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Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten · Methodische Ausrichtung: Objektive Hermeneutik...

Date post: 10-Aug-2018
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1 www.fallarchiv.uni-kassel.de AutorIn: Tobias Leonhard Interner Titel: Paradebeispiel pädagogischer Professionalität? Ein Widerspruch. Methodische Ausrichtung: Objektive Hermeneutik Quelle: Leonhard Tobias: Paradebeispiel pädagogischer Professionalität? Ein Widerspruch. Online-Fallarchiv Universität Kassel 2013. Lesen Sie zu dieser Falldarstellung hier die Interpretation von Andreas Wernet. Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten Vorbemerkung: Diese ausführliche Re-Interpretation des von Andreas Wernet interpretierten Falls Die Unscheinbarkeit der Pädagogischen Kunst“ (vgl. Wernet 2011a) 1 mit der Methode der Objektiven Hermeneutik wurde mit zwei Zielperspektiven vorgenommen. Zum einen forderte die Interpretation des Falls von Andreas Wernet zum inhaltlichen Widerspruch heraus, zum zweiten ging es darum, Lehramtsstudierenden der Universität Mainz das methodische Vorgehen einer objektiv-hermeneutischen Rekonstruktion so zu verdeutlichen, dass sie sowohl das detaillierte methodisch kontrollierte Vorgehen in einem Interpretationsprotokoll als auch deren Überführung in eine verdichtete Fassung nachvollziehen können. Die Interpretation folgt in ihrem methodischen Vorgehen der Darstellung Wernets in der „Einführung in die Interpretationstechnik der objektiven Hermeneutik“ (vgl. Wernet 2011b). Der Beitrag gliedert sich dadurch in fünf Teile: Nach Transkript, Fallbestimmung und Interaktionseinbettung folgt im Kapitel 2 das ausführliche Interpretationsprotokoll, das in seiner Ausführlichkeit ein Beispiel für eine extensive Feinanalyse darstellt. Im folgenden Kapitel 3 erfolgt die zusammenfassende Interpretation, die die zentralen 1 Die Zitation bezieht sich auf die folgende Quelle: Wernet, Andreas (2011a): Die Unscheinbarkeit der pädagogischen Kunst. In: Online Fallarchiv Schulpädagogik. URL: http://www.fallarchiv.uni-kassel.de/2011/methoden/objektive- hermeneutik/andreas-wernet/die-unscheinbarkeit-der-padagogischen-kunst/ (10.12.2012.) Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf das im Fallarchiv verfügbare PDF-Dokument.
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www.fallarchiv.uni-kassel.de AutorIn: Tobias Leonhard Interner Titel: Paradebeispiel pädagogischer Professionalität? Ein Widerspruch. Methodische Ausrichtung: Objektive Hermeneutik Quelle: Leonhard Tobias: Paradebeispiel pädagogischer Professionalität? Ein Widerspruch. Online-Fallarchiv Universität Kassel 2013. Lesen Sie zu dieser Falldarstellung hier die Interpretation von Andreas Wernet.

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Vorbemerkung:

Diese ausführliche Re-Interpretation des von Andreas Wernet interpretierten Falls

„Die Unscheinbarkeit der Pädagogischen Kunst“ (vgl. Wernet 2011a)1 mit der

Methode der Objektiven Hermeneutik wurde mit zwei Zielperspektiven

vorgenommen. Zum einen forderte die Interpretation des Falls von Andreas Wernet

zum inhaltlichen Widerspruch heraus, zum zweiten ging es darum,

Lehramtsstudierenden der Universität Mainz das methodische Vorgehen einer

objektiv-hermeneutischen Rekonstruktion so zu verdeutlichen, dass sie sowohl das

detaillierte methodisch kontrollierte Vorgehen in einem Interpretationsprotokoll als

auch deren Überführung in eine verdichtete Fassung nachvollziehen können.

Die Interpretation folgt in ihrem methodischen Vorgehen der Darstellung Wernets in

der „Einführung in die Interpretationstechnik der objektiven Hermeneutik“ (vgl.

Wernet 2011b).

Der Beitrag gliedert sich dadurch in fünf Teile: Nach Transkript, Fallbestimmung und

Interaktionseinbettung folgt im Kapitel 2 das ausführliche Interpretationsprotokoll, das

in seiner Ausführlichkeit ein Beispiel für eine extensive Feinanalyse darstellt. Im

folgenden Kapitel 3 erfolgt die zusammenfassende Interpretation, die die zentralen

1 Die Zitation bezieht sich auf die folgende Quelle: Wernet, Andreas (2011a): Die Unscheinbarkeit der pädagogischen Kunst. In: Online Fallarchiv Schulpädagogik. URL: http://www.fallarchiv.uni-kassel.de/2011/methoden/objektive-hermeneutik/andreas-wernet/die-unscheinbarkeit-der-padagogischen-kunst/ (10.12.2012.) Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf das im Fallarchiv verfügbare PDF-Dokument.

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Punkte der vorhergehenden Feinanalyse fokussiert herausarbeitet. Im Kapitel 4 wird

die Interpretation vor dem Hintergrund ausgewählter strukturtheoretischer Konzepte

professionstheoretisch gerahmt. In diesem Teil wird die Diskrepanz zur Interpretation

Wernets deutlich. Im abschließenden Kapitel 5 werden im direkten Bezug zu den

Wernetschen Aussagen Unterschiede in den rekonstruierten Sinnstrukturen

diskutiert.

In der Summe resultiert daraus die über den konkreten Fall hinausgehende

methodologische Anfrage nach der intersubjektiven Gültigkeit der jeweils

vorgenommenen Interpretationen.

Transkript:

L: Lies bitte Deine Hausaufgaben vor.

S: Ich habe sie nicht gemacht.

L: Darf ich fragen, warum nicht?

S: Ich sehe nicht ein, wozu ich Dinge tun soll, die absolut wirklichkeitsfern sind und

sowieso nie wieder gebraucht werden.

L: Dies ist keine Entschuldigung für die Nichterledigung der Hausaufgaben. Ich

erwarte, sie in der nächsten Stunde zu sehen.

S: Aber ich kann mit dem Zeugs in meinem Leben nie wieder was anfangen.

L: Merkst Du nicht, dass diese Thematik nicht in den Unterricht passt? Wenn Du

möchtest, können wir uns gerne nach der Stunde darüber unterhalten. Die

Hausaufgaben holst Du bitte nach.2

Fallbestimmung

Erster Ausgangspunkt für die (erneute) Betrachtung dieses Falles war ein Befremden

des Autors über die abschließende Interpretation Wernets, der das Lehrerhandeln in

diesem Fall als Ausweis unscheinbarer, aber „pädagogischer Kunst“ kennzeichnete

(vgl. ebd.). Das erste Befremden über diese „Adelung“ des vorfindlichen Handelns

führte zur Zielperspektive, aus Sicht einer strukturtheoretischen Professionstheorie

(vgl. Oevermann 1996, Helsper 2001) an diesem Fall herauszuarbeiten, ob die

Handlung der Lehrkraft dabei als professionelles Handeln zu kennzeichnen wäre.

Dass pädagogische Professionalität und „pädagogische Kunst“ dabei kategorial

2 vgl. Wernet 2011a

3

Verschiedenes kennzeichnen, ist unbenommen, doch wird hier die Position vertreten,

dass „pädagogische Kunst“ nicht in eklatantem Widerspruch zu zentralen

professionstheoretischen Konzepten stehen kann.

Das Erkenntnisinteresse der Re-Interpretation lässt sich also damit beschreiben,

dass rekonstruiert werden soll, ob bzw. inwieweit sich das im Transkript abbildende

Handeln der Lehrkraft als professionell kennzeichnen lässt. Als weiterer theoretischer

Bezug wird die Perspektive peerkultureller Phänomene im Hintergrund „mitlaufen“,

um zu prüfen, inwieweit die getroffenen Aussagen durch diese Perspektive zum

Verständnis des Falles beitragen können.

Interaktionseinbettung

Weitere Informationen als die bei Wernet formulierten Aussagen über den Kontext

des Falls liegen nicht vor: „Die Szene, die ich [re-] interpretieren werde, spielt sich zu

Beginn einer Unterrichtsstunde (Biologie, 12. Klasse) ab“ (Wernet 2011a, S. 1).

Es handelt sich also um eine schulische Interaktion, die zu Beginn einer

Unterrichtsstunde als Zeitrahmen und mit der Funktion inhaltlich-thematischer

Auseinandersetzung stattfindet. Dass es sich um eine 12. Klasse handelt, impliziert

einen Unterricht in der Sekundarstufe II eines Gymnasiums und damit einen Kontext,

in dem etwa ein Jahr später den Schülern eine (zumeist allgemeine) Hochschulreife

attestiert wird, darüber hinaus die Perspektive, dass dieser Unterricht im

Klassenverband und damit konstitutiv vor dem „Publikum Schulklasse“ (vgl.

Breidenstein & Kelle 2002) stattfindet.

Ausführliches Interpretationsprotokoll

Sequenz 1

[L: Lies bitte Deine Hausaufgaben vor.]

Geschichten:

Der Begriff der Hausaufgaben schränkt die Möglichkeiten kontextfreier Interpretation

erheblich ein, deshalb wird er (und als Gedankenexperiment auch der Imperativ

„Lies“) zunächst ersetzt, um die allgemeine, aber strukturanaloge Form: „Tu bitte xy“

zunächst auf ihre latente Sinnstruktur hin zu untersuchen.

• Bring bitte den Müll runter

4

• Mach bitte Dein Bett

• Bring mir bitte die Zeitung

• Lass das bitte sein

Konkretisierung mit den wörtlichen Aussagen:

• „Lies“ setzt das Vorhandensein etwas zu lesenden voraus

• „Hausaufgaben“: schulisches Konstrukt mit zwei Bedeutungsebenen: Der

inhaltlicher Sinn der Hausaufgaben liegt im Lernen, der Vertiefung und Übung

für den einzelnen Schüler, aus formal-organisatorischer Sicht handelt es sich

bei Hausaufgaben um eine Pflicht und Bringschuld des Schülers.

• „Deine“ Hausaufgaben: Zuschreibung der Aufgaben in den persönlichen

Verantwortungsbereich des Adressaten

Lesarten kontextfrei:

Asymmetrische Beziehung, Aussage erfolgt aus formal übergeordneter Position,

direkte Adressierung einer Person in Form einer maximal klaren (ohne

Abtönungspartikel wie „einfach“, „mal“) und formal-höflichen Antwort. Das „bitte“

schwächt die Befehlsform „Lies“ vom Befehl zur Aufforderung ab.

Konfrontation mit dem Äußerungskontext:

Die Aufforderung, Hausaufgaben vorzulesen, setzt notwendig die im Vorfeld erfolgte

Anfertigung der selben voraus und zeigt die Erwartungshaltung der auffordernden

Person. Im Vorlesen erweist sich deren Anfertigung und erfährt dadurch zugleich

eine Öffentlichkeit. Dieser Aspekt ist der empirische Beleg für die Anwesenheit der

Schulklasse und führt dazu, dass die Äußerungen des beteiligten Schülers auch als

potentiell peerkulturelle Adressierungen zu betrachten sind. Unter 4 Augen wäre ein

„Vorzeigen“ statt des „Vorlesens“ wahrscheinlicher. Die Aufforderung der Lehrkraft

hat damit zumindest zwei Bedeutungsmomente: Kontrolle der Anfertigung und den

des Beitrags zum (Klassen-)Unterricht.

Kontrastierendes Gedankenexperiment:

Eine vorwiegend inhaltliche, am Verstehen orientierte und ein Sorgehaltung zum

Ausdruck bringende Aussage der Lehrkraft in Bezug auf die Hausaufgaben hätte

sprachlich eine völlig andere Form. Z.B. „Und? Gab es Schwierigkeiten mit den

Hausaufgaben?“

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1. Fallstrukturhypothese:

Die Aussage der Lehrkraft stellt eine maximal klare und als hierarchisch wie

formalhöflich zu kennzeichnende Aufforderung an eine formal untergeordnete Person

dar. Die persönlich adressierte Aufforderung des Vorlesens impliziert die

selbstverständliche Annahme der Anfertigung, sowie die Absicht, darüber eine

Öffentlichkeit herzustellen. Die Bedeutungsmomente der Kontrolle und eines Beitrags

in der Öffentlichkeit sind dominant.

Gedankenexperimentelle Fortschreibung:

• „Hab´ ich vergessen“ (Eingeständnis des Versäumnisses bei gleichzeitiger

Geringschätzung des Versäumten)

• „Wieso ich?“ (Ablehnung mit Ablenkung und Auflehnungsmoment)

• Der Aufforderung mittels Vorlesen Folge leisten

• Ich möchte lieber nicht (Vorsichtige, zurückhaltende Ablehnung)

Sequenz 2

[S: Ich habe sie nicht gemacht]

Geschichten:

• Ich habe das Geld entwendet

• Ich habe sie [die verunfallte kleine Tochter] nicht genug im Blick gehabt

• Beschwerde einer Person über die Regeln eines Spiels adressiert an den

Schiedsrichter. Antwort: „Ich habe sie [die Regeln] nicht gemacht“

• Beschwerde über die Qualität der Brötchen am Frühstückstisch. Antwort: „Ich

habe sie nicht gemacht“.

Lesarten:

Kontextfrei zeigen sich in den obigen Geschichten zwei Bedeutungsstrukturen. Die

beiden ersten Geschichten stellen gerade durch ihre Ausführlichkeit neben der

Information über einen Sachverhalt ein (Ein-)Geständnis dar. Diese Struktur impliziert

sowohl die Aufrichtigkeit der Person (Prinzip „Sparsamkeit“) und die Akzeptanz eines

Fehlverhaltens, also die Anerkennung einer Verpflichtung durch die gestehende

Person.

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Die zweite Bedeutung (Geschichten 3 und 4) ist die Zurückweisung einer

Verantwortungszuschreibung.

Konfrontation mit dem Äußerungskontext:

Die Aussage ist im tatsächlichen Kontext der Form nach eindeutig als eine aufrichtige

Information und ein Geständnis zu interpretieren, dass die implizite Annahme der

Lehrkraft, dass die Hausaufgabe, auf die sich das „sie“ bezieht, nicht zutrifft, der

Schüler3 also der Aufforderung vorzulesen nicht Folge leisten kann. Zugleich erweist

sich, dass er die Verantwortungszuschreibung (Deine Hausaufgabe) nicht in Frage

stellt und sich zu seiner Verantwortung bekennt. Die Lesart der

Verantwortungszurückweisung fällt hier weg, weil die vorausgehende Sequenz der

Lehrkraft nicht als Beschwerde zu kennzeichnen ist.

2. (erweiterte) Fallstrukturhypothese:

Auf die hierarchische Aufforderung der Lehrkraft folgt eine negative Antwort, die aber

die regelgerechte und aufrichtige Form eines Geständnisses hat und damit die

grundlegende Akzeptanz der Verantwortung des Schülers zum Ausdruck bringt.

Gedankenexperimentelle Fortschreibung:

Bemerkenswert an der Aussage des Schülers ist neben der klaren Aufrichtigkeit das

Fehlen einer Erläuterung für seine Aussage. Die Erläuterung kann dabei die Form

einer Begründung annehmen, oder die einer Entschuldigung. Dieser Unterschied ist

sehr wesentlich. Eine Begründung plausibilisiert die Aussage kausal, was dem

Gegenüber das Verständnis erleichtern kann, eine Entschuldigung enthält darüber

hinaus die Anerkennung eines Fehlverhaltens, sowie das Moment des Bedauerns

über eben dieses Fehlverhalten. Zu erwarten ist also aufgrund des Fehlens dieser

Erläuterung in erster Linie eine Frage nach dem Grund. Denkbar wäre aber auch ein

in Aussicht stellen von Konsequenzen (wenn Du..., dann...) oder direkte

Konsequenzen (das vermerke ich...).

3 Ob es sich bei S. um eine Schülerin oder einen Schüler handelt, ist nicht erkennbar. Aufgrund des bekannten Kontextes wird zum einen von S. als Schüler/in und damit der rollengemäßen Kennzeichnung der anwesenden Jugendlichen ausgegangen. Der einfacheren Lesbarkeit halber wird im Folgenden das männliche Geschlecht verwendet.

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Sequenz 3

[L: Darf ich fragen, warum nicht?]

Geschichten:

• Darf ich fragen, wie alt sie sind? (Interviewer befragt ältere Dame)

• Darf ich fragen, wie viel Sie im Monat verdienen?

• Darf ich fragen, wie viel das kostet? (Kunde unterbricht anderes

Kundengespräch wg. Zeitdrucks)

• Darf ich fragen, wie die Therapie verläuft?

• Darf ich fragen, was die Herren trinken möchten? (Kellner im Restaurant)

Lesarten:

Die Geschichten zum Ausdruck „darf ich fragen“ zeigen zwei latente Sinnstrukturen:

Zum einen findet die sprachliche Form Anwendung, wenn nach nichtöffentlichen

Dingen gefragt wird, deren Veröffentlichung zudem mit Vorbehalten versehen sein

könnte. Über Geld, das eigene Alter und den Verlauf einer Therapie spricht man (in

Deutschland) nicht immer offen, daher ist die Frage, nach der Erlaubnis zu fragen,

hier „wohlfgeformt“. Die zweite Bedeutung ist die Frage innerhalb eines

Subordinationsverhältnisses, und zwar von „unten“ nach „oben“. Es wird nach der

Erlaubnis gefragt aus untergeordneter Position zu fragen.

Der zweite Teil der Sequenz „warum nicht“, fordert eine kausale Begründung der

Nichtanfertigung der Hausaufgaben ein.

Konfrontation mit dem tatsächlichen Äußerungskontext:

Zunächst ist die Frage der Lehrkraft als erwartungsgemäß zu kennzeichnen. Sie fragt

nach dem Grund für die Nichtanfertigung der Hausaufgaben.

Die beiden kontextfrei entwickelten Lesarten stehen aber in starkem Kontrast zur

bisher elaborierten Fallstruktur.

Eine Lehrkraft hat formal das Recht zu fragen, schon gar, wenn es sich um die

Gründe für die Nichterledigung der Hausaufgaben handelt. Zugleich zeigt die erste

Sequenz, dass die Lehrkraft klar hierarchisch agiert, was durch das in der Frage „darf

ich fragen“ zum Ausdruck kommende Subordinationsverhältnis geradezu auf den

Kopf gestellt wird.

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Dies führt zu zwei Interpretationen:

1. Es handelt sich hierbei um eine ironische Aussage, die darin besteht, die

Kritikwürdigkeit der separat erforderlichen Einforderung einer (allgemein

formuliert) erklärenden Aussage zu verstecken. Diese Interpretation beinhaltet

also die Kritik an der Unzulänglichkeit der Schüleraussage, in der Form auch

eine Gereiztheit.

2. Die zweite Interpretation, die mit der Lesart des Öffentlichkeitsvorbehalts in

Einklang zu bringen wäre, wäre die einer professionellen Zurückhaltung der

Lehrkraft, dass die Gründe für die Nichtanfertigung der Hausaufgaben in der

Privatsphäre des Schülers lägen, so dass eine Erlaubnis danach zu fragen

zunächst eingeholt werden muss.

Gedankenexperimentelle Fortschreibung der beiden Interpretationen:

Folgende Anschlussmöglichkeiten wären denkbar:

• Der Schüler formuliert eine Begründung.

• Der Schüler formuliert eine Begründung mit Entschuldigung (Anerkennung der

Pflicht bzw. deren Verletzung).

• Der Schüler versucht, die Antwort unter Verweis auf private Gründe zu

vermeiden (Gründe nach denen in der hier existenten Öffentlichkeit nicht

gefragt werden sollte).

• Der Schüler erlaubt die Frage nicht (unter Wörtlichnahme der Frage der

Lehrkraft.)

Sequenz 4

[S: Ich sehe nicht ein]

Geschichten:

• Ich sehe nicht ein, dass alle anderen in den Urlaub gehen können, und ich hier

Wache schieben soll. (Arbeitnehmer zu anderem Arbeitnehmer)

• Ich sehe nicht ein, warum ich gerade jetzt Kontrabass üben soll (Sohn zu

Vater)

• Ich sehe nicht ein, hier tatenlos rumzusitzen.

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Lesarten:

Die Aussage macht deutlich, dass eine Person eine externe Anforderung nicht zu

akzeptieren bereit ist. Die Form ist im Gegensatz zu einem diplomatischen „Ich hätte

Schwierigkeiten damit, ...“ dezidiert und erscheint als abgeschlossenes Urteil.

Zugleich verweist die Form auf ein gewisses Maß an Empörung und lässt auf eine

Vorgeschichte der Auseinandersetzung schließen, denn ein erster Widerspruch

erscheint eher selten in dieser dezidierten Form.

Sequenz 5

[S: Ich sehe nicht ein, warum ich Dinge tun soll, die absolut wirklichkeitsfremd sind

und sowieso nie wieder gebraucht werden.]

Geschichten, die diese Aussage beinhalten, sind kaum sinnvoll zu konstruieren.

Lesarten: Deutlich wird darin aber, dass es sich um ein abgeschlossenes Urteil in

Bezug auf die „Dinge“ handelt, die als äußere Anforderung an den Schüler

herangetragen werden. Diese „Dinge“ werden vom Schüler generalisiert („sind“ und

„gebraucht werden“) und jede Diskussion erübrigend („absolut“ und „nie wieder“) als

„wirklichkeitsfremd“ und unbrauchbar gekennzeichnet.

Zugleich handelt es sich um eine Begründungsstruktur, die sich regelkonform an die

Frage nach dem „warum nicht“ anschließt. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass

die Aussage des Schülers Gründe für die Nichtanfertigung der Hausaufgaben liefert,

aber keine Entschuldigung. Der Bezug des Schülers ist damit die Sinnebene der

Hausaufgaben. Die „Dinge“, deren Bearbeitung er ablehnt, sind nicht Hausaufgaben

generell, sondern solche Aufgaben, die er als wirklichkeitsfern und unbrauchbar

erlebt. Damit lässt sich der Sinn der Hausaufgaben als bedeutungslogisch der Pflicht

übergeordnet rekonstruieren. Wenn der Sinn nicht ersichtlich ist, besteht in dieser

Logik auch keine Verpflichtung, und deshalb muss sich der Schüler auch nicht

entschuldigen.

Die Hypothese, dass die Gründe in der Privatsphäre des Schülers liegen könnten,

kann an dieser Stelle fallen gelassen werden. Seine Bereitschaft Gründe vorzutragen

ist offensichtlich gegeben.

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Nebenbemerkung:

Hier eine funktionalistisch verkürzte Sicht des Schülers auf die Themen des

Unterrichts zu kritisieren, eine Form der Auflehnung oder gar des „Machtkampfes“ zu

rekonstruieren, oder die Form des Ausdrucks als unangemessen zu qualifizieren,

wäre denkbar, geht aber am beschreibenden Fokus der Fallrekonstruktion vorbei.

Gedankenexperimentelle Fortschreibung:

Die Lehrkraft könnte

• ihre Bereitschaft artikulieren, Sinn und Realitätsbezug der Aufgaben zu

erläutern

• die sich anbahnende Diskussion hierarchisch unterbinden

• der Diskussion einen späteren Zeitraum zuweisen, um mit dem Unterricht

fortfahren zu können

• den Eindruck der Wirklichkeitsferne des Schülers in der vermutlich

anwesenden Schulklasse validieren (wie ging es Euch damit?)

• die Begründung nicht akzeptieren

• eine Strafe oder Konsequenzen verhängen

Sequenz 6

[L: Dies ist]

Geschichten:

• Dies ist keine Übung, sondern Ernstfall

• Dies ist eine Privatauktion

• Dies ist ein Privatgarten und keine Hundewiese

Lesarten:

Die Form „Dies ist“ verweist auf etwas Bestimmtes mit der Absicht der noch

genaueren Bestimmung desselben. Die Aussage braucht notwendig einen Bezug

und beinhaltet eine Klarstellung.

Sequenz 7

[L: Dies ist keine Entschuldigung für die Nichterledigung der Hausaufgaben.]

Konfrontation mit dem tatsächlichen Äußerungskontext:

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Die Lehrkraft bestimmt die Aussage des Schülers als „keine Entschuldigung“, womit

deutlich wird, dass die Frage nach dem „Warum nicht“ auf genau diese abzielte und

sie die Begründung des Schülers nicht akzeptiert. Das hat für die Interpretation

weitreichende Folgen, denn die Orientierung der Lehrkraft auf die Perspektive der

Hausaufgabenpflicht wird damit offenbar. Hierzu trägt auch der Begriff der

„Nichterledigung“ bei. Er beinhaltet der Form nach eine bürokratisch-distanzierende

Substantivierung, und verweist semantisch darauf, dass der Abschluss, nicht aber

Prozess der Auseinandersetzung mit den Themen der Hausaufgaben im

Vordergrund steht.

Der Klarstellungs- und Qualifizierungscharakter der Aussage führt dazu, die

Hypothese vorsichtiger Zurückhaltung („darf ich fragen“) zu verwerfen.

Sequenz 8

[Ich erwarte, sie in der nächsten Stunde zu sehen.]

Geschichten:

• Ich erwarte eine Entschuldigung von Ihnen (Chefin zum Sekretär, der den

Kaffee vergessen hat)

• Ich erwarte Sie um Punkt 12 am Ausgang (Chef zu Chauffeur)

Lesarten:

Ausdruck formal distanzierter und nicht zu diskutierender Anordnung, zugleich

Ausdruck eines autoritären Führungsstils, der den subjektiven Gründen des

Gegenübers wenig Bedeutung beimisst.

Konfrontation mit dem tatsächlichen Äußerungskontext:

Die Lehrkraft fordert trotz inhaltlicher Einwände des Schülers dessen Pflichterfüllung

ein. Die Aussage ist durch die Terminierung abschließend.

3. Fallstrukturhypothese

Der Fall zeigt, dass die Lehrkraft die Hausaufgaben aus formal hierarchischer

Position heraus als Akt der Pflichterfüllung des Schülers kontrolliert. Die Fraglichkeit

des Sinns der Hausaufgaben erfährt dabei keine Berücksichtigung. Konsequenzen

der Pflichtverletzung spielen bisher keine Rolle.

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Gedankenexperimentelle Fortschreibung

Die Klarheit der Aussage ließe erwarten, dass der Schüler sich seinem formal

bestimmten Schicksal fügt und der Bringschuld nachkommt. Widerstand, erneute

Argumentation oder auch trotziges Auflehnen sind ebenfalls vorstellbar.

Sequenz 9

[S: Aber ich kann mit dem Zeugs in meinem Leben nie wieder was anfangen.]

Geschichten:

• Beim Entrümpeln des Kinderzimmers: Die Mutter möchte, dass der inzwischen

Jugendliche bestimmte Gegenstände behält, aber es erfolgt Protest.

Lesarten:

Die Aussage zeigt einen Widerspruch gegen die vorhergehende Aussage und eine

geringe Wertschätzung („Zeugs“) gegenüber den thematischen Dingen. Diese ergibt

sich aus dem Erleben subjektiver Nutzlosigkeit.

Konfrontation mit dem tatsächlichen Äußerungskontext:

Der Schüler artikuliert Widerstand, jedoch nicht gegen die Qualifizierung seiner

Voraussage als „keine Entschuldigung“, sondern gegen die Erledigung von „Zeugs“,

das keine Bedeutung für sein Leben hat.

Bemerkenswert ist, dass das unbeirrte Einfordern der Pflichterfüllung der Lehrkraft

offensichtlich bereits Wirkung zeigt. Die Aussage des Schülers wird abfälliger

(„Zeugs“ statt „Dinge“) und damit in der Interaktion ggf. provokativer, zugleich erfolgt

ein Rückzug von der generalisierten Behauptung („die Dinge sind“) zur subjektiven

Aussage „ich kann... nie wieder“. Die ggf. vor dem Hintergrund peerkultureller

Unterstützung und Solidarität getroffene Allaussage wird hier, weil keine

Unterstützung der anwesenden Mitschüler erfolgt, zurückgenommen. Insgesamt

beharrt der Schüler auf seiner Nachfrage nach dem inhaltlichen Sinn und setzt den

Sinn damit weiterhin bedeutungslogisch klar vor die Pflichtperspektive.

Sequenz 10

[L: Merkst Du nicht]

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Geschichten:

• Merkst Du nicht, wie´s hier gerade riecht? (Ehepaar im Zug nach starker

Bremsung)

• Merkst Du nicht, wie nervig Du gerade bist? (Vater zu Kind)

• Merkst Du nicht, dass das gerade total unpassend ist? (gereizter Mann bei der

schwierigen Reparatur des Auspuffs am Familienfahrzeug, angesprochen von

seiner Frau, die darauf insistiert, welchen Anzug er abends anziehen werde).

• Merkst Du nicht, wie weh Du mir getan hast? (SMS nach Streit in der Disco)

Lesarten:

Die rhetorische Frageform bringt gereiztes Unverständnis über das Handeln bzw. die

Position des Gegenübers zum Ausdruck. Diese Position wird vom Sprecher als

evident unangemessen wahrgenommen und unterstellt eine eingeschränkte

Selbstwahrnehmung des Angesprochenen.

Sequenz 11

[L: Merkst Du nicht, dass diese Thematik nicht in den Unterricht passt?]

Konfrontation mit dem tatsächlichen Äußerungskontext:

Die Lehrkraft unterstellt dem Schüler mit der, der Form nach rhetorischen Frage und

der direkten Adressierung eine eingeschränkte Selbstwahrnehmung in Bezug auf die

Frage, ob die inhaltliche Bedeutung der Hausaufgaben Gegenstand des Unterrichts

sein kann. Zugleich vertritt die Lehrkraft damit die Gegenposition. Unter der

Annahme, dass diese Aussage vor mehr als einer Person getroffen wird, kann die

Aussage als „öffentliche Beschämung“ gekennzeichnet werden.

4. Fallstrukturhypothese

Der Fall zeigt, dass die Lehrkraft die Hausaufgaben aus formal hierarchischer

Position heraus als Akt der Pflichterfüllung des Schülers kontrolliert. Der Ausdruck

hierarchisch autoritärer Dominanz steigert sich mit dem Insistieren des Schülers auf

der Frage nach dem Sinn der konkreten Aufgabe, die keinerlei inhaltliche

Berücksichtigung erfährt.

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Sequenz 12

[Wenn Du möchtest]

Geschichten:

• Wenn Du möchtest, dass wir alle zusammen in den Urlaub fahren, musst...

• Wenn Du möchtest, können wir heute Abend Spaghetti kochen

• Wenn Du möchtest, gehen wir eine Runde spazieren

Lesarten:

Die erste Geschichte zielt auf eine Voraussetzung, die erfüllt sein muss, damit ein

antizipiertes Ziel der angesprochenen Person erreicht werden kann.

Die anderen beiden machen Vorschläge, die aber an den Willen und die Zustimmung

der adressierten Person gerichtet sind. Es wird ein Entscheidungsspielraum

geschaffen, der sich aber als Alternative zwischen „mögen“ und „nicht mögen“

darstellt.

Sequenz 13

[Wenn Du möchtest, können wir uns gerne nach der Stunde darüber unterhalten]

Konfrontation mit dem tatsächlichen Äußerungskontext:

Vordergründig bietet die Lehrkraft dem Schüler ein Gespräch an. Der

Entscheidungsspielraum bezieht sich aber lediglich auf die Frage, ob der Schüler

sich mit der Lehrkraft nach der Stunde unterhalten will oder nicht. Die implizite

Botschaft ist damit aber auch, dass die Diskussion aktuell beendet ist.

Das Verb „unterhalten“, das hier auch mit „reden“ paraphrasiert werden könnte, ist

wegen seines unverbindlichen Charakters aufschlussreich. Kontrastierend und der

Wortbedeutung nach intensiver wäre das Verb „diskutieren“, das auf eine

argumentative Auseinandersetzung verweist, hier aber nicht verwendet wird.

Sequenz 14

[Die Hausaufgaben holst Du bitte nach]

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Geschichten:

• Den Müll bringst Du bitte runter

• Die Flasche machst Du bitte zu

• Die Schublade schließt Du bitte ab

Lesarten:

Alle Geschichten verweisen auf eine abschließende Anweisung einer hierarchisch

übergeordneten Person. Die Form, einer Person determinierend im Präsens

mitzuteilen, was sie in der Zukunft tun wird, stellt eine maximal hierarchische Form

der Anweisung dar, das „bitte“ ist wieder ausschließlich als „formalhöflich“ zu

kennzeichnen.

Konfrontation mit dem tatsächlichen Äußerungskontext:

Die letzte Aussage bestätigt die Vermutung, dass das Gesprächsangebot nichts an

der Erwartung der Lehrkraft in Bezug auf die Anfertigung der Hausarbeit ändern wird.

Diese ist gesetzt. Die Form wahrend und in der Aussage alternativlos endet das

Transkript.

Abschließende Fallstrukturhypothese

Im Fall zeigt sich eine Dominanz organisatorisch formaler Aspekte der Ordnung des

Unterrichts. Am typisch schulischen Konstrukt der Hausaufgaben erweisen sich sinn-

und inhaltsbezogene Nachfragen von Seiten des Schülers als inkompatibel zur

formalen Anforderung der Pflichterfüllung.

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Verdichtete Interpretation

Der Fall stellt sich zunächst als „Standardsituation“ im unterrichtlichen Ablauf dar.

Hausaufgaben wurden von der Lehrkraft erteilt, die Besprechung derselben schafft

die inhaltliche Anknüpfung zur Vorstunde und ermöglicht die Klärung offener Fragen.

Zugleich ist dieser Moment aus formal-organisatorischer Sicht der Punkt, an dem die

Pflichterfüllung durch die Kontrolle des Vorhandenseins geprüft wird.

[L: Lies bitte Deine Hausaufgaben vor]

Die Aussage stellt eine an eine Einzelperson adressierte Aufforderung dar, die sich

nur durch das „bitte“ von der Reinform eines Befehls unterscheidet. Die darin zum

Ausdruck kommende Beziehungskonstellation ist asymmetrisch. Die Lehrkraft darf

den Adressaten auffordern, und geht zugleich davon aus, dass die Hausaufgaben

gemacht sind. Entgegen einer sprachlichen Form, die inhaltlich und

verstehensorientiert von Sorge geprägt sein könnte, verweist die Aufforderung auf

eine Dominanz der Kontrollperspektive. Die Aufforderung vorzulesen impliziert (von

der Annahme absehend, dass der Auffordernde blind ist), dass damit eine

Öffentlichkeit über die Lehrkraft und die adressierte Person hinaus hergestellt wird.

Die Aufforderung hat also, obwohl sie nur eine Person adressiert, ein über diese

Zweierkonstellation hinausgehendes Publikum, in der Schule einen Klassenkontext,

was zugleich durch die Adressierung einer einzelnen Person eine „riskante

Exponierung“ (vgl. Breidenstein & Kelle 2002, S. 324 f.) darstellt. Diese erfährt noch

eine Steigerung dadurch, dass das Vorzulesende in die persönliche Verantwortung

des Adressaten gestellt wird („Deine Hausaufgaben“).

Die erste Sequenz führt damit zu folgender erster Fallstrukturhypothese:

1. Fallstrukturhypothese

Die Aussage der Lehrkraft stellt eine maximal klare und als hierarchisch wie

formalhöflich zu kennzeichnende Aufforderung an eine formal untergeordnete

Person dar. Die persönlich adressierte Aufforderung des Vorlesens impliziert die

selbstverständliche Annahme der Anfertigung, sowie die Absicht, darüber eine

Öffentlichkeit herzustellen. Die Bedeutungsmomente der Kontrolle und eines Beitrags

in der Öffentlichkeit sind dominant.

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[S: Ich habe sie nicht gemacht]

Der Schüler4 weist die Aufforderung indirekt zurück, weil er sie (die Hausaufgaben)

nicht gemacht habe. Die Ausführlichkeit der Antwort kommt einem „Geständnis“

gleich, das in seiner Form zum einen Aufrichtigkeit und zum anderen die

grundsätzliche Anerkennung beinhaltet, dass die Aufforderung der Lehrkraft

berechtigt ist, und die Aufgabe in der eigenen Verantwortung liegt. Auffällig ist neben

der Klarheit der Antwort und dem Fehlen von verantwortungsdelegierenden

Aussagen das Fehlen einer Erklärung. Dabei sind, der oben eingeführten

Unterscheidung von zumindest zwei Bedeutungsstrukturen des Konstrukts

Hausaufgaben folgend, zwei Formate zu unterscheiden. Die plausibilisierende

Begründung, die aus inhaltlicher Sicht die Nichtanfertigung zu erklären vermag, und

die Versäumnis eingestehende Entschuldigung, die die Pflicht der Anfertigung der

Hausaufgaben anerkennt, und damit den Konfrontationscharakter, der aus der

Pflichtverletzung resultieren kann, zu entspannen vermag. Aus dem Fehlen beider

Erklärungsformate entsteht eine Fraglichkeit.

[L: Darf ich fragen, warum nicht?]

Die Frage kommt prompt und erwartungsgemäß im Inhalt, jedoch vor dem

Hintergrund der Form der ersten Lehreraussage irritierend in der Form. „Darf ich

fragen“ enthält die Frage nach der Erlaubnis, das Folgende fragen zu dürfen und ist

kontextfrei als Erlaubnis zur Abweichung von Konventionen zu rekonstruieren. Zum

einen in Bezug auf die Konvention, dass „man über bestimmte Dinge nicht spricht“,

also über Gegenstände, die man der Privatsphäre der Person zuordnet (Frage nach

dem Einkommen, Frage nach einem Therapieverlauf o.ä.), zum anderen in Bezug

auf die Konvention von Gesprächsregeln (jemanden im Gespräch zu unterbrechen,

jemanden von übergeordneter Stellung anzusprechen). Aus der Diskrepanz zur

ersten Aussage der Lehrkraft ergibt sich die besondere Merkwürdigkeit der

Formulierung. Denn in beiden Lesarten widerspricht sie der bisherigen

Rekonstruktion der Beziehungskonstellation. Zwei Interpretationen sind denkbar: Die

Prinzipien der Wörtlichkeit und Sparsamkeit stark machend könnte man an dieser

Stelle eine professionelle Zurückhaltung der Lehrkraft annehmen, die die Gründe für

die Nichtanfertigung der Hausarbeit als private verortet und sich diesbezüglich soweit

4 Vgl. Fußnote 3

18

in Zurückhaltung übt, dass er um Erlaubnis bittet, sie erfahren zu dürfen. Die

angesprochene Diskrepanz zur klar hierarchischen Aufforderung in der ersten

Sequenz betonend, lässt sich diese Formulierung als Ausdruck von Ironie

kennzeichnen. Diese Form wird gewählt, um die Kritik der fehlenden Erklärung und

der dadurch erforderlich werdenden Nachfrage hinter ironischer Fassade zu

verstecken.

Als mögliche Anschlussoptionen sind in erster Linie anforderungsgemäße

Erklärungen zu erwarten. Die formale Frage nach Erlaubnis könnte ernst genommen

werden und zur Verweigerung derselben führen, was jedoch angesichts der formalen

Asymmetrie einer Provokation gleichkäme.

[S: Ich sehe nicht ein, wozu ich Dinge tun soll, die absolut wirklichkeitsfern sind und

sowieso nie mehr gebraucht werden.]

„Ich sehe nicht ein“ als klare und mit Empörung konnotierte Positionierung gegenüber

der subjektiven Einsichtigkeit eines äußeren Anspruchs ist wiederum in der Form

bemerkenswert, impliziert sie doch ein Maß an emotionaler Beteiligung, die

angesichts des Gesprächsverlaufs bisher nicht zu erwarten wäre.

Die Wirklichkeitsferne der „Dinge“ ist in der Aussage apodiktisch generalisiert, dass

der Schüler aber von „Dingen“ und nicht von „Aufgaben“ spricht, macht klar, dass

er/sie den Inhalten, nicht aber Hausaufgaben per se die Relevanz abspricht. In

Bezug auf die vorhergehenden alternativen Interpretationen kann nun folgende

Klarstellung vorgenommen werden: Der Schüler formuliert mit seiner Aussage eine

inhaltliche Begründung (fehlender Sinn), aber keine Entschuldigung für den

Verstoßes gegen die Pflicht zur Anfertigung von Hausaufgaben. Auf die Frage

„Warum nicht“ der Lehrkraft bezogen ist seine Aussage regelkonform.

Die Aussage macht auch deutlich, dass der Schüler die Begründung offen formuliert,

was die Interpretation der professionellen Zurückhaltung der Lehrkraft zumindest

schwächt. Auszuschließen ist sie jedoch noch nicht. Die anwesende Öffentlichkeit

der Schulklasse kann eine Begründung für die Prägnanz und Generalisiertheit der

Aussage liefern. Eine solche Aussage stärkt die Position in der Peergroup („Der traut

sich was…“) und eröffnet zugleich ein Spielfeld für peerkulturelle Solidaritäts- und

Zustimmungsbekundungen.

In Kürze: Der Schüler klagt den inhaltlichen Sinn der Hausaufgaben ein, zugleich

wird deutlich, dass er die inhaltliche Bedeutung der Pflichtperspektive überordnet.

19

Eine streitbare Position in der Organisation Schule, die die Lehrkraft herausfordert.

Zwei Optionen wären unmittelbar denkbar: Der ermahnende Verweis auf die

Pflichtstruktur der Hausaufgaben, aber auch die Einlassung auf die Frage des

Schülers nach dem inhaltlichen Sinn.

[L: Dies ist keine Entschuldigung für die Nichterledigung der Hausaufgaben.]

Die Lehrkraft bestimmt die Aussage des Schülers als „keine Entschuldigung“, womit

deutlich wird, dass die Frage nach dem „Warum nicht“ auf genau diese abzielte und

sie die Begründung des Schülers nicht akzeptiert. Das hat für die Interpretation

weitreichende Folgen, denn die ausschließliche Orientierung der Lehrkraft auf die

Perspektive der Hausaufgabenpflicht wird damit offenbar. Hierzu trägt auch der

Begriff der „Nichterledigung“ bei. Er stellt der Form nach eine bürokratisch-

distanzierende Substantivierung dar, und verweist semantisch darauf, dass der

Abschluss, nicht aber Prozess der Auseinandersetzung mit den Themen der

Hausaufgaben im Vordergrund steht.

Der Klarstellungs- und Qualifizierungscharakter der Aussage führt dazu, die

Hypothese vorsichtiger Zurückhaltung („darf ich fragen“) zu verwerfen.

[Ich erwarte sie in der kommenden Stunde zu sehen]

In der Aussage der Lehrkraft wird durch die Formulierung einer

unmissverständlichen, präzise terminierten und damit abschließenden Erwartung das

Beharren auf der Pflichterfüllung als zentrale Orientierung derselben deutlich.

Eine derart klare und darin jegliche Auseinandersetzung abschließende

Positionierung der Lehrkraft lässt vermuten, dass der Interaktionspartner aufgrund

seiner Rolle an dieser Stelle einlenkt.

Die Fallstrukturhypothese kann folgendermaßen fortgeschrieben werden:

2. Fallstrukturhypothese

Der Fall zeigt, dass die Lehrkraft die Hausaufgaben aus formal hierarchischer

Position heraus als Akt der Pflichterfüllung des Schülers kontrolliert. Die Fraglichkeit

des Sinns der Hausaufgaben erfährt dabei keine Berücksichtigung. Konsequenzen

der Pflichtverletzung spielen bisher keine Rolle.

[S: Aber ich kann mit dem Zeugs in meinem Leben nie wieder was anfangen.]

20

Der Schüler lässt nicht locker, der Widerstand wird aber „schriller“ (aus den „Dingen“

wird abfällig „Zeugs“) und zugleich befindet er sich offensichtlich auf dem Rückzug,

weil sich die Geltung seiner Aussage von einer generalisierten Wirklichkeitsferne in

der ersten Begründung zu einer subjektiven Nutzlosigkeit schmälert. Die in der ersten

Begründung möglicherweise avisierte peerkulturelle Solidaritätsbekundung bleibt

aus, das macht den Rückzug auf die eigenen Interessen plausibel.

Bemerkenswert im bisherigen Verlauf ist das Nebeneinander von zwei

unterschiedlichen Orientierungsmustern: Der Schüler zeigt sich von der Pflicht

unbeeindruckt und fordert den Sinn ein, während für die Lehrkraft nur die

Pflichterfüllung bedeutsam ist.

Die Diskussion ist also nicht beendet, sondern nimmt sie in ihrer Intensität Fahrt auf.

[L: Merkst Du nicht, dass diese Thematik nicht in den Unterricht passt?]

Die rhetorische Frageform „Merkst Du nicht...“ bringt gereiztes Unverständnis über

das Handeln bzw. die Position des Gegenübers zum Ausdruck. Diese Position wird

als evident unangemessen wahrgenommen und unterstellt eine eingeschränkte

Selbstwahrnehmung des Angesprochenen. „Merkst Du nicht“ lässt sich als

Killerphrase kennzeichnen und desavouiert die adressierte Person vor der

Schulklasse öffentlich. Die Lehrkraft vertritt damit zugleich die Position, dass die

inhaltliche Bedeutung der Hausaufgaben im Unterricht gegenstandslos ist.

3. Fallstrukturhypothese

Der Fall zeigt, dass die Lehrkraft die Hausaufgaben aus formal hierarchischer

Position heraus als Akt der Pflichterfüllung von des Schülers kontrolliert. Der

Ausdruck hierarchisch autoritärer Dominanz steigert sich mit dem Insistieren des

Schülers auf der Frage nach dem Sinn der konkreten Aufgabe, die keinerlei

inhaltliche Berücksichtigung erfährt.

[Wenn Du möchtest, können wir uns gerne nach der Stunde darüber unterhalten]

Vordergründig formuliert die Lehrkraft ein Gesprächsangebot. Der

Entscheidungsspielraum bezieht sich aber lediglich auf die Frage, ob sich der

Schüler mit der Lehrkraft nach der Stunde unterhalten will oder nicht. Darin kommt

zunächst zum Ausdruck, dass die Lehrkraft kein verstärktes Interesse am Austausch

21

hat, denn sie stellt es dem Schüler frei, darüber hinaus wird implizit deutlich, dass die

Diskussion aktuell beendet ist.

Das Verb „unterhalten“ ist wegen seines unverbindlichen Charakters aufschlussreich,

verweist es zwar auf die Bereitschaft zum Austausch, macht aber zugleich deutlich,

dass eine Annäherung der Positionen nicht zu erwarten ist.

[Die Hausaufgaben holst Du bitte nach]

Die letzte Aussage des vorliegenden Transkripts befestigt die vorherigen

Interpretationen nochmals deutlich. Völlig unabhängig von einem ggf. stattfindenden

Gespräch wird die nachträgliche Pflichterfüllung dadurch gesetzt, dass die Lehrkraft

dem Schüler determinierend im Präsens mitteilt, was er oder sie in der Zukunft tun

wird. Dies stellt eine maximal hierarchische Form der Anweisung dar, das „bitte“ ist

wieder ausschließlich als „formalhöflich“ zu kennzeichnen.

Die Form wahrend und in der Aussage alternativlos endet das Transkript, was auch

darauf verweist, dass sich keine Aussage des Schülers mehr anschließt.

Die abschließende Fallstrukturhypothese wird abschließend generalisierend

verdichtet:

Abschließende Fallstrukturhypothese

Im Fall zeigt sich eine Dominanz organisatorisch formaler Aspekte der Ordnung des

Unterrichts. Am typisch schulischen Konstrukt der Hausaufgaben erweisen sich sinn-

und inhaltsbezogene Nachfragen von Seiten des Schülers als inkompatibel zur

formalen Anforderung der Pflichterfüllung.

Professionstheoretische Rahmung der Interpretation

Im Anschluss an die Rekonstruktion erfolgt nun die Diskussion und (kurze)

professionstheoretische Rahmung dieses Falles. Dabei greife ich exemplarisch auf

zwei theoretische Konzepte zurück: Die antinomische Struktur pädagogischen

Handelns (vgl. Helsper 2004, 2006) und die Begründungsverpflichtung

professionellen Handelns (vgl. Helsper 2001, Oevermann 1996).

Der Fall berührt mehrere Antinomien, ich fokussiere im Folgenden aber nur auf die

Autonomieantinomie und die Organisationsantinomie, denn beide sind hier eng

aufeinander bezogen. Das Handeln der Lehrkraft als fragwürdig zu kennzeichnen,

ergibt sich aus der Interaktionseinbettung, denn die Interaktion findet ja in einer 12.

22

Klasse, also der gymnasialen Oberstufe statt. Auch wenn die Pflicht zur

Hausaufgabenanfertigung formal-organisatorisch auch für Oberstufenschüler gilt,

erscheint die im Transkript rekonstruierte Gehorsamserwartung und die strikte

Ablehnung von Fragen der subjektiven Bedeutung als Gegenstand des Unterrichts

für die gymnasiale Oberstufe evident unangemessen. Wie Mündigkeit und

Selbstbestimmung als Zielperspektiven schulischer Bildung unter diesen

Bedingungen wachsen sollen, bleibt völlig offen. Die Haltung der Lehrperson erweist

sich in diesem Fall als strikt formalistisch und zeigt damit eine Überbetonung der

organisationalen Struktur von Schule und Unterricht auf. Die Hausaufgabenpflicht als

Funktion der Organisation von Schule schafft zwar Entlastung von

Legitimationsfragen und reduziert Komplexität und das Ausmaß an Kontingenz.

Diese Perspektive aber als einzig relevante gelten zu lassen, scheint fragwürdig.

Dies führt zur Begründungsverpflichtung professionellen Handelns, wie Helsper dies

ausführt: „In dieser verantwortlichen, konstitutiv krisenhaften Praxis müssen

Lehrer(innen) sowohl ihre Handlungen begründen können, als auch erklären können,

was dort geschieht. Sie sind sich und anderen gegenüber begründungsverpflichtet“

(Helsper 2001, S. 11).

Das Beharren der Lehrkraft im vorliegenden Fall auf die fraglose, nicht zur

Diskussion stehende und damit auch nicht begründungspflichtig erscheinende

„Erledigung“ der Hausaufgaben widerspricht diesem Anspruch in hohem Maße und

lässt sich auch nicht durch ein halbherziges Angebot zur „Unterhaltung“ außerhalb

des Unterrichts rehabilitieren.

Kritische Anfragen an die Interpretation Wernets

In drei Abschnitten werden nun abschließend die eigenen Interpretationen mit den

Konklusionen Wernets konfrontiert.

Unterläuft ein inhaltlicher Diskurs zwangsläufig die Verpflichtung zur

Anfertigung der Hausaufgaben?

Die erste kritische Nachfrage entzündet sich an dem Punkt, an dem Wernet (vgl.

ebd., S. 3f.) die inhaltliche Nachfrage des Schülers als „Diskursangebot“

kennzeichnet, das aber, ohne die Verpflichtung zu unterlaufen, nur abzulehnen oder

als „Schein-Diskurs“ zu führen sei.

23

Diese Argumentation will nicht recht einleuchten. Denn es handelt sich hier nicht um

eine Alternative im Sinne eines „Entweder-Oder“, sondern gerade für den Unterricht

in seiner institutionell-organisatorischen Verfasstheit um ein „Sowohl-Als auch“. Klar

ist, dass die Lehrkraft an der Hausaufgabenpflicht nicht rühren kann. Die Forderung

aufrecht zu erhalten, dass diese innerhalb gesetzter Frist nachzuholen sind, ist eine

schiere Notwendigkeit.

Aber gleichzeitig anzuerkennen, dass dem Schüler offensichtlich nicht deutlich

wurde, welcher inhaltliche Sinn mit diesen Aufgaben verbunden ist, und ein

Erläuterungsangebot zu formulieren, lässt sich nicht als „Schein-Diskurs“

kennzeichnen. Eine Formulierung wie „Es tut mir leid, dass sich Dir der Sinn der

Hausaufgabe nicht erschlossen hat, darüber müssen wir sprechen. Das ändert aber

nichts an Deiner Pflicht, die Hausaufgaben zu machen. Insofern machst Du sie bitte

nach und zeigst sie mir in der nächsten Stunde“ verdeutlicht die Berechtigung der

Nachfrage, umso mehr als hier ein Schüler der 12. Klasse nachfragt, ohne jedoch die

Verpflichtung in Frage zu stellen.

Dass Einsicht durch ein solches Gespräch beim Schüler nicht zwangsläufig

entstünde, ist offensichtlich, sich trotz guter Argumente aber weiterhin zu weigern,

käme dann aber einer Selbstdisqualifizierung des Schülers gleich.

Es ist durchaus auch denkbar, die Diskussion über den Sinn der Aufgaben außerhalb

des Unterrichts zu führen, weil die Lehrkraft z.B. peerkulturelle Phänomene, die

durch die Anwesenheit des Publikums Schulklasse entstehen könnten, verhindern

bzw. vermindern möchte, oder die zeitliche Planung im organisatorischen Rahmen

durch diese Diskussion gefährdet sieht. Gleichwohl wäre dann die Berechtigung der

Fraglichkeit des Sinns anzuerkennen und die Zusicherung der ernsthaften

Auseinandersetzung zu formulieren. Die Aussage der Lehrkraft, „dass das Thema

nicht in den Unterricht passt“ enthält diese beiden Momente nicht. Beide Momente

wären aber Ausdruck davon, dass sich die Lehrkraft ihrer Begründungsverpflichtung

in Bezug auf den inhaltlichen Sinn der Hausaufgaben bewusst wäre, ohne dabei die

formale Verpflichtung zur Hausaufgabenanfertigung in Frage zu stellen.

„Empirisches Operieren pädagogischer Kunst“?

Wernet schreibt: „Verblüffend und beeindruckend ist diese Spontan-Interpretation

[der Lehrkraft mit „Dies ist keine Entschuldigung...“] deshalb, weil sie nicht am

Schreibtisch, also handlungsentlastet, sondern in der problematischen Situation

24

unter erheblichem Handlungs- und Problemlösungsdruck mobilisiert wird. Insofern

führt uns die Interpretation dieses Fallbeispiels ein empirisches Operieren einer

pädagogischen Kunst vor Augen“ (ebd., S. 4).

Auch an dieser Stelle scheint Widerspruch angebracht. Der eigenen obigen

Interpretation folgend untermauert die explizite Kennzeichnung der Schüleraussage

als „keine Entschuldigung“ eher die Hypothese, dass die Lehrkraft aufgrund ihrer

klaren Kontrollorientierung eine (ausschließliche) Erwartungshaltung in Bezug auf die

Entschuldigung hat und inhaltliche Begründungen als nicht zulässig artikuliert. Statt

eines Ausweises pädagogischer Kunst wäre die Aussage der Lehrkraft also vielmehr

als Beleg für die formalistisch-heteronome Orientierung derselben zu interpretieren.

Ist das Diskursangebot der Lehrkraft ein solches und ist es aufrichtig?

Die dritte kritische Nachfrage bezieht sich auf die Aufrichtigkeit des Diskursangebots

in der letzten Aussage der Lehrkraft („Wenn Du möchtest“). Zum einen wird in dieser

Interpretation die Position vertreten, dass ein sich darüber „unterhalten“ eben gerade

kein Diskursangebot darstellt, weil das Wort „unterhalten“ kontextfrei mit

Unverbindlichkeit konnotiert ist. So wenig verbindlich eine Auseinandersetzung in

Bezug auf die Hausaufgabenpflicht sein kann (s.o.), so unpassend und strategisch

abwiegelnd erscheint diese Aussage vor dem Hintergrund einer Anfrage nach dem

Sinn schulischer Anforderungen. Den Austausch von Argumenten, warum die

Aufgabe jenseits subjektiver Nützlichkeitserwägungen sinnvoll und berechtigt ist, als

unpassend für Unterricht zu kennzeichnen, ist nur vor dem Hintergrund

nachvollziehbar, dass die Auseinandersetzung zu diesem Zeitpunkt erstens bereits

zu lange dauert und zweitens zunehmend konfrontativ verläuft, was einen sachlichen

inhaltsbezogenen Diskurs unwahrscheinlich macht.

Fazit

Die in diesem Beitrag formulierten Differenzen in der Interpretation werfen letztlich

die methodologisch-methodische Anfrage auf, wie die intersubjektive Gültigkeit der

jeweiligen Interpretationen festzustellen ist. Dass sich Differenzen durch den

kategorialen Unterschied zwischen den Konzepten einer strukturtheoretischen

Professionstheorie und der „pädagogischen Kunst“ ergeben, ist einsichtig, als

Begründung für das erhebliche Ausmaß reicht das aber nicht aus. Methodische

25

Schwächen der hier vorgelegten Interpretation sind auch nicht auszuschließen, für

entsprechende Hinweise dankt der Autor im Voraus.

Literatur Breidenstein, G. & Kelle, H. (2002). Die Schulklasse als Publikum. Zum Verhältnis

von Peer Culture und Unterricht. In: Die Deutsche Schule 94, 3, S. 318-329. Helsper, W. (2001). Praxis und Reflexion - die Notwendigkeit einer "doppelten

Professionalisierung" des Lehrers. In: journal für lehrerinnen und lehrerbildung 1, 3, S. 7-15.

Helsper, W. (2004). Antinomien, Widersprüche, Paradoxien: Lehrerarbeit - ein

unmögliches Geschäft? Eine strukturtheoretisch-rekonstruktive Perspektive auf das Lehrerhandeln. In: Kolbe et al. (Hrsg.): Grundlagenforschung und mikrodidaktische Reformansätze zur Lehrerbildung Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 49-99.

Helsper, W. (2006). Pädagogisches Handeln in den Antinomien der Moderne. In:

Krüger, H.H. & Helsper, W. (Hrsg.): Einführung in Grundbegriffe und Grundfragen der Erziehungswissenschaft. Opladen: Barbara Budrich, S. 15-34.

Oevermann, U. (1996). Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionellen

Handelns. In: Combe, A. & Helsper, W. (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 267-339.

Wernet, Andreas (2011a). Die Unscheinbarkeit der pädagogischen Kunst. In: Online

Fallarchiv Schulpädagogik. http://www.fallarchiv.uni-kassel.de/2011/methoden/objektive-hermeneutik/andreas-wernet/die-unscheinbarkeit-der-padagogischen-kunst/ (10.12.2012).

Wernet, Andreas (2011b). Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven

Hermeneutik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Quellenangabe dieses Dokumentes: Leonhard, Tobias: Paradebeispiel pädagogischer Professionalität? Ein Widerspruch. In: http://www.fallarchiv.uni-kassel.de/wp-content/uploads/2013/01/leonhard_dinge_ofas.pdf, 03.01.2013


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