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Felix Zwoch Wenn man sich umhört in Europa - bauwelt.de · Augustin Ioan ist ein Freund, der mir...

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8 | Bauwelt 24 2005 Felix Zwoch Wenn man sich umhört in Europa Nicht nur die lebhafte Resonanz auf die sechs Artikel, die vor genau einem Jahr über das Amerika nach Nine/Eleven in der Stadtbauwelt 162 erschienen, ließen es richtig und wünschenswert erscheinen, einen ähnlichen Querschnitt durch Europa im Jahr sechzehn nach der Wiedervereini- gung zu legen. Es war aber auch meine persönliche Neu- gier, die mich dazu getrieben hat. Was denkt man eigent- lich heute über Städtebau in Europa? Überraschenderweise gestaltete sich die Suche nach Auto- ren in Europa sehr viel schwieriger als in den USA. Dort fand ich mehr als genug theoretische Aufsätze in den Zeit- schriften, die von den Architekturfakultäten der großen Universitäten regelmäßig herausgegeben werden. Ich brauchte nur noch zu wählen. In Europa hingegen gibt es solche Zeitschriften nicht, es gibt auch kein alle Stimmen verknüpfendes Thema wie Nine/Eleven, es scheint auch keine Debatte über das Wesen des Städtischen zu geben, an der Theoretiker aus verschiedenen Ländern teilnehmen. Was wir hier präsentieren, sind Einzelstimmen, die sehr schwer zu finden waren. Die ersten nahe liegenden Schritte waren: die Durchsicht aller europäischen Architekturzeitschriften, Korrespon- denzen und Telefonate mit vielen Kollegen. Was habt ihr denn aus den Kreisen derer gehört, die sich mit Stadttheo- rie beschäftigen? Nichts. Nach welchen Themen kann ich wo suchen, was habt ihr zuletzt gelesen, was wäre emp- fehlenswert? Nichts, was über lokale Themen hinausgeht. Wer ist euch aufgefallen? Schweigen. Hoffnung setzte ich auf die Publikationen des NAi, des Niederländischen Ar- chitekturinstituts, aus dessen Veröffentlichungen ich dann wirklich, nach vielen vergeblich geblätterten Seiten, zwei Beiträge herausfiltern konnte. Der eine stammt aus der Zeitschrift „archis“, die es seit kurzem nicht mehr gibt, der andere aus dem Buch „Fear and Space“. Die in Mailand erscheinende Architekturzeitschrift „Domus“, Bestseller unter den europäischen Magazinen, widmet sich seit 2004 unter dem neuen Chefredakteur Stefano Boeri wieder ar- chitekturtheoretischen Themen. Den Beitrag von Neil Leach fand ich in einer der letzten Ausgaben. Nach diesen Erfahrungen musste ich weiträumiger suchen. Zuerst der Besuch von Kongressen. In Darmstadt fand im April dieses Jahres ein Seminar zum Thema: „Negotiating Urban Conflicts“ statt, Kongresssprache war Englisch. Ge- funden habe ich die russische Autorin Elena Trubina. Aus den rund vierzig Stadtporträts der letzten zehn Jahre sind mir viele Autoren als Freunde verblieben, auch die habe ich befragt. Was kannst du mir schreiben, womit beschäftigst du dich gerade, was wird bei euch diskutiert? Unsicherheit. Ein einziger Autor, Augustin Ioan aus Bukarest, schickte seine jüngsten Theorietexte, die er als Vorträge in den USA gehalten hat, einer davon fand Eingang in dieses Heft. Wo bleibt die Szene in Deutschland? Gegenüber dem Pro- jekt „Shrinking Cities“, gefördert von der Bundeskulturstif- tung, war ich vorsichtig, was dessen theoretische Unter- mauerung betrifft, gegenüber den Forschungsansätzen aus der Stiftung Bauhaus Dessau hatte ich, zu Recht oder zu Unrecht, Vorbehalte. Doch ein Buch aus den reichhaltigen Rezensionsangeboten, die die Redaktion fast täglich errei- chen, verlangte Aufmerksamkeit, ein Buch, das vielleicht nicht ohne die Stiftung Bauhaus zu denken ist. Friedrich von Borries veröffentlichte vor kurzem „Wer hat Angst vor Niketown?“. Man könnte sagen, dass er darin den Zugriff eines Konzerns auf die Stadt, also eine amerikanische Vor- gehensweise beschreibt, aber verortet ist sie in Deutsch- land, in Berlin. Aus diesem Buch veröffentlichen wir das vom Autor überarbeitete erste Kapitel. Wir beginnen mit Neil Leachs Aufsatz „Tony Blairs Camou- flage London“. Ist das wirklich eine Auseinandersetzung mit dem Thema Stadt, oder geht es hier nicht vielmehr um Architektur als Instrument politischer Propaganda? Ein Instrument, das sich der, der politisch zu lügen versteht, fabelhaft dienstbar machen kann? Glas, angewandt in der Architektur, sagt der Autor, gilt als Zeichen für Transpa- renz, Glas, angewandt in öffentlichen Bauten, wird als Zei- chen für eine für alle offene Demokratie eingesetzt. Doch die Zeichen sind falsch: Umso bürgerverschlossener Tony Blairs Demokratie agiert, umso mehr Glas verschwendet sie an öffentliche Bauten. Camouflage ist Maskerade, ist Lüge. Die Architektur lässt mit sich machen. Die Architek- ten lassen mit sich machen. Warum noch von innen heraus ein Programm entwickeln, wenn das Äußere als falsches Zeichen längst vorgegeben ist? Wenn die vermehrten Kon- trollen in der Londoner Innenstadt durch die gläsernsten aller Millenniumsbauten camoufliert werden können? Die Gedanken des Autors konstatieren das, was ist. Die Gedan- ken der amerikanischen Autorin Dana Cuff von vor einem Jahr gingen weiter: Was, wenn die sich immer weiter ver- feinernden Überwachungsinstrumente den Kontrollierten die Macht in die Hand spielen würden, die Kontrollieren- den zu kontrollieren? Die sechs amerikanischen Essayisten verboten sich, ihren Argumenten linear nachzugehen, im Gegenteil, sie erlaubten sich zu denken, dass jeder noch so absurde Weg sich durch Rückkoppelung in sein Gegen- teil verkehren kann. Wouter Vanstiphout schreibt über Rotterdam. Über Rotter- dam schrieb auch Michael Stanton in „The Good, the Bad and the Ugly“. Der Amerikaner fragte sich, ob hier nicht die guten Absichten der Planer eine weniger gute Stadt her- vorgebracht hätten, und ob nicht, in seinem Gegenbeispiel Beirut, die Absichtslosigkeit des Kapitals eine stabilere Stadtkonstellation bewirkt habe? Alles ist offen. Nicht aber in einer europäischen Sichtweise. Da hat ein sehr kleines Land mit ministerieller Unterstützung sehr große Gedan- ken formulieren und in die Welt exportieren dürfen, und damit ist es nun vorbei. Was nun, fragt der Autor, und weiß keinen anderen Rat, als den Jüngeren, die in keiner so über- StadtBauwelt 166 | 9 Architektonisch manifestiert sich ,Palast des Zweifels‘ als eine faktische Verschmelzung von drei Stockwerke hohen Alu-Buchstaben mit der asbestsanierten Stahlbeton-Ruine. Die Transformation des zum Abriss verur- teilten Palastes zu einem zeitgenössischen Kunstwerk verschiebt die Wahrnehmung von historischen Artefakten zu einer thea- tralen Gestaltung von politischem Diskurs. ,Palast des Zweifels‘ simuliert eine virtuelle Institution, wo aktuelle öffentliche Debat- ten ihr eigenes Gebäude erhalten. Vergleich- bar einer Kirche, die einen Raum für den Glauben verspricht, könnte PdZ zum aktiven Raum des Nachdenkens werden. Die skulpturalen Neon-Buchstaben auf dem Dach des Palastes formen den Schriftzug ZWEIFEL. Er erscheint als eine Art Logo, aber anstatt für ein kommerzielles Produkt zu werben, fördert die Schrift ein intellektuel- les Produkt der Reflexion: ZWEIFEL.“ Aus den Erläuterungen zum Projekt „Ausge- hend von seiner Lage im Zentrum der Stadt, bezieht sich das kontextuelle Werk ,Palast des Zweifels‘ zu einem lokalen und zu einem globalen Diskurs. Global: Nach dem Verlust von Ideologien, Utopien und dem Glauben an eine homo- gene kollektive Identität (das VOLK) beste- hen weiterhin das Verlangen und die Not- wendigkeit, fundamentale gesellschaftliche Werte zu diskutieren. Lokal: Der spezifische Stadtraum Museums- insel, wo sich der Palast der Republik befin- det, ist historisch betrachtet ein symboli- scher Ort. Nach der Wiedervereinigung hat sich aufgrund von Abriss vieler DDR-Gebäu- de eine politische Debatte entzündet. Da- bei wurden Fragen nationaler Identität, his- torischer Authentizität, unreflektierter Zen- sur historischer Denkmäler sowie Architek- tur thematisiert. Palast des Zweifels, Installation von Lars O /. Ramberg. Palast der Republik, Berlin 26. Januar bis 10. Mai 2005 Fotos: Gorm Gaare, Berlin
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Page 1: Felix Zwoch Wenn man sich umhört in Europa - bauwelt.de · Augustin Ioan ist ein Freund, der mir aus der Zusammen-arbeit an dem Stadtbauweltheft über Bukarest aus dem Jahr 1996

8 | Bauwelt 24 2005

Felix Zwoch

Wenn man sich umhört in Europa

Nicht nur die lebhafte Resonanz auf die sechs Artikel, dievor genau einem Jahr über das Amerika nach Nine/Elevenin der Stadtbauwelt 162 erschienen, ließen es richtig undwünschenswert erscheinen, einen ähnlichen Querschnittdurch Europa im Jahr sechzehn nach der Wiedervereini-gung zu legen. Es war aber auch meine persönliche Neu-gier, die mich dazu getrieben hat. Was denkt man eigent-lich heute über Städtebau in Europa?Überraschenderweise gestaltete sich die Suche nach Auto-ren in Europa sehr viel schwieriger als in den USA. Dortfand ich mehr als genug theoretische Aufsätze in den Zeit-schriften, die von den Architekturfakultäten der großenUniversitäten regelmäßig herausgegeben werden. Ichbrauchte nur noch zu wählen. In Europa hingegen gibt essolche Zeitschriften nicht, es gibt auch kein alle Stimmenverknüpfendes Thema wie Nine/Eleven, es scheint auchkeine Debatte über das Wesen des Städtischen zu geben,an der Theoretiker aus verschiedenen Ländern teilnehmen.Was wir hier präsentieren, sind Einzelstimmen, die sehrschwer zu finden waren.Die ersten nahe liegenden Schritte waren: die Durchsichtaller europäischen Architekturzeitschriften, Korrespon-denzen und Telefonate mit vielen Kollegen. Was habt ihrdenn aus den Kreisen derer gehört, die sich mit Stadttheo-rie beschäftigen? Nichts. Nach welchen Themen kann ichwo suchen, was habt ihr zuletzt gelesen, was wäre emp-fehlenswert? Nichts, was über lokale Themen hinausgeht.Wer ist euch aufgefallen? Schweigen. Hoffnung setzte ichauf die Publikationen des NAi, des Niederländischen Ar-chitekturinstituts, aus dessen Veröffentlichungen ich dannwirklich, nach vielen vergeblich geblätterten Seiten, zweiBeiträge herausfiltern konnte. Der eine stammt aus derZeitschrift „archis“, die es seit kurzem nicht mehr gibt, derandere aus dem Buch „Fear and Space“. Die in Mailand erscheinende Architekturzeitschrift „Domus“, Bestsellerunter den europäischen Magazinen, widmet sich seit 2004unter dem neuen Chefredakteur Stefano Boeri wieder ar-chitekturtheoretischen Themen. Den Beitrag von Neil Leachfand ich in einer der letzten Ausgaben.Nach diesen Erfahrungen musste ich weiträumiger suchen.Zuerst der Besuch von Kongressen. In Darmstadt fand imApril dieses Jahres ein Seminar zum Thema: „NegotiatingUrban Conflicts“ statt, Kongresssprache war Englisch. Ge-funden habe ich die russische Autorin Elena Trubina. Ausden rund vierzig Stadtporträts der letzten zehn Jahre sindmir viele Autoren als Freunde verblieben, auch die habe ichbefragt. Was kannst du mir schreiben, womit beschäftigstdu dich gerade, was wird bei euch diskutiert? Unsicherheit.Ein einziger Autor, Augustin Ioan aus Bukarest, schickteseine jüngsten Theorietexte, die er als Vorträge in den USAgehalten hat, einer davon fand Eingang in dieses Heft. Wo bleibt die Szene in Deutschland? Gegenüber dem Pro-jekt „Shrinking Cities“, gefördert von der Bundeskulturstif-

tung, war ich vorsichtig, was dessen theoretische Unter-mauerung betrifft, gegenüber den Forschungsansätzen ausder Stiftung Bauhaus Dessau hatte ich, zu Recht oder zuUnrecht, Vorbehalte. Doch ein Buch aus den reichhaltigenRezensionsangeboten, die die Redaktion fast täglich errei-chen, verlangte Aufmerksamkeit, ein Buch, das vielleichtnicht ohne die Stiftung Bauhaus zu denken ist. Friedrichvon Borries veröffentlichte vor kurzem „Wer hat Angst vorNiketown?“. Man könnte sagen, dass er darin den Zugriffeines Konzerns auf die Stadt, also eine amerikanische Vor-gehensweise beschreibt, aber verortet ist sie in Deutsch-land, in Berlin. Aus diesem Buch veröffentlichen wir dasvom Autor überarbeitete erste Kapitel. Wir beginnen mit Neil Leachs Aufsatz „Tony Blairs Camou-flage London“. Ist das wirklich eine Auseinandersetzungmit dem Thema Stadt, oder geht es hier nicht vielmehr umArchitektur als Instrument politischer Propaganda? EinInstrument, das sich der, der politisch zu lügen versteht,fabelhaft dienstbar machen kann? Glas, angewandt in derArchitektur, sagt der Autor, gilt als Zeichen für Transpa-renz, Glas, angewandt in öffentlichen Bauten, wird als Zei-chen für eine für alle offene Demokratie eingesetzt. Dochdie Zeichen sind falsch: Umso bürgerverschlossener TonyBlairs Demokratie agiert, umso mehr Glas verschwendetsie an öffentliche Bauten. Camouflage ist Maskerade, istLüge. Die Architektur lässt mit sich machen. Die Architek-ten lassen mit sich machen. Warum noch von innen herausein Programm entwickeln, wenn das Äußere als falschesZeichen längst vorgegeben ist? Wenn die vermehrten Kon-trollen in der Londoner Innenstadt durch die gläsernstenaller Millenniumsbauten camoufliert werden können? DieGedanken des Autors konstatieren das, was ist. Die Gedan-ken der amerikanischen Autorin Dana Cuff von vor einemJahr gingen weiter: Was, wenn die sich immer weiter ver-feinernden Überwachungsinstrumente den Kontrolliertendie Macht in die Hand spielen würden, die Kontrollieren-den zu kontrollieren? Die sechs amerikanischen Essayistenverboten sich, ihren Argumenten linear nachzugehen, imGegenteil, sie erlaubten sich zu denken, dass jeder noch so absurde Weg sich durch Rückkoppelung in sein Gegen-teil verkehren kann. Wouter Vanstiphout schreibt über Rotterdam. Über Rotter-dam schrieb auch Michael Stanton in „The Good, the Badand the Ugly“. Der Amerikaner fragte sich, ob hier nichtdie guten Absichten der Planer eine weniger gute Stadt her-vorgebracht hätten, und ob nicht, in seinem GegenbeispielBeirut, die Absichtslosigkeit des Kapitals eine stabilereStadtkonstellation bewirkt habe? Alles ist offen. Nicht aberin einer europäischen Sichtweise. Da hat ein sehr kleinesLand mit ministerieller Unterstützung sehr große Gedan-ken formulieren und in die Welt exportieren dürfen, unddamit ist es nun vorbei. Was nun, fragt der Autor, und weißkeinen anderen Rat, als den Jüngeren, die in keiner so über-

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Architektonisch manifestiert sich ,Palast des

Zweifels‘ als eine faktische Verschmelzung

von drei Stockwerke hohen Alu-Buchstaben

mit der asbestsanierten Stahlbeton-Ruine.

Die Transformation des zum Abriss verur-

teilten Palastes zu einem zeitgenössischen

Kunstwerk verschiebt die Wahrnehmung

von historischen Artefakten zu einer thea-

tralen Gestaltung von politischem Diskurs.

,Palast des Zweifels‘ simuliert eine virtuelle

Institution, wo aktuelle öffentliche Debat-

ten ihr eigenes Gebäude erhalten. Vergleich-

bar einer Kirche, die einen Raum für den

Glauben verspricht, könnte PdZ zum aktiven

Raum des Nachdenkens werden.

Die skulpturalen Neon-Buchstaben auf dem

Dach des Palastes formen den Schriftzug

ZWEIFEL. Er erscheint als eine Art Logo, aber

anstatt für ein kommerzielles Produkt zu

werben, fördert die Schrift ein intellektuel-

les Produkt der Reflexion: ZWEIFEL.“

Aus den Erläuterungen zum Projekt „Ausge-

hend von seiner Lage im Zentrum der Stadt,

bezieht sich das kontextuelle Werk ,Palast

des Zweifels‘ zu einem lokalen und zu einem

globalen Diskurs.

Global: Nach dem Verlust von Ideologien,

Utopien und dem Glauben an eine homo-

gene kollektive Identität (das VOLK) beste-

hen weiterhin das Verlangen und die Not-

wendigkeit, fundamentale gesellschaftliche

Werte zu diskutieren.

Lokal: Der spezifische Stadtraum Museums-

insel, wo sich der Palast der Republik befin-

det, ist historisch betrachtet ein symboli-

scher Ort. Nach der Wiedervereinigung hat

sich aufgrund von Abriss vieler DDR-Gebäu-

de eine politische Debatte entzündet. Da-

bei wurden Fragen nationaler Identität, his-

torischer Authentizität, unreflektierter Zen-

sur historischer Denkmäler sowie Architek-

tur thematisiert.

Palast des Zweifels,Installation von Lars O/. Ramberg.Palast der Republik, Berlin 26. Januar bis 10. Mai 2005

Fotos: Gorm Gaare, Berlin

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Was vorher da stand, ist eingegraben in das Gedächtnisder Erde, ist eingegraben in das Gedächtnis derer, die esnoch gesehen und erlebt haben. Gebt solchen Orten dieChance, sich auszuruhen von den Geistern, die sie einstheimsuchten. Sein Thema berührt uns auch in Berlin: Ma-chen sich die Stadtschlossbefürworter eigentlich klar, dasssie damit eine Zeit zurückrufen wollen, die keiner mehrhaben will? Und sind die Freunde des Palastes der Repu-blik, überzeugt, dass die alten Dämonen gebannt werdenmussten, sich sicher, dass die jüngeren nie mehr wieder-kehren? Augustin Ioan redet von Zweifeln solcher Art. Bert de Muynck aus Holland lässt sich, ähnlich wie Augus-tin Ioan, noch einmal auf ein Quellenstudium ein, undweil es um die Angst geht, hält er sich an Sigmund Freud:„Die Angst hat eine unverkennbare Beziehung zur Erwar-tung, sie ist Angst vor etwas.“ Die Erwartung aber, und dasist sein originärer Gedanke, ist ein Erbe aus der Zeit derModerne, als die Gesellschaft immer etwas erwartete, ammeisten den Fortschritt. Die Hoffnung auf Fortschritt, aufein Mehr von dem, was wir schon haben, kommt uns, derGesellschaft von heute, allmählich abhanden, deshalb, sokönnte man ihn interpretieren, ermüden auch die Gedan-ken. Sie werden so lange nicht wieder die Welt bewegen,„bis die Situation, in der wir leben, uns erneut zu faszie-nieren beginnt“. Friedrich von Borries analysiert am Endedes Heftes die außerordentliche Kraft einer wohl durch-dachten, zynischen Werbekampagne, die sich in das Funk-tionieren der Stadt einmischt. Waren es zuerst nur Spielerauf eingezäunten Bolzplätzen in Berlin, die von Nike zuBezirksmannschaften aufgestellt wurden und, indem siegegeneinander kämpften, zu so etwas wie einer Identitätoder Solidarität fanden, so ist es am Ende die vom Konzernselbst manipulierte Verleumdung von Nike, die eine andereArt von Solidarität auf der Ebene der Ablehnung, sagenwir ruhig, des Hasses, herstellt und die der Marke den glei-chen Nutzen bringt. Wie sollte man das Heft illustrieren? Wie illustriert mandie Dämonen des Ortes, wie den Verrat an der Demokratie,wie praktizierte Lüge? Wenn es einem Tony Blair gelingt,eine Stadt wie London zum Bühnenbild für die Inszenie-rung seiner Politik zu machen, wenn Präsident Putin diezaristische Stadtkulisse von St. Petersburg erfolgreich fürdie Vorspiegelung eines neuen Russland benutzen kann,wenn die Vorstellung der Ära Ceausescus noch lange nachseinem Tod in den Bühnenbildern geistert, die er in Buka-rest hinterlassen hat, dann liegt der Griff nach wirklichenBühnenbildern nahe, in denen (die meisten sind von AnnaViebrock) die ortlose Verortung des nomadischen Erden-bewohners bebildert wird, dem die Stadttheoretiker nochnicht auf die Spur gekommen sind. Das Prinzip Bühnen-bild macht sich auch Nike zunutze und gibt seiner Werbe-kampagne „Secret Tournament“ eine bildliche Erzählungbei, die zwischen Titanic und Gefängnis oszilliert.

aus begünstigten Lage praktizieren, ans Herz zu legen, sie mögen sich auf sich selbst besinnen, sie sollten ihreKräfte nutzen, um politisch selbständig zu handeln. Dieerfolgreiche Generation der holländischen Architekten istlängst ausgeflogen, sie agiert in China. Der Text spendetden Zurückgebliebenen nicht mehr als Trost. Elena Trubina, aus Jekatarinenburg, steht staunend in St. Petersburg. Wasserspiele, Lasershows, eingeladene En-tertainer aus Westeuropa camouflieren die Paraden, dieim sowjetischen Russland, bis ins Kleinste verfeinert, dieMacht des sozialistischen Staatswesens und die Treue sei-nes Volkes abbildeten. Auch die spektakulären Paraden zurDreihundertjahrfeier bilden etwas ab, aber was, ist nichtmehr ganz klar. In St. Petersburg wird diesmal der feudalis-tischen Tradition der Vortritt gelassen. Das Volk kennt dieParaden als grandiose Spektakel, nichts in Europa kommtdem gleich, doch worauf richten sie sich heute? Auf Russ-lands glorreiche Vergangenheit? Die zaristische oder diesowjetische? Lässt sich das nicht risikolos überlagern, wennman ein bisschen westliches Entertainment als Camouflagebenutzt? Muss das Volk überhaupt noch anwesend sein,wenn Präsident Putin einen zaristischen Sommerpalast mitBlick auf die Newa bezieht? Ist das Spektakel zum dreihun-dertsten Geburtstag der Stadt nicht nur eine Demonstra-tion des neuen Russland nach außen, der die Stadt als Fo-lie dient, wie sie schöner nicht zu finden ist? Ist also auchhier die Stadt nichts weiter als die glänzende Maskeradefür ein staatliches Lügengebäude? Elena Trubina ist betrof-fen, ihr Text ist der einer Betroffenen, während Neil Leach,ganz Brite, die Sache von London mit gebührender Distanzbeschreibt. Augustin Ioan ist ein Freund, der mir aus der Zusammen-arbeit an dem Stadtbauweltheft über Bukarest aus demJahr 1996 verblieben ist. Auf ihn trifft die etwas aus derMode geratene Bezeichnung Architekturphilosoph zu. Ausder Mode geraten ist auch das gründliche Studium der Vor-denker, die man sich als Vorbilder wählt. Augustin Ioan betreibt das mit der ihm eigenen Ernsthaftigkeit, ob Hei-degger, Guattari, Deleuze und, bei uns allmählich in Ver-gessenheit geraten, Norberg-Schulz, sie alle sind ihm ge-wissermaßen Götter, deren Formulierungen er Silbe umSilbe abtastet. Man könnte in seinen theoretischen Über-legungen so etwas wie den Nachholbedarf eines östlichenEuropa sehen, dem die Lektüre so lange versagt war, wäreda nicht seine erfrischende Neuinterpretation von den hierallgemein vorausgesetzten Gedanken, die keiner mehr sogenau kennt. Welche gedanklichen Umwege er auch geht,Einfühlsamkeit ist ihm nicht abzusprechen und noch we-niger die Originalität dessen, was er, daran anknüpfend,weiterdenkt. Für seine Heimatstadt Bukarest stellt er fest:Selbst wenn man noch so viel westliches Gedankengut undtechnisches Wissen importiert, wird man der dämonischenKontaminierung gewisser Orte nicht Herr werden können.

1. Zwoch-imp_ok 15.06.2005 15:56 Uhr Seite 10

StadtBauwelt 166 | 11

Neil Leach. Tony Blair. Camouflage London.

Edited by Eyal Weizman with Karen Marta,

Elena Sommaviva. Domus D77, January

2005. Mailand 2005

Wouter Vanstiphout. Dirty Minimalism. In:

Archis. Independent bimonthly magazine for

architecture, the city and visual culture. Vo-

lume 5/2004. Stichting Archis, Amsterdam

Elena Trubina. St. Petersburg’s 300th Anni-

versary: Between Re-Feudalization and Ver-

nacula Ways of Remembering. Überarbei-

tete und erweiterte Fassung eines Vortrags

auf der Konferenz „Negotiating Urban Con-

flicts“, veranstaltet vom Institut für Soziolo-

gie, TU Darmstadt, vom 7.–9. April 2005

Augustin Ioan. Heidegger doesn’t work in

Post-Communist Cities. From Genius Loci to

(In)Toxic(ated) Places. In: Pentru o noua

estetica a reconstructiei. Paideia Press, Bu-

karest 2002

Bert de Muynck. The Prosthetic Paradox.

In: Fear and Space. The View of Young De-

signers in the Netherlands. NAi Publishers,

Rotterdam 2004

Friedrich von Borries. Berlin auf dem Weg

nach Niketown. Überarbeitete und gekürzte

Fassung des ersten Kapitels seines Buches

Wer hat Angst vor Niketown? eposide pub-

lishers, Rotterdam 2004

1. Zwoch-imp_ok 15.06.2005 15:56 Uhr Seite 11


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