+ All Categories
Home > Documents > Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

Date post: 08-Apr-2018
Category:
Upload: schear-jaschub
View: 225 times
Download: 0 times
Share this document with a friend

of 85

Transcript
  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    1/85

    1

    Ioannes Paulus PP. II

    Fides et Ratio

    An die Bischfe der Katholische Kircheber das Verhltnis von Glaube und Vernunft

    1998.09.14

    ______________________________________

    Segen

    InhaltsverzeichnisEINLEITUNG ERKENNE DICH SELBST [1-6] ............................................................................ 2KAPITEL I - DIE OFFENBARUNG DER WEISHEIT GOTTES ..................................................... 7

    Jesus als Offenbarer des Vaters [7-12] ........................................................................................... 7Die Vernunft vor dem Geheimnis [13-15] ................................................................................... 10

    KAPITEL II - CREDO UT INTELLEGAM ...................................................................................... 14

    Die Weisheit wei und versteht alles (vgl. Weish 9, 11) [16-20] .............................................. 14Erwirb dir Weisheit, erwirb dir Einsicht (Spr 4, 5) [21-23] ................................................... 17

    KAPITEL III - INTELLEGO UT CREDAM ..................................................................................... 20

    Auf dem Weg der Suche nach der Wahrheit [24-27] ................................................................. 20Die verschiedenen Gesichter der Wahrheit des Menschen [28-35] ......................................... 23

    KAPITEL IV - DAS VERHLTNIS VON GLAUBE UND VERNUNFT .................................... 27

    Bedeutsame Schritte der Begegnung zwischen Glaube und Vernunft [36-42] ...................... 27Die bleibende Neuheit des Denkens des hl. Thomas von Aquin [43-44] ............................... 33Das Drama der Trennung zwischen Glaube und Vernunft [45-48] ........................................ 35

    KAPITEL V - DIE WORTMELDUNGEN DES LEHRAMTES IM PHILOSOPHISCHENBEREICH ............................................................................................................................................. 38

    Das Urteilsvermgen des Lehramtes als Dienst an der Wahrheit [49-56] .............................. 38

    Das Interesse der Kirche fr die Philosophie [57-63] ................................................................ 43KAPITEL VI - DIE WECHSELWIRKUNG ZWISCHEN THEOLOGIE UND PHILOSOPHIE 47

    Die Glaubenswissenschaft und die Erfordernisse der philosophischen Vernunft [64-74] .. 47Verschiedene Standorte der Philosophie [75-79] ....................................................................... 55

    KAPITEL VII - AKTUELLE FORDERUNGEN UND AUFGABEN ............................................ 59

    Die unverzichtbaren Forderungen des Wortes Gottes [80-91] ................................................. 59Aktuelle Aufgaben fr die Theologie [92-99] ............................................................................. 69

    SCHLUSS ............................................................................................................................................. 74

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    2/85

    2

    Ehrwrdige Brder im Bischofsamt,

    Gru und Apostolischen Segen!

    Glaube und Vernunft (Fides et ratio) sind wie die beiden Flgel, mit denen sich der

    menschliche Geist zur Betrachtung der Wahrheit erhebt. Das Streben, die Wahrheitzu erkennen und letztlich ihn selbst zu erkennen, hat Gott dem Menschen ins Herzgesenkt, damit er dadurch, da er Ihn erkennt und liebt, auch zur vollen Wahrheitber sich selbst gelangen knne (vgl. Ex 33, 18; Ps 27 [26], 8-9; Ps 63 [62], 2-3; Joh 14,8; 1 Joh 3, 2).

    EINLEITUNG ERKENNE DICH SELBST [1-6]

    1. Sowohl im Orient als auch im Abendland lt sich ein Weg feststellen, der imLaufe der Jahrhunderte die Menschheit fortschreitend zur Begegnung mit derWahrheit und zur Auseinandersetzung mit ihr gefhrt hat. Ein Weg, der sich anders konnte es gar nicht sein im Horizont des Selbstbewutseins dermenschlichen Person entfaltet hat: je mehr der Mensch die Wirklichkeit und die Welterkennt, desto besser erkennt er sich selbst in seiner Einmaligkeit, whrend sich frihn immer drngender die Frage nach dem Sinn der Dinge und seines eigenenDaseins stellt. Alles, was als Gegenstand unserer Erkenntnis erscheint, wird daherselbst Teil unseres Lebens. Am Architrav des Tempels von Delphi war dieermahnende Aufforderung: Erkenne dich selbst! eingemeielt als Zeugnis fr eineGrundwahrheit, die als Mindestregel von jedem Menschen angenommen werdenmu, der sich innerhalb der ganzen Schpfung gerade dadurch als Menschauszeichnen will, da er sich selbst erkennt.

    Im brigen zeigt uns ein bloer Blick auf die Geschichte des Altertums deutlich, dain verschiedenen Gegenden der Erde, die von ganz unterschiedlichen Kulturengeprgt waren, zur selben Zeit dieselben Grundsatzfragen auftauchten, die den Gangdes menschlichen Daseins kennzeichnen: Wer bin ich? Woher komme ich und wohingehe ich? Warum gibt es das Bse? Was wird nach diesem Leben sein? Diese Fragenfinden sich in Israels heiligen Schriften, sie tauchen aber auch in den Weden undebenso in der Awesta auf; wir finden sie in den Schriften des Konfuzius und Lao-tsesowie in der Verkndigung der Tirthankara und bei Buddha. Sie zeigen sich auch inden Dichtungen des Homer und in den Tragdien von Euripides und Sophokles wieauch in den philosophischen Abhandlungen von Platon und Aristoteles. Es sindFragen, die ihren gemeinsamen Ursprung in der Suche nach Sinn haben, die dem

    Menschen seit jeher auf der Seele brennt: von der Antwort auf diese Fragen hngt inder Tat die Richtung ab, die das Dasein prgen soll.

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    3/85

    3

    2. Die Kirche ist an diesem Weg der Suche nicht unbeteiligt und kann es auch garnicht sein. Seit dem Ostertag, wo sie die letzte Wahrheit ber das Leben desMenschen als Geschenk empfangen hat, ist sie zur Pilgerin auf den Straen der Weltgeworden, um zu verknden, da Jesus Christus der Weg, die Wahrheit und das

    Leben ist (Joh 14, 6). Unter den verschiedenen Diensten, die sie der Menschheitanzubieten hat, gibt es einen, der ihre Verantwortung in ganz besonderer Weiseherausstellt: den Dienst an der Wahrheit.1 Diese Sendung macht einerseits dieglubige Gemeinde zur Teilhaberin an der gemeinsamen Bemhung, welche dieMenschheit vollbringt, um die Wahrheit zu erreichen;2 andererseits verpflichtet siesie dazu, sich um die Verkndigung der erworbenen Gewiheiten zu kmmern; diesfreilich in dem Bewutsein, da jede erreichte Wahrheit immer nur eine Etappe aufdem Weg zu jener vollen Wahrheit ist, die in der letzten Offenbarung Gottes enthlltwerden wird: Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rtselhafte Umrisse,

    dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ichunvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen (1 Kor 13, 12).

    3. Der Mensch besitzt vielfltige Mglichkeiten, um den Fortschritt in derWahrheitserkenntnis voranzutreiben und so sein Dasein immer menschlicher zumachen. Unter diesen ragt die Philosophie hervor, die unmittelbar dazu beitrgt, dieFrage nach dem Sinn des Lebens zu stellen und die Antwort darauf zu entwerfen: siestellt sich daher als eine der vornehmsten Aufgaben der Menschheit dar. Seineretymologischen Herkunft aus dem Griechischen entsprechend bedeutet das Wort

    Philosophie Liebe zur Weisheit. Die Entstehung und Entfaltung der Philosophiefllt tatschlich genau in die Zeit, als der Mensch begonnen hat, sich nach demGrund der Dinge und nach ihrem Ziel zu fragen. Sie zeigt in verschiedenen Artenund Formen, da das Streben nach Wahrheit zur Natur des Menschen gehrt. Es isteine seiner Vernunft angeborene Eigenschaft, sich nach dem Ursprung der Dinge zufragen, auch wenn sich die nach und nach gegebenen Antworten in einen Horizonteinfgen, der die Komplementaritt der verschiedenen Kulturen, in denen derMensch lebt, deutlich macht.

    Die Tatsache, da sich die Philosophie stark auf die Gestaltung und Entwicklung derKulturen des Abendlandes auswirkte, darf uns nicht den Einflu vergessen lassen,den sie auch auf die Daseinsvorstellungen ausgebt hat, aus denen der Orient lebt.

    Jedes Volk besitzt nmlich seine ihm eigene Ur-Weisheit, die als echter Reichtum derKulturen danach strebt, sich auch in rein philosophischen Formen auszudrcken undzur Reife zu gelangen. Wie sehr das zutrifft, beweist der Umstand, da eine bis inunsere Tage gegenwrtige Grundform philosophischen Wissens sogar in denPostulaten nachweisbar ist, denen die verschiedenen nationalen und internationalenGesetzgebungen bei der Regelung des gesellschaftlichen Lebens folgen.

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    4/85

    4

    4. Es mu allerdings betont werden, da sich hinter einem einzigen Begriffverschiedene Bedeutungen verbergen. Daher erweist sich eine einleitendeerluternde Darstellung als notwendig. Angespornt von dem Streben, die letzteWahrheit ber das Dasein zu entdecken, versucht der Mensch jene universalen

    Kenntnisse zu erwerben, die es ihm erlauben, sich selbst besser zu begreifen und inseiner Selbstverwirklichung voranzukommen. Die grundlegenden Erkenntnisseentspringen dem Staunen, das durch die Betrachtung der Schpfung in ihm gewecktwird: der Mensch wird von Staunen ergriffen, sobald er sich als eingebunden in dieWelt und in Beziehung zu den anderen entdeckt, die ihm hnlich sind und derenSchicksal er teilt. Hier beginnt der Weg, der ihn dann zur Entdeckung immer neuerErkenntnishorizonte fhren wird. Ohne das Staunen wrde der Mensch in dieMonotonie der Wiederholung verfallen und sehr bald zu einer wirklichen Existenzals Person unfhig werden.

    Die dem menschlichen Geist eigentmliche Fhigkeit zum spekulativen Denkenfhrt durch die philosophische Bettigung zur Ausbildung einer Form strengenDenkens und so, durch die logische Folgerichtigkeit der Aussagen und dieGeschlossenheit der Inhalte, zum Aufbau eines systematischen Wissens. Dank diesesProzesses wurden in verschiedenen kulturellen Umfeldern und in verschiedenenEpochen Ergebnisse erzielt, die zur Ausarbeitung echter Denksysteme gefhrt haben.Dadurch war man im Laufe der Geschichte immer wieder der Versuchungausgesetzt, eine einzige Strmung mit dem gesamten philosophischen Denken

    gleichzusetzen. Ganz offenkundig tritt jedoch in diesen Fllen ein gewisserphilosophischer Hochmut auf den Plan, der Anspruch darauf erhebt, die ausseiner eigenen Perspektive stammende, unvollkommene Sicht zur allgemeinenLesart zu erheben. In Wirklichkeit mu jedes philosophische System, auch wenn esohne jegliche Instrumentalisierung in seiner Ganzheit anerkannt wird, demphilosophischen Denken die Prioritt zuerkennen, von dem es seinen Ausgangnimmt und dem es folgerichtig dienen soll.

    So ist es mglich, trotz des Wandels der Zeiten und der Fortschritte des Wissens

    einen Kern philosophischer Erkenntnisse zu erkennen, die in der Geschichte desDenkens stndig prsent sind. Man denke, um nur ein Beispiel zu nennen, an diePrinzipien der Non-Kontradiktion, der Finalitt, der Kausalitt wie auch an dieAuffassung von der Person als freiem und verstndigem Subjekt und an ihreFhigkeit, Gott, die Wahrheit und das Gute zu erkennen; man denke ferner an einigemoralische Grundstze, die allgemein geteilt werden. Diese und andere Themenweisen darauf hin, da es abgesehen von den einzelnen Denkrichtungen eineGesamtheit von Erkenntnissen gibt, in der man so etwas wie ein geistiges Erbe derMenschheit erkennen kann; gleichsam als befnden wir uns im Angesicht einerimpliziten Philosophie, auf Grund der sich ein jeder bewut ist, diese Prinzipien,wenngleich in undeutlicher, unreflektierter Form zu besitzen. Diese Erkenntnisse

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    5/85

    5

    sollten, eben weil sie in irgendeiner Weise von allen geteilt werden, eine ArtBezugspunkt der verschiedenen philosophischen Schulen darstellen. Wenn es derVernunft gelingt, die ersten und allgemeinen Prinzipien des Seins zu erfassen und zuformulieren und daraus in rechter Weise konsequente Schlufolgerungen von

    logischer und deontologischer Bedeutung zu entwickeln, dann kann sie sich als einerichtige Vernunft oder, wie die antiken Denker sie nannten, als orths logos, rectaratio ausgeben.

    5. Die Kirche ihrerseits kann nicht umhin, den Einsatz der Vernunft fr das Erreichenvon Zielen anzuerkennen, die das menschliche Dasein immer wrdiger machen.Denn sie sieht in der Philosophie den Weg, um Grundwahrheiten zu erkennen,welche die Existenz des Menschen betreffen. Gleichzeitig betrachtet sie diePhilosophie als unverzichtbare Hilfe, um das Glaubensverstndnis zu vertiefen und

    die Wahrheit des Evangeliums allen, die sie noch nicht kennen, mitzuteilen.Im Anschlu an hnliche Initiativen meiner Vorgnger mchte daher auch ich denBlick auf diese besondere Bettigung der Vernunft richten. Dazu drngt mich dieBeobachtung, da vor allem in unserer Zeit die Suche nach der letzten Wahrheit oftgetrbt erscheint. Die moderne Philosophie hat zweifellos das groe Verdienst, ihreAufmerksamkeit auf den Menschen konzentriert zu haben. Von daher hat eine mitFragen beladene Vernunft ihr Streben nach immer mehr und immer tiefererErkenntnis weiterentwickelt. So wurden komplexe Denksysteme aufgebaut, die in

    den verschiedenen Wissensbereichen Frchte getragen haben, da sie die Entfaltungvon Kultur und Geschichte frderten. Die Anthropologie, die Logik, dieNaturwissenschaften, die Geschichte, die Sprache..., gewissermaen die Gesamtheitdes Wissens wurde davon erfat. Die positiven Ergebnisse, die erzielt wurden,drfen jedoch nicht zur Vernachlssigung der Tatsache verleiten, da dieselbeVernunft, mit einseitigen Forschungen ber den Menschen als Subjekt beschftigt,vergessen zu haben scheint, da dieser Mensch immer auch dazu berufen ist, sicheiner Wahrheit zuzuwenden, die ihn bersteigt. Ohne Beziehung zu dieser Wahrheitbleibt jeder vom eigenen Gutdnken abhngig, und seine Verfatheit als Person wird

    schlielich nach pragmatischen, im wesentlichen auf empirischen Angabenberuhenden Kriterien beurteilt, in der irrigen berzeugung, alles msse von derTechnik beherrscht werden. So kam es, da sich die Vernunft, anstatt die Spannungzur Wahrheit bestmglich auszudrcken, unter der Last des vielen Wissens ber sichselbst gebeugt hat und von Tag zu Tag unfhiger wurde, den Blick nach oben zuerheben, um das Wagnis einzugehen, zur Wahrheit des Seins zu gelangen. Diemoderne Philosophie hat das Fragen nach dem Sein vernachlssigt und ihr Suchenauf die Kenntnis vom Menschen konzentriert. Anstatt von der dem Menscheneigenen Fhigkeit zur Wahrheitserkenntnis Gebrauch zu machen, hat sie esvorgezogen, deren Grenzen und Bedingtheiten herauszustellen.

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    6/85

    6

    Daraus enstanden verschiedene Formen von Agnostizismus und Relativismus, dieschlielich zur Folge hatten, da sich das philosophische Suchen im Fliesand einesallgemeinen Skeptizismus verlor. In jngster Zeit haben dann verschiedene LehrenBedeutung erlangt, die sogar jene Wahrheiten zu entwerten trachten, die erreicht zu

    haben fr den Menschen eine Gewiheit war. Die legitime Pluralitt vonDenkpositionen ist einem indifferenten Pluralismus gewichen, der auf der Annahmefut, alle Denkpositionen seien gleichwertig: Das ist eines der verbreitetstenSymptome fr das Mitrauen gegenber der Wahrheit, das man in der heutigen Weltfeststellen kann. Auch manche aus dem Orient stammende Lebensanschauungenentgehen nicht diesem Vorbehalt. In ihnen wird nmlich der Wahrheit ihrExklusivcharakter abgesprochen. Dabei geht man von der Annahme aus, da dieWahrheit in verschiedenen, ja sogar einander widersprechenden Lehrengleichermaen in Erscheinung trete. In diesem Horizont ist alles auf Meinung

    reduziert. Man hat den Eindruck einer Bewegung, die sich wie eine Welle nach obenund nach unten bewegt: Whrend es dem philosophischen Denken einerseitsgelungen ist, in den Weg einzumnden, der es immer nher an die menschlicheExistenz und ihre Ausdrucksformen heranfhrt, ist es andererseits bestrebt,existentielle, hermeneutische oder linguistische Anschauungen zu entwickeln, dieauf die radikale Frage nach der Wahrheit des Lebens als Person, des Seins und Gottesverzichten. Als Folge davon sind beim modernen Menschen, und das nicht nur beieinigen Philosophen, Haltungen eines verbreiteten Mitrauens gegenber dengroartigen Erkenntnisfhigkeiten des Menschen zutage getreten. Mit falscherBescheidenheit gibt man sich mit provisorischen Teilwahrheiten zufrieden, ohneberhaupt noch zu versuchen, radikale Fragen nach dem Sinn und letzten Grund desmenschlichen, persnlichen und gesellschaftlichen Lebens zu stellen. Die Hoffnung,von der Philosophie endgltige Antworten auf diese Fragen zu erhalten, ist alsogeschwunden.

    6. Ausgestattet mit der Kompetenz, die ihr als Verwahrerin der Offenbarung JesuChristi erwchst, will nun die Kirche die Notwendigkeit des Nachdenkens ber dieWahrheit neu bekrftigen. Aus diesem Grund habe ich beschlossen, mich sowohl andie Mitbrder im Bischofsamt zu wenden, mit denen ich die Sendung teile, offendie Wahrheit (2 Kor 4, 2) zu verknden, als auch an die Theologen undPhilosophen, deren Aufgabe die Erforschung der verschiedenen Aspekte derWahrheit ist, sowie an alle Menschen, die sich auf der Suche befinden: Ich will sieteilhaben lassen an einigen berlegungen hinsichtlich des Weges, der zur wahrenWeisheit fhrt, damit jeder, der die Liebe zu ihr im Herzen trgt, den richtigen Wegeinzuschlagen vermag, um sie zu erreichen und in ihr Ruhe in seiner Mhsal sowiegeistige Freude zu finden.

    Ansto zu dieser Initiative ist fr mich zunchst die vom II. Vatikanischen Konzilformulierte Erkenntnis, da die Bischfe Zeugen der gttlichen und katholischen

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    7/85

    7

    Wahrheit sind.3 Die Wahrheit zu bezeugen ist also eine Aufgabe, die uns Bischfenbertragen wurde; ihr knnen wir uns nicht versagen, ohne das Amt, das wirerhalten haben, zu vernachlssigen. Durch neuerliche Bekrftigung derGlaubenswahrheit knnen wir dem Menschen unserer Zeit wieder echtes Vertrauen

    in seine Erkenntnisfhigkeiten geben und der Philosophie eine Herausforderungbieten, damit sie ihre volle Wrde wiedererlangen und entfalten kann.

    Noch ein weiterer Beweggrund veranlat mich zur Abfassung dieser berlegungen.In der Enzyklika Veritatis splendor habe ich einige fundamentale Wahrheiten derkatholischen Lehre in Erinnerung gerufen, die im heutigen Kontext Gefahr laufen,verflscht oder verneint zu werden.4 Mit dem vorliegenden Schreiben mchte ichnun jenen Gedanken weiterfhren und dabei die Aufmerksamkeit eben auf dasThema Wahrheit und auf ihr Fundament im Verhltnis zum Glauben konzentrieren.

    Denn man kann nicht leugnen, da unsere Zeit mit ihren raschen und umfassendenVernderungen vor allem die jungen Generationen, denen die Zukunft gehrt undvon denen sie abhngt, dem Gefhl aussetzt, ohne echte Bezugspunkte zu sein. DasErfordernis eines Fundamentes, auf dem das Dasein des einzelnen und derGesellschaft aufgebaut werden kann, macht sich vor allem dann in dringender Weisebemerkbar, wenn man die Bruchstckhaftigkeit von Angeboten feststellen mu, dieunter Vortuschung der Mglichkeit, zum wahren Sinn des Daseins zu gelangen, dasVergngliche zum Wert erheben. So kommt es, da viele ihr Leben fast bis an denRand des Abgrunds dahinschleppen, ohne zu wissen, worauf sie eigentlich zugehen.

    Das hngt auch damit zusammen, da diejenigen, die dazu berufen waren, dieFrucht ihres Nachdenkens in kulturellen Formen auszudrcken, den Blick von derWahrheit abgewandt haben und der Mhe geduldigen Suchens nach dem, wasgelebt zu werden verdient, den Erfolg im Unmittelbaren vorziehen. Die Philosophie,der die groe Verantwortung zukommt, das Denken und die Kultur durch denfortwhrenden Hinweis auf die Wahrheitssuche zu gestalten, mu mit aller Kraftihre ursprngliche Berufung zurckgewinnen. Deshalb habe ich nicht nur dasBedrfnis gefhlt, sondern es auch als meine Pflicht empfunden, mich zu diesemThema zu uern, damit die Menschheit an der Schwelle des dritten Jahrtausendschristlicher Zeitrechnung sich der groartigen Fhigkeiten, die ihr gewhrt wurden,deutlicher bewut werde und sich mit neuem Mut fr die Verwirklichung desHeilsplanes einsetze, in den ihre Geschichte eingebettet ist.

    KAPITEL I - DIE OFFENBARUNG DER WEISHEIT GOTTES

    Jesus als Offenbarer des Vaters [7-12]

    7. Jede von der Kirche angestellte Reflexion erfolgt auf der Grundlage desBewutseins, Verwahrerin einer Botschaft zu sein, die ihren Ursprung in Gott selbst

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    8/85

    8

    hat (vgl. 2 Kor 4, 1-2). Die Erkenntnis, die sie dem Menschen anbietet, rhrt nicht ausihrem eigenen Nachdenken her, und wre es noch so erhaben, sondern aus demglubigen Hren des Wortes Gottes (vgl. 1 Thess 2, 13). Am Anfang unseresGlubigseins steht eine einzigartige Begegnung, die das Offenbarwerden eines seit

    ewigen Zeiten verborgenen, jetzt aber enthllten Geheimnisses (vgl. 1 Kor 2, 7; Rm16, 25-26) markiert: Gott hat in seiner Gte und Weisheit beschlossen, sich selbst zuoffenbaren und das Geheimnis seines Willens kundzutun (vgl. Eph 1, 9): da dieMenschen durch Christus, das fleischgewordene Wort, im Heiligen Geist Zugangzum Vater haben und teilhaftig werden der gttlichen Natur.5 Dabei handelt es sichum eine vllig ungeschuldete Initiative, die von Gott ausgeht, um die Menschheit zuerreichen und zu retten. Gott als Quelle der Liebe will sich zu erkennen geben, unddie Erkenntnis, die der Mensch von Ihm hat, bringt jede andere wahre Erkenntnisber den Sinn seiner eigenen Existenz zur Vollendung, zu der sein Verstand zu

    gelangen vermag.

    8. Unter beinahe wrtlicher bernahme der von der dogmatischen Konstitution DeiFilius des I. Vatikanischen Konzils dargebotenen Lehre und unter Bercksichtigungder vom Konzil von Trient vorgelegten Grundstze hat die Konstitution Dei Verbumdes II. Vatikanums den Gang der Glaubenseinsicht, intelligentia fidei, durch die

    Jahrhunderte fortgesetzt, indem sie ber die Offenbarung im Lichte der biblischenLehre und der gesamten Vtertradition nachdachte. Die Konzilsvter des I.Vatikanums hatten den bernatrlichen Charakter der Offenbarung Gottes

    hervorgehoben. Die rationalistische Kritik, die zu jener Zeit auf Grundweitverbreiteter falscher Thesen gegen den Glauben vorgebracht wurde, betraf dieLeugnung jeder Erkenntnis, die nicht den natrlichen Fhigkeiten der Vernunftentsprnge. Dieser Umstand hatte das Konzil zu der nachdrcklichen Bekrftigungverpflichtet, da es auer der Erkenntnis der menschlichen Vernunft, die auf Grundihrer Natur den Schpfer zu erreichen vermag, eine Erkenntnis gibt, die demGlauben eigentmlich ist. Diese Erkenntnis ist Ausdruck einer Wahrheit, die sich aufdie Tatsache des sich offenbarenden Gottes selbst grndet und Wahrheitsgewiheitist, weil Gott weder tuscht noch tuschen will.6

    9. Das I. Vatikanische Konzil lehrt also, da die durch philosophisches Nachdenkenerlangte Wahrheit und die Wahrheit der Offenbarung weder sich miteinandervermischen noch einander berflssig machen. Es gibt zwei Erkenntnisordnungen,die nicht nur im Prinzip, sondern auch im Gegenstand verschieden sind: im Prinzip,weil wir in der einen [Ordnung] mit der natrlichen Vernunft, in der anderen mitdem gttlichen Glauben erkennen; im Gegenstand aber, weil uns auer derWahrheit, zu der die natrliche Vernunft gelangen kann, in Gott verborgeneGeheimnisse zu glauben vorgelegt werden, die, wenn sie nicht von Gott geoffenbartwren, nicht bekannt werden knnten.7 Der Glaube, der sich auf das ZeugnisGottes grndet und der bernatrlichen Hilfe der Gnade bedient, ist in der Tat von

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    9/85

    9

    einer anderen Ordnung als die philosophische Erkenntnis. Denn diese sttzt sich aufdie Sinneswahrnehmung, auf die Erfahrung und bewegt sich allein im Licht desVerstandes. Die Philosophie und die Wissenschaften schweifen im Bereich dernatrlichen Vernunft umher, whrend der vom Geist erleuchtete und geleitete

    Glaube in der Heilsbotschaft die Flle von Gnade und Wahrheit (vgl. Joh 1, 14)erkennt, die Gott in der Geschichte endgltig durch seinen Sohn Jesus Christusoffenbart hat (vgl. 1 Joh 5, 9; Joh 5, 31-32).

    10. Die Konzilsvter des II. Vatikanums haben den Blick fest auf den offenbarendenJesus gerichtet und dabei den Heilscharakter der Offenbarung Gottes in derGeschichte dargelegt. Das Wesen der Offenbarung haben sie so formuliert: In dieserOffenbarung redet der unsichtbare Gott (vgl. Kol 1, 15; 1 Tim 1, 17) ausberstrmender Liebe die Menschen an wie Freunde (vgl. Ex 33, 11; Joh 15, 14-15)

    und verkehrt mit ihnen (vgl. Bar 3, 38), um sie in seine Gemeinschaft einzuladen undaufzunehmen. Das Offenbarungsgeschehen ereignet sich in Tat und Wort, dieinnerlich miteinander verknpft sind: die Werke nmlich, die Gott im Verlauf derHeilsgeschichte wirkt, offenbaren und bekrftigen die Lehre und die durch dieWorte bezeichneten Wirklichkeiten; die Worte verkndigen die Werke und lassendas Geheimnis, das sie enthalten, ans Licht treten. Die Tiefe der durch dieseOffenbarung ber Gott und ber das Heil des Menschen erschlossenen Wahrheitleuchtet uns auf in Christus, der zugleich der Mittler und die Flle der ganzenOffenbarung ist.8

    11. So ist die Offenbarung Gottes eingebettet in Zeit und Geschichte. Ja, dieMenschwerdung Jesu Christi geschieht in der Flle der Zeit (Gal 4, 4).Zweitausend Jahre nach jenem Ereignis sehe ich es als meine Pflicht an,nachdrcklich hervorzuheben, da im Christentum der Zeit eine fundamentaleBedeutung zukommt.9 Denn in ihr kommt das ganze Werk der Schpfung und derErlsung an den Tag; vor allem wird sichtbar, da wir durch die Menschwerdungdes Gottessohnes schon jetzt die zuknftige Vollendung der Zeit erleben undvorwegnehmen (vgl. Hebr 1, 2).

    Die Wahrheit, die Gott dem Menschen ber sich und ber sein Leben bergeben hat,ist daher eingebettet in Zeit und Geschichte. Sie ist natrlich ein fr allemal imGeheimnis des Jesus von Nazaret verkndet worden. Das sagt mit ausdrucksvollenWorten die Konstitution Dei Verbum: Nachdem Gott viele Male und auf vieleWeisen durch die Propheten gesprochen hatte, hat er zuletzt in diesen Tagen zu unsgesprochen im Sohn (Hebr 1, 1-2). Er hat seinen Sohn, das ewige Wort, das Lichtaller Menschen, gesandt, damit er unter den Menschen wohne und ihnen vom InnernGottes Kunde bringe (vgl. Joh 1, 1-18). Jesus Christus, das fleischgewordene Wort, als

    Mensch zu den Menschen gesandt, redet die Worte Gottes (Joh 3, 34) undvollendet das Heilswerk, dessen Durchfhrung der Vater ihm aufgetragen hat (vgl.

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    10/85

    10

    Joh 5, 36; 17, 4). Wer ihn sieht, sieht auch den Vater (vgl. Joh 14, 9). Er ist es, derdurch sein ganzes Dasein und seine ganze Erscheinung, durch Worte und Werke,durch Zeichen und Wunder, vor allem aber durch seinen Tod und seine herrlicheAuferstehung von den Toten, schlielich durch die Sendung des Geistes der

    Wahrheit die Offenbarung erfllt und abschliet.10

    Die Geschichte stellt also fr das Volk Gottes einen Weg dar, der ganz durchlaufenwerden mu, so da die geoffenbarte Wahrheit dank des unablssigen Wirkens desHeiligen Geistes ihre Inhalte voll zum Ausdruck bringen kann (vgl. Joh 16, 13). Daslehrt wiederum die Konstitution Dei Verbum, wenn sie feststellt: Die Kirche strebtim Gang der Jahrhunderte stndig der Flle der gttlichen Wahrheit entgegen, bissich an ihr Gottes Worte erfllen.11

    12. Die Geschichte wird daher zu dem Ort, an dem wir Gottes Handeln fr dieMenschheit feststellen knnen. Er erreicht uns in dem, was fr uns am vertrautestenund leicht zu berprfen ist, weil es sich um unsere tgliche Umgebung handelt,ohne die wir uns nicht zu begreifen vermchten.

    Die Menschwerdung Gottes erlaubt es, die ewige und endgltige Synthese vollzogenzu sehen, die sich der menschliche Geist von sich aus nicht einmal htte vorstellenknnen: das Ewige geht ein in die Zeit, das Ganze verbirgt sich im Bruchstck, Gottnimmt die Gestalt des Menschen an. Die in der Offenbarung Christi zum Ausdruckgekommene Wahrheit ist somit nicht mehr in einen engen territorialen und

    kulturellen Bereich eingeschlossen, sondern ffnet sich jedem Mann und jeder Frau,der die sie als ein fr allemal gltiges Wort annehmen will, um dem Dasein Sinn zugeben. Nun haben alle Menschen in Christus Zugang zum Vater; durch seinen Todund seine Auferstehung hat er das gttliche Leben geschenkt, das der erste Adamausgeschlagen hatte (vgl. Rm 5, 12-15). Mit dieser Offenbarung wird dem Menschendie letzte Wahrheit ber sein Leben und ber das Schicksal der Geschichteangeboten: Tatschlich klrt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortesdas Geheimnis des Menschen wahrhaft auf, stellt die Konstitution Gaudium et

    spes12 fest. Auerhalb dieser Sicht bleibt das Geheimnis der menschlichen Personein unlsbares Rtsel. Wo sonst als in dem Licht, das vom Geheimnis der Passion,des Todes und der Auferstehung Christi ausstrahlt, knnte der Mensch die Antwortauf so dramatische Fragen suchen wie die des Schmerzes, des Leidens Unschuldigerund des Todes?

    Die Vernunft vor dem Geheimnis [13-15]

    13. Es soll freilich nicht vergessen werden, da die Offenbarung bis heute etwasGeheimnisvolles bleibt. Gewi enthllt Jesus durch sein Leben das Antlitz desVaters, denn er ist ja gekommen, damit er vom Innern Gottes Kunde bringe;13doch die Erkenntnis, die wir von diesem Antlitz haben, ist stets von der

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    11/85

    11

    Bruchstckhaftigkeit und Begrenztheit unseres Begreifens gezeichnet. Einzig undallein der Glaube gestattet es, in das Innere des Geheimnisses einzutreten, dessenVerstndnis er in angemessener Weise begnstigt.

    Das Konzil lehrt, da dem offenbarenden Gott der Gehorsam des Glaubens zuleisten ist.14 Mit dieser kurzen, aber wichtigen Aussage wird auf eine fundamentaleWahrheit des Christentums hingewiesen. Es heit darin vor allem, da der Glaubegehorsame Antwort an Gott ist. Das aber setzt voraus, da dieser in seiner Gottheit,Transzendenz und hchsten Freiheit anerkannt wird. Der Gott, der sich zu erkennengibt, bringt in der Autoritt seiner absoluten Transzendenz die Glaubwrdigkeit dervon ihm geoffenbarten Inhalte mit. Durch den Glauben gibt der Mensch seineZustimmung zu diesem gttlichen Zeugnis. Das heit, er anerkennt voll und ganzdie Wahrheit dessen, was geoffenbart wurde, weil Gott selbst sich zu ihrem Garanten

    macht. Diese dem Menschen geschenkte und von ihm nicht einforderbare Wahrheitfgt sich in den Horizont der interpersonalen Kommunikation ein. Sie drngt dieVernunft, sich der Wahrheit zu ffnen und ihren tiefen Sinn anzunehmen. Darum istder Akt, mit dem man sich Gott anvertraut, von der Kirche stets als eingrundlegender Entscheidungsvorgang angesehen worden, in den die ganze Personeingebunden ist. Verstand und Wille setzen bis zum uersten ihre geistige Naturein, um dem Subjekt den Vollzug eines Aktes zu erlauben, in dem die persnlicheFreiheit im Vollsinn gelebt wird.15 Im Glauben ist also die Freiheit nicht einfach nurda; sie ist gefordert. Ja, der Glaube ermglicht es einem jeden, seine Freiheit

    bestmglich zum Ausdruck zu bringen. Mit anderen Worten, die Freiheitverwirklicht sich nicht in Entscheidungen gegen Gott. In der Tat, wie knnte dieWeigerung, sich dem zu ffnen, was die Selbstverwirklichung ermglicht, als einglaubwrdiger Gebrauch der Freiheit angesehen werden? Im Glauben vollzieht derMensch den bedeutsamsten Akt seines Daseins; denn die Freiheit gelangt zurGewiheit der Wahrheit und entschliet sich, in ihr zu leben.

    Der Vernunft, die das Geheimnis zu verstehen sucht, kommen auch die in derOffenbarung vorhandenen Zeichen zur Hilfe. Sie dienen dazu, die Wahrheitssuche

    grndlicher vorzunehmen und dem Verstand selbstndige Erkundungen auchinnerhalb des Geheimnisses zu ermglichen. Diese Zeichen geben zwar einerseits derVernunft greres Gewicht, weil sie ihr erlauben, mit den ihr eigenen Mitteln, auf diesie zu Recht stolz ist, das Geheimnis von innen her zu ergrnden; andererseits sinddie Zeichen fr die Vernunft Ansporn, ber ihre zeichenhafte Wirklichkeithinauszugehen, um deren jenseitige Bedeutung, die sie tragen, zu erfassen. In ihnenist also eine verborgene Wahrheit bereits gegenwrtig, auf die der Verstandverwiesen wird und von der er nicht absehen kann, ohne das ihm angeboteneZeichen selbst zu zerstren.

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    12/85

    12

    Man wird gewissermaen auf den sakramentalen Horizont der Offenbarung undinsbesondere auf das Zeichen der Eucharistie verwiesen, wo es die unauflslicheEinheit zwischen der Wirklichkeit und ihrer Bedeutung erlaubt, die Tiefe desGeheimnisses zu erfassen. Christus ist in der Eucharistie wahrhaftig gegenwrtig

    und lebendig, er wirkt und handelt durch seinen Geist, doch wie der hl. Thomasrichtig gesagt hatte: Du siehst nicht, du begreifst nicht, aber der Glaube bestrktdich jenseits der Natur. Was da erscheint, ist ein Zeichen: es verbirgt im Geheimniserhabene Wirklichkeiten.16 Ihm pflichtet der Philosoph Pascal bei: Wie JesusChristus unter den Menschen unerkannt geblieben ist, so unterscheidet sich seineWahrheit uerlich nicht von den allgemeinen Meinungen. Und so ist die Eucharistiegewhnliches Brot.17

    Die Glaubenserkenntnis hebt also das Geheimnis nicht auf; sie macht es nur

    einsichtiger und offenbart es als fr das Leben des Menschen wesentliche Tatsache:Christus der Herr ... macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vatersund seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschliet ihmseine hchste Berufung,18 nmlich teilzuhaben am Geheimnis des dreifaltigenLebens Gottes.19

    14. Die Lehre der beiden Vatikanischen Konzilien erffnet auch fr dasphilosophische Wissen einen Horizont echter Neuerung. Die Offenbarung fhrt indie Geschichte einen Bezugspunkt ein, von dem der Mensch nicht absehen kann,

    wenn er dahin gelangen will, das Geheimnis seines Daseins zu verstehen;andererseits verweist diese Erkenntnis stndig auf das Geheimnis Gottes, das derVerstand nicht auszuschpfen vermag, sondern nur im Glauben empfangen undannehmen kann. Innerhalb dieser beiden Momente hat die Vernunft ihrenbesonderen Platz, der ihr das Erkunden und Begreifen erlaubt, ohne von etwasanderem eingeschrnkt zu werden als von ihrer Endlichkeit angesichts desunendlichen Geheimnisses Gottes.

    Die Offenbarung fhrt also in unsere Geschichte eine universale und letzte Wahrheit

    ein, die den Verstand des Menschen dazu herausfordert, niemals stehenzubleiben; ja,sie spornt ihn an, den Raum seines Wissens stndig zu erweitern, bis er gewahr wird,ohne jegliche Unterlassung alles in seiner Macht Stehende getan zu haben. Bei dieserberlegung kommt uns eine der geistreichsten und bedeutendsten schpferischenPersnlichkeiten der Menschheitsgeschichte zu Hilfe, auf die sich sowohl diePhilosophie als auch die Theologie beziehen: der hl. Anselm. In seinem Proslogionschreibt der Bischof von Canterbury: Whrend ich hufig und voll Eifer meineGedanken auf dieses Problem richtete, schien es mir zuweilen, als knnte ich das,wonach ich suchte, schon ergreifen; ein anderes Mal hingegen entglitt es vollstndig

    meinem Denken; bis ich schlielich die Hoffnung, es je finden zu knnen, verlor unddie Suche nach etwas, das sich unmglich finden lie, aufgeben wollte. Als ich aber

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    13/85

    13

    jene Gedanken aus mir vertreiben wollte, damit sie nicht meinen Geist beschftigtenund mich von anderen Problemen abhalten wrden, aus denen ich irgendeinenGewinn ziehen konnte, da stellten sie sich mit immer grerer Aufdringlichkeit ein[...]. Was aber habe ich Armseliger, einer von Evas Shnen, fern von Gott, was habe

    ich zu unternehmen begonnen und was ist mir gelungen? Wonach ging meineNeigung und wohin bin ich gelangt? Wonach strebte ich und wonach sehne ich michnoch immer? [...] O Herr, du bist nicht nur das Grte, das man sich denken kann(non solum es quo maius cogitari nequit), sondern du bist grer als alles, was mansich denken kann (quiddam maius quam cogitari possit) [...]. Wenn du nicht sobeschaffen wrest, knnte man sich etwas Greres als dich vorstellen, aber das istunmglich.20

    15. Die Wahrheit der christlichen Offenbarung, der wir in Jesus von Nazaret

    begegnen, ermglicht jedem, das Geheimnis des eigenen Lebens anzunehmen, sieachtet zutiefst die Autonomie des Geschpfes und seine Freiheit, verpflichtet es aberim Namen der Wahrheit, sich der Transzendenz zu ffnen. Hier erreicht dasVerhltnis von Freiheit und Wahrheit seinen Hhepunkt, und man versteht voll undganz das Wort des Herrn: Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen, und dieWahrheit wird euch befreien (Joh 8, 32).

    Die christliche Offenbarung ist der wahre Leitstern fr den Menschen zwischen denBedingtheiten der immanentistischen Denkweise und den Verengungen einer

    technokratischen Logik; sie ist die uerste von Gott angebotene Mglichkeit, umden ursprnglichen Plan der Liebe, der mit der Schpfung begonnen hat, vollstndigwiederzufinden. Dem Menschen, der sich nach Erkenntnis des Wahren sehnt, wird,sofern er noch imstande ist, den Blick ber sich selbst und die eigenen Plne hinauszu erheben, die Mglichkeit gegeben, das natrliche Verhltnis zu seinem Lebendadurch wiederzugewinnen, da er den Weg der Wahrheit geht. Die Worte aus demBuch Deuteronomium lassen sich gut auf diese Situation anwenden: Dieses Gebot,auf das ich dich heute verpflichte, geht nicht ber deine Kraft und ist nicht fern vondir. Es ist nicht im Himmel, so da du sagen mtest: Wer steigt fr uns in den

    Himmel hinauf, holt es herunter und verkndet es uns, damit wir es halten knnen?Es ist auch nicht jenseits des Meeres, so da du sagen mtest: Wer fhrt fr unsber das Meer, holt es herber und verkndet es uns, damit wir es halten knnen?Nein, das Wort ist ganz nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen,du kannst es halten (30, 11-14). Diesem Text stimmt der heilige Augustinus,Philosoph und Theologe, mit dem berhmten Gedanken zu: Noli foras ire, in teipsum redi. In interiore homine habitat veritas [Geh nicht nach drauen, kehre zudir selbst zurck. Im Inneren des Menschen wohnt die Wahrheit].21

    Im Lichte dieser berlegungen drngt sich eine erste Schlufolgerung auf: DieWahrheit, welche die Offenbarung uns erkennen lt, ist nicht die reife Frucht oder

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    14/85

    14

    der Hhepunkt eines von der Vernunft aufbereiteten Denkens. Sie erscheinthingegen mit dem Wesensmerkmal der Ungeschuldetheit, bringt Denken hervor undfordert, als Ausdruck der Liebe angenommen zu werden. Diese geoffenbarteWahrheit ist in unsere Geschichte gelegte Vorwegnahme jener letzten und

    endgltigen Anschauung Gottes, die denen vorbehalten ist, die an ihn glauben oderihn mit aufrichtigem Herzen suchen. Das letzte Ziel des menschlichen Daseins alsPerson ist also Forschungsobjekt sowohl der Philosophie als auch der Theologie.Beide fhren uns, wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln und Inhalten, diesenPfad zum Leben (Ps 16, 11) vor Augen, der schlielich, wie uns der Glaube sagt, indie volle und ewig whrende Freude der Anschauung des dreieinigen Gotteseinmndet.

    KAPITEL II - CREDO UT INTELLEGAMDie Weisheit wei und versteht alles (vgl. Weish 9, 11) [16-20]

    16. Wie tief der Zusammenhang zwischen Glaubens- und Vernunfterkenntnis ist,wird bereits in der Heiligen Schrift mit erstaunlich deutlichen Hinweisen aufgezeigt.Das bezeugen besonders die Weisheitsbcher. Was bei der unvoreingenommenenLektre dieser Seiten der Heiligen Schrift beeindruckt, ist die Tatsache, da in diesenTexten nicht nur Israels Glaube enthalten ist, sondern auch der Reichtum bereitsuntergegangener Zivilisationen und Kulturen. Wie nach einem besonderen Planlassen gypten und Mesopotamien wieder ihre Stimme hren, und manchegemeinsamen Zge der altorientalischen Kulturen werden auf diesen Seiten, die soreich sind an inneren Einsichten einzigartiger Tiefe, wieder ins Leben zurckgeholt.

    Es ist kein Zufall, da der heilige Verfasser den weisen Menschen, den er beschreibenmchte, als denjenigen darstellt, der die Wahrheit liebt und nach ihr sucht: Wohldem Menschen, der nachsinnt ber die Weisheit, der sich bemht um Einsicht, derseinen Sinn richtet auf ihre Wege und auf ihre Pfade achtet, der ihr nachgeht wie einSpher und an ihren Eingngen lauert, der durch ihre Fenster schaut und an ihrenTren horcht, der sich bei ihrem Haus niederlt und seine Zeltstricke an ihrerMauer befestigt, der neben ihr sein Zelt aufstellt und so eine gute Wohnung hat, dersein Nest in ihr Laub baut und in ihren Zweigen die Nacht verbringt, der sich inihrem Schatten vor der Hitze verbirgt und im Schutz ihres Hauses wohnt (Sir 14, 20-27).

    Wie man sieht, ist fr den inspirierten Verfasser der sehnliche Wunsch nachErkenntnis ein Wesensmerkmal, das alle Menschen vereint. Dank desDenkvermgens ist allen, Glaubenden wie Nichtglaubenden, die Mglichkeitgegeben, zu schpfen im tiefen Wasser der Erkenntnis (vgl. Spr 20, 5). Im altenIsrael erfolgte das Erkennen der Welt und ihrer Erscheinungen sicher nicht durch

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    15/85

    15

    Abstraktion, wie das fr den jonischen Philosophen oder den gyptischen Weisenzutrifft. Noch weniger empfing der gute Israelit die Erkenntnis mit Hilfe derKriterien, wie sie der zunehmend nach Wissensspaltung tendierenden modernenZeit eigen sind. Trotzdem hat die Welt der Bibel in das groe Meer der

    Erkenntnislehre ihren originellen Beitrag einflieen lassen.

    Wie sieht dieser Beitrag aus? Die Besonderheit, die den Bibeltext auszeichnet, bestehtin der berzeugung, da zwischen der Vernunft- und der Glaubenserkenntnis einetiefe, untrennbare Einheit besteht. Die Welt und was in ihr vorgeht ebenso wie dieGeschichte und die wechselvollen Ereignisse des Volkes sind Wirklichkeiten, die mitden Mitteln der Vernunft betrachtet, analysiert und beurteilt werden, ohne da aberder Glaube an diesem Proze unbeteiligt bliebe. Er greift nicht ein, um dieAutonomie der Vernunft zu beschneiden oder ihren Handlungsraum

    einzuschrnken, sondern nur dazu, um dem Menschen begreiflich zu machen, dader Gott Israels in diesen Geschehnissen sichtbar wird und handelt. Die Welt und diegeschichtlichen Begebenheiten grndlich zu kennen, ist also unmglich, ohne sichgleichzeitig zum Glauben an den in ihnen wirkenden Gott zu bekennen. Der Glaubeschrft den inneren Blick, indem er den Verstand dafr offen macht, im Strom derEreignisse die ttige Gegenwart der Vorsehung zu entdecken. Ein Satz aus dem Buchder Sprichwrter ist in diesem Zusammenhang bezeichnend: Des Menschen Herzplant seinen Weg, doch der Herr lenkt seinen Schritt (Spr 16, 9). Man knnte sagen,der Mensch vermag mit dem Licht der Vernunft seinen Weg zu erkennen, kann ihn

    aber nur dann rasch und ohne Hindernisse zu Ende gehen, wenn er mit redlichemHerzen sein Forschen in den Horizont des Glaubens einfgt. Vernunft und Glaubelassen sich daher nicht voneinander trennen, ohne da es fr den Menschenunmglich wird, sich selbst, die Welt und Gott in entsprechender Weise zu erkennen.

    17. Es gibt also keinen Grund fr das Bestehen irgendeines Konkurrenzkampfeszwischen Vernunft und Glaube: sie wohnen einander inne, und beide haben ihren jeeigenen Raum zu ihrer Verwirklichung. Wieder ist es das Buch der Sprichwrter, dasuns mit dem Ausruf in diese Richtung weist: Gottes Ehre ist es, eine Sache zu

    verhllen, des Knigs Ehre ist es, eine Sache zu erforschen (Spr 25, 2). Gott und derMensch sind in ihrer jeweiligen Welt in eine einzigartige Wechselbeziehung gestellt.In Gott hat alles seinen Ursprung, in ihm sammelt sich die Flle des Geheimnisses,und das macht seine Ehre aus; dem Menschen fllt die Aufgabe zu, mit seinerVernunft nach der Wahrheit zu forschen, und darin besteht sein Adel. Ein weitererStein zu diesem Mosaik wird vom Psalmisten hinzugefgt, wenn er betet: Wieschwierig sind fr mich, o Gott, deine Gedanken, wie gewaltig ist ihre Zahl! Wollteich sie zhlen, es wren mehr als der Sand. Kme ich bis zum Ende, wre ich nochimmer bei dir (Ps 139, 17-18). Das Streben nach Erkenntnis ist so gro und miteinem derartigen Dynamismus verbunden, da sich das Herz des Menschen trotzder Erfahrung der unberschreitbaren Grenze nach dem unendlichen Reichtum

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    16/85

    16

    sehnt, der sich jenseits befindet, weil es ahnt, da dort die befriedigende Antwort aufjede noch ungelste Frage gehtet wird.

    18. Wir knnen daher sagen, Israel hat es vermocht, mit seinem Nachdenken derVernunft den Weg zum Geheimnis zu erffnen. In der Offenbarung Gottes konnte esalles grndlich erkunden, was es mit der Vernunft vergeblich zu erreichen versuchte.Von dieser tiefsten Erkenntnisform ausgehend hat das auserwhlte Volk verstanden,da die Vernunft einige Grundregeln beachten mu, um der ihr eigenen Naturbestmglich Ausdruck geben zu knnen. Die erste Regel besteht in derBercksichtigung der Tatsache, da das Erkennen des Menschen ein Weg ist, derkeinen Stillstand kennt; die zweite entsteht aus dem Bewutsein, da man sich aufdiesen Weg nicht mit dem Hochmut dessen begeben darf, der meint, alles sei Fruchtpersnlicher Errungenschaft; eine dritte Regel grndet auf der Gottesfurcht: die

    Vernunft mu Gottes souverne Transzendenz und zugleich seine sorgende Liebebei der Lenkung der Welt anerkennen.

    Wenn der Mensch von diesen Regeln abweicht, setzt er sich der Gefahr desScheiterns aus und befindet sich schlielich in der Verfassung des Toren. Fr dieBibel beinhaltet diese Torheit eine Bedrohung des Lebens. Denn der Tor bildet sichein, viele Dinge zu wissen, ist aber in Wirklichkeit nicht imstande, den Blick auf diewesentlichen Dinge zu heften. Das hindert ihn daran, Ordnung in seinen Verstandzu bringen (vgl. Spr 1, 7) und gegenber sich selbst und seiner Umgebung eine

    entsprechende Haltung einzunehmen. Wenn er dann so weit geht zu behaupten: Esgibt keinen Gott (Ps 14, 1), enthllt er mit endgltiger Klarheit, wie unzureichendsein Wissen ist und wie weit er von der vollen Wahrheit ber die Dinge, ihrenUrsprung und ihre Bestimmung entfernt ist.

    19. Einige wichtige Texte, die weiteres Licht auf dieses Thema werfen, sind im 13.Kapitel des Buches der Weisheit enthalten. Darin spricht der Verfasser von Gott, dersich auch durch die Natur erkennen lt. In der Antike fiel das Studium derNaturwissenschaften groenteils mit dem philosophischen Wissen zusammen.

    Nachdem der heilige Text ausgefhrt hat, da der Mensch mit seinem Verstand inder Lage ist, den Aufbau der Welt und das Wirken der Elemente, ... den Kreislaufder Jahre und die Stellung der Sterne, die Natur der Tiere und die Wildheit derRaubtiere zu verstehen (Weish 7, 17. 19-20), mit einem Wort, da er fhig ist zuphilosophieren, vollzieht er einen sehr bemerkenswerten Schritt nach vorn. Whrendder Verfasser das Denken der griechischen Philosophie aufgreift, auf das er sich indiesem Zusammenhang offensichtlich bezieht, erklrt er, da man eben durchvernnftiges Nachdenken ber die Natur wieder auf den Schpfer zurckkommenknne: Denn von der Gre und Schnheit der Geschpfe lt sich auf ihren

    Schpfer schlieen (Weish 13, 5). Es wird also eine erste Stufe der gttlichenOffenbarung anerkannt, die aus dem wunderbaren Buch der Natur besteht; liest

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    17/85

    17

    der Mensch dieses Buch mit den seiner Vernunft eigenen Mitteln, kann er zurErkenntnis des Schpfers gelangen. Wenn der Mensch mit seinem Verstand Gott,den Schpfer von allem, nicht zu erkennen vermag, dann liegt das nicht so sehr amFehlen eines geeigneten Mittels als vielmehr an dem Hindernis, das ihm von seinem

    freien Willen und seiner Snde in den Weg gelegt wurde.

    20. Die Vernunft wird in dieser Sicht gewrdigt, aber nicht berbewertet. Denn alles,was sie erreicht, kann zwar wahr sein, erlangt aber volle Bedeutung erst, wenn seinInhalt in den weiteren Horizont des Glaubens gestellt wird: Der Herr lenkt dieSchritte eines jeden. Wie knnte der Mensch seinen Weg verstehen? (Spr 20, 24).Nach dem Alten Testament befreit also der Glaube die Vernunft, da er ihrermglicht, ihren Erkenntnisgegenstand konsequent zu erreichen und ihn in jenehchste Ordnung zu stellen, in der alles seine Sinnhaftigkeit erlangt. Mit einem Wort,

    der Mensch gelangt durch die Vernunft zur Wahrheit, weil er zugleich mit demGlauben den tiefen Sinn von allem und insbesondere den Sinn seines eigenenDaseins entdeckt. Mit Recht setzt daher der Verfasser als den Anfang der wahrenErkenntnis die Gottesfurcht voraus: Gottesfurcht ist Anfang der Erkenntnis (Spr 1,7; vgl. Sir 1, 14).

    Erwirb dir Weisheit, erwirb dir Einsicht (Spr 4, 5) [21-23]

    21. Die Erkenntnis beruht nach dem Alten Testament nicht nur auf einer sorgfltigen

    Beobachtung des Menschen, der Welt und der Geschichte, sondern setzt auch eineunerlliche Beziehung zum Glauben und zu den Inhalten der Offenbarung voraus.Hier liegen auch die Herausforderungen, denen sich das auserwhlte Volk stellenmute und auf die es geantwortet hat. Beim Nachdenken ber diese seine Lage hatder biblische Mensch entdeckt, da er sich nur begreifen kann, insofern er inBeziehung steht: in Beziehung zu sich selbst, zum Volk, zur Welt und zu Gott. Dieseffnung fr das Geheimnis, die ihm von der Offenbarung zukam, war schlielich frihn die Quelle einer wahren Erkenntnis, die seiner Vernunft das Eintauchen in dieRume des Unendlichen erlaubte, wodurch er bis dahin unverhoffte

    Verstndnismglichkeiten erhielt.

    Die Anstrengung des Forschens war fr den Verfasser nicht frei von derMhseligkeit, die von der Auseinandersetzung mit den Grenzen der Vernunftherrhrt. Das lt sich zum Beispiel den Worten entnehmen, mit denen das Buch derSprichwrter den Zustand der Erschpfung offenlegt, der sich bei dem Versuch, diegeheimnisvollen Plne Gottes zu begreifen, einstellte (vgl. Spr 30, 1-6). DerGlaubende gibt sich jedoch trotz der Beschwerlichkeit nicht geschlagen. Die Kraft,um seinen Weg zur Wahrheit fortzusetzen, erhlt er aus der Gewiheit, da Gott ihn

    als Forscher erschaffen hat (vgl. Koh 1, 13), der den Auftrag hat, trotz derstndigen Erpressung durch den Zweifel nichts unversucht zu lassen. Dadurch, da

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    18/85

    18

    er sich auf Gott sttzt, bleibt er immer und berall auf das Schne, Gute und Wahreausgerichtet.

    22. Der hl. Paulus hilft uns im ersten Kapitel seines Briefes an die Rmer, dieberlegung der Weisheitsbcher in ihrer Eindringlichkeit besser zu wrdigen. Mitseiner Darlegung einer philosophischen Argumentation in der Sprache des Volkesbringt der Apostel eine tiefe Wahrheit zum Ausdruck: Durch die Schpfung knnendie Augen des Verstandes zur Erkenntnis Gottes gelangen. Denn durch dieGeschpfe lt er die Vernunft seine Macht und seine Gottheit erahnen (vgl.Rm 1, 20). Der Vernunft des Menschen wird also eine Fhigkeit zuerkannt, diegleichsam ihre natrlichen Grenzen zu bersteigen scheint: nicht nur da sie vondem Augenblick an, wo sie kritisch darber nachdenken kann, nicht mehr in diesinnliche Erkenntnis verbannt ist, sondern auch durch das Argumentieren ber die

    Sinneswahrnehmungen kann sie zu dem Grund vordringen, der am Anfang jedersinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit steht. In philosophischer Fachsprache knntenwir sagen, da in dem wichtigen Text die metaphysische Fhigkeit des Menschenbejaht wird.

    Nach berzeugung des Apostels war im ursprnglichen Schpfungsplan dieFhigkeit der Vernunft vorgesehen, die Sinnenwelt mit Leichtigkeit zu bersteigen,um zum eigentlichen Ursprung von allem zu gelangen: dem Schpfer. Infolge desUngehorsams, durch den sich der Mensch die volle und absolute Unabhngigkeit

    gegenber seinem Schpfer erwirken wollte, ist diese Leichtigkeit des Aufstiegs zumSchpfergott verloren gegangen.

    Das Buch Genesis beschreibt auf anschauliche Weise diesen Zustand des Menschen,wenn es davon erzhlt, da Gott ihn in den Garten Eden setzte, in dessen Mitte derBaum der Erkenntnis von Gut und Bse stand (Gen 2, 17). Das Symbol ist klar: DerMensch war nicht in der Lage, von sich aus zu unterscheiden und zu entscheiden,was gut und was bse war, sondern mute sich auf ein hheres Prinzip berufen.Verblendung durch berheblichkeit verfhrte unsere Stammeltern zu der

    trgerischen Tuschung, sie wren souvern und unabhngig und knnten auf dievon Gott stammende Erkenntnis verzichten. In ihren Ur-Ungehorsam zogen sie jedenMann und jede Frau hinein und fgten der Vernunft Wunden zu, die von da an denWeg zur vollen Wahrheit behindern sollten. Das menschliche Vermgen, dieWahrheit zu erkennen, wurde nunmehr von der Auflehnung gegen denjenigenbeeintrchtigt, der Quelle und Ursprung der Wahrheit ist. Wieder ist es der Apostelder darlegt, wie auf Grund der Snde die Gedanken der Menschen nichtiggeworden sind und sich ihre berlegungen als entstellt und falsch orientierterwiesen haben (vgl. Rm 1, 21-22). Die Augen des Verstandes waren nun nicht mehr

    in der Lage, klar zu sehen: die Vernunft wurde zunehmend zur Gefangenen ihrerselbst. Das Kommen Christi war das Heilsereignis, das die Vernunft aus ihrer

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    19/85

    19

    Schwachheit erlste und sie von den Fesseln, in denen sie sich selbst gefangen hatte,befreite.

    23. Das Verhltnis des Christen zur Philosophie verlangt daher eine tiefgreifendeUnterscheidung. Im Neuen Testament, vor allem in den Briefen des hl. Paulus, tritteine Tatsache klar ans Licht: die Gegenberstellung zwischen der Weisheit dieserWelt und der in Jesus Christus geoffenbarten Weisheit Gottes. Die Tiefgrndigkeitder geoffenbarten Weisheit sprengt den Zirkel unserer blichen Denkschemata, diekeinesfalls in der Lage sind, sie adquat wiederzugeben.

    Der Anfang des ersten Briefes an die Korinther wirft dieses Dilemma in radikalerWeise auf. Der gekreuzigte Sohn Gottes ist das geschichtliche Ereignis, an dem jederVersuch des Verstandes scheitert, auf rein menschlichen Argumenten einenausreichenden Beleg fr den Sinn des Daseins aufzubauen. Der wahre Knotenpunkt,der die Philosophie herausfordert, ist der Tod Jesu Christi am Kreuz. Denn hier ist

    jeder Versuch, den Heilsplan des Vaters auf reine menschliche Logikzurckzufhren, zum Scheitern verurteilt. Wo ist ein Weiser? Wo einSchriftgelehrter? Wo ein Wortfhrer in dieser Welt? Hat Gott nicht die Weisheit derWelt als Torheit entlarvt? (1 Kor 1, 20), fragt sich der Apostel emphatisch. Fr das,was Gott verwirklichen will, gengt nicht blo die Weisheit des weisen Menschen,vielmehr ist ein entschlossener bergang zur Annahme von etwas vllig Neuemgefordert: Das Trichte in der Welt hat Gott erwhlt, um die Weisen zuschanden zu

    machen [...]. Und das Niedrige in der Welt und das Verachtete hat Gott erwhlt: das,was nichts ist, um das, was etwas ist, zu vernichten (1 Kor 1, 27-28). Die Weisheitdes Menschen lehnt es ab, in ihrer Schwachheit die Voraussetzung fr ihre Strke zusehen; aber der hl. Paulus zgert nicht zu bekrftigen: Wenn ich schwach bin, dannbin ich stark (2 Kor 12, 10). Der Mensch vermag nicht zu begreifen, wie der TodQuelle von Leben und Liebe sein knne, aber Gott hat gerade das fr die Enthllungdes Geheimnisses seines Heilsplanes erwhlt, was die Vernunft als Torheit undrgernis ansieht. Mit Hilfe der Sprache der Philosophen seiner Zeit erreicht Paulusden Hhepunkt seiner Lehre und des Paradoxons, das er ausdrcken will: Gott hat

    in der Welt das, was nichts ist, erwhlt, um das, was etwas ist, zu vernichten (1 Kor1, 28). Der Apostel scheut sich nicht, von der radikalsten Sprache, welche diePhilosophen in ihren Erwgungen ber Gott verwendeten, Gebrauch zu machen, umdas Wesen der ungeschuldeten Liebe zum Ausdruck zu bringen, die sich im Kreuz

    Jesu Christi geoffenbart hat. Die Vernunft kann das Geheimnis, das das Kreuzdarstellt, nicht der Liebe entleeren; statt dessen kann das Kreuz der Vernunft dieletzte Antwort geben, nach der sie sucht. Nicht die Weisheit der Worte, sondern dasWort von der Weisheit ist es, das der hl. Paulus als Kriterium der Wahrheit unddamit des Heils festsetzt.

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    20/85

    20

    Die Weisheit des Kreuzes berwindet daher jede kulturelle Grenze, die man ihrauferlegen will, und verpflichtet dazu, sich der Universalitt der Wahrheit, derenTrgerin sie ist, zu ffnen. Was fr eine Herausforderung stellt sich da unsererVernunft und welchen Nutzen zieht sie daraus, wenn sie sich denn geschlagen gibt!

    Die Philosophie, die schon von sich aus imstande ist, die unablssigeSelbsttranszendierung des Menschen auf die Wahrheit hin zu erkennen, kann sichmit Hilfe des Glaubens ffnen, um in der Torheit des Kreuzes die echte Kritik andenen aufzugreifen, die sich der Tuschung hingeben, die Wahrheit zu besitzen,whrend sie sie in die Untiefen ihres Systems gefangenhalten. Das Verhltnis vonGlaube und Philosophie trifft in der Verkndigung vom gekreuzigten undauferstandenen Christus auf die Felsenklippe, an der es Schiffbruch erleiden kann.Doch jenseits dieser Klippe kann es in das unendliche Meer der Wahrheiteinmnden. Hier zeigt sich deutlich die Grenze zwischen Vernunft und Glaube, es

    wird aber auch der Raum klar erkennbar, in dem sich beide begegnen knnen.

    KAPITEL III - INTELLEGO UT CREDAM

    Auf dem Weg der Suche nach der Wahrheit [24-27]

    24. Der Evangelist Lukas erzhlt in der Apostelgeschichte, da Paulus auf seinenMissionsreisen nach Athen kam. Die Stadt der Philosophen war voll von Statuen, dieverschiedene Gtzen darstellten. Ein Altar erregte seine Aufmerksamkeit, und ernahm das sogleich zum Anla, darin eine gemeinsame Grundlage zu entdecken, aufder er mit der Verkndigung des Kerygmas beginnen konnte. Und so sprach er:Athener, nach allem, was ich sehe, seid ihr besonders fromme Menschen. Denn alsich umherging und mir eure Heiligtmer ansah, fand ich auch einen Altar mit derAufschrift: Einem unbekannten Gott. Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, dasverknde ich euch (Apg 17, 22-23). Von da ausgehend spricht der hl. Paulus vonGott als Schpfer, als dem, der alles bersteigt und alles zum Leben bringt. Dannsetzt er seine Rede so fort: Er hat aus einem einzigen Menschen das ganze

    Menschengeschlecht erschaffen, damit es die ganze Erde bewohne. Er hat fr siebestimmte Zeiten und die Grenzen ihrer Wohnsitze festgelegt. Sie sollten Gottsuchen, ob sie ihn ertasten und finden knnten; denn keinem von uns ist er fern(Apg 17, 26-27).

    Der Apostel legt eine Wahrheit vor, die sich die Kirche stets zunutze gemacht hat:Das Streben und die Sehnsucht nach Gott ist tief in das Menschenherz eingest.Daran erinnert auch ausdrcklich die Karfreitagsliturgie, wenn sie uns im Gebet fralle Nichtglaubenden sprechen lt: Allmchtiger, ewiger Gott, du hast eine so tiefe

    Sehnsucht nach dir ins Herz des Menschen gesenkt, da sie erst Frieden haben, wennsie dich finden.22 Es gibt also einen Weg, den der Mensch, wenn er will, gehen

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    21/85

    21

    kann; er beginnt mit der Fhigkeit der Vernunft, sich ber das Zufllige zu erheben,um auf das Unendliche zuzutreiben.

    Der Mensch hat auf verschiedene Weise und zu verschiedenen Zeiten bewiesen, daer imstande ist, dieser seiner tiefsten Sehnsucht Ausdruck zu verleihen. Literatur,Musik, Malerei, Bildhauerei, Architektur und jedes andere Erzeugnis seinesschpferischen Verstandes sind zu Kanlen geworden, durch die er seinsehnschtiges Suchen ausdrckt. In besonderer Weise hat die Philosophie diesenAntrieb in sich aufgenommen und mit ihren Mitteln sowie ihren wissenschaftlichenMglichkeiten gem diesem universalen Streben des Menschen Ausdruckverliehen.

    25. Alle Menschen streben nach Wissen;23 Gegenstand dieses Strebens ist dieWahrheit. Selbst das Alltagsleben zeigt, wie sehr ein jeder daran interessiert istherauszufinden, wie ber das blo gehrte Wort hinaus die Dinge in Wahrheit sind.Der Mensch ist das einzige Wesen in der ganzen sichtbaren Schpfung, das nicht nurzu wissen fhig ist, sondern auch um dieses Wissen wei; darum interessiert er sichfr die tatschliche Wahrheit dessen, was fr ihn sichtbar ist. Ehrlicherweise darfniemandem die Wahrheit seines Wissens gleichgltig sein. Wenn er entdeckt, da esfalsch ist, verwirft er es; wenn er es hingegen als wahr feststellen kann, ist erzufrieden. Das ist die Lehre des hl. Augustinus, wenn er schreibt: Ich habe manchengefunden, der andere tuschen wollte, aber keinen, der getuscht sein wollte.24 Mit

    Recht gilt ein Mensch dann als erwachsen, wenn er mit eigenen Mitteln zwischenwahr und falsch unterscheiden kann, indem er sich ber die objektive Wirklichkeitder Dinge sein Urteil bildet. Hier liegt der Grund zu vielen Forschungen, besondersauf dem Gebiet der Naturwissenschaften, die in den letzten Jahrhunderten sobedeutsame Ergebnisse erbracht und damit einen echten Fortschritt der gesamtenMenschheit gefrdert haben.

    Nicht weniger wichtig als die Forschung auf theoretischem Gebiet ist jene impraktischen Bereich. Denn durch sein sittliches Handeln schlgt die menschliche

    Person, wenn sie ihrem freien und rechten Willen gem handelt, den Weg derGlckseligkeit ein und strebt nach Vollkommenheit. Auch in diesem Fall geht es umdie Wahrheit. Diese berzeugung habe ich in der Enzyklika Veritatis splendorunterstrichen: Moral ohne Freiheit gibt es nicht... Wenn fr den Menschen das Rechtbesteht, auf seinem Weg der Wahrheitssuche respektiert zu werden, so besteht nochvorher die fr jeden schwerwiegende moralische Verpflichtung, die Wahrheit zusuchen und an der anerkannten Wahrheit festzuhalten.25

    Es ist also notwendig, da die angenommenen und durch das eigene Lebenverfolgten Werte wahr sind, weil nur wahre Werte die menschliche Person durchVerwirklichung ihrer Natur vollenden knnen. Diese Wahrheit der Werte findet derMensch nicht dadurch, da er sich in sich verschliet, sondern indem er sich ffnet,

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    22/85

    22

    um sie auch in den ber ihn hinausgehenden Dimensionen anzunehmen. Das ist eineunerlliche Voraussetzung, damit ein jeder er selbst werden und als erwachsene,reife Person wachsen kann.

    26. Die Wahrheit stellt sich beim Menschen anfangs in Frageform vor: Hat das Lebeneinen Sinn? Wohin fhrt es? Auf den ersten Blick knnte das Dasein des Menschenals Person gnzlich sinnlos erscheinen. Man braucht nicht Philosophen, die dieAbsurditt vertreten, oder die provokatorischen Fragen im Buch Ijob heranzuziehen,um am Sinn des Lebens zu zweifeln. Die tgliche Erfahrung von eigenem undfremdem Leid, der Anblick so vieler Tatsachen, die im Lichte der Wahrheitunerklrlich erscheinen, gengen, da wir unausweichlich eine so dramatische Fragewie jene nach dem Sinn stellen.26 Hinzukommt, da die erste absolut sichereWahrheit unserer Existenz auer der Tatsache, da wir berhaupt da sind, die

    Unvermeidbarkeit unseres Todes ist. Angesichts dieses bestrzenden Umstandesstellt sich die Suche nach einer erschpfenden Antwort. Jeder will und soll dieWahrheit ber sein Ende kennen. Er will wissen, ob der Tod das endgltige Endeseines Daseins ist oder ob es noch etwas gibt, das ber den Tod hinausreicht; ob erauf ein Weiterleben hoffen darf oder nicht. Nicht von ungefhr hat dasphilosophische Denken seine entscheidende Orientierung vom Tod des Sokrates hererhalten und ist seit ber zweitausend Jahren davon geprgt geblieben. Es ist alsodurchaus kein Zufall, da angesichts der Tatsache des Todes die Philosophen sichdieses Problems, zusammen mit der Frage nach dem Sinn des Lebens und der

    Unsterblichkeit, immer von neuem angenommen haben.

    27. Niemand, weder der Philosoph noch der gewhnliche Mensch, kann diesenFragen aus dem Weg gehen. Von der Antwort darauf hngt eine entscheidendeEtappe der Suche ab: Ob es mglich ist, zu einer universalen und absoluten Wahrheitzu gelangen oder nicht. An und fr sich erscheint jede Wahrheit, auch Teilwahrheit,wenn sie wirklich Wahrheit ist, als universal. Was wahr ist, mu fr alle und frimmer wahr sein. Auer dieser Universalitt sucht der Mensch jedoch nach einemAbsoluten, das in der Lage sein soll, seinem ganzen Suchen und Forschen Antwort

    und Sinn zu geben: etwas Letztes, das sich als Grund jeder Sache herausstellt. Mitanderen Worten, er sucht nach einer endgltigen Erklrung, nach einem hchstenWert, ber den hinaus es weitere Fragen oder Verweise weder gibt noch geben kann.Hypothesen knnen den Menschen faszinieren, aber sie befriedigen ihn nicht. Eskommt fr alle der Zeitpunkt, wo sie, ob sie es zugeben oder nicht, das Bedrfnishaben, ihre Existenz in einer als endgltig anerkannten Wahrheit zu verankern,welche eine Gewiheit vermittelt, die nicht mehr dem Zweifel unterworfen ist.

    Die Philosophen haben im Laufe der Jahrhunderte versucht, eine solche Wahrheit zu

    entdecken und zum Ausdruck zu bringen, indem sie Denksysteme und -schulen insLeben riefen. ber die philosophischen Systeme hinaus gibt es jedoch noch andere

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    23/85

    23

    Ausdrucksformen, in denen der Mensch seiner Philosophie Gestalt zu gebenversucht: dabei handelt es sich um persnliche berzeugungen oder Erfahrungen,um familire oder kulturelle Traditionen oder um Lebensprogramme, wo man sichder Autoritt eines Meisters anvertraut. Aus jeder dieser Erscheinungen spricht stets

    der lebhafte Wunsch, zur Gewiheit der Wahrheit und ihres absoluten Wertes zugelangen.

    Die verschiedenen Gesichter der Wahrheit des Menschen [28-35]

    28. Die Wahrheitssuche stellt sich zugegebenermaen nicht immer mit solcherTransparenz und Folgerichtigkeit dar. Die angeborene Begrenztheit der Vernunftund die Unbestndigkeit des Herzens trben oft die persnliche Suche und lenkensie ab. Verschiedenartige andere Interessen knnen die Wahrheit unterdrcken. Es

    kommt vor, da der Mensch, kaum da er die Wahrheit flchtig erblickt, geradewegsvor ihr flieht, weil er sich vor ihren Ansprchen frchtet. Trotzdem beeinflut dieWahrheit, auch wenn er sie meidet, immer sein Dasein. Denn niemals knnte er seinLeben auf Zweifel, Ungewiheit oder Lge grnden; eine solche Existenz wrestndig von Angst und Furcht bedroht. Man kann also den Menschen als dendefinieren, der nach der Wahrheit sucht.

    29. Es ist undenkbar, da eine so tief in der menschlichen Natur verwurzelte Suchevllig nutzlos und vergeblich sein knnte. Die Fhigkeit, nach der Wahrheit zu

    suchen und Fragen zu stellen, schliet nmlich bereits eine erste Antwort ein. DerMensch wrde gar nicht anfangen, etwas zu suchen, von dem er berhaupt nichtswte oder das er fr absolut unerreichbar hielte. Erst die Aussicht, zu einerAntwort gelangen zu knnen, kann ihn veranlassen, den ersten Schritt zu tun.Tatschlich geschieht genau das normalerweise in der wissenschaftlichen Forschung.Wenn ein Wissenschaftler, seiner Intuition folgend, sich der Suche nach der logischenund nachweisbaren Erklrung eines bestimmten Phnomens widmet, vertraut er vonAnfang an darauf, eine Antwort zu finden, und kapituliert nicht angesichts derMierfolge. Er hlt seine ursprngliche Eingebung nicht fr nutzlos, nur weil er das

    Ziel nicht erreicht hat; er wird vielmehr zu Recht sagen, er habe noch nicht dieadquate Antwort gefunden.

    Dasselbe mu auch fr die Wahrheitssuche im Bereich der letzten Fragen gelten. DieSehnsucht nach der Wahrheit wurzelt so tief im Herzen des Menschen, da dasAbstandnehmen davon die Existenz gefhrden wrde. Es gengt schlielich dieBeobachtung des Alltagslebens um festzustellen, da jeder von uns die qulendeLast einiger wesentlicher Fragen in sich trgt und zugleich in seinem Herzenzumindest den Entwurf der dazugehrigen Antworten htet. Es sind Antworten,

    von deren Wahrheit man auch deshalb berzeugt ist, weil man die Erfahrung macht,da sie sich im wesentlichen nicht von den Antworten unterscheiden, zu denen viele

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    24/85

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    25/85

    25

    schlielich die Erfahrungs und Denkwege wiederholen, auf denen sich die Schtzeder Menschheit an Weisheit und Religiositt angesammelt haben? Der Mensch, einWesen, das nach der Wahrheit sucht, ist also auch derjenige, der vom Glauben lebt.

    32. Im Glauben vertraut sich ein jeder den von anderen Personen erworbenenErkenntnissen an. Darin ist eine bedeutungsvolle Spannung erkennbar: einerseitserscheint die Erkenntnis durch Glauben als eine unvollkommene Erkenntnisform,die sich nach und nach durch die persnlich gewonnene Einsicht vervollkommnensoll; andererseits erweist sich der Glaube oft als menschlich reicher im Vergleich zurbloen Einsichtigkeit, weil er eine Beziehung zwischen Personen einschliet undnicht nur die persnlichen Erkenntnisfhigkeiten, sondern auch die tiefergehendeFhigkeit ins Spiel bringt, sich anderen Personen anzuvertrauen, indem man einefestere und innige Verbindung mit ihnen eingeht.

    Es sei unterstrichen, da die in dieser zwischenmenschlichen Beziehung gesuchtenWahrheiten nicht in erster Linie in die faktische oder in die philosophische Ordnunggehren. Gesucht wird vielmehr nach der eigentlichen Wahrheit der Person: was sieist und was sie von ihrem Innersten sichtbar werden lt. Die Vollkommenheit desMenschen besteht nmlich nicht allein in der Aneignung der abstrakten Erkenntnisder Wahrheit, sondern auch in einer lebendigen Beziehung der Hingabe und Treuegegenber dem anderen. In dieser Treue, die sich hinzugeben vermag, findet derMensch volle Gewiheit und Sicherheit. Gleichzeitig ist die Erkenntnis durch

    Glauben, die sich auf das zwischenmenschliche Vertrauen sttzt, jedoch nicht ohneBezug zur Wahrheit: der glubige Mensch vertraut sich der Wahrheit an, die derandere ihm kundtut.

    Wie viele Beispiele lieen sich zur Erluterung dieser Tatsache anfhren! MeineGedanken wenden sich jedoch geradewegs dem Zeugnis der Mrtyrer zu. DerMrtyrer ist in der Tat der zuverlssigste Zeuge der Wahrheit ber das Dasein. Erwei, da er in der Begegnung mit Jesus Christus die Wahrheit ber sein Lebengefunden hat; nichts und niemand wird ihm jemals diese Gewiheit zu entreien

    vermgen. Weder das Leiden noch der gewaltsame Tod werden ihn dazu bringenknnen, die Zustimmung zu der Wahrheit zu widerrufen, die er in der Begegnungmit Christus entdeckt hat. Deshalb fasziniert uns bis heute das Zeugnis der Mrtyrer,es weckt Zustimmung, stt auf Gehr und findet Nachahmung. Das ist der Grund,warum man auf ihr Wort vertraut: Man entdeckt in ihnen ganz offensichtlich eineLiebe, die keiner langen Argumentationen bedarf, um zu berzeugen, da sie zu

    jedem von dem spricht, was er im Innersten bereits als wahr vernimmt und seitlangem gesucht hat. Schlielich ruft der Mrtyrer ein tiefes Vertrauen in uns hervor,weil er sagt, was wir bereits empfinden, und offenkundig macht, was auch wir, wenn

    wir denn die Kraft dazu fnden, gern ausdrcken wrden.

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    26/85

    26

    33. So kann man sehen, da die Linien des Problems fortschreitend ergnzt werden.Der Mensch sucht von Natur aus nach der Wahrheit. Diese Suche ist nicht allein zurAneignung von partiellen, faktischen oder wissenschaftlichen Wahrheiten bestimmt;der Mensch sucht nicht nur fr jede seiner Entscheidungen das wahre Gute. Seine

    Suche strebt nach einer jenseitigen Wahrheit, die in der Lage sein soll, den Sinn desLebens zu erklren; es handelt sich daher um eine Suche, die nur im AbsolutenAntwort finden kann.28 Dank der dem Denken innewohnenden Fhigkeiten ist derMensch imstande, einer solchen Wahrheit zu begegnen und sie zu erkennen. Dieselebenswichtige und fr seine Existenz wesentliche Wahrheit wird nicht nur aufrationalem Weg erreicht, sondern auch dadurch, da sich der Mensch vertrauensvollauf andere Personen verlt, welche die Sicherheit und Authentizitt der Wahrheitgarantieren knnen. Die Fhigkeit und Entscheidung, sich selbst und sein Lebeneinem anderen Menschen anzuvertrauen, stellen gewi einen der anthropologisch

    gewichtigsten und ausdrucksstrksten Akte dar.

    Man mge nicht vergessen, da auch die Vernunft bei ihrer Suche auf dieUntersttzung durch vertrauensvollen Dialog und aufrichtige Freundschaftangewiesen ist. Ein Klima aus Verdacht und Mitrauen, wie es die spekulativeForschung mitunter umgibt, vernachlssigt die Lehre der antiken Philosophen,welche die Freundschaft als eine der fr das richtige Philosophieren geeignetstenRahmenbedingungen herausstellten.

    Aus dem bisher Gesagten geht hervor, da sich der Mensch auf einer nachmenschlichem Ermessen endlosen Suche befindet: der Suche nach Wahrheit und derSuche nach einer Person, der er sich anvertrauen kann. Der christliche Glaubekommt ihm dadurch entgegen, da er ihm die konkrete Mglichkeit bietet, das Zieldieser Suche verwirklicht zu sehen. Indem er beim Menschen das Stadium desgewhnlichen Glaubens berwindet, fhrt er ihn in jene Gnadenordnung ein, dieihm die Teilhabe an dem Geheimnis Christi erlaubt, in dem ihm die wahre undangemessene Erkenntnis des dreieinigen Gottes geschenkt wird. In Jesus Christus,der die Wahrheit ist, anerkennt somit der Glaube den letzten Aufruf, der an die

    Menschheit gerichtet wird, damit sie das, was sie als Streben und Sehnsucht erfhrt,zur Erfllung bringen kann.

    34. Diese Wahrheit, die uns Gott in Jesus Christus offenbart, steht nicht imWiderspruch zu den Wahrheiten, zu denen man durch das Philosophieren gelangt.Die beiden Erkenntnisordnungen fhren ja erst zur Wahrheit in ihrer Flle. DieEinheit der Wahrheit ist bereits ein grundlegendes Postulat der menschlichenVernunft, das im Non-Kontradiktionsprinzip ausgedrckt ist. Die Offenbarung bietetdie Sicherheit fr diese Einheit, indem sie zeigt, da der Schpfergott auch der Gott

    der Heilsgeschichte ist. Ein und derselbe Gott, der die Verstehbarkeit undVernnftigkeit der natrlichen Ordnung der Dinge, auf die sich die Wissenschaftler

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    27/85

    27

    vertrauensvoll sttzen,29 begrndet und gewhrleistet, ist identisch mit dem Gott,der sich als Vater unseres Herrn Jesus Christus offenbart. Diese Einheit vonnatrlicher und geoffenbarter Wahrheit findet ihre lebendige und personaleIdentifikation in Christus, worauf der Apostel anspielt: Die Wahrheit ist in

    Christus (vgl. Eph 4, 21; Kol 1, 15-20). Er ist das ewige Wort, in dem alles erschaffenworden ist, und zugleich ist er das fleischgewordene Wort, das in seiner ganzenPerson den Vater offenbart (vgl. Joh 1, 14.18).30 Das, was die menschliche Vernunftsucht, ohne es zu kennen (Apg 17, 23), kann nur durch Christus gefunden werden:denn in ihm offenbart sich die volle Wahrheit (vgl. Joh 1, 14-16) jedes Wesens, dasin ihm und durch ihn erschaffen worden ist und daher in ihm seine Vollendungfindet (vgl. Kol 1, 17).

    35. Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Betrachtungen gilt es nun, eine

    unmittelbarere Untersuchung des Verhltnisses zwischen geoffenbarter Wahrheitund Philosophie vorzunehmen. Dieses Verhltnis ntigt uns zu einer doppeltenberlegung, da die Wahrheit, die aus der Offenbarung stammt, gleichzeitig eineWahrheit ist, die im Lichte der Vernunft verstanden werden mu. Erst in dieserzweifachen Bedeutung ist es nmlich mglich, das richtige Verhltnis zumphilosophischen Wissen genau zu bestimmen. Wir betrachten deshalb zunchst dieBeziehungen zwischen Glaube und Philosophie im Laufe der Geschichte. Von daherwerden sich einige Grundstze feststellen lassen, an die man sich als Bezugspunktehalten mu, um das richtige Verhltnis zwischen den beiden Erkenntnisordnungen

    festzulegen.

    KAPITEL IV - DAS VERHLTNIS VON GLAUBE UND VERNUNFT

    Bedeutsame Schritte der Begegnung zwischen Glaube und Vernunft [36-42]

    36. Nach dem Zeugnis der Apostelgeschichte sah sich die christliche Verkndigungvon Anfang an mit den zeitgenssischen philosophischen Strmungen konfrontiert.So berichtet das Buch darber, da der hl. Paulus in Athen mit einigenepikureischen und stoischen Philosophen diskutierte (17, 18). Die exegetischeAnalyse jener Rede, die der Apostel im Areopag gehalten hatte, hob diewiederholten Anspielungen auf populre berzeugungen zumeist stoischerHerkunft hervor. Das war sicher kein Zufall. Um von den Heiden verstanden zuwerden, konnten es die ersten Christen in ihren Reden nicht beim Hinweis aufMose und die Propheten bewenden lassen; sie muten sich auch auf die natrlicheGotteserkenntnis und auf die Stimme des moralischen Gewissens jedes Menschensttzen (vgl. Rm 1, 19-21; 2, 14-15; Apg 14, 14-16). Da diese natrliche Erkenntnis

    jedoch in der heidnischen Religion zum Gtzendienst verkommen war (vgl. Rm 1,21-32), hielt es der Apostel fr klger, seine Rede mit dem Denken der Philosophen

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    28/85

    28

    zu verknpfen, die von Anfang an den Mythen und Mysterienkulten Gedankenentgegengesetzt hatten, die der gttlichen Transzendenz grere Achtungentgegenbrachten.

    Die Gottesvorstellung der Menschen von mythologischen Formen zu reinigen, warin der Tat eine der grten Anstrengungen, die die Philosophen des klassischenDenkens unternommen haben. Wie wir wissen, war auch die griechische Religion,nicht anders als die meisten kosmischen Religionen, polytheistisch. Dabei ging sie soweit, da sie Dinge und Naturphnomene vergttlichte. Die Versuche des Menschen,den Ursprung der Gtter und in ihnen des Universums zu begreifen, fanden ihrenersten Ausdruck in der Dichtkunst. Die Theogonien sind bis heute das erste Zeugnisdieser Suche des Menschen. Aufgabe der Vter der Philosophie war es, denZusammenhang zwischen Vernunft und Religion sichtbar zu machen. Da sie den

    Blick auf allgemeine Prinzipien hin ausweiteten, gaben sie sich nicht mehr mit altenMythen zufrieden, sondern wollten ihrem Glauben an die Gottheit eine rationaleGrundlage geben. So wurde ein Weg eingeschlagen, der, ausgehend von deneinzelnen alten berlieferungen, in eine Entwicklung einmndete, die denAnforderungen der allgemeinen Vernunft entsprach. Das Ziel, das dieseEntwicklung anstrebte, war das kritische Bewutsein dessen, woran man glaubte.Dieser Weg schlug sich positiv zunchst in der Gottesvorstellung nieder. Formen vonAberglauben wurden als solche erkannt, und die Religion wurde durch die Kraft derrationalen Analyse wenigstens zum Teil gelutert. Auf dieser Grundlage begannen

    die Kirchenvter einen fruchtbaren Dialog mit den antiken Philosophen und bahntenso der Verkndigung und dem Verstndnis des Gottes Jesu Christi den Weg.

    37. Wenn man auf diese Annherungsbewegung der Christen an die Philosophiehinweist, mu man freilich auch die vorsichtige Haltung erwhnen, die andereElemente der heidnischen Kulturwelt, wie zum Beispiel die Gnosis, bei ihnenhervorriefen. Als praktische Weisheit und Lebensschule konnte die Philosophieleicht mit einer Erkenntnis hherer, esoterischer Art, die nur wenigen Vollkommenenvorbehalten war, verwechselt werden. Zweifellos denkt der hl. Paulus an diese

    Weise esoterischer Spekulationen, wenn er die Kolosser warnt: Gebt acht, da euchniemand mit seiner Philosophie und falschen Lehre verfhrt, die sich nur aufmenschliche berlieferung sttzen und sich auf die Elementarmchte der Welt, nichtauf Christus berufen (2, 8). Die Worte des Apostels erscheinen uerst aktuell, wennwir sie auf die verschiedenen Formen der Esoterik beziehen, die heutzutage auch beimanchen Glubigen, denen es am erforderlichen kritischen Sinn mangelt, um sichgreifen. Dem Beispiel des hl. Paulus folgend erhoben andere Schriftsteller der ersten

    Jahrhunderte, im besonderen der hl. Irenus und Tertullian, ihrerseits Vorbehaltegegen eine kulturelle Konzeption, die forderte, die Wahrheit der Offenbarung derInterpretation der Philosophen unterzuordnen.

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    29/85

    29

    38. Die Begegnung des Christentums mit der Philosophie erfolgte also wederspontan noch war sie einfach. Die Ttigkeit der Philosophen und der Besuch ihrerSchulen erschien den ersten Christen eher als Strung denn als Chance. Fr sie wardie erste, dringende Aufgabe die Verkndigung des auferstandenen Christus in einer

    persnlichen Begegnung, die den Gesprchspartner zur inneren Umkehr und zurBitte um die Taufe fhren sollte. Das heit freilich nicht, da sie die Aufgabe, dasVerstndnis des Glaubens und seiner Begrndungen zu vertiefen, unbeachtetgelassen htten. Im Gegenteil: Die Kritik des Kelsos, der die Christen bezichtigt,ungebildete und grobschlchtige Leute31 zu sein, stellt sich daher als ungerechtund als Vorwand heraus. Die Erklrung fr ihre anfngliche Gleichgltigkeit muanderswo gesucht werden. In Wirklichkeit bot die Begegnung mit dem Evangeliumeine derart befriedigende Antwort auf die bis dahin ungelste Frage nach dem Sinndes Lebens, da ihnen der Umgang mit den Philosophen wie eine ferne und in

    gewisser Hinsicht berholte Angelegenheit vorkam.

    Das erscheint heute noch klarer, wenn man an jenen Beitrag des Christentums denkt,der in der Besttigung des Rechtes aller auf Zugang zur Wahrheit besteht. DasChristentum hatte nach dem Niederreien der durch Rasse, sozialen Stand undGeschlecht bedingten Schranken von Anfang an die Gleichheit aller Menschen vorGott verkndet. Die erste Konsequenz dieser Auffassung wandte man auf dasThema Wahrheit an. Der elitre Charakter, den die Wahrheitssuche bei den Altenhatte, wurde mit Entschlossenheit berwunden: Da der Zugang zur Wahrheit ein

    Gut ist, das es ermglicht, zu Gott zu gelangen, mssen alle in der Lage sein, diesenWeg gehen zu knnen. Die Wege, um die Wahrheit zu erreichen, sind vielfltig;dennoch kann, da die christliche Wahrheit Heilswert besitzt, jeder dieser Wege nurdann eingeschlagen werden, wenn er zum letzten Ziel, das heit zur Offenbarung

    Jesu Christi, fhrt.

    Als Pionier einer positiven Begegnung mit dem philosophischen Denken, wenn auchunter dem Vorzeichen vorsichtiger Unterscheidung, mu der hl. Justin genanntwerden: Obwohl er sich seine groe Wertschtzung fr die griechische Philosophie

    auch nach seiner Bekehrung bewahrt hatte, beteuerte er klar und entschieden, imChristentum die einzige sichere und nutzbringende Philosophie gefunden zuhaben.32 hnlich nannte Clemens Alexandrinus das Evangelium die wahrePhilosophie33 und interpretierte die Philosophie in Analogie zum mosaischenGesetz als eine Vorunterweisung fr den christlichen Glauben34 und eineVorbereitung auf das Evangelium.35 Denn nach dieser Weisheit trgt diePhilosophie Verlangen; diese ist ein Streben der Seele sowohl nach der Fhigkeitrichtigen Denkens als auch nach der Reinheit des Lebens; sie ist gegen die Weisheitfreundschaftlich und liebevoll gesinnt und tut alles, um ihrer teilhaftig zu werden.Philosophen aber heien bei uns diejenigen, die nach der Weisheit, die alle Dingegeschaffen hat und alles lehrt, Verlangen tragen, das heit nach der Erkenntnis des

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    30/85

    30

    Sohnes Gottes.36 Hauptzweck der griechischen Philosophie ist fr denAlexandriner nicht die Ergnzung oder Strkung der christlichen Wahrheit; ihreAufgabe ist vielmehr die Verteidigung des Glaubens: In sich vollendet und keinerErgnzung bedrftig ist die Lehre im Sinne des Erlsers, da sie gttliche Kraft und

    Weisheit ist. Wenn aber die griechische Weisheit hinzukommt, so macht sie dieWahrheit zwar nicht wirksamer, aber weil sie die sophistischen Angriffe entkrftetund die listigen Angriffe gegen die Wahrheit abwehrt, ist sie mit Recht Zaun undMauer des Weinbergs genannt worden.37

    39. In der Geschichte dieser Entwicklung lt sich jedenfalls die kritische bernahmedes philosophischen Denkens seitens der christlichen Denker feststellen. Unter denersten Beispielen, denen man begegnen kann, ist Origenes sicher von magebenderBedeutung. Um auf die vom Philosophen Kelsos erhobenen Angriffe zu antworten

    und ihnen zu entgegnen, bernimmt Origenes die platonische Philosophie. UnterEinbeziehung zahlreicher Elemente des platonischen Denkens geht er daran, zumersten Mal so etwas wie eine christliche Theologie zu erarbeiten. Der NameTheologie ebenso wie die Vorstellung von ihr als vernnftiges Reden ber Gott warnmlich bis dahin noch an ihren griechischen Ursprung gebunden. In deraristotelischen Philosophie zum Beispiel bezeichnete der Ausdruck den vornehmstenTeil und eigentlichen Hhepunkt der philosophischen Errterung. Was vorher aufeine allgemeine Lehre ber die Gtter hindeutete, bekam hingegen im Lichte derchristlichen Offenbarung eine ganz neue Bedeutung, weil Theologie nunmehr das

    Nachdenken bezeichnete, das der Glaubende vollzog, um die wahre Lehre ber Gottzu formulieren. Dieses in stndiger Weiterentwicklung begriffene neue christlicheDenken bediente sich der Philosophie, war aber gleichzeitig auf klareUnterscheidung von ihr bedacht. Die Geschichte zeigt, da das in die Theologiebernommene platonische Denken selbst tiefgreifende Vernderungen erfahren hat,besonders was Begriffe wie Unsterblichkeit der Seele, Vergttlichung des Menschenund Ursprung des Bsen betrifft.

    40. Besondere Erwhnung verdienen in diesem Christianisierungswerk des

    platonischen und neuplatonischen Denkens die Kappadokier, Dionysios Areopagitaund vor allem der hl. Augustinus. Der groe abendlndische Gelehrte war mitverschiedenen philosophischen Schulen in Kontakt gekommen, doch hatten ihn alleenttuscht. Als dann die Wahrheit des christlichen Glaubens in sein Blickfeld trat,besa er die Kraft, jene radikale Bekehrung zu vollziehen, zu welcher ihn die vonihm vorher wiederholt aufgesuchten Philosophen nicht bringen konnten. Den Grunddafr erzhlt er selbst: Von jetzt an aber gab ich immerhin der katholischen Lehreden Vorzug; empfand ich doch, um wieviel bescheidener und ohne die geringstebetrgerische Absicht hier befohlen wird zu glauben, was nicht bewiesen wird,gleichviel ob es zu beweisen wre, aber nicht fr jeden, oder berhaupt nichtbewiesen werden kann; whrend bei den anderen das Wissen in vermessener Weise

  • 8/7/2019 Fides et Ratio - Glaube und Vernunft - Johannes Paul II.

    31/85

    31

    versprochen und ber die Glaubwilligkeit gelacht wird und nachher befohlen wird,da man nur Erdichtetes, ja Abwegigstes glauben soll, das nie bewiesen werdenkann.38 Denselben Platonikern, auf die man sich vorwiegend bezog, warfAugustinus vor, da sie zwar das anzustrebende Ziel kannten, jedoch nichts von

    dem Weg wissen wollten, der dorthin fhrt: dem fleischgewordenen Wort.39 DemBischof von Hippo gelang es, die erste groe Synthese des philosophischen undtheologischen Denkens zu erstellen, in die Strmungen des griechischen undlateinischen Denkens einflossen. Auch bei ihm wurde die groe Einheit des Wissens,deren Ausgangspunkt und Grundlage das biblische Denken war, von derGrndlichkeit des spekulativen Denkens besttigt und getragen. Die vom hl.Augustinus vollzogene Synthese sollte Jahrhunderte lang die hchste Formphilosophischen und theologischen Denkens bleiben, die das Abendland gekannthat. Gefestigt durch seine persnliche Lebensgeschichte und gesttzt auf ein

    wunderbar heiligmiges Leben, war er auch in der Lage, in seine Werke vielfltigeGegebenheiten einzubringen, die durch den Rckgriff auf die Erfahrung knftigeEntwicklungen mancher philosophischer Denkrichtungen anzeigten.

    41. Die Kirchenvter des Ostens und des Abendlandes haben also in verschiedenenFormen Verbindung mit den philosophischen Schulen aufgenommen. Das heitnicht, da sie den Inhalt ihrer Botschaft mit den Systemen, auf die sie Bezug nahmen,identifiziert htten. Die Frage Tertullians: Was haben Athen und Jerusalem gemein?Was die Akademie und die Kirche?40 ist ein klares Anzeichen fr das kritische

    Bewutsein, mit dem sich die christlichen Denker von Anfang an mit dem Problemdes Verhltnisses von Glaube und Philosophie auseinandersetzten; sie sahen esumfassend, in seinen positiven Aspekten ebenso wie in seinen Grenzen. Sie warenkeine naiven Denker. Gerade weil sie den Inhalt des Glaubens intensiv lebten,vermochten sie zu den tiefgrndigsten Formen spekulativen Denkens zu gelangen.Es ist daher ungerecht und oberflchlich, ihr Werk auf die bloe Umsetzung derGlaubensinhalte in philosophische Kategorien einzuengen. Sie haben weit mehrgeleistet. Es gelang ihnen nmlich, das voll sichtbar werden zu lassen, was sich nochunausgesprochen und propdeutisch im Denken der groen antiken Philosophenandeutete.41 Sie hatten, wie gesagt, die Aufgabe zu zeigen, wie die von den uerenFesseln befreite Vernunft aus der Sackgasse der Mythen herausfinden knnte, umsich der Transzendenz auf ange


Recommended