Fehler ≠ Fehler?
Unerwünschtes Ereignis
Kritisches Ereignis
Aktive Fehler
Zwischenfall
Behandlungsfehler (juristischer Begriff!)
Kunstfehler
Sorgfaltsmangel
Verschulden
Begriffswirrwarr - Pragmatismus
Im Gesundheitswesen besteht um den Begriff „Fehler“ ein wahres
Begriffswirrwarr.
Pragmatische Definition in der Praxis:
Ein Fehler ist das, was Sie als Fehler empfinden.
Das ist jeder Vorfall, von dem Sie behaupten: Das war eine Bedrohung für das Wohlergehen des Patienten und sollte nicht passieren. Ich möchte nicht, dass es noch einmal passiert.
Definition Aktionsbündnis Patientensicherheit
Eine Handlung oder ein Unterlassen, bei dem
eine Abweichung vom Plan,
ein falscher Plan oder
kein Plan vorliegt.
(APS Glossar, www. aps-ev.de)
Unerwünschtes Ereignis
Ein für den Patienten schädliches Ereignis, das durch die
medizinische Versorgung ausgelöst wird und nicht durch die
Erkrankung.
• Ein falscher Plan für ein richtiges Ziel.
• Ein richtiger Plan falsch ausgeführt.
Was ist Patientensicherheit?
Die Abwesenheit unerwünschter Ereignisse in der
Gesundheitsversorgung und
alle Aktivitäten zu ihrer Vermeidung
Warum beschäftigen wir uns überhaupt
damit?
„Malpractice crisis“:
steigende Kompensationszahlungen der Haftpflichtversicherer für
Behandlungsfehler in 1980er Jahren
Harvard Medical Practice Study 1991
To Err Is Human 1999
30.121 Patientenakten in 51 Kliniken gescreent
In 3,7 % der Patientenakten unerwünschtes Ereignis
Davon 13,6 % zum Tode führend
Für die Kliniken des Staates New York geschätzt jährlich
98.609 adverse events, davon 27.179 vermeidbar
Bericht des Institute of Medicine an die Regierung der
USA „To Err Is Human“ (1999):
Schätzung, dass zwischen 44.000 und 98.000 Amerikaner
pro Jahr an adverse events sterben!
Beispiele für fehlende Sicherheitskultur
Händedesinfektion
Regeln sind für die anderen da!
Ein Fehler wird schnell behoben- „geflickt“
Wir neigen dazu, jemanden beschuldigen zu wollen
Wenn ich mich angegriffen fühle, verteidige ich mich
Komplexe Systeme
Sind dadurch gekennzeichnet,
dass es viele interagierende Teile gibt
dass es schwer bis unmöglich vorherzusagen ist, wie das System
reagiert, wenn man nur die einzelnen Teile kennt
Wie entstehen Fehler in komplexen
Systemen?
Aktive Fehler treffen auf latente Bedingungen
Latente Bedingungen oder latentes Versagen:
Fehlerprovozierende Umstände oder schwache Sicherheitsbarrieren
Betreffen Personalressourcen, Architektur von Kliniken, Auswahl
von Ausrüstung etc. (Patienten-fern)
Verursachen allein keine unerwünschten Ereignisse
Aktive Fehler:
Unsichere Handlungen oder echte Fehler
z. B. der Verzicht auf Sicherheitschecks (Patienten-nah)
Können unmittelbare Auswirkungen haben
James Reason. Human error: models and management. BMJ 2000;320:768–70
Human factors - Einflussgrößen
Sammelbegriff für
psychische,
kognitive und
soziale Einflussfaktoren in sozio-technischen Systemen und Mensch-
Maschine-Systemen
Medizin = sozio-technisches System,
z. B. Anästhesiearbeitsplatz = Mensch-Maschine-System
Typische aktive Fehler
Verwechseln!
Versprechen!
Verhören!
Vergreifen!
häufig in Routinesituationen, in denen man nicht über den
nächsten Handlungsschritt aktiv nachdenkt
häufig in Situationen, in denen man schnell handeln muss
Lernen aus Fehlern
Über unerwünschte Ereignisse sprechen
in Klinik oder Praxis (interdisziplinär!)
in Fallkonferenzen, Teambesprechungen, Qualitätszirkeln
Fehlerberichtssysteme
Unerwünschte Ereignisse analysieren
Maßnahmen entwickeln, um zukünftig ähnliche Ereignisse zu
vermeiden
Maßnahmen umsetzen und prüfen, ob sie wirken
Konstruktiver Umgang mit Fehlern/
hemmende Faktoren:
Die Illusion, gut ausgebildete Kräfte machen keine Fehler
Furcht vor Kollegen
Scham
Angst vor Sanktionen
Konstruktiver Umgang mit Fehlern/
hemmende Faktoren:
Ausgeprägte Hierarchie
Angst zu versagen
Das Empfinden eines Fehlers als persönliche Schwäche
Der Anspruch perfekt zu sein
Angst vor Haftung
Konstruktiver Umgang mit Fehlern/
fördernde Faktoren:
Sanktionsverzicht
Achtung vor Fehlereingeständnissen
Wertschätzung im Kollegenkreis
Anonymität der Fehlermeldungen
Konstruktiver Umgang mit Fehlern/
fördernde Faktoren:
Offenheit für Fehler
Systemische Betrachtung von Fehlern
Das Bewusstsein, dass dauernd Fehler gemacht werden
Patientenbeschwerden werden als Hinweis gesehen und
geschätzt
Fehlerberichtssysteme in der Praxis
Fehlerbuch
Fehlertabelle
Ein fiktiver Patient in der elektronischen Patientendatenbank
CIRS- „Critical Incidents Reporting System“
Auf Deutsch: Meldesystem für kritische Ereignisse.
Charakteristika effektiver Meldesysteme:
Unabhängigkeit
Sanktionsfreiheit
Anonymität bzw. Vertraulichkeit
Grundhaltung: Dank statt Tadel
Einfacher Zugang
Erfassung von Beinahe-Fehlern
Feedback-Funktion
Klinikinternes Fehlerberichtssystem
z. B. Universitätsspital Zürich
800 Betten, 42 Kliniken
2008: in 21 Kliniken Berichtssystem eingerichtet
große Akzeptanz der Mitarbeiter/innen
> 300 Berichte in < 1 Jahr
Zentrales Risikomanagement wertet Berichte mit den Kliniken
zusammen aus
Internetbasiertes überregionales
Fehlerberichtssystem
www.jeder-fehler-zaehlt.de
Fallanalyse: fehlerbegünstigende Faktoren
Patientenfaktoren
Faktoren der Tätigkeit
Individuelle Faktoren des Mitarbeiters
Teamfaktoren
Arbeitsbedingungen
Organisations- und Managementfaktoren
Kontext der Institution
Mangelnde Sicherheitsbarrieren
Fallanalyse: fehlerbegünstigende Faktoren
Patientenfaktoren
Krankheitszustand
Soziale, körperliche, psychische Bedingungen
Sprache, Ausdrucksfähigkeit
Beziehung zwischen Patient und Praxis/Station/Team
Persönlichkeit
Fallanalyse: fehlerbegünstigende Faktoren
Faktoren der Tätigkeit
Gestaltung des Prozesses/Ablaufs
Gibt es Protokolle?
Sind Standards vorhanden?
Fallanalyse: fehlerbegünstigende Faktoren
Individuelle Faktoren des Mitarbeiters
Wissen
Fähigkeiten
Ausbildung
Stress
Gesundheit
Motivation
Fallanalyse: fehlerbegünstigende Faktoren
Teamfaktoren
Verbale/geschriebene Kommunikation
Teamstruktur
Supervision
Hierarchie
Fallanalyse: fehlerbegünstigende Faktoren
Arbeitsbedingungen
Personalausstattung/Qualifikation
Arbeitsbelastung
Geräteausrüstung/Design/Wartung
Umgebungsbedingungen wie Lärm, Licht, Ablenkungen
Fallanalyse: fehlerbegünstigende Faktoren
Organisations- und Managementfaktoren
Ressourcen
Beschränkungen
Vorhandensein und Umgang mit Regeln
Vorschriften
Sicherheitskultur
Prioritäten
Fallanalyse: fehlerbegünstigende Faktoren
Kontext der Institution
Wirtschaftliche Situation
Vorgaben durch Gesetzgeber
Vorgaben durch BG
Vorgaben durch Versicherer
QM
Fallanalyse: fehlerbegünstigende Faktoren
Mangelnde Sicherheitsbarrieren
Sind Sicherheitsbarrieren vorhanden?
… zuverlässig?
… bekannt?
Hätten diese das Ereignis verhindern können?
Die „traditionelle“ personenorientierte
Perspektive
Ein kritisches Ereignis tritt auf:
„Es gibt eben Einzelpersonen, die Fehler machen” – bestimmte
Einzelpersonen sind „nachlässig, leicht-sinnig und schuld“
Die Einzelperson wird beschuldigt, bestraft und fortgebildet sowie
ermahnt, „besser aufzupassen“
Die so „optimierte Einzelperson“ soll die Sicherheit verbessern
(nach Fletcher, NPSA 11/2003 und Reason 1994)
Die systemorientierte Perspektive
Menschen machen Fehler!
Fehlerträchtige Situationen und schlechtes organisatorisches
Design verursachen Fehler
Der Schwerpunkt liegt auf allen verursachenden Faktoren, nicht
nur auf den Handlungen einzelner
Geräte und Prozesse (das System) müssen verändert werden, um
die Sicherheit zu verbessern
(nach Fletcher, NPSA 11/2003 und Reason 1994)
Was hilft nicht gegen Fehler?
Besser aufpassen!
Dran denken!
Mehr Konzentration!
Aufmerksamer sein!
Klüger sein!
…
Zirkel des klinischen Risikomanagements
(pdca-Zirkel)
act:
Risiken
überwachen
check:
Risiken
vermindern
plan:
Risiken
erkennen
do:
Risiken analy-
sieren/bewerten
Surgical safety checklist
8 Kliniken weltweit
Komplikationsrate bis 30 Tage postoperativ
Vor und nach Einführung der Checkliste
Jeweils knapp 4.000 Patienten (Kontroll/Intervention)
Ergebnisse
Vorher
Todesrate 1,5 %
Komplikationsrate 11%
Nachher
Todesrate 0,8 %
Komplikationsrate 7 %
Ergebnisse
Gründe?
Zuverlässigere präoperative Antbiotikagabe
Zuverlässigere Tupferzählung
Zuverlässigere Patientenidentifikation
Beobachtung?
Checkliste erzwang verändertes Verhalten von Individuen und Teams
Was nimmt mein Patient?
Daten aus einer Studie
Abweichungen in der ärztlichen Dokumentation gegenüber den
Angaben des Patienten:
144/153 Patienten (94,1%)
pro Patient: Median 3 (0 bis 13 Abweichungen)
Abweichungen der Patientenangaben gegenüber der
Arztdokumentation:
111/153 Patienten (72,5%)
pro Patient: Median 1 (0 bis 23 Abweichungen)
Medikationsabgleich - brown bag review
Klinik: Bei Aufnahme und bei Verlegung innerhalb einer Klinik wird
geprüft, welche Medikamente der Patient bisher genommen hat
Praxis: In regelmäßigen Abständen wird überprüft, ob und wie der
Patient die verordneten Medikamente und welche frei-
verkäuflichen Arzneimittel er nimmt
Anzahl nicht korrekter Medikationspläne reduziert
Anzahl Medikationsfehler insgesamt reduziert
Wie reagieren Patienten auf Fehler?
Patient (first victim): Unsicherheit, Angst, Trauer, Depression, Wut,
Verlassenheit
Welche Reaktion auf einen Fehler wünschen sich Patienten?
Entschuldigung / Bestätigung / Erklärung,
dass Fehler aufgetreten ist 52 %
Zusicherung, dass alles getan wird,
damit es nicht noch einmal passiert 31 %
Sanktionen gegen Beteiligte 8 %
(Healthcare Commission 2007. Spotlight on complaints)
Wie reagieren irrende Menschen auf Fehler?
Gesundheitsberufe (second victim):
negative Folgen für das Privatleben (17%)
Beschuldigungen durch Patienten/Angehörige (32 %)
keine Unterstützung durch Kollegen (22 %)
(Aalsand OG et al. Qual. Saf. Health Care 2005;14:13-17)
reduzierte Lebensqualität, mehr depressive Symptome
(West CP et al. JAMA 2006;296:1071-8)
Was tun nach einem Zwischenfall?
Weiteren Schaden verhüten!
Empathie!
„Es tut uns leid!“
Erklären WAS passiert ist, keine Vermutungen
Medizinische Folgen erklären und Unterstützung anbieten
Was tun nach einem Zwischenfall?
Ursachenanalyse und glaubwürdig versichern, dass die Akteure
aus dem Fehler lernen
Beziehung zum Patienten aufrecht erhalten, ggfs. neues
Behandlungsteam anbieten
Wer?
EINE Person, zu der Patient/Angehörige Vertrauen hat
Schwere Zwischenfälle sind Chefsache!
SAFE
Situation: Was ist eigentlich passiert?
Akteure: Wer war beteiligt?
Folgen: Welche Folgen hatte das Ereignis?
Erklärung: Was hat zu dem Ereignis und dem Ergebnis
beigetragen?
SAFE - Situation
Situation: Was ist eigentlich passiert?
„nackte“ Tatsachen aufführen
chronologische Reihenfolge
wenn es ein komplexes Ereignis ist: nehmen Sie Papier und Stift zur
Hand
SAFE - Akteure
Akteure: Wer war beteiligt?
Was wussten die beteiligten Personen zu welchem Zeitpunkt?
Wer hat was wann und wie verstanden?
Welche Handlungsmöglichkeiten hatten die beteiligten Personen?
SAFE - Folgen
Folgen: Welche Folgen hatte das Ereignis?
Müssen wir jetzt sofort etwas tun
(z. B. weiteren Schaden vermeiden)?
Für den Patienten (oder Angehörige)?
Für die beteiligten Personen, für die Einrichtung?
SAFE - Erklärung
Erklärung: Was hat zu dem Ereignis und dem Ergebnis beigetragen?
Welche aktiven Handlungen haben beigetragen?
Was waren die inneren Rahmenbedingungen
(innerhalb der Einrichtung)?
Was waren die äußeren Rahmenbedingungen?
Benutzen Sie dafür die Checkliste für die Fallanalyse und
gehen Sie systematisch alle beitragenden Faktoren durch.
Fallanalyse: ein Beispiel
Situation: Was ist passiert?
Hektischer Tag, 2 von 3 Helferinnen sind krank bzw. in Urlaub. Bei
einem Patienten soll die wöchentliche i.v.-Gabe von MTX erfolgen.
Eine Spritze (ohne Label u.ohne beiliegende Ampulle) liegt parat
und wird dem Patienten i.v. verabreicht.
Es handelte sich aber nicht um MTX, sondern um eine für die i.m.-
Gabe vorbereitete Spritze mit Vitamin B-Komplex 2 ml + Novocain
2% 2 ml (gleiche Farbe).
Akteure: Wer war beteiligt?
Arzt, MFA, Patient
Folgen: Welche Folgen hatte das Ereignis?
Patient blieb nach Aufklären über den Fehler für zwei Stunden in
der Praxis zur Überwachung. Keine Rhythmusstörungen oder
Bradykardie aufgetreten.
(Beispielbericht: www.jeder-fehler-zaehlt.de)
Das Ergebnis der Fallanalyse
Erklärung: Was hat zu dem Ereignis und dem Ergebnis beigetragen?
Unterschiedliche Personen für Vorbereitung des Medikaments
und Gabe der Spritze.
Vorbereitete Spritze nicht beschriftet!
Der Inhalt der Spritze sieht aus wie das Medikament,
das gegeben werden soll.
Das Ergebnis der Fallanalyse
Erklärung: Was hat zu dem Ereignis und dem Ergebnis beigetragen?
Person, die injiziert, vergewissert sich nicht, was die Spritze
enthält.
Hohe Arbeitsbelastung durch fehlendes Personal!