a.O.,
S.
XII-XIII.
Quellen des T
extes
das Vorworr van Franoise Hudry zu
ua.1ucL>cm:u
bersetzung
e ivre des XX Vph1losophes,
a.a.O.,
S.
I 8-2
I.
: h Marie-Thrse d'Alverny, ,.Un tmoin muet des lurres docrrinales du Xllle
a.a.O, bes. S.
23
I.
zur Geschichre dieser Merapher die nach
wie
vor lesenswerre Monographie
Dietrich Mahnke, Unendliche Sphiire undAllmiccelpunh:; lJdcrage
zur
Genea-
der machemacischen
lv.[ysrik, Halle I937.
7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen
31/70
XXXIV
Vom
Einen zum Vielen
zweite mit
dem
Bild der ,,unendlichen Sphare den Zusammenhalt und
die Einheit dieser Dreiheit.
amit
sind die beiden Pale benannt, zwi
schen denen sich auch die weiteren Lehrsatze bewegen, welche die
Fragestellung zugleich
mit
epistemologischen Aspekten
zur
Erkenn
barkeit Gottes anreichem, die an Pseudo-Dionysios erinnem.
Insgesamt stellt das Buch der
n'erundzwanz1g
Plulosophen einen
aufschlussreichen V ersuch dar, die klassischen Begriffe
und Themen
des Neoplatonismus zu einer chrisclichen Metaphysik zu transformie
ren. Aufschlussreich vor allem deshalb, weil diese T ransformation hier
nicht
nur
in ihren Resultaten iiberliefert ist. Vielmehr wird dieser
T ransforrnationsprozess selbst durch die verschiedenen Versionen des
T extes, insbesondere den von
Hudry
bemiihten lateinischen Urtext, in
seinen einzelnen Schritten nachvollziehbar. Wie kaum ein anderes
Werk gibt diese Schrift damit Einblicke
in
die produktive Aufnahme
der verschiedenen philosophischen T raditionen, die : sich auf der
lberischen Halbinsel iiberschneiden,
und
damit in die Genese des
chrisclichen Neoplatonismus des 12.
Jahrhunderts.
en
Abschluss der hier vorliegenden T extauswal bildet eine der
originellsten Abhandlungen des
12.
Jal1rhunderrs, die, in den neunziger
J ahren dieses J ahrhunderts verfasst, zugleich in verschiedener
Hinsicht
dessen Gipfel- und Schlusspunkt darstellt - mit ihr kehrt unsere Reise,
die in Frankreich (
und
England) begann, nach dem W eg ii ber Spanien
wieder an ihren Ausgangsort zuriick. So wird Alain von Lille
um I 120
wahrscheinlich
in
Lille, wie sein Name andeutet, geboren. Zwar wird
er
insbesondere aufgrund seiner allegorischen Gedichte
Anndaudianus
und
e
planctu naturae (Van der Klage der Nacur ,
zu
einem der
meistgelesenen Auroren der folgenden hrzehnte und hrhunderte,
wie die Spuren bis zu Dante und weit in die Renaissance hinein bele
gen, von seinem Leben ist jedoch bis auf wenige Bemerkungen in
seinen T exten selbst sowie seinen T odesort bzw. sein T odesdatum
kaum etwas iiberliefert.
58
So ist durch die Hinweise in den T exten nur
ersichclich, dass er wahrscheinlich zunachst einige Zeit als Magister
n
Paris oder' zumindest der Ile-de-France wirkr, wobei aufgrund der
ss
Siehe zur Biographie Alains insbesondere Marie-Thrse d'Alvemy (Hg.), A ain
de
Lii/e. Texces
indics,
Paris 1965,
S.
l 1-29.
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32/70
Vom Einen zum Vielen
xxx
Eintliisse von Autoren wie Bernhard Silvestris oder Clarembald von
Arras bzw. Thierry von Chartres nicht ausgeschlossen ist, dass er auch
Abschnitte seines Studiums oder der Lehrtatigkeit an den Ufem der
Loire ( d.h. in
Tours
oder Orlans)
und
in Chartres verbringt. n der
Zeit nach diesen Tatigkeiten scheint er sich im Siiden des heutigen
Frankreich aufzuhalten, wo er sich vermutlich
als
Kanoniker oder in
sonstiger kirchlicher Funktion im Auftrag oder in enger Abstimmung
mit den Benediktinem
sowie
dem
Herzog
\Vilhelrn VIII. von
Mont-
pellier praktisch
und
theoretisch
mit
den dorc verstarkt auftretenden
Haresien auseinandersetzt.
Wahrend
er den theoretischen Ertrag dieser
Auseinandersetzung in dem gegen vier Arcen von Haresien verfassten
Traktat Concra haerer:icos (Gegen dre HiireciKer) niederlegt, trite er
zugleich
als
begnadeter Prediger auf, wie eine stattliche Zahl iiberlie
ferter T exte belegt. Sein Lebensende verbringt er im Mutterhaus des
Zisterzienserordens in C1teaux, wo er schlieBlich nach seinem T od im
Jahre 1202 oder
1203
begraben wird.
59
Der Nachwelt gilt Alain als doccor umversal, da sein W erk selbst
im
Kontext der Neuerungen
und
erstaunlichen Leistungen der Renais
sance
des
12. Jal1rhunderts ein herausragender Ausdruck systematischer
Scharfe und thematisch-stilistischer Vielfalt ist.
60
So sind Alain neben
qen bereits angefuhrten Gedichten sowie den Auseinandersetzungen
rnit.
den Haretikem niimlich auch eine theologische Summe, ein Wor-
terbuch der Theologie sowie die Regeln der Tlieologie zuzuschreiben,
aus denen sich im Folgenden ein Auszug findet. n einem Zeitalter, in
dern neue Wissensformen
und
Wissensbestande den angestammten
.
prdo scientzum
problematisieren, geht der
Autor
aus Lille den Fragen
nach, welche Inhalte
nur
in der Theologie angemessen erfasst und
erirtert werden konnen
und
welche Gestalt die Theologie annehmen
. ~ : : r n l S ~ , um als Wissenschaft neben den anderen Disziplinen bestehen zu
? ;
kinnen. Dabei interessiert ihn vor allem,
wie
das V erhaltnis zwischen
. der theologischen Tem1inologie und den Sprachen der anderen Wis-
~ ~ p s c h f t e n
beschaffen ist
und
wie die Relation zwischen naturphiloso-
s ~ ~ : : . ; \
. ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
r : ;rVgl. Marce Lebeau, ,,Dcouverte du tombeau du bienheureux Alain de Lille", in:
~ ; i ~ g ~ i : c ~ : ~ a f f : ~ ~ ~ k C 1 / t w t h ~ ~ : n : f ~ : :; I ~ ~ ~ ~ ~ : : ~
4
F ~ ~ e ,
in: Derek
:,ii ,s '>
, 8 y ~ ~ r (I- g.),
Rcnaissance and
Renewaf in
Chriscian HsWLJ Oxford
I977, S.
II?
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> ,
7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen
33/70
XXXVI
Vam
Einen zum Yielen
phischen Erklarungsmodellen des Ent und Bestehens der W elt und
theologischer Schopfi.mgstheorie zu verstehen
isr
61
Die hier ausgewahlten Passagen der Regeln der Theologie oder der
Regeln des himmlischen Rechcs
spiegeln diese verschiedenen, aber
dennoch miteinander verwobenen lnteressen Alains wider. Die Regeln
stellen insgesamt den Versuch dar, analog zu den anderen Wissen
schaften fur die Theologie eine Reihe von Axiomen aufzustellen, die
als Fundamente fur eine wissenschaftliche Gotteslehre gelten konnen.
Hierzu nutzt Alain die wissenschaftstheoretischen berlegungen seiner
Zeirgenossen, etwa
des
Gilbert von Poitiers und des Gundisalvus, aber
auch neu aus dem Arabischen iibersetzte T raktate, wie die beiden be
reits vorgestellten
Werke
Buch der Ursachen
bzw.
Buch der nrund
zwanz{g Ph1losophen. V
or
allem ersteres ist nicht nur inhaltlich zen
tral, wie die berlegungen bereits der ersten Regel zeigen, sondern der
Liber de causis gibt
mit
seiner revidierten Form der proklischen Ele
mente
eine Variante der axiomatischen Methode
als
'Vorgehensweise
iiberhaupt der Regeln ab, indem auch diese einerseits
in
erklarender
Hinsicht deduktiv verfahren, andererseits jedoch ontologisch die wech
selseitigen Implikationsverhaltnisse des Ausgesagten betonen.
62
n
ontol