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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur · Michel Freilich, Chefredakteur des jüdischen...

Date post: 04-Oct-2020
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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Wer hat Angst vor dem Mann mit dem Bart? Das schwierige Verhältnis von Juden und Muslimen in Europa Autor: Daniel Cil Brecher Regie: Matthias Kapohl Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Dlf 2018 Erstsendung: Dienstag, 06.11.2018, 19.15 Uhr Sprecher: Michael Weber Wolf Aniol Sigrid Burkholder Judith Jakob Jochen Langner Marion Mainka Bruno Winzen Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ©
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Page 1: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur · Michel Freilich, Chefredakteur des jüdischen Monatsblatts „Joods Actueel“. O-Ton Freilich En door het feit dat het zo samen zit heb

Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur

Das Feature Wer hat Angst vor dem Mann mit dem Bart? Das schwierige Verhältnis von Juden und Muslimen in Europa

Autor: Daniel Cil Brecher Regie: Matthias Kapohl

Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Dlf 2018 Erstsendung: Dienstag, 06.11.2018, 19.15 Uhr Sprecher: Michael Weber Wolf Aniol Sigrid Burkholder Judith Jakob Jochen Langner Marion Mainka Bruno Winzen

Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.

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Atmo Zwischenfall

O-Ton VRT Journaal

Vorspann Mittagsmagazin des Flämischen TV-Senders VRT

Het is een uur. Dit is het journaal met Hanne de Decoutere.

Nachrichtensprecherin

Gisterenochtend half tien. Een orthodox joodse man loopt samen met zijn zoon

door de Isabellalei in Antwerpen. Plots moeten zij opzij springen voor een zwarte

auto die op hen af komt rijden.

Sprecherin 1

Gestern um halb zehn. Ein orthodoxer Jude läuft mit seinem Sohn auf der

Isabellalei in Antwerpen. Plötzlich müssen sie zur Seite springen. Ein schwarzes

Auto kommt direkt auf sie zu.

Polizeisprecher

Kort na het incident is er een van onze patrouilles geweest die een voertuig

opgemerkt had dat zich heel roekeloos gedroeg in het verkeer. Dus, zij hebben het

voortuig later aangetroffen. Zij hebben ook de bestuurder aangetroffen. Het bleek

dat die man gedronken had. Die persoon – een man van dertig jaar – is

meegenomen naar het kantoor voor ontnuchtering.

Sprecher 1

Kurz danach fiel einer unserer Streifen ein Fahrzeug auf, das sich rücksichtslos im

Verkehr verhielt. Wir haben das Fahrzeug und den Fahrer aufspüren können. Wir

haben ihn aufs Revier zum Ausnüchtern mitgenommen. Er war betrunken.

Nachrichtensprecherin

Het incident gebuurde in een joodse wijk die vol bewakingscamera’s hangt. De

mensen hier zijn ongerust en denken dat het om een antisemitische daad gaat. De

automobilist verklaarde gisteravond dat hij de joden niet wilde aanrijden en is

voorlopig vrij.

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Sprecherin 1

Der Zwischenfall ereignete sich in einem jüdischen Viertel, in dem es viele

Überwachungskameras gibt. Die Menschen hier sind besorgt und glauben, dass

die Tat antisemitisch motiviert war. Der Fahrer erklärte gestern Abend, dass er die

Juden nicht anfahren wollte. Er ist auf freien Fuß gesetzt worden.

Sprecherin

Wer hat Angst vor dem Mann mit dem Bart?

Das schwierige Verhältnis von Juden und Muslimen in Europa

Ein Feature von Daniel Cil Brecher

Atmo Pelikaanstraat

Autor

Wir beginnen unsere Erkundungen über das Verhältnis zwischen den beiden

wichtigsten religiösen Minderheiten in Europa mitten im jüdischen Viertel von

Antwerpen - in der Pelikaanstraße. Hier wohnt die sichtbarste jüdische Gruppe

des Kontinents – 20.000 orthodoxe und ultraorthodoxe Juden. Hier tragen

orthodoxe Männer Bärte, Käppchen oder schwarze Hüte, die ultra-orthodoxen

Juden Schläfenlocken und Kittel, und an den Samstagen und Feiertagen Pelzhut

und Kaftan. Auch die Frauen sind deutlich als jüdisch zu erkennen. Ihre Röcke

reichen bis unters Knie, Arme und Hals sind unter der Kleidung verborgen, und auf

dem Kopf tragen sie einen Hut, eine Perücke, ein Kopftuch oder beides. Die

Kopftücher sind von denen, die Muslima tragen, nicht zu unterscheiden. Sie

kommen aus China. Hier hat offenbar keiner Angst, als Jude erkannt zu werden.

Wir werden auch Amsterdam und Köln besuchen, wo die Ängste und Sorgen bei

beiden Gruppen sehr deutlich spürbar sind und Juden zum Beispiel vermeiden, in

der Öffentlichkeit als Juden erkennbar zu sein. Was ist hier anders als bei anderen

jüdischen Gemeinschaften in Europa?

O-Ton Freilich

In het centrum van Antwerpen moet ik zeggen dat de joodse gemeenschap zich

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toch vrij op zijn gemak voelt. Enerzijds omdat het een relatief kleine buurt is. Jij

gaat van het centraal-station tot aan het Prins-Albertpark, dat is twintig minuten

lopen.

Sprecher 2

Im Zentrum von Antwerpen fühlen Juden sich sicher. Es ist ein kleines Viertel.

Vom Hauptbahnhof zum Albertpark läuft man in zwanzig Minuten.

Autor

Michel Freilich, Chefredakteur des jüdischen Monatsblatts „Joods Actueel“.

O-Ton Freilich

En door het feit dat het zo samen zit heb je veel meer mensen die mekaar zien,

die mekaar kunnen helpen. En je hebt ook de extra toezicht van de politie met

speciale joodse patrouilles, de Isra-patrouilles, en ook het leger patrouilleert in

onze straten. De burgermeester van Antwerpen heeft gezegd van, kijk, de joodse

gemeenschap is een doelwit. Ik wil hier extra middelen voor, en die zijn er

gekomen. Dus, in België zie je soldaten op de luchthavens, voor kerninstallaties,

voor ambassades en voor joodse scholen.

Sprecher 2

Auf engstem Raum zusammenwohnen bedeutet auch, dass man sich gegenseitig

im Auge behält und helfen kann. Hinzu kommt die zusätzliche Überwachung durch

die Polizei und den jüdischen Bewachungsdienst. Auch die Armee bewacht

unsere Straßen. Der Antwerpener Bürgermeister hat bei der Regierung extra

Mittel für die jüdische Gemeinschaft beantragt. Darum steht in Belgien die Armee

jetzt an den Flughäfen, vor Atomkraftwerken, vor Botschaften und vor jüdischen

Schulen.

Autor

Michel Freilich ist traditioneller Jude. Er trägt Käppchen und hat einen kurz

gestutzten Bart.

Einen Tag nachdem ein Autofahrer angeblich versucht hat, einen jüdischen Vater

und seinen Sohn zu überfahren ist Michel Freilich vor die Nachrichten-Kameras

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getreten und hat scharfe Kritik geübt an der Version der Polizei. Es war bekannt

geworden, dass der Fahrer Moslem ist, ein Einwanderer aus Marokko.

O-Ton Freilich

Nu stellen wij ons toch de vraag van, de man wordt opgepakt drie uur na de feiten.

Mogelijk is er naar huis gekeerd om te gaan drinken. Dus, dat weet je niet. Om te

kunnen zeggen, kijk, ik was dronken. Enerzijds, en ten tweede vind ik het

persoonlijk heel raar dat de man zich correct en netjes aan de verkeersregel

houdt, rood licht, en dat hij enkel en alleen als hij joodse mensen ziet over de

schreef gaat. Dus, dat is een soort selectieve dronkenschap, zou je kunnen

zeggen. Dus, volgens mij is het toch antisemitisme.

Sprecher 2

Wir haben uns Fragen gestellt: Er ist erst drei Stunden später festgenommen

worden. Er hatte also Zeit, sich zuhause zu betrinken, um dann sagen zu können:

Schau, ich war betrunken. Ich finde es auch verdächtig, dass er sich sonst im

Verkehr korrekt verhalten hat, zum Beispiel bei roten Ampeln, und dass er erst die

Kontrolle verliert, als er ein paar Juden sieht. Das könnte man selektive

Betrunkenheit nennen. Also, meiner Ansicht nach geht es hier klar um

Antisemitismus.

Autor

Die Behauptung, dass es sich um ein versuchtes antisemitisches Attentat

gehandelt habe, löste heftige Reaktionen aus. In der jüdischen Gemeinschaft

wurde der Zwischenfall als fehlgeschlagener Rache-Akt interpretiert, als Reaktion

auf den Prozess gegen Salah Abdeslam, den einzig überlebenden Attentäter von

Paris. Abdeslam musste sich vom 5. Februar 2018 an, also zwei Tage nach dem

vermeintlichen Anschlag, vor einem Richter in Brüssel verantworten wegen einer

Schießerei mit der Polizei bei seiner Festnahme im März 2016. Ein Boulevard-

Blatt kam heraus mit der Schlagzeile „Hass-Chauffeur von Antwerpen“. Auch

Muslime reagierten auf die Verdächtigungen. Muslime seien wieder einmal

automatisch als „Terroristen“ beschuldigt worden, hieß es im Internet, beim

wichtigsten Online-Dienst der Muslime in Belgien. Blogger warfen Juden vor, dass

sie sich selbst gern zum Opfer von Diskriminierung stilisierten, während die

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wirklichen Opfer Muslime seien, sowohl in Belgien wie im Nahen Osten. Alle

warteten auf ein Wort der Staatsanwaltschaft. Die entschied zwei Wochen später,

den Fall nicht weiter zu untersuchen. Es habe keinerlei Hinweise auf einen

politischen Hintergrund gegeben.

O-Ton Freilich

Een probleem dat wij vaak zien in Europa is dat als er iets gebeurd of een aanslag

wordt uitgevoerd is de politie en de politiek altijd heel terughoudend om te zeggen

dat het om antisemitisme gaat en zoek eerst uit, van ja, zouden wij het niet kunnen

classificeren als zijnde iets anders. En dan zeg ik: Kijk, als de dader een moslim is

dan moet je ook verder durven de vraag stellen, gaat het om antisemitisme of niet.

Want, het antisemitisme bestaat maar in een totaal andere hoek dan twintig of

dertig jaar geleden.

Sprecher 2

Wenn in Europa etwas geschieht, sehen wir oft, dass die Polizei und die Politik

sehr zurückhaltend sind. Bevor sie etwas als antisemitisch bezeichnen, wird erst

die Frage gestellt: können wir es anders klassifizieren? Ich sage: Wenn der Täter

Moslem ist, müssen wir auch die Frage nach Antisemitismus stellen dürfen. Denn

Antisemitismus existiert und kommt seit zwanzig, dreißig Jahren aus einer

anderen Ecke.

Autor

Zwischen den etwa 700.000 Muslimen und den rund 40.000 Juden in Belgien

wachsen seit ca. zwanzig Jahren die Spannungen. Muslime fühlen sich mit

Palästinensern verbunden, und Juden mit dem Staat Israel. Spannungen kommen

nicht allein in Angst und großem gegenseitigen Misstrauen zum Ausdruck,

sondern auch in kleineren und größeren Zwischenfällen. So wurden Anfang des

Jahres jüdische Wohnungen und Geschäfte in Antwerpen beschädigt und

frommen Männern die Hüte vom Kopf geschlagen. Was tun diese zwei

Minderheitsgruppen in Belgien eigentlich, um die Spannungen zu verringern?

O-Ton Freilch

Er zijn een aantal organisaties die dat wel doen voor de joods-christelijke banden

maar wat de banden met de moslims betreft leven wij naast mekaar maar niet met

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elkaar. Er zijn geen initiatieven, niet op vlak van jeugd, noch op vlak van cultuur,

noch op vlak van sport waar je toch zou kunnen denken, dat is een makkelijke

brug om te slaan waar dan joden samen met moslims werken. De joodse

gemeenschap is vrij gesloten, en de moslimgemeenschap is niet georganiseerd.

En als het er dan zou zijn, dan zouden ze toch op een gesloten en argwanende

joodse gemeenschap stoten.

Sprecher 2

Es gibt einige christlich-jüdische Organisationen, aber was Muslime angeht, leben

wir nebeneinander, nicht miteinander. Es gibt keine Initiativen für die Jugend,

nichts auf kulturellem Gebiet und nichts beim Sport. Gerade hier wäre es so leicht,

Brücken zu bauen und die Juden und Muslime zusammen zu bringen. Die

jüdische Gemeinschaft ist ziemlich abgeschlossen und die muslimische

Gemeinschaft ist nicht organsiert. Aber selbst wenn sie organisiert wäre, würde sie

doch auf eine geschlossene und argwöhnische jüdische Gemeinschaft stoßen.

Autor

Die Muslime in Belgien sind sehr wohl organsiert. Ähnlich wie das „Konsistorium“,

die Interessenvertretung der jüdischen Organisationen, nimmt die so genannte

„Executive der Muslime in Belgien“ alle rechtlichen Funktionen gegenüber

staatlichen Stellen wahr: die Zulassung von Moscheen, die Akkreditierung von

Lehrern für islamischen Religionsunterricht und die Beratung von Regierung und

Parlament bei der Gesetzgebung.

Atmo Zugfahrt

Autor

Wir sind unterwegs, um Mohamed Achaibi, den Vizepräsidenten der Executive der

Muslime in Belgien zu treffen. Er wohnt und arbeitet in Lokeren, einer kleinen

Industriestadt etwa 40 Kilometer südlich von Antwerpen. Lokeren hat mit 20

Prozent einen der höchsten Ausländeranteile belgischer Städte.

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O-Ton Achaibi

Goedemiddag. Salaam aleikum. Ik wil u juist begroeten met de islamitische groet,

vrede zij met u. In onze samenleving en overal ter wereld zien wij dat vrede

eigenlijk onder druk staat, vaak ook rechtstreeks in onze straat, in onze wijk. Daar

moeten wij eigenlijk vrede stiften – dagelijks.

Sprecher 3

Ich möchte sie mit dem islamischen Gruß „Friede sei mit euch“ begrüßen, weil der

Frieden überall in der Welt unter Druck steht, auch direkt in unserer Straße und

unserem Viertel. Deshalb müssen wir selbst Frieden stiften, täglich.

Autor

Mohamed Achaibi ist als Kind aus Marokko nach Belgien gekommen und trägt

weder Bart noch Kopfbedeckung. Ich frage ihn nach dem Vorfall von Anfang

Februar. Was kann die Dachorganisation gegen Hass und politisch motivierte

Aggression tun? - Wenig, meint Achaibi. Als er in Marokko aufwuchs, habe es

keinen Hass gegen Juden gegeben. Heute werden Vorurteile vor allem zuhause

und in der Familie gepredigt und weitergegeben. Die 300 Moscheen Belgiens, für

die er innerhalb der Dachorganisation zuständig ist, seien nicht der

Umschlagplatz. Trotzdem werden die Imame von der Moslimexecutieve

angehalten, gegen Hass zu predigen.

O-Ton Achaibi

Vanuit de Moslimexecutieve, voor alle duidelijkheid, van het moment dat er iets

gebeurd, doen wij aan een politieke reactie en keuren wij dergelijke zaken af. U

weet uiteraard dat wij de laste jaren echt worden geconfronteerd met

afschuwelijke acties, Parijs, Brussel, noem maar op. Wij weten ook niet altijd van

waar die haat komt en kunnen dat ook niet altijd goed plaatsen. Wij geven vanuit

de moskeeën de imams richtlijnen maar ik denk, wat ik net zij, dat het ook vaak te

maken heeft met opvoeding, met een kortzichtige kijk op de wereld. Iemand die

dan gewoon parallellen trekt tussen een burger in Antwerpen en wat zich voordoet

in Palestina. Daar kan die mens niets aan doen, daar kan die man met dat kind

niets aan doen, dat er tussen Israël en Palestina een probleem is.

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Sprecher 3

Um es ganz deutlich zu machen: Sobald etwas passiert, kommt die

Moslimexecutieve mit einer politischen Stellungnahme und verurteilt solche Dinge.

Sie wissen, dass wir uns in den letzten Jahren mit abscheulichen Anschlägen

auseinandersetzen mussten, in Paris, in Brüssel und so weiter. Wir wissen auch

nicht immer, wo dieser Hass herkommt, und wir können die Anschläge auch nicht

immer richtig einordnen. Wir geben Richtlinien an die Imame und die Moscheen.

Aber ich denke, dass es, wie ich schon gesagt habe, an der Erziehung liegt, an

einem beschränkten Weltbild, wenn jemand einen Bürger in Antwerpen mit den

Geschehnissen in Palästina verwechselt. Der Mann mit dem Kind kann nichts

dafür, dass es zwischen Israel und Palästina Probleme gibt.

Autor

Achaibi ist innerhalb der Dachorganisation für Moscheen und Religionsunterricht

zuständig, für einen Bereich, der politisch sehr viel Fingerspitzengefühl erfordert,

gerade im Teilstaat Flandern, wo eine nationalistische Regierung an der Macht ist.

Während die verfassungsmäßigen Freiheiten von Kirche und Synagoge in diesem

Teil Europas bereits vor mehr als zweihundert Jahren festgeschrieben wurden,

muss der Islam, der erst seit 1976 als Religion vom Staat anerkannt ist, sich in

einem viel weniger günstigen politischen Klima behaupten.

O-Ton Achaibi

In België hebben wij 300 moskeeën. Daarvan zijn vandaag 90 herkent. Dus wij

hebben nog een lange weg te gaan. Maar de overheid natuurlijk bij een

herkenning staan zij ook op een aantal zaken, dat de moskee zich inschrijft in het

democratische rechtssysteem van België, dat er ook geen haat en andere

boodschappen gepredikt worden in de moskee. Dat lijken mij zeer evidente zaken,

uiteraard, en politiek, voor alle duidelijkheid, moet buiten de moskee gebeuren.

Sprecher 3

Von den 300 Moscheen in Belgien sind bisher nur 90 anerkannt. Wir haben also

noch einen weiten Weg vor uns. Bei der Anerkennung verlangt der Staat, dass die

Moschee sich zur demokratischen Grundordnung bekennt, und dass kein Hass

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gepredigt wird. Ich finde das selbstverständlich. Politik hat in der Moschee keinen

Platz.

Autor

In Belgien herrsche sehr viel Misstrauen gegenüber Muslimen, meint Achaibi

diplomatisch. Er beschreibt damit eine wahre Epidemie der Islamophobie, die

Europa gerade heimsucht. Überall schüren fremdenfeindliche Parteien die Angst

vor dem Ungewohnten, dem Anderen. Auch Juden als die traditionelle religiöse

Minderheit in Europa hätten darunter zu leiden.

Während die islamfeindliche Stimmung bei einer kleinen Gruppe von Juden

Zustimmung findet, hat die abnehmende Toleranz in der Mehrheitsgesellschaft

Juden und Muslime einander auch nähergebracht. Das Flämische Parlament hat

sich gerade für ein Verbot des traditionell ohne Betäubung ausgeführten rituellen

Schlachtens ausgesprochen. Ab Januar 2019 ist das rituelle Schlachten gesetzlich

neu geregelt. Kleine Tiere müssen dann vor dem rituellen Schlachten betäubt

werden. Bei größeren Tieren ist das unbetäubte Schlachten vorläufig noch

zulässig, solange die Technik für eine sichere Betäubung noch nicht ausgereift ist.

O-Ton Achaibi

Dus, we hebben heel veel gemeenschappelijke zaken. Naar aanleiding van het

verbod op ritueel slachten zijn er ook heel veel goede contacten met rabbijn

Kornfeld die voor de joodse gemeenschap het dossier ritueel slachten opvolgt. Wij

hebben verschillende keer samengezeten om te kijken wat wij juridisch kunnen

doen. Op dit moment hebben zowel de joodse als de moslimgemeenschap een

klacht ingediend bij het grondwettelijke hof van België voor het verbod op ritueel

slachten. Omdat natuurlijk ook in onze basis, in onze achterban, krijgen wij

natuurlijk ook de vraag, hoe zit het nu, hoe zit het nu verder, hoe gaat het nu

verder organiseert worden?

Sprecher 3

Es gibt viel Gemeinsames. Als Folge des Schlachtverbots haben wir jetzt gute

Kontakte zu Rabbiner Kornfeld, der sich bei der jüdischen Gemeinschaft um das

rituelle Schlachten kümmert. Ich habe ihn einige Male getroffen, und wir haben

beschlossen, gemeinsam rechtliche Schritte zu unternehmen. Juden und Muslime

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haben beim belgischen Verfassungsgericht gegen das Gesetz Klage eingereicht.

Unsere Mitglieder fragen uns ja: Wie soll es jetzt weitergehen? Wie wollt ihr die

Schlachtung jetzt organisieren?

Atmo Zugfahrt Antwerpen

O-Ton Carlebach

Some people will say, Antwerp is an oasis. I think it is all very much connected to

the fact that Jewish people feel comfortable here to walk around openly and

dressed obviously Jewish.

Sprecher 1

Antwerpen ist eine Oase, sagen einige. Die Leute fühlen sich hier sicher genug,

um deutlich erkennbar herumzulaufen.

Autor

Wir sind wieder in Antwerpen, im Büro der Jüdischen Gemeinde, wo wir Rabbiner

Ephraim Carlebach treffen. Er ist vor einigen Jahren von Toronto nach Antwerpen

übersiedelt. Er gehört den Lubawitcher Chassidim an, einer gemäßigt ultra-

orthodoxen Sekte, die sich auch Chabad nennt. Carlebach ist stolzer Träger eines

besonders buschigen roten Bartes.

O-Ton Carlebach

At the same time, I would say there is a certain level of normalization of anti-

Jewish sentiment, even within the upper echelons of society which hasn’t been for

the past number of years since the Holocaust. That certain level has begun to

seep in. You do also have a number of immigrants who have come here with anti-

Semitic sentiments. We had a case not so long ago where someone was ripping

down mezuzoth, disgracing …, knocking peoples hats off which does exits, and

that is an actual fear.

Sprecher 1

Anderseits ist ein gewisses Maß an anti-jüdischem Sentiment normal geworden,

auch in höheren Kreisen. Das war in den Jahrzehnten nach dem Holocaust

anders. Dann haben wir es auch noch mit den anti-jüdischen Gefühlen der

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Einwanderer zu tun. Kürzlich hat jemand hier Mesusot von den Türpfosten

gerissen und Männern den Hut von Kopf geschlagen. Das kommt auch vor.

Darüber machen sich die Leute Sorgen.

Autor

Mesusot sind kleine Kapseln mit einem Gebetstext, die von frommen Juden an die

Türpfosten ihrer Wohnungen genagelt werden. Die Wohnungen von orthodoxen

Juden sind dadurch auch von außen erkennbar. Rabbiner Carlebach entstammt

einer der bekanntesten deutschen Rabbiner-Familien der Vorkriegszeit. Er hat die

Enkelin des hiesigen Oberrabbiners geheiratet und ist hier in Antwerpen jetzt die

Nummer Zwei, ein Mann mit sehr großem Ansehen. Ich frage Carlebach, ob sich

die jüdische Gemeinschaft durch die angekündigten Beschränkungen beim

rituellen Schlachten, Sch’chita im Hebräischen, bedroht fühlt.

O-Ton Carlebach

The Sch’chita is, as we all know, something very important to any Jewish life of the

Jewish community. The general focus of animal rights and caring for animals,

which, of course, Judaism is very for, something it cares very much for, has also

mushroomed and has come into an attack of Sch’chita. So we have had a

movement for a while of people attacking Sch’chita and going for Sch’chita. Now,

the community in conjunction with the Consistoire, first of all tried to stop the

legislation. That was not successful. And now we are trying to fight it in court.

Sprecher 1

Die koschere Schlachtung ist für jüdisches Leben sehr wichtig. Das allgemeine

Anliegen der Tier-Rechte, des Tierschutzes, das auch vom Judentum bejaht wird,

ist ausgeufert und hat sich gegen die koschere Schlachtung gerichtet. Wir haben

es jetzt seit einiger Zeit mit einer Bewegung zu tun, die die koschere Schlachtung

abschaffen will. Die Gemeinde hat zusammen mit dem Konsistorium zuerst

versucht, die Gesetzgebung zu stoppen. Als das gescheitert ist, sind wir vor

Gericht gezogen.

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Autor

Die islamfeindliche Stimmung in Belgien hat nicht nur zum Verbot des rituellen

Schlachtens beigetragen. Auch die Beschneidung des männlichen Nachwuchses

steht unter Druck. Die Ethik-Kommission des belgischen Gesundheitsministeriums

hat 2017 empfohlen, die Kosten für religiös motivierte Beschneidungen nicht

länger durch die Krankenversicherungen tragen zu lassen. Die Ministerin will

allerdings noch an der Vergütung festhalten, damit Eltern sich weiterhin für eine

Beschneidung im Krankenhaus entscheiden und nicht zu medizinisch weniger

sicheren Alternativen greifen. Sollte die Empfehlung umgesetzt werden, hätte der

Schritt unterschiedliche Folgen für die zwei Gemeinschaften. Bei Juden wird die

Beschneidung am achten Tag ausgeführt, meist zuhause, bei Muslimen im

Grundschulschulalter, meist im Krankenhaus. Aber die Diskussion um die Mila, die

rituelle Bescheidung, bereitet auch Juden Sorgen.

O-Ton Carlebach

Mila is a fundamental point of our religion. Therefore, I would say in a certain

sense a person can live without meat. We can maybe be able to eat potatoes or

cucumbers but in regards to living in a society where Mila would be forbidden

would not be something possible for a Jewish community to be able to survive and

grow, or even to exist in such a society.

Sprecher 1

Die Beschneidung ist grundlegend für unsere Religion. Ein Mensch kann ohne

Fleisch auskommen. Wir könnten uns von Kartoffeln und Gurken ernähren. Aber

eine jüdische Gemeinschaft könnte in einer Gesellschaft, in der Mila verboten ist,

nicht überleben und gedeihen, ja wir könnten in einer solchen Gesellschaft

überhaupt nicht existieren.

Atmo „Leer je buren kennen“

Autor

Wir sind in Amsterdam, im Saal der liberalen jüdischen Gemeinde. Hier findet

heute, wie fast jeden Montag, ein Treffen zwischen Schülern und Jugendlichen

statt. Das Treffen hat mit einer kurzen Filmvorstellung begonnen, mit einem Film,

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der versucht, alle Klischees über Juden Revue passieren zu lassen. Dann sollen

die Schüler alles, was sie über Juden denken, auf ein Stück Papier schreiben,

anonym. Ich frage meinen Nebenmann, was er aufschreibt.

O-Ton Schüler

Bij joden is het eerste waar ik aan denk meestal de Holocaust. Dat klinkt heel erg.

Maar dat is wat in mijn hoofd opkomt. Ik heb dan ook altijd het beeld in mij hoofd

van die mannen met dat hele lange gekrulde haar, met die hoeden op en die grote

barden. En ook een ding wat ik heb in mijn hoofd dat ze bij een bruiloft op zo’n

glas moeten trappen.

Sprecher 3

Ich denke zuerst an den Holocaust. Das klingt schlimm, aber das ist, was mir

zuerst einfällt. Dann sehe ich auch die Männer mit den langen Schläfenlocken vor

mir, mit den großen Hüten und langen Bärten. Und die Szene bei einer Hochzeit,

in der das Glas zertreten werden muss.

Atmo Treffen

Gespräch: “Wat denken jullie bij het woord jood; tegen Palestina, Kankerjood”...

Autor

Die Schüler heute kommen von einer Berufsschulklasse für Sportlehrer. Etwa die

Hälfte sind Muslime. „Scheißjude“, „Kankerjood“, ist heute das schlimmste, was zu

hören ist. Aber sehr oft, so erzählen die Veranstalter, stehen noch andere Sätze

auf dem Papier. Über Juden, die viel Geld haben, andere betrügen, in Palästina

kleine Kinder ermorden. Das Projekt heißt „Lerne deine Nachbarn kennen“. Es

begann damit, dass Schüler einer benachbarten Berufsschule eingeladen wurden.

O-Ton Kunst

Ja, ja, al heel vaak. Vanaf het begin, dus zeven jaar geleden. Ik denk dat ik met de

eerste groepen deze kant op ben gekomen.

Sprecher 2

Ja, beim Projekt war ich schon oft mit, seit den Anfängen vor sieben Jahren. Ich

glaube, ich habe zu den ersten gehört, die mit Gruppen hierhergekommen sind.

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Autor

Roland Kunst, Sport-Dozent an der Fachschule. Er begleitet die Schüler heute.

O-Ton Kunst

Ze vinden het spannend. In onze doelgroep van studenten hebben wij veel

moslims en hun eerste reactie is altijd: O nee, nee. Niet naar een joodse

synagoge. Ik hoef toch geen keppeltje op. Omdat ze bang zijn dat ze binnen hun

eigen groep nagewezen worden. Verder zijn dat ook wel groepen die uit wat

achtergestelde gezinssituaties komen. En ik merk zelf wel dat dat wel vaak

groepen zijn die toch soms wel wat fel reageren naar joden.

Sprecher 2

Sie sind nervös. Unter unseren Studenten gibt es viele Muslime, und ihre erste

Reaktion ist immer: Oh nein! In eine jüdische Synagoge? Müssen wir uns dann ein

Käppchen aufsetzen? Sie haben dann offenbar Angst, von ihren Freunden

verhöhnt zu werden. Unsere Studenten kommen oft aus sozialen Randgruppen.

Und das sind meiner Erfahrung nach oft Gruppen, die sich sehr kräftig über Juden

auslassen können.

O-Ton Bino

Het begon ermee dat wij een nieuwe synagoge hebben gebouwd in Amsterdam

Zuid waar wij nu zitten. Dat is zeven en een half jaar geleden. En al tijdens de

bouw ging ik kijken, en wij zaten pal naast een ROC, een college, met

tweeduizend leerlingen, met veel niet-westerse leerlingen, met Turkse

achtergrond, met Marokkaanse achtergrond. En ik ben gaan praten met de

docenten in het ROC en ik zag de enorme synagoge hier gebouwd worden en

dacht: dat gaat niet goed. Want ook in het verleden hadden wij wel eens

vervelende ervaringen gehad met de leerlingen dat ze stenen gooiden naar de

synagoge of dingen riepen. En ik dacht: wij moeten daar wat mee.

Sprecherin 2

Es begann damit, dass wir vor siebeneinhalb Jahren diese neue Synagoge in

Amsterdam-Süd gebaut haben. Während des Baus habe ich das ROC besucht,

das direkt neben uns lag, das Regionale Ausbildungszentrum für berufliche

Bildung - mit zweitausend Schülern. Das ROC hat viele Schüler mit

Migrationshintergrund, viele Schüler aus der Türkei und Marokko. Während

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meiner Gespräche mit den Dozenten sah ich diese riesige Synagoge gleich

nebenan aus dem Boden wachsen und dachte mir: das geht nicht gut. Denn in der

Vergangenheit hatten wir schon schlechte Erfahrungen gemacht mit Schülern, die

Steine auf die alte Synagoge warfen oder uns beschimpften. Ich dachte: Wir

müssen etwas tun.

Autor:

Madelon Bino, die Direktorin der Liberalen Jüdischen Gemeinde Amsterdam. Die

Synagoge mit Gemeindezentrum ist ein sehr auffälliger Bau. Ebenso auffällig sind

die Sicherheitsvorkehrungen, die Zäune, Kameras und der permanente

Polizeiposten vor dem Eingang. Die meisten Sicherheitsmaßnahmen wurden

allerdings erst 2014 getroffen, nachdem ein aus Marokko stammender Franzose

mit einem Schnellfeuergewehr in das jüdische Museum in Brüssel eingedrungen

war und vier Besucher erschossen hatte. 2010, im Jahr, in dem die neue

Synagoge eröffnet wurde, gingen die Sorgen noch in eine andere Richtung:

ungestüme Jugendliche, Vandalismus und Schmierereien

O-Ton Bino

Onze vorige synagoge stond hier een paar honderd meter verder. Dus, zij

kwamen daar vaak langs en riepen welles dingen als rotjoden of Hitler had je aan

het gas moeten leggen. Er is niet heel veel gebeurd maar het zijn incidenten

geweest. En er zijn ook incidenten geweest dat ze welles met steentjes gingen

gooien naar de synagoge. Het was onschuldig maar het was vervelend.

Sprecherin 2

Die alte Synagoge stand ein paar hundert Meter weiter weg. Die Schüler kamen

da vorbei und riefen manchmal „Scheißjuden“ oder „Hitler hätte euch vergasen

müssen“. Manchmal wurden auch Steine gegen die Synagoge geworfen. Es war

harmlos aber unangenehm.

Autor

Für den Neubau der Synagoge musste ausgerechnet die Turnhalle der

Berufsschule abgerissen werden. Die wichtigste Studienrichtung des Zentrums

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war das Fach Sport. Im Lehrerkollegium war deshalb die Motivation, sich des

Problems anzunehmen, nicht sehr groß, erzählt mir der Sportlehrer Roland Kunst.

Madelon Bino erinnert sich auch an andere Probleme mit den Dozenten.

O-Ton Bino

Ja, ze vonden het vervelend. Het probleem is dat ze niet wisten wat ze moesten

doen. Dat is nu nog steeds zo. Ze weten niet hoe ze op dingen moeten reageren.

Ze zijn vaak bang om conflicten aan te gaan met hun leerlingen en bepaalde

dingen bespreekbaar te maken. Ze hebben de neiging om het te negeren. Om het

vooral maar niet over te hebben. Dan gaat het wel weer over.

Sprecherin 2

Sie fanden es peinlich. Das Problem war, das sie keine Antworten hatten. Das ist

immer noch so. Sie wissen nicht, wie sie reagieren sollen. Sie haben bei

bestimmten Themen Angst vor Konflikten mit ihren Schülern. Sie wollen die

Probleme lieber negieren und vor allem nicht darüber sprechen. Vielleicht lösen

sie sich dann von selbst.

Autor

Schon 2002 waren niederländische Geschichtslehrer mit einer Warnung an die

Öffentlichkeit getreten. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen in Israel während

der 2. Intifada machten es zunehmend schwieriger, Themen wie Holocaust und

Antisemitismus mit muslimischen Schülern zu besprechen. Muslimische Schüler

solidarisierten sich mit Palästinensern und empfänden nicht Juden, sondern sich

selbst als Opfer von Diskriminierung und Verfolgung. Umfragen unter Lehrern

zeigten in den darauffolgenden Jahren, dass der Unterricht über diese Themen in

der Tat vermieden wurde. Einer offenen Auseinandersetzung über die Probleme in

Israel und die Spannungen zwischen Juden und Muslimen gingen aber auch

Juden aus dem Weg.

O-Ton Bino

De joodse gemeenschap is heel erg verdeeld. Er zijn een heleboel joden die zien

de zin niet van dit soort projecten. Je kunt beter je beveiliging scherper maken als

dit soort projecten te doen. Maar ik merk vooral de joodse ouderen, dat die heel

weinig daarin zien. Die hebben alleen maar angst. Die hebben zoiets van: laat mij

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maar achter dikke muren zitten en het heeft geen zin. Er komen steeds meer

moslims. Het gaat niet goed in Nederland. Die zijn het meest negatief. De joodse

ouderen, die de oorlog hebben meegemaakt. Maar het heeft geen zin, dat is onze

mening, om je te verbergen achter je muren. Wij leven in Amsterdam en in

Nederland. Dat is altijd een fantastisch land geweest en we vinden dat wij met

elkaar moeten blijven leven.

Sprecherin 2

Die jüdische Gemeinschaft ist gespalten. Viele halten diese Art Projekte für

sinnlos. Sie wollen lieber die Bewachung verschärfen. Vor allem die ältere

Generation hält wenig davon. Die haben Angst und wollen lieber hinter dicken

Mauern sitzen. Sie denken: es gibt immer mehr Muslime, und das ist schlecht für

die Niederlande. Sie stehen dieser Art von Projekten sehr negativ gegenüber. Das

ist die Generation, die den Krieg noch mitgemacht hat. Aber unserer Meinung

nach hat es keinen Sinn, sich hinter Mauern zurückzuziehen. Wir leben in

Amsterdam, in den Niederlanden. Das ist ein fantastisches Land, in dem wir auch

weiterhin zusammenleben müssen.

Autor

Anstatt dickerer Maurern oder einer neuartigen Anti-Graffiti-Beschichtung, wie

jemand für den Neubau der Synagoge vorschlug, entstand das Projekt „Lerne

deine Nachbarn kennen“. Zuerst wurden alle Schüler der Berufsschule

eingeladen, sich mit Jugendlichen der jüdischen Gemeinde zu treffen. Dann

kamen die Schüler anderer Schulen. Inzwischen haben 15.000 Amsterdamer

Schüler am Projekt teilgenommen. Das Projekt erhielt viele Preise. 2017 hat das

Bildungsministerium 100.000 Euro zur Verfügung gestellt, um das Projekt auf das

ganze Land auszuweiten, organsiert von den insgesamt zehn liberal-jüdischen

Gemeinden der Niederlande. Die liberale jüdische Gemeinschaft umfasst

allerdings nur die Hälfte der etwa 8.000 niederländischen Juden. Die andere Hälfte

gehört orthodoxen Gemeinden an. Hier sind kaum Zeichen für Dialogbereitschaft

erkennbar. Denn Dialog mit Muslimen bedeutet auch, sich auf ein Gespräch über

Recht und Unrecht in Israel und Palästina einzulassen, ein Gespräch, das in den

letzten Jahren nicht gerade leichter geworden ist.

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O-Ton Bino

Ik vind het nog steeds niet ingewikkeld om joods te zijn in Nederland. Maar waar ik

me wel zorgen over maak is de afgelopen vijf jaar dat je niet meer fatsoenlijk met

een keppeltje door Amsterdam kan lopen. Dat heb ik nooit eerder meegemaakt. Ik

vind dat joden door de hele stad met een keppeltje op moeten kunnen lopen, net

zo goed als moslims een hoofddoekje om hebben of andere dingen. Dat vind ik

ook prima.

Sprecherin 2

Ich finde es immer noch unkompliziert, Jude in den Niederlanden zu sein. Sorgen

mache ich mir allerdings, dass du nicht mehr mit einem Käppchen durch

Amsterdam laufen kannst. Das hat es noch nie gegeben. Ich finde, dass Juden

das können müssen, genau wie Muslime ein Kopftuch oder ähnliches tragen

können. Das finde ich auch o.k.

O-Ton Lasri

Kijk, in het begin droeg ik geen hoofddoek. Ik ben opgegroeid in een moderne

familie met een korte jurk en dat soort dingen. Mijn ouders waren zo open. Zij

zeiden, nee, dat is jouw leven. Je mag doen wat je moet doen.

Sprecherin 3

Anfangs habe ich kein Kopftuch getragen. Ich bin modern aufgewachsen mit

kurzem Rock und so weiter. Meine Eltern waren sehr offen. Es ist dein Leben, tu

was du für richtig hältst, haben sie gesagt.

Autor

Die Sportlehrerin Amina Lasri. Wir haben uns in der Al-Kabir-Moschee in

Amsterdam verabredet. Die Mosche steht in der Innerstadt, direkt an der Amstel.

Al Kabir ist eine der liberalsten Moscheen der Niederlande. Während die Männer

im großen Saal auf den Beginn des Nachmittagsgebets warten, wartet Amina

Lasri auf ihre Frauengruppe.

O-Ton Lasri

Toen ik hier kwam was het voor mij heel simpel. Ik ben eraan gewend. In

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Casablanca zijn er heel veel verschillen. Heel veel buren van mijn tante zijn joden,

en zij eten samen. Ik zie het verschil niet. Er is een groot verschil: het geloof is

anders. Maar dit is uiteindelijk een.

Sprecherin 3

Als ich in die Niederlande kam, war alles einfach. Ich fand es einfach, denn auch

in Casablanca gab es verschiedene Kulturen. Viele Nachbarn meiner Tante waren

Juden. Sie aßen zusammen. Es gab keine Unterschiede, außer, dass sie

verschiedenen Religionen angehörten. Aber das war schon alles.

Atmo „Islam ist“

Autor

Gleich zu Anfang kommen Amina und ich auf das Thema zu sprechen, das an

diesem Sonntag das ganze Land beschäftigt: ein neuer Werbefilm der PVV, der

„Partei der Freiheit“ von Geert Wilders, mit dem Titel „Der Islam ist ...“.

Der Film zeigt, unterlegt von dramatischer Musik, dreißig simple Sätze, in blutroten

Buchstaben auf weißem Hintergrund: „Der Islam ist Gewalt. Der Islam ist

Unterdrückung. Der Islam ist Christenhass. Der Islam ist Judenhass. Der Islam ist

Terror.“ Amina ist aufgebracht. Sie habe gestern fassungslos vor dem

Fernsehschirm gesessen und sich gefragt: wie soll ich das meinen Kindern

erklären? Amina hat zwei Söhne, 11 und 16 Jahre alt.

O-Ton Lasri

Mijn eerste drie jaar hier toen ik nog geen kinderen had was ik niet heel veel

bezorgd. Ik kwam overal met mij hoofdoek. Toen ik kinderen kreeg. Ja, dat is erg

moeilijk voor hun. Hoe ga ik dat doorgeven aan hun. Hoe krijg ik sterke kinderen

die kunnen gewoon tegen dit soort dingen.

Sprecherin 3

In den ersten drei Jahren meines Lebens hier habe ich mir keine Sorgen gemacht.

Dann kamen die Kinder. Die Situation ist für sie sehr schwierig. Wie soll ich sie

vorbereiten? Wie mache ich sie stark genug, damit sie diese Dinge aushalten

können?

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Autor

Wie erziehe ich meine Kinder dazu, mit Hass umzugehen, das ist auch eine

Frage, die sich jüdische Eltern stellen müssen. Für beide Gruppen wurde das

Problem etwa zur gleichen Zeit aktuell – 2001. Der Anschlag auf das World Trade

Center weckte Misstrauen gegenüber Muslimen und leistete jenen Kräften

Vorschub, die die These von der Unvereinbarkeit des Islam mit den Werten des

christlich geprägten Abendlandes vertraten. Aber auch die Juden in Europa fühlten

sich zum Sündenbock eines fernen Geschehens gemacht. Viele Muslime

solidarisierten sich während der 2. Intifada mit den Palästinensern und begannen,

ihre jüdischen Nachbarn in Europa als Repräsentanten des israelischen Staates

zu sehen. Amina Lasri denkt, wie Mohamed Achaibi, der stellvertretende

Vorsitzende der Muslime in Belgien, dass die Zunahme von Hass und Vorurteilen

vor allem dem Versagen von Elternhaus und Schule zuzuschreiben ist.

O-Ton Lasri

Daarom is de samenwerking met allerlei gemeenschappen heel belangrijk en heel

dringend nu. Wat er gebeurt in Palestina, in Syrië, in de hele wereld, is echt niet

fijn. Maar tegen die boosheid, zeg ik altijd, is opvoeding belangrijk. Opvoed jouw

kind niet extreem, naar die kant of de andere kant, dat ze gewoon reageren, dat

soort dingen. Heel veel kinderen, dat heb ik ook meegemaakt, hebben ook moeite

met andere kinderen te mixen en te leven. Waarom? Die basis kun je ook thuis

leren.

Sprecherin 3

Deshalb ist die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Gruppen gerade

jetzt so wichtig und dringend. Was in Palästina geschieht, in Syrien und anderswo

in der Welt, hat einen negativen Einfluss. Gegen Wut, sage ich immer, hilft nur

Erziehung. Erziehe dein Kind nicht extrem in die eine oder andere Richtung,

sondern dass sie normal reagieren können. Viele haben auch Probleme damit, mit

Kindern von anderen Gemeinschaften umzugehen und zu leben. Die Basis dafür

musst du zuhause lernen.

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Autor

Amina Lasri hat Madelon Bino, die Leiterin der liberalen jüdischen Gemeinde, zum

ersten Mal beim Projekt “Lerne deine Nachbarn kennen” getroffen. Seitdem haben

die beiden beschlossen, auch auf anderen Gebieten zusammenzuarbeiten.

Jüdische und muslimische Kinder gehen in den Niederlanden sonntags zum

Religionsunterricht, die einen in die Synagoge, die anderen in die Moschee. Jetzt

treffen sich die Religionsklassen regelmäßig zum Kennenlernen und

gemeinsamen Spiel. Amina und Madelon haben auch eine jüdisch-muslimische

Frauengruppe gegründet, wohlwissend, dass viele Vorentscheidungen für das

Sozialverhalten im Elternhaus fallen.

O-Ton Lasri

Joodse mensen, de joodse gemeenschap, is een beetje gesloten. Sinds 2001 heb

ik nauwelijks joodse mensen ontmoet. Daarom ben ik ook heel blij met de

kookworkshop. Die hebben wij hier de laatste tijd gedaan. Ik heb tien vrouwen

meegenomen. Ze waren zo blij en enthousiast. Wij hebben samen gekookt,

samen gelachen en we gaan iets organiseren, een wandeling, we gaan naar het

joodse museum. Gewoon samen iets doen.

Sprecherin 3

Juden und die jüdische Gemeinschaft sind ziemlich verschlossen. Seit 2001 habe

ich praktisch keine Juden kennengelernt. Deshalb bin ich froh mit dem Kochkurs,

den wir hier gerade abgehalten haben. Ich habe zehn Frauen mitgenommen. Wir

haben zusammen gekocht und gelacht. Wir organisieren jedes Mal etwas Neues,

eine Wanderung, einen Besuch beim jüdischen Museum. Einfach, um etwas

zusammen zu machen.

O-Ton Finkelgruen

Also ich glaube, dass eine Ebene, auf der man sich ohne Konflikte trifft, ist die

kulinarische Ebene. Sobald man aufs Essen kommt, kann man gut miteinander

kommunizieren. Und dann fängt es an, eine Frage des Fingerspitzengefühls zu

sein. Was man dem anderen zumutet zu hören. Aber das gilt gegenseitig, nehme

ich wohl an.

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Autor

Der Autor und Journalist Peter Finkelgruen. Wir sind in Köln angekommen, der

letzten Station unserer Erkundungsreise. Peter Finkelgruen wurde als Kind

deutsch-jüdischer Flüchtlinge während des Zweiten Weltkriegs in Shanghai

geboren, kam dann über Prag nach Israel, wo er im Tel Aviver Vorort Jaffa eine

der wenigen gemischten Schulen des Landes besuchte, bevor er sich 1959 in

Köln niederließ. Später lebte er wieder eine Zeit lang in Israel als Vertreter der

FDP-nahen Naumann-Stiftung. Ich habe Finkelgruen gebeten, sich mit mir die

israelische Fernsehdokumentation „Unter Falschem Namen“ anzuschauen.

Atmo “Unter falschem Namen”

Autor

Die Serie hat den „stillen Jihad“ zum Thema, die angebliche Unterwanderung

Europas durch Muslime. Eine Episode spielt in Berlin, wo der israelisch-jüdische

Autor der Serie als Muslim vermummt ohne weiteres Aufnahme in einem

Auffangzentrum in Tempelhof gefunden haben soll. Der Autor wertet dies als

Zeichen der fortgeschrittenen „Islamisierung“ Deutschlands. Die Serie wolle Angst

machen, schrieb die israelische Tageszeitung Haaretz, und den Eindruck

erwecken, dass Israel die letzte Rettungsinsel für Juden mitten im Weltmeer

verrückter Jihadisten wäre. Hat das Schüren von Ängsten, in Israel aber auch

durch extremistische Parteien in Europa, Folgen in Deutschland, frage ich

Finkelgruen. Gibt es jetzt mehr Angst unter Juden in Köln?

O-Ton Finkelgruen

Sie ist wohl da. Sie ist bei Gemeindemitgliedern, die aus Osteuropa kommen,

besonders aus Russland, viel stärker als bei den anderen. Das kann man

registrieren. Aber ansonsten geht das beinah unter in der generellen

Sicherheitsmanie, d.h. in der Angst und den Vorkehrungen vor Anschlägen. Die

sind so massiv da, dass es sozusagen die anti-muslimische Haltung beinahe

übertönt. Die wird als solche gar nicht mehr sichtbar, weil da sind ja die

Schutzleute, die aufpassen an den Türen und an den Toren.

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Autor

Dass Juden in Europa Angst vor Anschlägen haben, ist nur zu begreiflich.

Experten haben von Anfang an allerdings auf das Paradox hingewiesen, dass

verschärfte Sicherheitsmaßnahmen und das erhöhte Bewusstsein für Gefahren

auch zu einem erhöhten Gefühl der Unsicherheit und mehr Angst vor Gewalttaten

führen.

O-Ton Finkelgruen

Nun ist Köln vielleicht keine Stadt, die sehr typisch wäre für das Aufkommen

derartiger Ereignisse. Man hört kaum, wenig, derartige Nachrichten, und es gibt

auch keine Ereignisse. Das ist eher in Berlin vor allem und dann in ein paar

anderen Städte. Man merkt natürlich, wenn irgendeine Gewalttat passiert, in die

vorzugsweise ein Nordafrikaner aber öfter auch ein Syrer verwickelt ist. Dann

spürt man so ein Aufwallen von, ja guck mal. Das ist unsere Unsicherheit. Das

sind die Ängste, die wir haben. Da muss man schon wissen, wo man hinhört.

Autor

In der letzten Zeit wird in der Öffentlichkeit viel über Antisemitismus unter

Muslimen gesprochen und über die Zunahme von Antisemitismus allgemein. Wie

nimmt Finkelgruen die Diskussion wahr?

O-Ton Finkelgruen

Ohne ironisch sein zu wollen, könnte ich sagen, sie fangen an anzuerkennen, was

es die ganze Zeit gegeben hat. Sonst haben sie bestritten, dass es Antisemitismus

gibt. Und jetzt sagen sie, ja, es gibt ihn, aber er ist nicht bei uns, sondern er

kommt von denen. Nur so einfach ist es nicht. Ich glaube, dass wenn man die

Statistiken des Landeskriminalamtes kennt, dann weiß man, dass noch immer die

Mehrzahl der antijüdischen Angriffe auf Synagogen und so weiter von Deutschen,

und nicht von muslimischen Einwohnern vollzogen werden.

Autor

Die heutigen Beziehungen zwischen Juden und Muslimen sind vom immer noch

ungelösten Nahostkonflikt vergiftet und von einem starken gegenseitigen

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Misstrauen, das auch noch von politischen Parteien in Europa und im Nahen

Osten genährt wird. Finkelgruen erinnert sich allerdings auch an bessere Zeiten.

O-Ton Finkelgruen

Eigentlich hatte ich sie hauptsächlich in Israel selber natürlich. Das fing an schon

als Jugendlicher. In der Schule war ich mit arabischen Jugendlichen gleichzeitig in

der Schule. Später dann, als ich beruflich nach Israel kam, habe ich Projekte

errichtet und entwickelt, die auf Kooperation zwischen jüdischen Israelis und

palästinensischen Arabern in Israel ausgerichtet waren, aber auch in den

besetzten Gebieten. Es gab fantastische Kooperationen im Kulturbereich. Es war

ein goldenes Jahrzehnt, in dem es ein Optimum an palästinensisch-israelischen

Gesprächsmöglichkeiten und -bereitschaften auf allen Ebenen gab. Das ist dann

nach den Neunzigerjahren abrupt weggefallen.

Autor

Die israelische Fernsehserie „Unter Falschem Namen“ habe ich mir auch mit

einem anderen Autor und Journalisten angeschaut, mit Hakam Abdelhadi.

Abdelhadi, der bis zu seiner Pensionierung bei der Deutschen Welle gearbeitet

hat, ist im palästinensischen Dschenin geboren, seine Familie stammt aus Haifa.

Er wohnt, ebenso wie Peter Finkelgruen, seit mehr als 50 Jahren in Köln. In der

TV-Serie wird stillschweigend davon ausgegangenen, dass Muslime von Hause

aus antijüdisch eingestellt wären. Empfindet Abdelhadi diese

Verallgemeinerungen nicht als Beleidigung?

O-Ton Abdelhadi

Natürlich. Das ist ja sehr, sehr einseitig. Mein Vater hatte jüdische Freunde in

Haifa gehabt, und als er von Haifa nach Dschenin damals umgezogen ist – er hat

geweint, und die haben auch geweint. Es waren Freunde. Die Beziehungen

zwischen Palästinensern, und Arabern im Allgemeinen, und den Juden, die sind

ohne Zweifel durch Hass, von beiden Seiten übrigens, geprägt wegen der

Entstehung des Nahostkonflikts, wegen der Vertreibung der Palästinenser, wegen

des Schicksals von Millionen von Menschen, wegen der Kriege, die entstanden

sind. Und das ist jetzt wie früher zwischen Deutschland und Frankreich.

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Autor

Abdelhadi ist, wie er selbst sagt, ein säkularer, moderner Muslim. Wie empfindet

er die Veränderungen in den Beziehungen zwischen Juden und Muslimen?

O-Ton Abdelhadi

Was wir hier in Europa erleben, ist ja mehr oder weniger eine Reflektion der

Ereignisse im Nahen Osten. Zum Beispiel nach der ersten Intifada gab es ja dann

eine Annäherung zwischen Palästinensern und Juden und es gab gemeinsame

Ausstellungen, gemeinsame Aktivitäten. Das war eine goldene Zeit. Auch hier in

Deutschland wurde ja Arafat eingeladen. Der hat ein Visum bekommen von Israel,

dass er nach Deutschland kommen darf. Früher wurde Arafat immer als Terrorist

dargestellt und so weiter. Auch der Spiegel hat das gemacht, viele Magazine. Und

dann plötzlich war Arafat ... hat man Bilder gesehen in der Zeit und anderen

Zeitschriften und Zeitungen, wie er gütig guckt, wie ein Vater und so weiter. Und

das natürlich wurde legitimiert durch die Verbesserung der palästinensisch-

israelischen Beziehungen. Als sie vergiftet wurden, als die Palästinenser gesehen

haben, nach meiner Darstellung, dass Israel ihnen keine Unabhängigkeit geben,

sondern ganz Palästina einverleiben will, da gab es natürlich Widerstand erneut,

und es gab die zweite Intifada, und das hat sich wiederum reflektiert auf unser

Leben in Deutschland.

Autor

Im Deutschland der Sechzigerjahre, als Abdelhadi hier erstmals als Journalist

arbeitete, kam als Reaktion auf den Holocaust eine ausgesprochen pro-jüdische

und pro-israelische Haltung auf, die heute noch das politische Gespräch in der

Bundesrepublik bestimmt. Welche Folgen hatte das für ihn?

O-Ton Abdelhadi

Ich war oft früher, als ich jünger war, Gast bei Werner Höfer, beim Frühschoppen.

Ich durfte nicht sagen, dass ich Palästinenser bin. Er hat mich als Jordanier

vorgestellt. Ich hatte offiziell einen jordanischen Pass gehabt. Aber ich wollte

gerade zeigen, dass ich Palästinenser bin und die Partei der Palästinenser

ergreife. Das war ja eigentlich, was er auch wollte, selber. Aber er konnte es nicht

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offen sagen. Und das war für mich schon ein echtes Problem. Man hat meine

Herkunft ignoriert, um mich salonfähig zu machen. So war das.

Autor

Diese Haltung in der Politik, den Medien und der öffentlichen Meinung, hat sie

auch Konsequenzen für das Verhältnis von Muslimen und Juden in Deutschland?

O-Ton Abdelhadi

Ja. Was mir so auffällt, ist dass die deutsche Politik, die übertragen ihre eigene

Geschichte auf die Palästinenser und auch auf die Muslime im Allgemeinen. Dass

sie sagen: ihre müsst Israel so ähnlich behandeln wie wir Israel behandeln. Das ist

natürlich unhistorisch. Die arabische Seite hat ganz andere Erfahrungen mit Israel

als die deutsche Seite. Die deutsche Seite versucht ihre Geschichtserlebnisse wie

einen Hut auf die Muslime in Europa und der arabischen Welt zu platzieren. Das

geht natürlich nicht.

Autor

Heute leben etwa 20 Millionen Muslime in den christlich geprägten Ländern

Europas. Der Islam ist die größte religiöse Minderheit des Kontinents und hat

damit heute die Stellung inne, die bis zum Zweiten Weltkrieg vom Judentum

eingenommen wurde. Heute wohnen nur noch etwa 2 Millionen Juden in Europa.

Viele Verdächtigungen und Anfeindungen, unter denen früher Juden zu leiden

hatten, sind heute auch gegen Muslime gerichtet. Trotz dieser Gemeinsamkeiten,

und trotz einer langen gemeinsamen Geschichte in arabischen Ländern und in

Spanien, empfinden sich Juden und Muslime heute als Fremde, ja verstehen sich

oft als Feinde. Aber die Initiativen in Belgien und den Niederlanden, die sich auf

gemeinsame Interessen richten und Spannungen zu vermindern suchen, zeigen,

dass beide Gruppen nicht zu Misstrauen, Angst und Hass verurteilt sind.

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Sprecherin

Wer hat Angst vor dem Mann mit dem Bart?

Das schwierige Verhältnis von Juden und Muslimen in Europa

Ein Feature von Daniel Cil Brecher

Es sprachen: Michael Weber, Wolf Aniol, Sigrid Burkholder, Judith Jakob, Jochen

Langner, Marion Mainka und Bruno Winzen

Ton und Technik: Eva Pöpplein und Katrin Fidorra

Regie: Matthias Kapohl

Redaktion: Wolfgang Schiller

Eine Produktion des Deutschlandfunks 2018.


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