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FHNW-Lehre-Thesis-Bill-HS11-Theorie

Date post: 14-Mar-2016
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Matthias Bill Masterthesis Theorie
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Fachhochschule Nordwestschweiz Institut Architektur Herbstsemester 2011 Matthias Bill Masterthesis Theoriearbeit Über die Schönheit des Alltäglichen Begleitung: Prof. Christina Schumacher Matthias Bill Masterthesis Theoriearbeit
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Fachhochschule NordwestschweizInstitut ArchitekturHerbstsemester 2011

Matthias Bill Masterthesis Theoriearbeit

Über die Schönheit des Alltäglichen Begleitung: Prof. Christina Schumacher

Matthias Bill Masterthesis Theoriearbeit

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Die Thematik des Schönen beschäftigt mich schon eine ganze Weile . In einem Vorwort möchte ich die Chronologie meiner Beschäftigung mit dem Schönen darlegen. Anschliessend wil l ich anhand einer Bildanalyse einer eigenen Zeichnung versu-chen, die Schönheit des Alltäglichen theoretisch zu fassen und daraus in einem Fazit Schlüsse für die eigene Arbeit als Architekt ziehen. Begleitet wird der Fliesstext von einer kommentierten, unabhängigen Bildspur, die auf Erinnerungen und Begegnungen mit dem Schönen in Hamburg beruht (MNEMOSYNE, 2011).

Im zweiten Semester meines Masterstudiums am Institut Architektur der Fachhochschule Nord-westschweiz haben wir uns unter der Leitung von Reto Pfenninger und Matthias Ackermann mit der Frage der heutigen Stadterweiterung an der Ausfallachse Wehntalerstrasse in Zürich beschäf-tigt (Abb.01). Ziel der Aufgabe war es, eine Ant-wort auf die anonyme vier- bis fünfgeschossige Zersiedelung zu finden. Über eine differenzierte Herangehensweise haben wir eine identitätsstif-tende Architektur entwickelt , die fähig ist , mit vorhandenen und in Planung stehenden Kräf ten zu interagieren. Anlässlich dieser Fragestellung habe ich mich einer Strategie angenommen, die nicht über ein geordnetes Regelwerk, sondern über ein situatives Agieren Entscheidungen des Entwurfs fäl lt . Konkret bin ich so vorgegangen, dass das entwickelte Hofgebäude einer äusse-ren Mantell inie entlang in einer Grossform auf

Kleinteil igkeiten des städtischen Gefüges reagie-ren kann. Im ‚Inneren‘ habe ich mich den Regeln eines übergeordneten Konzeptes entzogen und situativ versucht, Qualitäten zu erzeugen. Diese Vorgehensweise hat mich mit einer Faszination der Nähe und der Nachbarschaft konfrontiert , die mich auch in anschliessenden Überlegungen be-einf lusst hat .

Auf dem Flughafenareal des ehemaligen Militär-f lughafens Dübendorf galt es, bodennahes, dichtes Wohnen als Alternative zum gesichtslosen Ein- und Mehrfamilienhausbrei der Agglomeration zu entwickeln (Abb.02). Im Rahmen einer eher chao-tischen Vorgehensweise sind in meinem Entwurf unterschiedlichste Qualitäten entstanden. Neben den architektonischen Aspekten, die in unserem Studium im Vordergrund stehen, ist auch ein so-ziologisches Interesse in den Entwurf eingef los-sen, was eine Beurteilung der Arbeit ausschliess-lich nach architektonischen Kriterien sicherlich erschwert hat . Für meinen Entwurf habe ich mir Bewohner und Bewohnerinnen aus Fleisch und Blut imaginiert , die mit Leidenschaft an den Or-ten wohnen, die mich interessieren. Das Vorgehen, Menschen zu charakterisieren und ihnen und ihren Bedürfnissen entsprechende Wohnungen zu entwerfen hilf t mir, architektonische Entscheide zu präzisieren und eine spezifische Architek-tur mit Identität zu entwickeln. Aufgrund einer persönlichen Unzufriedenheit über die Resonanz des Projektes habe ich das direkte Gespräch mit

Vor wort

Abb.01_Innenhof

Entwurf Wehntalerstrasse

2.Mastersemester Basel , 06.2010

Abb.02_Siedlung

Flughafenareal Dübendorf

3.Mastersemester Basel , 01.2011

Abb.03_Christopher Alexander: A

Pattern Language, New York, 1977

Hamburg, März 2011

Vor wort

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Jacques Blumer vom Architekturbüro Atelier 5 in Bern gesucht, der mich zu Semesterbeginn mit einem Vortrag an unserer Schule enorm geprägt hatte. Die Diskussion in seiner Wohnung in der Thalmatt in Herrenschwanden bei Bern hat mich in einer Vorgehensweise bestärkt, die sich von einer rein intellektuellen, typologischen dadurch unterscheidet , dass sie sich primär am ‚Schönen des Alltäglichen‘ orientiert . Auf die Frage, wie ich denn nun weiter in meinem Studium vorgehen solle , entgegnetet Blumer mir sinngemäss: “Ge-hen Sie jetzt zuerst nach Hamburg und schauen sie sich dort die Dinge an. Hamburg ist eine schö-ne Stadt mit vielen kleinen guten Details .“

Im Anschluss habe ich mich auf eine Reise in die Hansestadt gewagt und habe versucht über die-se ‚Dinge‘ nachzudenken. Der Alltag in der Stadt im hohen Norden hat mir viel Zeit gelassen, um hinzuschauen, zu lesen, zu zeichnen und dabei über das Schöne nachzudenken. Mit Christopher Alexanders ,A Pattern Language‘ (Abb.03) habe ich ein Buch gefunden, das in einem allgemeinen Gedankengut verständlich macht, welche Qualitä-ten mich in der Stadt interessieren und was mich auch im weiteren Verlauf des Studiums beein-f lusst hat .

„Dieses Buch beschre ibt ausführ l ich d ie Muster für Städte

und Nachbarschaf ten , für Häuser, Gär ten und Räume. . . . “

„Diese Sprache is t in höchstem Grade praxisbezogen. S ie

wurde aus unseren e igenen Bau - und P lanungserfahrungen

M N E M O S Y N E

Abb.05_Dreizimmerwohnung

Eidelstedterweg 93,

Hamburg 2011

Abb.06_11m 2 Zimmer in vie-

rer Wohngemeinschaft , Gren-

zacherstrasse Basel 2011

Abb.04_Matthias Bil l :

MNEMOSYNE,

Hamburg 2011

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48 Vor wort

Abb.07_Küche

Sierenzerstrasse Basel 2011

1 Alexander, 1977, S. 9

im Ver lauf der le tz ten acht Jahre gewonnen. Man kann s ie

zur Arbe i t mi t den Nachbarn verwenden, um se ine Stadt oder

se ine Nachbarschaf t zu verbessern. Man kann s ie verwenden,

um das e igene Haus zusammen mit der Fami l ie anzulegen;

oder um mit anderen Leuten e in Büro , e ine Werkstat t oder

e in ö f fent l i ches Gebäude , e twa e ine Schule , zu p lanen. Und

man kann s ie a ls Anle i tung im tatsächl ichen Bauvorgang

benutzen.“ 1 Die Mustersprache orientiert sich an Kleinstelementen der Stadt , beurteilt sie anhand der schönen Dinge und gibt Anweisungen, wie die-se zu bewältigen sind.

Neben der Ausarbeitung des kleinen Büchleins MNEMOSYNE (Abb.04), in dem eine Auswahl per-sönlicher Zeichnungen meine Auseinanderset-zung mit dem Alltäglichen zeigt , hat mich auch meine Wohnsituation in Hamburg sehr stark in meinem Nachdenken über Architektur geprägt. Über das dreibündige Treppenhaus, welches auf vier Geschossen zwölf Wohnungen erschliesst , hatte ich die Möglichkeit , ein nachbarschaftl iches Miteinander zu erleben.Of t ist Jürgen, der direkte Nachbar und Haus-wart bei mir gewesen, oder ich habe mit ihm auf seinem Balkon im Duft des Zitronengrases, das er dort hinzüchtet , ein Bier oder Tee getrunken. Laszlo, der Künstler im Dachgeschoss hat mich eigentlich jedes Mal , wenn ich das Haus betre-ten oder verlassen habe begrüsst und mit mir ein paar Worte gewechselt . Mit dem zeigen mei-ner Zeichnungen konnte ich ein Interesse in ihm wecken und er hat mich zu sich in seine Wohnung eingeladen, zwischen Bilder und Skulpturen ha-ben wir zusammen über das Schöne gesprochen. Das dichte Wohnverhältnis hat mich durch die Möglichkeiten, die es mir bot in meinem Studium

der nachbarschaftl ichen Nähe bestärkt.

Meine Rückkehr nach Basel beinhaltete einen relativ abrupten Wohnungswechsel von einer zu zweit bewohnten Dreizimmerwohnung mit neun-zig Quadratmetern Fläche in eine Vierzimmer-wohnung mit hundert Quadratmetern, die wir zu viert bewohnen. Mein Zimmer (Abb.06) fasst mit elf Quadratmetern all mein Gut mit Ausnahme meiner in den Korridor ausgelagerten Bibliothek. Ich würde jedoch nicht von einer zu kleinen Be-hausung, sondern viel eher von einer sehr inten-siven Wohnsituation im positiven Sinne sprechen. Auch unsere Küche wird durch ein nichtvorhan-denes Wohnzimmer als einziger gemeinschaftl i-cher Ort der Wohnung extrem hoch frequentiert . Dies hat unglaublich pragmatische, aber positive Nebenwirkungen: Das Kollektiv wird gefördert , die Hygiene und Pf lege der gemeinschaftl ichen Räu-me (Küche und Badezimmer) bedürfen keiner ak-ribischen Organisation - es funktioniert einfach. Und nicht zuletzt wird das ‚Wohnen‘ zu einem angenehmen Hintergrund des Alltags.

Als Fortführung meiner Beschäftigung mit der Schönheit des Alltäglichen möchte ich über eine persönliche Ref lexion die Potenziale des verdich-teten Bauens beleuchten, die es neben seinen ökologischen Vorteilen birgt .Die Schönheit des Alltäglichen meint in diesem Falle die Ruhe und Gelassenheit im Umgang mit den einfachen Dingen (Abb.07).

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49Wohnen Ein komplexer Fundus

Abb.08_Zimmer

Eidelstederweg, Hamburg

Unter europäischem Verständnis total ausgereizt : Der Innenhof

misst gerade mal vier Meter Breite. Die Einsicht von Küche zu

Küche ist direkt. Die Schlafzimmer sind stirnseitig angeordnet

und haben deshalb eine Grössere Distanz zu ihrem Gegenüber.

Die Einsicht zum Nachbarn über eine nonverbale Kommunikati-

on vermittelt ein gutes Gefühl , nicht al leine zu sein. Man kennt

die Geschichte seines Nachbarn im eigenen Bild als Beobachter.

WohnenEin komplexer Fundus

Um neue Wohnungstypologien zu entwickeln, ist das Nachdenken über das Wohnen an sich mit al l seinen Feinheiten heute eine der Hauptaufga-ben der Architekten. Das erarbeitete Wissen über gelungene und gescheiterte ‚Wohnexperimente‘ macht das Wesen des Wohnens immer schwieriger greifbar. Zahlreiche Publikationen beschäftigen sich mit dem Wohnen: ‚Wie wohnen wir? Wo woh-nen wir? Unter welchen Umständen?‘ Die Beschäftigung mit diesen Fragen und der Versuch diese zu beantworten führen dazu, Hilfs-mittel in Form von Methoden zu entwickeln um einerseits Zusammenhänge begreifen und darstel-len zu können und anderseits auf diese Erkennt-nisse zu reagieren. Diese Abstraktions-, Analyse- und Konzeptualisierungsprozesse helfen enorm, Argumente für spezifische Aufgaben zu entwi-ckeln. Schwierig wird es dann, wenn ich mich als Architekt nicht mehr von diesen Prozessen zu lö-sen vermag und das Konzept nicht zum erstrebten Gewinn für die Nutzung führt . Oder konkreter for-muliert : Komme ich zum Ziel , wenn ich ein sehr schön erklärbares Konzept bis zum bitteren Ende konsequent durchziehe und damit keine Qualitä-ten für das Wohnen erziele? Anders gefragt: ‚Wie muss ich mich verhalten um eben diesen Mehr-wert neben dem Wohnen zu generieren?‘

Wir al le sind ‚Wohnende’ - ob in einer familiären Umgebung, ob in einer Wohngemeinschaft oder in einem Einzelhaushalt . Wenn ich diesen ‚Mehr-wert‘ ins Feld führe geht es viel leicht auch darum,

das ,Spezifische‘ oder das ‚Spezielle‘ am eigenen Wohnumfeld dingfest zu machen, zu begreifen. Braucht denn eine Wohnung - als Raum für das Wohnen - etwas Spezielles, damit wir wohnen kön-nen? Uns wohl fühlen können? Eine Heimat haben können?

Wenn ich aus meiner eigenen Wohnerfahrung spreche, würde ich behaupten, dass nur vor dem Hintergrund einer intakten Integration an einem Ort ein funktionierendes Wohnen im Sinne eines ‚sich wohl Fühlens‘ und ‚Heimat Verspürens‘ statt-finden kann. Ob nun aber diese Aspekte archi-tektonischer Natur sein müssen – in Form einer massgeschneiderten Wohnung - wage ich zu be-zweifeln. Vielmehr denke ich, dass die Architektur eines Ortes das Wohnen zulassen muss, sprich, die

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Abb.09_Die Bar im Wohnzimmer - Kostbar, Hamburg

Das Wohnzimmer wird zur Bar. Die Tapete, die an Heimatlichkeit

erinnernden Bilder, die Blumenvase, der Hintergrund des Woh-

nens nistet sich an den urbanen Orten der Stadt im Sous-Parter-

re Raum ein. Vielleicht ist es die minuziöse Freude des Machers,

des Wirtes, an diesen Dingen, die zum Ausdruck gebracht und

als Gast aufgenommen und angenehm empfunden wird.

Wohnen Ein komplexer Fundus

Individualität des Wohners muss zum Ausdruck gebracht werden können. Im besten Fall schaff t es die Architektur, ihre Bewohner zu diesem Schritt zu motivieren.In bestimmten Lebenssituationen kann Wohnen darin bestehen, nach der Arbeit nach Hause zu kommen, zu duschen, zu kochen, zu essen, zu trinken - al les vor laufendem Fernseher und im Anschluss unref lektiert zu Bett zu gehen. Und in anderen Situationen, viel leicht sogar am di-rekt darauf folgenden Tag, lebt genau der g leiche Mensch ein unglaublich kommunikatives Leben, lädt viele Menschen ein, es wird in der selben Wohnung nicht der Fernseher angeschaut, son-dern enorm viel Wein getrunken und einfach über das Leben diskutiert .

Architektur kann lediglich den Hintergrund für das Wohnen bieten, sie kann den Menschen aber nicht zum gemeinschaftl ichen Leben zwingen.

Trotz der komplexen Fragestellung, die das Woh-nen mit seinem gesamten Wissensfundus aufwirf t , gibt es für den Architekten oder die Architektin ganz konkrete Kriterien, um diese adäquat zu beantworten. Er/sie eignet sich diese Kompetenz im Laufe der Ausbildung an und befähigt sich damit , das Wohnen mit einer eigenen spezifischen Haltung zu prägen. Unter der Bedingung, dass ich als ausgebildeter Architekt befähigt bin, Wohnung und auch andere Gefässe des städtischen Lebens zu bearbeiten, ist das kumulierte Wissen rund um die Kultivierung des Wohnens nicht Anlass zur Resignation, sondern eine Chance, mit einem ma-ximalen Fundus an Wissen und Erfahrungen das Wohnen positiv zu prägen.

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Abb.10_La Galleria

Mückenkampstrasse, Hamburg

Reza heisst der Perser g leich um die Ecke und kocht täglich für

rund zehn Gäste eine Auswahl von drei bis vier Gerichten. Sein

Raum misst ungefähr fünf auf fünf Meter, darin steht eine Bar,

sein Kochherd, Kühlschrank und eine Auswahl an Getränken.

Im ca viereinhalb Meter hohen Raum bilden Bilder, die Geträn-

ke- und Speisekarte und andere Accessoires die Atmosphäre des

Ortes. Nicht zuletzt steht aber Reza da setzt sich zu einem uns

sucht das Gespräch mit seinem unverwechselbaren Akzent. Auf

eine sehr angenehme Weise entsteht ein warmes Gefühl - ich

esse sehr gerne bei Reza.

Damit ich in einem Wohnumfeld Mehrwerte gene-rieren kann, möchte ich das Potenzial des Mehr-wertes zunächst umschreiben: Unabhängig davon, was ich in meiner gebauten Umwelt für Voraus-setzungen vorfinde, gelingt es mir Begeisterung zu entfachen, wenn ich mich in diese integrieren kann, wenn ich mich in ihr organisieren kann, unabhängig davon, wie gross oder wie klein sie ist und ob die Architektur intakt oder zerstört ist . Wenn ich eingezogen bin und mir eine Heimat ge-schaffen habe, fühle ich mich stolz und glücklich. Dieses Bedürfnis nach einem glücklichen Zuhau-se weitet sich auch über die Mauern der eigenen Wohnung hinaus aus. Die Befriedigung über eine Arbeitstelle , bei der ich mich und mein Tun aus-drücken kann, um etwas herzustellen, trägt genau so zu diesem Gefühl bei , wie es Menschen um mich herum gibt , ohne die die beste und schönste Wohnung nichts wert wäre. Wie kann also Mehr-wert generiert werden?

Der Balkon an der richtigen Stelle in der Woh-nung unterliegt of t Weisungen im Mietvertrag, dass man ihn nicht bepf lanzen darf . Der Raum im Keller könnte von seiner Beschaffenheit her eine schöne Gemeinschaftswerkstatt bieten, wird aber weder vermietet noch unterhalten und bleibt deshalb leer. Die Dachterrasse verfügt über kei-ne geprüfte Absturzsicherung und ist mit der Beschilderung ‚Betreten strengstens verboten‘ versehen. Ein Mehrwert kann darin bestehen, das Geländer fachmännisch zu montieren, das Schild

Wertedes Wohnens

Werte des Wohnens

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Abb.11_Kupferkrug

Mundsburger Damm

Hamburg

Friedel und Thomas haben uns jeweils nach den Literaturvorle-

sungen am Mittwoch empfangen: ‚Ah die Schweizer sind wieder

da!‘ und haben uns drei ‚Küglis‘ (Bier) mit dem schönsten

Schaum der Stadt gebracht und bei der zweiten Runde gefragt,

ob wir auch heute gerne etwas Währschaftl iches bei Ihnen essen

möchten, In der Küche ist Thomas, den Matjessalat jedoch macht

Friedel mit fünfundsiebzig Jahren immer noch selber. Gegen

Ende des Abends sind wir ab und an noch zu einem oder zwei

Gläser Helbling (echter Hamburger Kümmel) eingeladen und

werden mit der Vorfreude auf den kommenden Mittwoch in die

Nacht verabschiedet .

Werte des Wohnens

abzuschrauben und schon am nächsten schönen Sommerabend im Liegestuhl in die Sonne zu l ie-gen. Ein Mehrwert kann sein, entgegen den Ver-ordnungen den Balkon in Anspruch zu nehmen, ihn zu begrünen und ihn zu beleben. Und im be-sagten Keller wird die Werkstatt nun eingerichtet . Diese Methode trennt das Gelingen des Schönen von der Architektur selbst . Bloss: Die Architek-tur muss auch Hintergrund bieten können; die Dachterrasse, der Raum im Keller und der Balkon müssen vorhanden sein, damit sie bespielt werden können. Ich möchte als Architekt an diesen Din-gen Freude entwickeln und an ihr Gelingen glau-ben. Und ich darf mich in diesen Momenten auch auf die Bewohner und Bewohnerinnen verlassen; darauf, dass diese Bedürfnisse vorhanden sind und diese Qualitäten auch in Anspruch genommen werden, sofern die Architektur sie wirklich bieten kann.

Über die Freude an der Materie kann Positives entwickelt und können Werte erzeugt werden. Diese Freude trotz der Vielfalt des heutigen An-gebotes aufrecht zu erhalten ist eine nicht ganz einfache aber notwendige Angelegenheit , um dem Anspruch der Schönheit zu genügen.

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Abb.12_La Cantinella

Methfesselstrasse Hamburg

‚Wir sind eine Weinbar‘ lästert Diego of t über seine Kunden,

die wiedereinmal die Bionaden und den Biervorrat wegtrinken

oder im besten Fall den offenen Wein in der Halbliterkaraffe

bestellen. Er kocht jeden Abend seine Pasta-Karte durch und

wil l hauptsächlich den guten italienischen Wein verkaufen. Sein

Haupteinkommen regelt er aber über das Internet und l iefert

Delikatessen und Wein in die ganze Welt . ‚Die Russen bezahlen

einiges mehr für den Montepulciano als hier die Deutschen. ‘

Diego geht nicht al lzu zimperlich mit seinen Gästen um. Wenn

er keine Lust mehr hat zu kochen, ist ab 18.00 die Küche ge-

schlossen und die noch freien Plätze ausnahmslos reserviert ,

er nimmt aber keine Reservationen entgegen: ‚Das machen wir

nicht!‘

Um zwei Uhr morgens ist dann endgültig Feierabend, die

Stammgäste, die für ein bil l iges Glas Wein auf ihrer Tour ihren

letzten Posten absolviert haben werden nach Hause geschickt

und Diego lädt seine Angestellten noch auf ein Nachtessen im

RIBS ein, wo es die ganze Nacht durch warme Gerichte gibt .

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In der Bildanalyse einer Momentaufnahme des Gewöhnlichen möchte ich versuchen eine weitere Annäherung an das Verständnis des Schönen zu leisten.

Die Betrachtung des Bildes löst Erinnerungen aus an Momente, die man mit solchen Räumen ver-bindet. Der Boden, die Heizung, das Fenster, aber auch die Küchenapparate, die autonom und nicht in Form der heute in Neubauten verbreiteten Einbauküchen da stehen, bilden einen primären Raumeindruck und transportieren dem/der Be-trachtenden eine irgendwie bekannte, heimische Stimmung. Sekundär unterstützt die Möblierung mit dem Gusseisengestell , Tisch und Stuhl im Vor-dergrund diese Erinnerungen an das WG-Leben in der Altbauwohnung. Nicht zuletzt steht die Bialet-ti-Espressomaschine bereit für den nächsten Kaf-fee auf dem Gasherd. Der Abwaschtrog und die Ge-schirrablage sind überfüllt und der Tisch ist noch mit dem Frühstück belegt . Milch und Orangensaf t stehen im Tetrapack da, nicht schön in der Ka-raffe ‚dekantiert ‘ . Die Butter jedoch wird nicht im Alupapier sondern im dafür gedachten Porzellan serviert . Das bereits erwähnte gusseiserne Ge-stell im Hintergrund an der l inken Wand fasst den gesamten Vorrat an Nahrungsmittel dieses Zweipersonenhaushaltes. Die meisten Dinge sind in unterschiedlichen Dosen aufbewahrt. Bereits dieser kleine Sachverhalt trägt eine Geschichte in sich: Die eine Bewohnerin jobbt nämlich als Nebenverdienst im Basler Dosenmuseum und hat

BildanalyseEin Forschungsmodell

Bildanalyse Ein Forschungsmodell

einen Hang zu schönen, seltenen Dosen.

Diese Beschreibungen könnten nun bei al l diesen kleinen Dingen, die hier stehen ins Unendliche weiter betrieben werden; sämtliche Dinge sind Träger einer kleineren oder grösseren Geschich-te, die mehr oder minder interessant ist . Als fas-zinierend empfinde ich aber vor allem die Frage, warum diese Konstellation an Geschichten von mir als Betrachter als schön empfunden wird. Sei es in einem ersten Schritt , indem ich physisch anwesend in diesem Raum sitze, zeichne, aufneh-me und vielleicht gar nicht so viel überlege - oder sei es in einem zweiten Schritt in der Betrachtung und Analyse des Bildes, als Momentaufnahme einer Atmosphäre. Vermutlich bin ich überwältigt von der Dichte, die diese Geschichten auf mich ausstrahlen und die mich beeindruckt. Die Reich-haltigkeit des Herkömmlichen besitzt die Kraf t durch ihre Dichte und Selbstverständlichkeit mich in Bann zu ziehen, sie als schön zu empfinden und entsprechend zu bezeichnen. Im Aufbau der Beschreibung möchte ich noch-mals die Unterteilung der primären, sekundären und tertiären Dinge ansprechen. Als primär habe ich die rein architektonischen Elemente, die auf dem Bild zu sehen sind, erwähnt: Fenster, Bo-den, Decke und Wände, welche dem Raum eine primäre Prägung verleihen. Sekundär wirken die ganze Ausstattung und die Möblierung ebenfalls prägend auf den Raumeindruck und übernehmen hauptsächlich funktionale Aufgaben (Tisch, Stuhl ,

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Abb.07_Küche

Sierenzerstrasse Basel 2011

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Abb.13_Küche

Grenzacherstrasse Basel 2011

Vier Zimmer, vier Personen, eine Küche. Als wir eingezogen

sind, war die Wand noch nicht rot , aber eine Woche später war

sie es. Das Gestell Anfang noch säuberlich organisiert überquil lt

wegen einer Anhäufung an guten Dingen. Ab und an vergisst

man, dass man eigentlich schon ein paar Zwiebeln gehabt hätte,

und man die Äpfel viel leicht ein bisschen früher hätte essen

sollen. Die WG-Küche hat ihren eigenen Rythmus. Weil sie der

einzige Raum ist der zu einem kollektiven Verweilen einlädt ist

er hoch frequentiert und durch die Benutzung auch gepf legt .

Bildanalyse Ein Forschungsmodell

Küchenelemente, Gewürz und Nahrungsmittelre-gal , Kühlschrank etc.) Die tertiären Elemente sind all diese kleinen Dinge, die dem Wohnen so nahe sind. Auch die Art wie sie benutzt werden; ob eben der Orangensaf t aus der Packung oder aus der Karaffe kommt.

Die konzeptionelle Unterteilung zwischen primär, sekundär und tertiär bildet nicht die Bedeutung im Bezug auf die atmosphärische Prägung des Raumes ab, sondern auf eine pragmatische Weise die Veränderbarkeit der Dinge selbst . Im Gegen-satz zur Permanenz eines Fensters sind Butter, Käse und Salzstreuer täglich anders auf dem Tisch oder eben an andern Orten zu finden; sie sind wie das Fenster auch in Benutzung, jedoch unter anderen Bedingungen. All diese Dinge wirken nicht unwesentlich auf die Wahrnehmung des Raumes und des Bildes ein und formen eine Gesamtheit , eine Atmosphäre, in der man sich schlussendlich wohlfühlen kann oder nicht.

Die Küche hat mich deswegen extrem interessiert und inspiriert , weil sie die Unmittelbarkeit der Dinge zwischen Architektur und Alltag so direkt miteinander verbindet.

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Abb.14_Küche

Eidelstedterweg, Hamburg, 2011

Drei Elemente für zwei Personen. Wenn Dirk gekocht hat , musste

es schnell gehen Eine Pfanne Spaghetti und im besten Fall eine

aufgewärmte Sauce in einem zweiten Topf. Die Fertig- Pesto

Sauce kann man ja auch direkt in die Pasta streichen. Nach ei-

nem langen Arbeitstag, schnell Essen Fernseher an und geistig

Abschalten. Obwohl wir uns auch gut verstanden haben, war es

ein Problem, dass während ich gekocht habe Dampf in der Küche

entstanden ist , und ich sowohl Tisch als auch andere Ablagef lä-

che zum Auslegen in Anspruch genommen habe.

Abb.15_Thai , China, Asia

Methfesselstrasse, Hamburg

Nicht viele Worte haben wir gewechselt . Sie steht hinter dem

Tresen, nickt mir zu, während ich die Nummer aus der Auswahl

zwischen Thai , Chinesisch und Asiatisch ausspreche und fragt

mich: ‚Tee?‘ , und ich nicke. Nicht täglich, aber doch of t habe ich

während der Arbeit den Take Away um die Ecke aufgesucht, sie

kochen da nicht sonderlich gut, die Ente ist of t im alten Oel ge-

braten, die Holzbänke auf dem Bürgersteig wirken auch eher im-

provisiert . Jedoch war es irgendwie einfach gut. Auch schon ist

Jürgen, mein Nachbar, vorbei gegangen und wir haben ein paar

Worte gewechselt . Reza hat mich gefragt: ‚Gehst du jetzt fremd?

Warum kommst du nicht zu mir essen?‘ . . . Das Quartiergespräch.

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58 Architektur des Kleinen Ein Fazit

Architektur im KleinenEin Fazit

Die parallele Bearbeitung von theoretischer Arbeit und Entwurfsprojekt hat mir die Möglich-keit gegeben, meinen Gedankengängen über das Schöne auch in der meiner architektonischen und physischen Arbeit nachzugehen. In dem darin ent-standenen sehr komplexen Gebäude, indem rund 2‘000 Bewohner und Bewohnerinnen ein Zuhause finden, habe ich die Beziehung zwischen Gross-masstäblichkeit und der kleinteil igen und identi-tätstif tenden Struktur des Wohnens untersucht. Die kleinen Dinge, die ein Wohnumfeld bewohnbar, angenehm und spezifisch machen finden Raum und fügen sich selbstverständlich in den alltägli-chen Ablauf des Wohnens ein.

Diese Dinge erlauben in einem ersten Schritt mir, als Denker dieser Anlage, Freude an ihnen zu ent-wickeln und an ihnen zu arbeiten. Freude ist wohl das wichtigste Gefühl , welches in jeder Arbeit , in jedem Tun zugelassen werden muss.

Wenn ich das architektonische Treiben der heu-tigen Zeit kritisch beobachte, fäl lt es mir of t schwer Intentionen der Machenden zu lesen. Of t spüre ich vielmehr eine angestrengte Absicht, sich in einer zeitgemässen zweckentfremdeten Architektursprache zu verankern, als die Freude an der Sache selbst zu verstehen. Es gibt einen Kodex darüber, was man darf und was man nicht darf . Wenn man das, was man nicht darf , auf eine geschickte Art und Weise bricht, kann man als Trendsetter Erfolg haben; und dieser Sachverhalt

wandelt sich dann zu etwas, was man nun darf . Bei diesem Spiel geht es nicht um Qualitäten, sondern um das Verteilen von Erfolgschancen. Über diese Dinge lohnt es sich meiner Meinung nach nicht zu diskutieren. Viel interessanter für die Weiterführung des Fachdiskurses ist die Frage nach messbaren Qualitäten.

Die Schönheit ist dabei ein nicht ganz einfach einzustufender Faktor; sie ist schwer greif- und erklärbar. Die Suche nach dem Schönen muss sich nicht über weite Wege erstrecken, denn sie ist ganz nahe im Alltäglichen zu finden.

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Abb.16_Belleall iance-Strasse

Hamburg 2011

Obwohl die Fahrzeuge, den rechten Rand des Trottoirs gänzlich

dominieren, tei lweise auch der Motor noch läuf t , . . . Wenn die Son-

ne scheint, werden beim Café Tati an der Belleall iance-Strasse

in Hamburg die Stühle und Tische hinausgestellt und somit die

Strasse belebt . Es entsteht ein Ort , wo man sich gerne hinsetzt .

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Abbildungsverzeichnis

sämtliche Abbildungen: Bil l , Matthias

mit Ausnahme: Abb.03: Buchtitel : Alexander, Ishikawa, Silverstein: A Pattern Language - Towns - Buildings - Construction, Oxford University Press, New York 1977

Literaturverzeichnis

Alexander, Christopher (Hrsg.) , Alexander, Ishika-wa, Silverstein: A Pattern Language - Towns - Buildings - Construction, Oxford University Press, New York 1977Deutsche Fassung:Czech, Hermann: eine Mustersprache - Städte - Gebäude - Konstruktion, Löcker Verlag, Wien 1995

Rüedy, Peter: Dürrenmatt oder die Ahnung vom Ganzen, Diogenes Verlag, Zürich 2011


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