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Fahr zur Hölle, John

Date post: 04-Jan-2017
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Die Hufe tackten gleichmäßig durch den East Canyon der Dos Cabezas Mountains in Arizona. Wie immer ritt Lionel McGruder, größter Mann in diesem Land, eine halbe Länge vor seinem Vormann Bill Shivers.

Jetzt sieht er zu den hellen Porphyrfelsen, dachte Shivers. Mondschein wie damals, aber keine toten Mavericks, kein hoch oben kletternder Mann. Die Mavericks sind lange tot, und der Mann ist für ihn gestorben, sein ältester Sohn, der beste Junge auf der ganzen Welt: Matt McGruder.

Davongejagt, verstoßen, enterbt, weil Matt es gewagt hatte, seinen eigenen Kopf zu haben und sich gegen den alten Löwen vor Shivers zu stellen.

Er sieht hoch, dachte Shivers, bestimmt tut er es, denn Matt hat keiner von uns vergessen, er auch nicht, wenn auch kein Wort auf der Ranch oder anderswo über Matt gesprochen werden darf. Nicht mal Howie, sein jüngster Sohn, darf den Namen seines Bruders erwähnen. Lionel McGruder, du bist hart, unmenschlich hart, aber du wirst hinsehen, denn dort oben

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hing dein Sohn und drohte abzustürzen. Das hast du nicht vergessen, oder?

Der Alte vor Shivers nahm jäh den Kopf herum, hob den Blick und starrte zu den Felsen.

Also doch, dachte Shivers, er erinnert sich. Er denkt jetzt an seinen Sohn, den besten Jungen der Welt und…

Ein Knall zerriß die Stille im Canyon. Krachend fiel der Schuß, als der Alte wütend das Pferd zur Seite riß. Die Kugel sirrte hell und sauste bedrohlich dicht an dem Alten vorbei.

Im nächsten Moment zeigte sich, daß der alte Lionel McGruder immer noch prächtig zu reagieren verstand. Blitzschnell stemmte er sich nach links aus dem Sattel, kippte weg, kam nicht mehr dazu, sein Gewehr zu packen.

Rumms! Der zweite Schuß krachte, die Stute des alten Löwen

McGruder wieherte klagend. Dann steilte das Pferd. Bill Shivers war herumgewirbelt und sah den dritten Blitz

auf dem Grat der nördlichen Canyonwand. Das Geschoß mähte Lionel McGruders Fünfhundert-Dollar-Stute glatt um.

Mein Gott, dachte der langbeinige Vormann, der genauso alt wie sein Boß war, das ist der vierte Versuch, Lionel zu töten. Der Kerl schießt ihn ab, ich muß etwas tun.

Kurz entschlossen riß er das Gewehr aus dem Scabbard und lenkte das Pferd herum. Shivers trieb das Tier in direkter Linie auf den heimtückischen Schützen zu, obwohl diese Handlungsweise einem Selbstmordversuch gleichkam.

»Paß auf, Bill!« Auch die dritte Kugel hatte den Alten verfehlt. In dieser

Minute zeigte sich, daß beide Männer nichts verlernt hatten. Sie hätten einem Zwanzigjährigen noch etwas vorgemacht.

Bills Oberkörper lag flach auf dem Hals des Pferdes. Er jagte frontal auf den Heckenschützen zu und feuerte aus dem Sattel. Dann sah er den nächsten Blitz. Sein Pferd zuckte

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zusammen, doch der alte Vormann war bereits aus den Bügeln und hechtete in den Sand.

»Bill – Achtung – fertig!« Bill Shivers wußte genau, daß der Alte längst in Deckung

hinter seinem toten Pferd lag und den Colt in beiden Händen hielt. Shivers hatte das Gewehr unter sich begraben, er blieb wie tot auf der Waffe liegen und blinzelte nur.

Und dann krachte es erneut, hallte laut durch den Canyon. Bills Pferd brach zusammen.

Im selben Augenblick begann der Alte hinter Shivers zu schießen. Eiskalt hatte McGruder auf den Mündungsblitz oben gewartet. Jetzt feuerte er wie besessen. Bill Shivers nutzte die Chance, sprang auf und rannte auf die steile Canyonwand zu. In diesen Sekunden verließ sich Shivers auf das Deckungsfeuer McGruders, das den Heckenschützen zwang, die Nase in den Dreck zu stecken.

Während der hellere Knall des Achtunddreißigers von McGruder deutlich zu hören war, hetzte Shivers den ersten schutzbietenden Felsbrocken entgegen. Kaum war er hinter ihnen, bog er zur Canyonwand ab und rannte nach rechts weiter. Nach achtzig Yards führte eine Felsspalte zur Wand hoch.

Eine unheimliche Stille trat ein. McGruder hatte alle sechs Patronen abgefeuert. Shivers rannte über Geröll, hörte im nächsten Augenblick das Gepolter über sich und wußte genug. Steine kollerten in die Tiefe, jemand lief davon.

Dennoch stürmte Shivers weiter. Er war so wütend, daß er dem Kerl wenigstens noch eine Kugel nachjagen wollte. Doch ehe er die Felsspalte erreichte, wieherte ein Pferd. Dann setzte Hufschlag ein, der sich nach Norden entfernte. Der Vormann hielt auf den Grat der Wand zu, umrundete einen Felsblock und blieb keuchend stehen. Er hatte nur noch den Schatten des davonpreschenden Pferdes ausmachen können.

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»Der Lump ist entkommen«, sagte er mürrisch, als er schließlich wieder unten bei seinem Boß war. McGruder saß auf dem Bauch seines toten Pferdes. »Lion, wenn du nicht zu den beiden Zacken hochgeblickt hättest…«

»Was habe ich?« knurrte McGruder wie ein hungriger Wolf. »Was redest du da für Unsinn zusammen, Bill? Mein Pferd wurde plötzlich unruhig, das war alles.«

»So?« zweifelte Shivers. »Wie du willst, Lion, streite es also ab.«

»Was soll das?« »Ich hab’ seinen Namen nicht gesagt. Was kann ich dafür,

daß du dich erinnert hast, he? Laß deine Wut nicht an mir aus«, erwiderte Shivers.

Kein Mensch außer Shivers durfte einen solchen Ton wagen. Wer immer Lion McGruder auf seinen ältesten Sohn ansprach, hätte jetzt die Hölle erlebt. Nicht so Bill Shivers. McGruder hatte nie vergessen, daß sein Vormann ihm einmal den Skalp gerettet hatte. Vor zwanzig Jahren hatte ein Apache auf McGruder gekniet und schon mit seinem Messer ausgeholt zum Stoß, als Shivers in letzter Sekunde gefeuert hatte.

»Du sollst den Mund halten, Bill!« fauchte der Alte. »Er ist für mich tot, und dabei bleibt es. Tut mir leid um deinen Schecken, Bill. Such dir ein neues Pferd aus. Nimm das, was dir gefällt.«

»Und nimm du nächstens Don Walsh mit«, grimmte Shivers. »Wozu hast du den schnellsten Mann weit und breit gekauft, wenn er mit seinen Revolvern auf der Ranch bleibt? Walsh hätte den Kerl erwischt.«

»Ach!« machte der Alte wegwerfend. »Muß ich auf jedem kleinen Ritt einen Revolvermann hinter mir haben? Hm, dieser verdammte Abe Harris, ich sage dir, der steckt dahinter.«

»Nein«, antwortete Bill Shivers. »Abe ist viel zu geizig, um sich jemanden zu kaufen, der dich auf die Nase legen soll.«

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»Außer Harris gibt es aber keinen, der mich zum Teufel wünscht, oder?« polterte der Alte los. »Mensch, Bill, wer sollte sonst auf mich schießen? Dies war der vierte Versuch, mich umzubringen. Von den Viehdiebstählen und der verbotenen Benutzung meiner Wasserstelle ganz abgesehen. Warum schießt man auf mich?«

Shivers hatte seine Satteltasche geöffnet, Patronen herausgenommen und sein Gewehr durchgeladen. Wenn jemand auf der Ostweide war, mußte er die Schüsse gehört haben. Er würde dann auch die Signalschüsse hören und wissen, daß man hier Hilfe brauchte. Darum schoß Shivers in Abständen jeweils dreimal gegen den Himmel, lauschte und nickte.

Weit entfernt zwar, aber doch noch zu hören, kam Antwort. »Du hast nicht nur Freunde gehabt, und Menschen sind

rachsüchtig, auch noch nach Jahren«, gab Bill dem Alten zu verstehen.

»Ich habe nur ein halbes Dutzend Halunken auf dem richtigen Weg aus diesem Land gebracht«, brummelte McGruder. »Das ist lange her – zu lange, Bill. Diesmal soll der hinterlistige Halunke sich wundern. Ich habe Walsh, und ich setze ihn auf die Spur. Dann soll er mir den Kerl bringen, aber lebend.«

»Meinst du, Walsh sieht mehr als John Warren?« Kaum hatte der Vormann den Namen des Sheriffs erwähnt,

als der Alte in die Höhe fuhr und brüllte: »Komm mir bloß nicht mit diesem Schläger, der ist die

längste Zeit Sheriff gewesen. Wer sich gegen mich stellt…« »Lion, an John beißt du dir die letzten Zähne aus«,

unterbrach Shivers seelenruhig und mit einem flachen Grinsen. »Niemand sollte das besser wissen als du. Du hast dich damals mit Abe Harris auf John Warren geeinigt, weil ihr einen neutralen Mann haben wolltet – er ist neutral!«

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»Was?« schrie McGruder wild. »Neutral? Wenn John neutral ist, dann will ich ein haariger Affe sein! Er hat meine Männer daran gehindert, diesem Harris die Ohren abzureißen und die Nase zu verbiegen. Er hat mir gedroht, meine Männer einzusperren. Zur Hölle mit John Warren!«

Shivers gab einen Richtungsschuß ab. Seltsamerweise dachten beide Männer nicht im Traum daran, zu Fuß zu gehen. Ehe ein richtiger Reiter zu Fuß durch die Gegend zog, mußte es schon schlimmer kommen. Shivers hatte zwar keine Männer zur Ostweide geschickt, aber im Normalfall schlief der Wasserholer dort, wenn das Wasser auf der Weide knapp wurde. Viele Arbeiten auf der Circle Ranch wurden ohne Anweisung des Vormannes automatisch erledigt. Und da es schon seit sechs Wochen nicht mehr geregnet hatte, fuhr der Wasserwagen abends noch einmal hinaus, um den Tank zu füllen.

»Jesse wird sicher mit dem Wagen kommen«, sagte Bill Shivers. »Bis wir dann auf der Ranch sind, vergehen drei Stunden. Und ehe Walsh hier ist, dürfte es beinahe hell sein. Lion, du solltest jemanden zu John schicken, damit er sich auch umsieht. Ich bin nicht sicher, ob Walsh nicht zu schnell auf den Heckenschützen schießt, wenn er ihn wirklich findet. Ein Toter redet nicht mehr. Und der Kerl soll doch reden, oder?«

»John wird alt«, knurrte McGruder. »Am liebsten sitzt er in meiner Stadt und dreht die Daumen. Dann schicke ich schon lieber Howie mit Jim Lawson los. Mein Junge versteht auch was von Spurenlesen.«

Shivers schwieg, denn er redete nicht gern über Howard McGruder, den Sohn des Alten. Man nannte ihn nur Howie. Er glich in vielen Dingen seinem Vater, denn er konnte genauso wild werden, allerdings arbeitete er ungern, und das unterschied ihn von dem Alten.

»Warum sagst du nichts?« fragte McGruder mißmutig. »Traust du Howie nichts zu?«

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»Außer Dummheiten und blöden Späßen nichts«, gab Shivers offen zurück. »Ich halte jede Wette, daß er gar nicht auf der Ranch, sondern noch immer in der Stadt ist. Wenn wir Glück haben, ist der Buckboard vielleicht morgen fertig. Howie sitzt todsicher noch in Charlie McClures Saloon.«

»Du gönnst dem Jungen gar nichts.« »Ebensoviel wie seinem Bruder. Der konnte sich solche

Dinge nicht…« »Dafür hat der sich das ganz große Ding geleistet!« brüllte

McGruder los. »Heiratet ein Mexikanergirl! Nein, soweit hat es Howie allerdings nicht getrieben. Howie würde mir das nie antun.«

Das vielleicht nicht, dachte Bill Shivers, dafür aber andere Verrücktheiten.

* * *

Charlie McClure hatte das Gefühl, einen Eiszapfen ins Genick gepreßt zu bekommen. Der Besitzer des größten Saloons in Sulphur Springs starrte die beiden Männer an, dann Howie McGruder und Jim Lawson, den Zureiter der McGruder Ranch, und Bateson Michaels, den Totengräber, Organisten und Kirchenglockenläuter von Sulphur Springs. Der vierte Mann am Tisch war Humphrey McTire, ein fahrender Händler.

Humphrey blickte auch zur Tür. Dann fiel ihm die Zigarre aus dem Mund, und er zerknitterte vor Schreck die fünf Pokerkarten.

Die beiden Männer kamen grinsend herein, sahen aber nicht zum Spieltisch. Cannonball Jackson war der größte Raufbold von Apache Pass bis Yuma, zudem brach er manchmal Pferde ein, oder er schlug Männer ungespitzt in den Boden. Er hatte so lange Arme, daß er sich mühelos in den Kniekehlen kratzen konnte. Auf seinem völlig behaarten Oberkörper saß ein

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mächtiger Kopf, dessen Ähnlichkeit mit einem Affenschädel unverkennbar war.

Dem zweiten Mann fehlte ein Ohr. Darum hieß er auch Einohr-Joe Murphy. Dem Mexikaner, der ihm mit einem Messer das eine Ohr abgetrennt hatte, fehlte nichts mehr. Joe hatte ihn zwei Sekunden später erschossen. Einohr-Joe Murphy hatte einen Kugelkopf, ein Froschmaul und Riesenfüße.

Beide gehörten zur Mannschaft von Abraham Harris, des nächstgrößten Ranchers und erklärten McGruder-Feindes. Jackson und Murphy hatten schon mehrfach die Reiter McGruders verdroschen. Sie hielten sich sonst bei Rossuan, im zweiten Saloon von Sulphur Springs, auf.

Cannonball Jackson pendelte im Gorillagang dem Tresen entgegen. Einohr-Joe blieb schon kurz vor der Theke stehen, weil seine Stiefelspitzen bereits an die Scheuerleiste stießen. Dann sahen sie McClure grinsend an, und dem zitterten die Knie.

»Durst!« sagte Cannonball so krächzend, als hätte er zum Abendbrot Stacheldraht verschlungen.

»Bier – vier Gläser!« sagte Einohr-Joe und wackelte mit demselben, das er noch besaß. »Charlie, aber randvoll, sonst pusten wir dich aus dem Hemd, verstanden? Hast du schon von unserem neuen Prachtexemplar für das Anual-Rennen in Tuscon gehört? So einen Gaul findest du in ganz Amerika nicht noch mal.«

»Nnnein, ich habe nichts von – von ihm gehört«, erwiderte Charlie McClure stotternd. »Also – Bier.«

»Denkst du Wasser?« schnaubte Cannonball und schielte tückisch. »Pferde saufen Wasser, wir doch nicht. Wir haben nicht nur den einen prächtigen Gaul, sondern noch drei andere. Dieses Jahr gewinnen wir das Rennen der Buckboard-Wagen gegen die übrigen lahmen Ziegenböcke, besonders gegen die eines gewissen Herrn.«

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»Meinst du meinen Väter?« fragte Howie McClure scharf und sah sich um. »Wenn jemand in diesem Land Ziegenböcke hat, dann doch wohl nicht wir, oder, Jim?«

»Howie, Howie, John Warren ist mit meiner Schwester Nora weggefahren«, sagte Charlie warnend. »Big John ist nicht da, hörst du?«

Howie McGruder zuckte leicht zusammen. Daß der Sheriff gerade nicht in Sulphur Springs weilte, hatte er nicht gewußt. Während Warrens Anwesenheit wagte es kein Harris-Reiter, mit Männern von der McGruder Ranch Streit anzufangen. Sie hatten das zweimal gewagt, um anschließend im Jail zu landen. John Warren duldete keine Prügelei, bei der Eigentum oder Leben von Bürgern in Gefahr kommen konnte.

Einen Moment schien Howie zu überlegend, dann zuckte er die Achseln.

»Na und?« entgegnete er. »Ob der alte schlitzohrige Bursche nun hier ist oder nicht, ich sage doch, was ich will, Charlie.«

Cannonball und Einohr-Joe hatten sich umgedreht und starrten Howie mit funkelnden Augen an.

»Joe, hat der Hundesohn uns gemeint?« fragte Cannonball zischelnd. »Ich glaube, das Greenhorn spielt auf unsere Pferde an. Hat er sie schlecht gemacht?«

»Hat er«, bestätigte Einohr-Joe giftig. »Hast du ›Hundesohn‹ gesagt, du entsprungener

Menschenaffe?« fauchte Howie und sprang auf. »Cannonball, hast du meinen Vater einen Hund genannt?«

Cannonball und Einohr-Joe wechselten einen kurzen Blick, dann spuckte Jackson aus – Howie direkt auf den rechten Stiefelspann.

»Jetzt ist er ganz und gar verrückt geworden«, stänkerte Cannonball Jackson. »Nun lügt er auch noch in aller Öffentlichkeit, der Schmierlappen. Charlie, habe ich seinen Vater einen ›Hund‹ genannt?«

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»Nein, das – das hast du nicht«, stotterte Charlie McClure erbleichend. »Du hast ›Hundesohn‹ zu ihm gesagt.«

»Charlie, du feiger Halunke!« schrie Howie McGruder wild. »Ich bin der Sohn meines Vaters, und wenn ich ein Hundesohn bin, muß mein Vater ein Hund sein, oder? Cannonball, das wirst du zurücknehmen, oder ich nehme den Colt! Eins, zwei…«

Howards Rechte schwebte über dem Coltkolben, als sich Einohr-Joe jäh bewegte. Der Mann mit den Riesenfüßen sprang los. Sein Fuß schoß in die Höhe und trat mit voller Wucht gegen McGruders Hand.

Howie hatte den Revolver gerade aus dem Holster. Er spreizte vor Schmerz die Finger, und der Colt wirbelte in hohem Bogen über ihn hinweg.

In derselben Sekunde sprang Jim Lawson auf. Der Zureiter und Wagenfahrer packte einen Stuhl an der Lehne und holte aus, während Cannonball Jackson auf ihn zugeschossen kam.

Lawson kannte manchen Trick und war sehr beweglich. Reaktionsschnell machte er einen Sidestep und ließ Cannonball zunächst ins Leere laufen, bis er schließlich gegen die Stirnwand des Saloons prallte.

Der Gorilla stieß einen gepreßten Laut aus. Einen Moment war er benommen, doch dann knurrte er wütend und warf sich herum.

Im gleichen Moment war Lawson bei ihm, schlug ihm den Stuhl über den Schädel – und glaubte seinen Augen nicht trauen zu können. Der Gorilla Cannonball schluckte den mörderischen Schlag, als hätte ihn jemand gekitzelt. Er lachte laut auf, schüttelte sich einmal und warf dann mit einer lässigen Handbewegung den auf seinen Schultern liegenden Stuhl zur Seite.

»Gleich habe ich dich!« brüllte Cannonball. Der bullige Mann stürmte vorwärts.

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Diesmal hüpfte Lawson hin und her, um den unheimlichen Fangarmen zu entgehen. Cannonball machte jeden Seitensprung mit, bis Lawson sich hinfallen ließ. Es gelang dem Zureiter, unter den Fangarmen durchzutauchen. Geschickt duckte er sich, schnellte vorwärts und rammte mit seinem Kopf Cannonballs Magen.

Cannonball brüllte schaurig, als Lawson die Finger in seine Schenkel verkrallte und ihn aushob. Zwar brach Lawson unter dem Gewicht dieses Urviehs beinahe zusammen, doch er konnte ihn vom Boden heben und wegstoßen. Der Gorilla prallte gegen Howie McGruders Rücken.

Howard hatte einen Tritt von Einohr-Joe in die Seite bekommen, war vor den Tresen geflogen und hatte Einohr-Joe schon wieder ein Bein mit dem Riesenfuß heben sehen. Diesmal war es Howie gelungen, den Stiefel Joes zu packen. Plötzlich stand Einohr-Joe nur noch auf einem Quadratlatschen. Howie riß das Bein ganz in die Höhe, und der stämmige Joe fiel schreiend auf den Rücken.

Im selben Augenblick drehte sich Cannonball, holte aus und schlug Howie McGruder die Faust an den Kopf.

Der hatte das Gefühl, von einem Pferdehuf getroffen worden zu sein. Er geriet ins Schwanken, torkelte am Tresen entlang.

»Hier!« sagte Einohr-Joe da neben ihm. »Hier bin ich, McGruder – hier!«

Howie versuchte noch die Arme vor den Kopf zu reißen, um sein Kinn zu schützen. Doch da trat Einohr-Joe auch schon zu. Howie brach lautlos zusammen, während Jim Lawson Einohr-Joe mit der Faust in den Nacken schlug.

Lawson sah den Mann taumeln, setzte ihm nach und erkannte dann rechts einen Schatten.

Cannonball war bereits neben ihm. Jetzt hatte es der Zureiter mit beiden zu tun. Sie hämmerten

gemeinsam auf ihn ein und schickten ihn auf die Bretter.

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Einohr-Joe grinste und trat Lawson ins Gesäß. Daraufhin flog Lawson wie eine zerbrochene Puppe auf Howie McGruder.

Durch diesen Aufprall kam Howie zu sich. »Ohohoh!« lachte Cannonball breit. »Der lebt ja noch, der

großmäulige Bursche. Cannonball, er hat immer noch nicht genug, was?«

»Hat er nicht!« schlug Cannonball in die gleiche Kerbe. »Ich glaube, er will noch etwas mehr, der freche Lümmel.«

Einohr-Joe watschelte los. Cannonball folgte ihm, während Charlie McClure wie angeleimt hinter seinem Tresen stand und nichts zu sagen, geschweige denn etwas zu tun wagte. Bateson Michaels saß steif auf seinem Stuhl und dachte an Lion McGruder. Der Alte würde es nicht schlucken, daß man seinen Howie verprügelt hatte, soviel war sicher. Jeder in Sulphur Springs wußte, daß McGruder seinen Männern verboten hatte, eine Prügelei anzufangen. Packte den Alten die Wut, konnte es sein, daß er Rocky Duncan von der Leine ließ.

Rocky Duncan war der Ranchkoch, ein ungeheuer großer und breitschultriger Mann, der nur einmal in Bowie mit zwei Begleitern auf die gesamte Harris-Mannschaft gestoßen war. Die Harris-Burschen hatten geglaubt, daß der tölpelhaft wirkende Duncan gerade gut für einen wilden Spaß wäre, und seinen Vorratswagen wieder entladen. Neun wackere Harrisburschen hatten dabei eine Kette gebildet und sich die Vorräte zugeworfen.

Was dann passiert war, hatte volle vier Wochen lang die Gemüter in diesem Land erhitzt. Duncan war ohne seine Begleiter aus dem Saloon gekommen, hatte sich wortlos genähert und dann innerhalb von zwei Minuten alle neun Harrisreiter auf den Misthaufen des Mietstalles gefeuert.

Du großer Geist, dachte der klapperdürre Bateson Michaels beklommen. Die Kerle haben Howie verdroschen und werden ihm noch mehr geben.

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Bateson tat allein das Zuschauen weh. Er mochte nicht mehr hinsehen und erleben, wie die zwei Ungeheuer den armen Howie in die Mangel nahmen. Bateson, der Harmoniumspieler und Leichenbestatter, blickte zur Tür. Da schienen dem Knochengestell die Augen aus den Höhlen zu quellen.

»Zieh ihn hoch, Einohr!« sagte Cannonball kichernd. »Und dann wirf ihn mir zu. Wir wollen etwas mit ihm spielen, okay?«

Bateson hielt nicht deswegen sekundenlang den Atem an, sondern weil plötzlich ein Mann vor der Schwingtür stand.

Keiner sonst hatte Rocky Duncan, den Ranchkoch des alten McGruder, kommen gehört. Mit einem Blick übersah er die Szene, ballte die riesigen Hände und stampfte wie ein gereizter Stier in den Raum, bis er ganz dicht hinter dem ahnungslosen Cannonball stand. Auch Einohr-Joe sah den Riesen noch nicht.

Charlie McClure schloß die Augen. Er war von Natur aus blaß, aber nun nahm sein Gesicht Leichenfarbe an, weil er sich das Schrecklichste ausmalte.

* * *

Cannonball Jackson sah sich grinsend um. Und plötzlich war sein Grinsen wie weggewischt. Seine Augen weiteten sich ungläubig. Aber nur für einen Sekundenbruchteil. Denn als er begriff, wer vor ihm stand, reagierte er blitzschnell und sprang zur Seite. Der Gorilla des alten Abe Harris versuchte Front gegen Duncan zu machen, aber dessen Faust stoppte ihn. Duncan traf Cannonballs massigen Schädel in Ohrhöhe. Hinter diesem Donnerschlag steckten zweihundertvierzig Pfund Gewicht.

Jackson flog am Tresen entlang, bis er auf Howie prallte, den Einohr-Joe gerade richtig hinstellen wollte, um ihn dann mit einem Fausthieb zu Cannonball zu schicken. Nun kam

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Cannonball dem einohrigen Riesenfußbesitzer entgegen – und dann stürzten sie alle um.

Einen schrecklichen Moment glaubte Charlie McClure, daß sein Saloon von einem Erdbeben heimgesucht würde. Drei Männer landeten am Boden, der vierte Mann – Duncan – sprang auf sie zu. Die Dielen dröhnten, die Gläser in McClures Regal klirrten.

»Habt ihr euch gedacht, was?« stieß Rocky Duncan grimmig hervor, indem er sich bückte und Cannonball am Kragen zu fassen bekam. »Ich bin auch noch da.«

Jackson brüllte wie ein Ochse am Spieß, denn Duncan packte ihn mit der Rechten am Hosenriemen und hob ihn mühelos auf. Einen Augenblick schwebte Cannonball Jackson einen Schritt über dem Boden, dann wurde er gedreht und mit dem Kopf voran gegen Charlie McClures feinen Eichenholztresenpfosten gerammt. Cannonball sah ein Feuerwerk.

Rocky Duncan wiederholte die Prozedur zweimal, bis Cannonball schlaff wurde und zu Boden fiel. In diesem Moment sprang Einohr-Joe von hinten auf Duncan los. Der sah ihn aus den Augenwinkeln kommen und wich zur Seite aus. Der Mann mit den Riesenfüßen schoß an Duncan vorbei und krachte gegen die Theke, die sich um mehrere Zoll nach hinten verschob und Charlie McClure so in den Bauch gestoßen wurde, daß der dicke Salooner plötzlich auf der Platte lag.

»Da bist du ja«, sagte Duncan vollkommen gelassen, als Joe augenkollernd schwankte. »Grinst du noch, du Affe?«

Duncans Fausthieb verschob Joe die Kinnspitze. Der Einohrige hatte plötzlich einen schiefen Mund und glasige Froschaugen. Nach dem zweiten Hieb knickte er ein, fiel auf Hände und Knie und stöhnte schwer.

Rocky Duncan war mit einem Satz neben ihm, riß ihn genau wie Cannonball in die Höhe und drehte sich einmal um die Achse. Dann ließ er Einohr-Joe los. Der zweitbeste Mann von

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Abe Harris flog auf die Saloontür zu, stieß sie auf und verschwand. Daß er draußen im Tränketrog landete, sah Rocky Duncan nicht mehr. Der Riese stiefelte los. Bei Cannonball angekommen, drehte er den Gorilla auf den Rücken. Er schleifte ihn hinaus, stellte ihn auf die Beine und feuerte noch einmal seine Faust ab. Als beide Burschen übereinander im Tränketrog lagen, machte Rocky kehrt.

»Jetzt ist Ruhe!« sagte er mit einem dumpfen Grollen, als er an den Tresen trat und ihn zurechtrückte. »In Ordnung, Howie?«

»In Ordnung«, erwiderte Howie McGruder, aber ihm war hundeelend zumute. Sie hatten zwar gewonnen, doch die Niederlage würden Cannonball und Einohr-Joe niemals vergessen.

* * *

Cannonball Jackson knirschte vor Wut mit den Zähnen, als er Luke Harris in Rossmans Saloon eine Kehrtwendung machen sah. Luke und Selwyn Harris, die beiden großen Söhne des alten Abe, sahen sich kurz an. Sie hatten noch einen Bruder, einen Nachkömmling, der nicht zählte, weil er zu klein für rauhe Späße war. Außerdem besaßen sie noch eine Schwester. Entscheidungen trafen jedoch nur Luke und Selwyn. Und es waren harte Entscheidungen – genauso hart wie jene vor weniger als einer Viertelstunde, die Cannonball und Einohr-Joe in Bewegung gesetzt hatte.

»Wie seht ihr aus?« tobte Luke Harris giftig. »Dreckig von oben bis unten, verbeult und zerkratzt. Hol’s der Teufel! Und ihr wollt die rauhesten Burschen von Arizona sein? Prügel habt ihr bezogen, nicht zu fassen!«

»Das ist kein Mensch!« schnaufte Einohr-Joe und hielt sich den Bauch. »No, Rocky ist kein Mensch, sondern ein Ungeheuer.«

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»Hätten wir vielleicht schießen sollen?« maulte Cannonball. »Howie ist verdammt schnell mit dem Colt, das könntest du vielleicht schaffen, Selwyn. Ihr hättet ja mitkommen können.«

»Idiot!« entgegnete Selwyn giftig. »Damit uns der Alte die Haut abzieht, was? Er hat befohlen, nichts anzufangen. Da, drei Dollar für euch! Versauft sie und kommt dann nach. Wir reiten los.«

Die Harrisbrüder gingen davon. Cannonball starrte ihnen giftig nach und kochte vor Wut. Wenn etwas schiefging, verdrückten sich die Brüder immer sofort.

»Die haben Angst vor Big John Warren«, zischte er Einohr-Joe zu. »Nur keinen Ärger mit dem Sheriff, was? Wenn der mir jemals frech kommt, haue ich ihn aus dem Anzug, diesen alten Narren. Big John Warren! Sie sollten ihn lieber Old John nennen, denn er ist verdammt alt geworden. Eines Tages breche ich ihm alle Knochen und werfe ihn den Hunden zum Fraß vor.«

In diesem Moment lachte jemand. Cannonball und Einohr fuhren wie auf Kommando herum.

Dann starrten sie den ganz hinten in der Ecke des Saloons sitzenden Mann wie hungrige Tiger an und setzten sich in Bewegung. Jemand hatte gewagt, sie auszulachen. Das war zuviel.

Cannonball Jackson und Einohr-Joe Murphy hatten einen Blitzableiter gefunden. An irgendwem mußten sie ihre Wut auslassen.

* * *

Der Mann lachte nicht mehr. Er lag mit dem Oberkörper auf der Tischplatte, hielt das Whiskyglas zwischen den Fingern und schien die beiden rauhen Harrisburschen nicht zu sehen.

»Slater!« rief Cannonball drohend. »He, Archie, mein Freund, lachst du über uns?«

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Archie Slater, der Stadtsäufer, ein dunkelhaariger, noch junger Mann blinzelte träge. Vor einigen Jahren hätten sich Cannonball und Einohr nicht an ihn herangetraut,, denn damals war Slater noch Deputy-Sheriff in Tuscon gewesen. Er hatte Cannonball sogar einmal eingelocht.

Dann hatte er in Nogales eine Frau erschossen. Und von dem Tag an hatte Slater nur noch gesoffen, bis ihm nichts mehr geblieben war – nicht mal ein Freund.

Seitdem lebte Slater in Sulphur Springs, und wenn sich John Warren nicht um ihn gekümmert hätte, wäre er wahrscheinlich längst in der Gosse gelandet. Ab und zu arbeitete der einstmals gefürchtete Deputy-Sheriff, aber nur, um das Geld sofort in Fusel umzusetzen. Judy Weiser, die Witwe von Nat Weiser, dem Storekeeper, gab ihm immer wieder Arbeit, obwohl Archie jeden Cent vertrank.

»Cannonball«, lallte Archie mühsam, »he, Ca- Cannonball, mein Freund. Was – was ist?«

»Jack!« rief Rossman vom Tresen her. »Er ist betrunken. Glaube mir, der weiß nicht mal, daß er gelacht hat. Ich kenne ihn – er lacht immer, wenn er genug hat. Mann, handele dirkeinen Ärger ein, du weißt doch, daß er sich nie prügelt und niemals wehrt. Denke an Big John, der mag es nicht, wenn man…«

»Halt das Maul, Rossman, sonst nehmen wir deinen Laden auseinander!« gab Einohr-Joe zurück. »Der Kerl hat uns ausgelacht.«

Er packte Archie am Kragen und riß ihn mit einem Ruck quer über den Tisch. Dann schleifte er ihn zur Theke. Cannonball folgte ihm, hob Archie Slaters Beine an, und sie warfen Archie auf die Messingplatte. Als sie seinen Kopf in das Spülbecken steckten, stiegen ein paar Blasen blubbernd hoch.

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Rossman war kreidebleich geworden, wagte es jedoch nicht, die beiden zweibeinigen Tiger zu stoppen oder sich noch mal einzumischen.

Sekunden später flog Archie vom Tresen herunter. Cannonball stellte ihn auf die Füße, schüttelte ihn heftig und knurrte:

»Na, lachst du noch mal über uns, Archie, du Saufgenie? Dir werde ich’s abgewöhnen, uns auszulachen, du Ratte!«

Archie Slaters Knie gaben nach, doch Cannonball zerrte ihn wieder hoch.

»Ich – ich habe gelacht?« fragte Archie verständnislos. »Cannonball, was habe ich dir getan? Ich krümme doch keiner Fliege ein Haar. Ich bin doch dein Freund, oder? Warum sollte ich dich auslachen?«

»Ich sagte doch, er weiß von nichts«, meldete sich Rossman. »Cannonball – mach keinen Blödsinn! Er ist stockbetrunken.«

»Bin – bin ich nicht«, lallte Archie bockig. »Ich werde nie betrunken. Soviel Whisky gibt es gar nicht.«

In Jacksons Augen blitzte es kurz auf. Im nächsten Moment griff er nach einer fast vollen Whiskyflasche auf dem Tresen, zog den Korken mit den Zähnen heraus und gab Archie einen Stoß. Der kippte Einohr-Joe in die Arme.

»Du hast also nicht über uns gelacht, du Lügenbeutel?« erkundigte sich Jackson höhnisch. »Na gut, Archie, wenn du die Flasche hier aussäufst, glaube ich dir. Los, nimm die Flasche und mach sie leer, aber in einem Zug!«

»Um Gottes willen!« protestierte Rossman. »Cannonball, wenn er sie leertrinkt, ist er tot. Der hat schon soviel getrunken, daß er sterben wird. Das kannst du nicht machen, Cannonball!«

»Er bekommt doch angeblich nie genug«, höhnte Einohr-Joe. »Jetzt darf er mal auf unsere Kosten saufen. Na, Archie, was ist denn jetzt? Du kannst wählen: Entweder hast du über uns gelacht, dann brauchst du die Flasche nicht zu saufen. Was

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wir dann mit dir machen, ist dir hoffentlich klar? Oder du säufst jetzt das Zeugs.«

»Nein«, sagte Archie Slater und drehte den Kopf zur Seite, als Cannonball ihm die Flasche an die Lippen setzen wollte. »Nein, das tue ich nicht, ich bringe mich doch nicht um. Laßt mich los! Ich habe nicht über euch gelacht und will euren Fusel nicht!«

»Er will nicht?« echote Cannonball. »Ah, der Säufer ist sich zu fein, einen Drink von uns anzunehmen. Verstehst du, Joe? Halte ihn fest!«

Einohr-Joe Murphy umschlang Archie mit beiden Armen. Cannonball packte Archie an den klatschnassen Haaren, riß ihm den Kopf in den Nacken und preßte ihm den Flaschenhals auf die Lippen.

Du großer Gott, dachte Rossman entsetzt, sie bringen ihn um. Entweder er säuft jetzt, oder Cannonball zerquetscht ihm die Lippen. Die Prozedur hält kein Mensch aus.

In derselben Sekunde ertönte der gellende Schrei.

* * *

Es war nicht Archie Slater, der gellend aufschrie. Cannonball Jackson flog brüllend zurück. Der Mann mit den überlangen Armen hatte nur auf die Flasche, jedoch nicht auf Slaters Beine geachtet.

Der ehemalige Deputy Archie Slater hing in Joe Murphys Armen, stieß sich jäh ab und riß dann die Beine an. Völlig überrascht hielt ihn Einohr-Joe fest, und so konnte Slater Cannonball die Fußspitze in den Leib treten. Der Stoß war so heftig, daß nicht nur Cannonball zurückflog, sondern auch Einohr-Joe zu Boden ging. Jackson bekam plötzlich keine Luft mehr, fand sich am Boden wieder und begriff dann, daß sie sich in dem Säufer geirrt hatten.

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Das Kopfbad hatte Archie Slater munter gemacht. Der ehemalige Deputy verwandelte sich vor Cannonballs erstaunt aufgerissenen Augen in jenen Mann, der er einmal gewesen war. Kaum stürzte er mit Einohr-Joe zu Boden, als er sich blitzschnell aus dem Klammergriff befreite, herumrollte und ausholte. Slaters Fausthieb landete auf Joes rechtem Auge. Einen Moment sah Einohr-Joe nichts als Feuer, und danach war es schon zu spät. Slater schmetterte ihm die Faust an die Schläfe. Benommen und schwer getroffen von dem fürchterlichen Hieb, wälzte sich Joe Murphy herum. Slater war bereits auf den Beinen, sprang wie ein Tiger los und packte den nächsten Stuhl.

Es wäre um Einohr-Joe geschehen gewesen, wenn Cannonball nicht eingegriffen hätte. Der hielt noch immer die Flasche in der Faust. Der stiernackige Bursche kam auf die Knie, sah, wie Slater den Stuhl ergriff, und schleuderte seine Flasche fluchend nach dem Stuhlschwinger. Sie traf dessen Hinterkopf.

Archie Slater, der einst gefürchtete Schnellschießer, knickte zusammen. Cannonball fing ihn auf, ehe er zu Boden stürzen konnte.

»Hoch mit dir, Joe!« fauchte er seinen Partner an. »Ich habe ihn.«

Einohr-Joe stemmte sich ächzend in die Höhe. In derselben Sekunde sah er Cannonballs verstörten, starren Blick. Der Gorilla stieß Slater von sich, und dann schrie er warnend:

»Vorsicht, Joe, hinter dir!«

* * *

Joe Murphy wirbelte sofort herum, doch es war schon zu spät. Obwohl Einohr immer behauptet hatte, daß er vor Big John Warren keine Angst habe, duckte er sich voller Furcht. Der mehr als sechs Fuß große Sheriff hielt sein gefürchtetes

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Gewehr, eine siebenschüssige Savage mit achteckigem Lauf, bereits schlagbereit erhoben. Murphy sah nur ein Blinken. Das Gewehr sauste herum.

Der Hieb traf Einohr-Joe seitlich am Kopf. Joe erblickte ein Feuerwerk, ehe es dunkel um ihn wurde. Warren wirbelte wieder zurück. Keine Sekunde zu spät, denn Cannonball Jackson kam bereits.

Er hatte immer behauptet, daß er bei der ersten Gelegenheit mit Warren aufräumen würde. Nun war seine Stunde gekommen, und er zögerte nicht, gegen Warren anzugehen.

John Warren hatte von Jacksons Drohung gehört. Big John Warren schnellte zur Seite.

Rossman glaubte in diesem Moment, daß der Sheriff hinten Augen hätte. Warren sprang los, als Cannonball Jacksons Hände ihn packen wollten. Cannonball schoß schwungvoll an Warren vorbei.

Im selben Augenblick schmetterte ihm Big John Warren die Linke ohne erkennbaren Ansatz mitten ins Gesicht. Cannonball Jackson schoß bis zum Tresen und stieß ein dumpfes Stöhnen aus.

»Hast du nicht gesagt, du würdest mich in Stücke schlagen?«

Jackson machte eine Rechtswendung. Daß er sich zur falschen Seite gedreht hatte, bemerkte er zu spät. Big John war nach links gesprungen. Diesmal feuerte der Sheriff die Rechte ab. Die Faust traf Cannonballs linkes Auge. Er sah Feuer, riß einen Arm deckend hoch und krümmte sich dann mit weit aufgesperrtem Mund zusammen.

Big John Warren hatte ihm die Linke unter die Rippen gesetzt.

»Noch einer!« sagte Warren so eiskalt und ruhig, daß Rossman und den übrigen Männern ein Schauder über den Rücken rieselte. »Nur noch einer, Mister!«

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Der beste Mann von Abraham Harris ahnte, was auf ihn zukommen würde. Instinktiv kreuzte er die Arme schützend über dem Kopf. Warren sprang jedoch an ihm vorbei, drehte sich blitzartig und schmetterte ihm die Faust in den Nacken.

Alles starrte auf Cannonball Jackson. Der Mann mit den überlangen Armen war wie gelähmt stehengeblieben. Seine Arme sanken kraftlos herab.

Einige fürchterliche Sekunden stand Cannonball Jackson in dieser erbärmlichen Haltung vor dem Tresen. Niemand sah sein Gesicht, denn er hielt den Kopf gesenkt.

Und plötzlich kippte er jäh nach vorn und schlug der Länge nach auf die Dielen.

Es war totenstill. Rossman war bleich wie der Tod. Archie Slater saß dumm glotzend am Boden.

»Was war hier los?« fragte John Warren eisig. Er rückte seinen breitrandigen Stetson zurecht, ergriff sein Gewehr und blickte Rossman scharf an. »Wird’s bald, Jeff?«

Der Salooner schluckte, berichtete mit gepreßter Stimme und sah zur Tür. Dort stand jetzt Nat Weisers Witwe Judy, eine große, schlanke blonde Frau. Hinter ihr war einen Moment Nora McClures flammendrotes Haar zu erkennnen, aber Nora blieb draußen. Sie hatte Rossmans Saloon niemals betreten.

»John – John!« rief Judy Weiser erregt. Sie mußte sehr schnell gelaufen sein, denn Warren war von Noras Wagen vor dem Store gestiegen, als ihm jemand zugerufen hatte, daß Cannonball und Einohr-Joe sich mit Archie prügelten. »John, um Gottes willen, was ist passiert?«

Ihre Sorge um den Säufer Archie war unverkennbar. Wenn auch alle Leute glaubten, daß sie sich aus reiner Nächstenliebe nur um ihn kümmerte – Sheriff Big John Warren dachte anders darüber.

»Das wird sich im Jail schon herausstellen«, erwiderte er. »Ich sperre sie alle ein. Judy, kommen Sie später vorbei, jetzt halten Sie sich heraus. Verstanden?«

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»John, Sie können ihn nicht zusammen mit diesen wilden Tieren einsperren!« protestierte Judy Weiser erregt. »Die bringen ihn auch im Jail um!«

»Judy!« fuhr er sie scharf an. »Alles verläßt den Saloon. Er ist geschlossen, Rossman! Ich werde diese beiden entlaufenen Affen in die geschlossene Einzelzelle sperren. Archie, du wanderst in die große Zelle, dort bist du vor den Kerlen sicher.«

Die Gäste verließen den Saloon. Judy Weiser wagte nichts mehr zu sagen.

* * *

Archie Slater blickte zur einzigen Zelle des Jails, die von einer festen Eisentür verschlossen und so klein war, daß von zwei Männern einer auf dem Boden liegen mußte. Cannonball und Einohr-Joe hatten es aufgegeben, in dem engen Loch zu toben. Der seltsame Sheriff Warren lag in seinem Lehnstuhl, hatte die Beine auf den Schreibtisch gelegt und rauchte. Obwohl Archie Big John seit vier Jahren kannte, wurde er immer noch nicht klug aus ihm.

Warren stammte aus Texas, war Marshal in New Mexiko, Colorado, Sheriff in Nevadas Minenstädten und nun – dies sollte, sein letzter Job sein – Sheriff von Sulphur Springs.

»He, John«, fragte Archie mürrisch, »was hast du mit Judy Weiser vor der Tür zu reden gehabt?«

»Ich habe ihr gesagt, daß sie sich nicht um dich verdammten Säufer kümmern soll«, antwortete er. »Erstens ist sie viel zu schade für dich, zweitens hat sie einen fünfjährigen Sohn, den kleinen Joey, und drittens bist du völlig am Ende, Mister. Seit der Sache in Nogales bist du fertig. Und du weißt, daß du keinen Colt mehr halten kannst, weil deine Hände zittern. Ich habe es mir nun lange genug mit dir angesehen, Archie, und ich sage dir, daß du Judy nur unglücklich machen wirst – sie

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und Little Joey, der zufällig an dir hängt, als wärest du sein Vater.«

Archie knirschte vor Grimm mit den Zähnen, als Warren sich auf die Pritschenkante setzte und ihn eiskalt ansah.

»Laß mich allein, John!« zischte er dann. »Raus hier, ich will allein sein!«

»Feiglinge sind nie allein, ihre Angst begleitet sie auf Schritt und Tritt«, entgegnete Warren verächtlich und wandte sich ab. »Die Frau in Nogales war ein Banditengirl, aber für dich war sie eine Frau wie jede andere. Nun gut, sie hat dich mit ihren letzten Worten verflucht. Seitdem bist du ein Feigling, denkst aber an eine Frau wie Judy. Dazu hast du Dreckskerl kein Recht, denn du bist kein Mann mehr, du bist nie einer gewesen. Das alles habe ich Judy gesagt, damit sie dich zur Hölle schickt und…«

Und weiter kam er nicht. Archie Slaters Rechte hatte sich unauffällig zum Stiefelschaft bewegt. Sie zuckte blitzschnell hoch – mit einem großen Kappmesser und drückte es an Warrens Hals.

»Du Hund!« stieß Archie durch die Zähne. »Wie oft hast du mich getreten? Wie oft hast du mir gesagt, daß ich nur aus Feigheit saufe? Jetzt habe ich genug! Ich schneide dir den Hals durch! Paß auf, du verfluchter Schurke!«

* * *

Der Sheriff blieb stocksteif sitzen. Sein Blick wanderte langsam zum kalten Stahl hinunter. Obwohl Archie nun ganz durchdrehen und ihn töten konnte, wußte Warren endlich, daß es doch etwas gab, was diesen ehemals prächtigen Mann zur Weißglut bringen konnte. Slater hatte zum ersten Mal auf die dauernden Sticheleien Warrens reagiert.

»Also, worauf wartest du noch, Archie?« fragte Warren gelassen. »Na los, schneide mir den Hals durch, schnell! He,

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was ist denn mit deiner Hand? Weißt du, daß sie nicht zittert, obwohl sie eine tödliche Waffe hält?«

»Meine Hand?« echote Archie und starrte sie verwirrt an, zog sie dann zurück. »Sie zittert nicht, sie ist ganz ruhig. Wie ist das…«

Und das war sein letztes Wort. Warrens Faust traf ihn mit solcher Gewalt am Kinnwinkel,

daß er von der Pritsche quer durch die Zelle flog, an die Gitterstäbe knallte und benommen liegenblieb. Warren setzte sofort nach und warf sich auf ihn, preßte ihm die Arme auf den Rücken und fauchte:

»Angriff auf den Sheriff! Das kostet dich zwei Monate, du Narr! Niemand weiß das besser als du.«

Big John schleuderte Archie auf die Pritsche zurück, wo er sich stöhnend krümmte. Der Trinker rang nach Atem, bis er endlich wieder genug Luft bekam und wütend zischte:

»Du verfluchter Trixer, du wolltest es herausfinden, was? Du hast mich absichtlich soweit gebracht, um mir zu beweisen, daß mir gar nichts fehlt, daß meine Hand nicht zittert.«

»Ja«, erwiderte Warren trocken. Er nahm das Messer auf, holte aus und warf es aus der Zelle in den Türbalken. »Jetzt weißt du Narr es auch. Ich glaube nicht, daß es anders ist, wenn du einen Revolver nehmen mußt. Deine ganze Krankheit ist nichts als bloße Einbildung. Du bist der verdammteste Narr unter der Sonne, Archie. Ich hätte zusehen sollen, wie sie dich auseinandernahmen, um aus dir ein Wrack zu machen.«

John Warren trat achselzuckend an die Tür. Ihm tat Archie leid. Diesen Mann konnte nichts retten, solange er sich selbst bedauerte.

»Du hast lange mit Judy gesprochen«, sagte Slater. »Was hat sie dir gesagt – etwa, daß sie mich mag?«

»Dazu besitzt sie zuviel Stolz, das solltest du wissen«, antwortete Warren. »Eine Frau wie sie zeigt ihre Gefühle nicht. Doch ihre angebliche Sorge ist nichts als Zuneigung. Warum

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kümmert sie sich um dich, warum wäscht sie deine Sachen, stopft deine dreckigen Strümpfe und reinigt deinen Anzug? Ich bin auch nicht darauf gekommen, daß es andere Gründe als ihre Nächstenliebe und Christenpflicht geben könnte, aber Nora McClure brachte mich heute darauf. Eine Frau sieht das wohl anders. Du bist ein Idiot, Archie!«

Warren schloß die Tür ab, legte sich auf seine einfache Pritsche, eine Kastenmatratze, und starrte zur Decke.

Archie Slater stand auf. Er kam zum Zellengitter und knurrte:

»Du irrst dich, wenn du glaubst, du kannst mich damit herumbekommen mein Leben zu ändern. Eine Frau wie sie und ich? John das bildet ihr euch nur ein. Man kann sie verehren, aber lieben…«

»Lieben könntest du sie nicht, was?« murmelte Warren. »Du wagst dich nicht mehr an eine Frau heran und hast Angst, du könntest ihr nur Unglück bringen, ich weiß. Bilde dir das nur weiter ein.«

»Du willst mich auf irgendeine Art zwingen, mein Leben zu ändern. Das versuchst du verdammter Trickser schon seit Monaten«, sagte Archie. »Aber so schaffst du es erst recht nicht. Ich weiß, was Judy Weiser für mich übrig hat. Liebe ist es jedenfalls nicht. Und jetzt laß mich in Ruhe mit deinem Gewäsch!«

»Wie du willst«, erwiderte John Warren träge. »Von mir aus sauf dich zu Tode.«

Der Sheriff schloß die Augen, als Slater wieder zur Pritsche ging und verbissen schwieg.

Es hat keinen Zweck, grübelte Big John. Der Kindskopf will es nicht einsehen. Ein Wunder müßte geschehen, um Archie wieder zu einem normalen Menschen zu machen, aber – Wunder gibt es nicht.

Oder doch?

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* * *�

Warren erinnerte sich an das höhnische Grinsen von Cannonball Jackson und Einohr-Joe Murphy, während sein Pferd der kaum noch sichtbaren Spur folgte. Es war nicht zur Auslösung der beiden Schläger durch den alten Harris gekommen, weil Jim Lawson wie ein Irrer vor dem Morgengrauen an die Officetür gehämmert und von den Schüssen auf Lionel McGruder berichtet hatte.

Der Sheriff hatte keine andere Möglichkeit gesehen, als die beiden Halbaffen von Harris aus dem Jail zu jagen und wenig später auch Archie hinauszuwerfen. Die Suche nach dem heimtückischen Schützen konnte zwei Tage dauern. Niemand in der Stadt wäre bereit gewesen, solange die Vertretung Warrens zu übernehmen.

John Warren blickte gegen die, Nachmittagssonne zum Hang empor. Links davon begann der tiefe Einschnitt des Turkey Creek. Der Bach führte kaum Wasser. An seinem Uferrand war ein Sandstreifen, in dem die Hufe von zwei Pferden eine deutliche Spur hinterlassen hatten. Don Walsh, der Revolvermann McGruders, war hier vor über einer Stunde geritten. Er hatte die Spur jenes Mannes mit zwei Pferden verfolgt, der in der Nacht auf den Alten geschossen hatte.

Die Fährte war kaum noch zu erkennen, sie zog sich in das Felsgebiet der Chiricahua Mountains hoch. Und dann – ehe eine Viertelstunde vergangen war – verlor sie sich. Walsh war wie üblich im Kreis geritten. Seine Fährte war noch erkennbar, doch die des Heckenschützen nicht mehr.

»Verdammt!« stieß John Warren durch die Zähne. »Dort drüben ist Walsh heruntergeritten. Der eisenharte und eiskalte Bursche gibt nicht auf.«

Wenig später erreichte Big John Warren das nach Nordwesten verlaufende Tal, hielt an und blickte auf die anderen Spuren herab. Sie waren älter und konnten unmöglich

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von dem heimtückischen Schießer stammen. Hier war jemand aus den Bergen geritten, aber er hatte ein Maultier und ein Pferd, also keine zwei Pferde dabei gehabt. Walsh war dieser Spur gefolgt. Er war hinter dem falschen Mann her.

Allmächtiger! dachte John Warren erschrocken. Was ist das? Eine ältere Fährte, und Walsh verfolgt sie. Der versteht nicht genug von Spuren. Er wird den Mann stellen, der hier nach Mitternacht geritten ist, und vielleicht bringt er ihn um.

John Warren wußte, wie schnell Don Walsh schoß, um dann erst Fragen zu stellen. Big John preschte los. Er mußte Walsh einholen.

* * *

Der Revolvermann hatte den Wagen kaltblütig auf den Hof, der kleinen Ranch kommen lassen. Er hatte seinen Mann gefunden. Der verdammte Heckenschütze war aus Richtung Dos Cabezas zur Ranch gekommen. Vielleicht hatte er seinem Auftraggeber berichtet, daß sein Anschlag mißlungen war.

Don Walsh wartete, bis die junge Frau, eine Mexikanerin, aus dem Haus war. Der vielleicht dreieinhalbjährige Junge machte sich von ihrer Hand los, lief dem Wagen entgegen und wurde von dem großen, breitschultrigen Mann, der bereits neben dem Wagen stand, hochgehoben. Der Mann setzte den Jungen auf das Wagenpferd. Er hatte es ausgeschirrt und faßte nach den Leinen.

Im selben Augenblick sprang Don Walsh um die Stallecke, riß seinen Colt hoch und feuerte.

»Stehenbleiben!« rief der Gunner. Der Mann griff in den Wagenkasten, wo sein Gewehr lag.

Er fuhr herum, streckte die Hände aus, und Walsh feuerte noch einmal. Die Kugel klatschte gegen den Gewehrlauf, schleuderte die Waffe in den Kasten, und der Mann stand wie angeleimt still. Im gleichen Moment bäumte sich das

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Gespannpferd auf. Der Junge schrie ängstlich, rutschte ab und fiel zu Boden.

»Barry – Barry!« Die junge hübsche Frau lief mit wehendem Rock quer über

den Hof. Der große Bursche neben dem Wagen zerrte an den Zügeln, um das Pferd zur Seite zu bringen, dessen Hufe jeden Augenblick den Jungen treffen konnten. Dann hatte er das Pferd in der Gewalt, sah sich um und starrte Walsh drohend an.

»Du verdammter Narr!« fauchte er. »Warum, zum Teufel, schießt du? Wenn dem Jungen etwas passiert ist, breche ich dir alle Knochen!«

Die beiden Schüsse, die Schreie der Frau und das Wiehern des Pferdes hatten ein anderes Geräusch übertönt. Das Echo des Hufschlags fing sich hallend zwischen Stall, Schuppen und Haus.

Walsh wirbelte, beide Revolver in den Händen, herum. Das Pferd galoppierte in den Hof, wurde pariert und stand nun genau in der Schußlinie von Walsh.

Big John Warren hatte sein gefürchtetes Gewehr in der Faust, doch die Mündung zeigte nicht etwa auf den breitschultrigen Mann, sie war auf Don Walsh gerichtet. Und dann sagte Big John Warren drohend:

»Wenn du hier etwas angestellt hast, fliegst du ins Jail, Walsh! Ist dir überhaupt klar, wo du hier bist?«

»Was soll das? Warum zielst du auf mich, Warren?« knurrte Walsh. »Bist du verrückt geworden? Das ist der Mann, der auf meinen Boß…«

»Er ist es nicht!« unterbrach ihn der Sheriff. »Du hast dich durch die Spur täuschen lassen, die sich auf den Felsen verlor. Matt, was hast du in den letzten beiden Tagen getan? Sage es ihm – schnell!«

Der Breitschultrige blickte von Walsh zu Warren.

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»Ich habe zwei Antilopen geschossen und sie nach Dos Cabezas zu Chicco Gonzales gebracht«, sagte er grimmig. »Chicco hatte sie bestellt, John. – Das also ist Don Walsh?«

»Ja, das ist er«, bestätigte Warren düster. »Er kennt dich nicht, sonst hätte er diese Verrücktheit nie begangen.«

»Verdammt, was soll das?« fauchte Walsh. »Der Morgentau hatte die Spur auf den Felsen gelöscht, aber unten fand ich sie wieder und…«

»Und hast nicht gesehen, daß sie älter war und eine Spur von einem Maultier gemacht worden ist!« fuhr ihn Warren zornig an. »Wir haben hier kalte Nächte und jeden Morgen Tau, der alle Spuren löscht, Walsh. Weißt du, wo du hier bist? Kennst du den Mann?«

»Nein«, entgegnete Walsh wütend. »Warren, ich habe in Colorado und New Mexiko genug Spuren verfolgt, ich irre mich nicht.«

»Diesmal hast du dich geirrt. Hier haben wir Halbwüstenklima mit bedeutend mehr Tau in den Bergen. Du hast den falschen Mann verfolgt, Mister. Der da ist Mathew McGruder.«

Don Walsh zuckte unwillkürlich zusammen. Man hatte ihm nur andeutungsweise von dem ältesten Sohn des Alten erzählt. Sobald die Rede auf Matt McGruder gekommen war, waren die Männer der Ranch schweigsam geworden.

»Was?« »Ja«, sagte John Warren. »Der alte Löwe hätte dich in die

Hölle gejagt, wenn seinem Sohn was passiert wäre, ganz gleich, wie er mit ihm steht. Du kennst Lionel McGruder noch lange nicht, Mensch. Spuren altern nach einer Nacht so sehr, daß sich schon mancher getäuscht hat. Der Mann, hinter dem du her bist, ist über die Felsen geritten. Er hat sie bis zum Morgengrauen nicht verlassen. Jetzt gibt es keine Spur mehr, ich könnte sie auch nicht finden. Von mir aus such weiter, aber

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es dürfte zwecklos sein. Matt, jemand hat aus dem Hinterhalt auf deinen Vater und Bill Shivers gefeuert.«

Matt McGruder hatte keine Ähnlichkeit mit seinem Vater. Er war bedeutend größer, schwarzhaarig und hatte auch nicht die hellen Augen seines Vaters.

»So?« sagte er leise und preßte die Lippen zusammen. »Wer kann das gewagt haben, John?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Warren. »Matt, ich vermute, es ist jedesmal derselbe gewesen. Nach der Art, wie er schießt, kann es kein berufsmäßiger Killer sein. Ich tippe eher auf einen mexikanischen Pistolero. Vielleicht war es auch einer von den Halunken, die an eurer Südgrenze hausten und euch vor Jahren Vieh abtrailten. Damals starben einige Männer. – Also Rache?«

»Und wo war der da?« fragte Matt grimmig. »Wo war er, John?«

»Hören Sie!« schnaubte Walsh wild. »McGruder, wenn Ihr Vater einen Befehl gibt, dann muß ich gehorchen. Er wollte mit Shivers allein reiten. Genügt das?«

»Es reicht – es reicht genauso wie das, was Sie hier angestellt haben«, knurrte Matt. »Verschwinden Sie, Walsh – schnell!«

»Tut mir leid«, sagte Walsh. »Warren, wohin kann der Kerl geritten sein?«

»Wahrscheinlich durch die Pedregosa-Berge nach Süden«, gab der Sheriff zurück. »Er kann auch eine andere Richtung genommen haben. In den Pedregosas gibt es nur Steine. Auf jeden Fall kennt der Kerl sich aus.«

»Nun gut, ich werde suchen.« Der Revolvermann drehte sich um und ging davon, während

John Warren absaß und der zitternden Clarissa McGruder die Hand auf die Schulter legte. Dem Jungen war nichts geschehen, seine Mutter hatte ihn auf die Arme genommen.

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»Vielleicht denkt er, ich hätte auf ihn geschossen, was?« sagte Matt düster. »Hm, wer weiß, was man ihm über mich erzählt hat.«

»Weniger als mir, wette ich«, erwiderte John gelassen. »Matt, ich bin sicher, daß die Sache zwischen dir und Lion in Ordnung käme, wenn du den ersten Schritt machen würdest.«

Über Matt McGruders Gesicht huschte ein Schatten. »Nein!« sagte er verbissen. »Er hat mich wie einen Hund

davongejagt. Er kennt Clarissa nicht mal, er haßt sie. Wenn ich ihm die Peitsche nicht entrissen hätte, hätte er mich totgeschlagen.«

»Matt, du hast ihm die Stücke ins Gesicht geworfen, oder?« »Das – das tut mir leid, ich wollte ihn nicht verletzen. Er hat

immer mehr an Howie gehangen, der ist sein Ebenbild.« »Aber Howie kommt doch hierher, obwohl er es ihm

verboten hat, Matt.« »Wenn er das wüßte, würde er Howie auch noch

davonjagen. John, was Lionel McGruder einmal gesagt hat, das nimmt er nie zurück.«

»Meinst du?« antwortete John Warren. »Matt, manchmal habe ich das Gefühl, daß der alte Löwe einige Dinge längst bedauert. Mag Howie ihm auch ähnlich sehen, charakterlich gleichst du deinem Vater mehr. Sicherlich weiß er inzwischen auch, daß du schon zweihundert Rinder besitzt, daß deine Frau die schönsten Teppiche in dieser Gegend webt und ihr aus den ersten Schwierigkeiten heraus seid. Clarissa, Judy Weiser wartet auf neue Teppiche.«

»Ja, ich weiß, Sheriff. Ich werde nächste Woche in die Stadt fahren und sie ihr bringen«, erwiderte Clarissa leise. »Wir werden es schon schaffen, Sheriff. Matt ist sehr stolz.«

»Das sind alle McGruders, selbst dein leichtsinniger Bruder Howie, Matt«, sagte John. »Eines Tages wird er den Bogen überspannen, fürchte ich. Er hat sich gestern mit Cannonball

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und Einohr-Joe Murphy angelegt, der wilde Bursche. Matt, ihm fehlt sein älterer Bruder.«

»So? Ich glaube eher, ihm hat die Strenge gefehlt, mit der ich erzogen worden bin. Er wird sich schon die Hörner abstoßen, John, ein schlechter Kerl ist Howie nicht.«

* * *

Jim Lawson warf Howard McGruder einen verstörten Blick zu und zügelte dann sein Pferd. In der prallen Nachmittagssonne blendete Lawson die weiße Mauer der Stellmacherei von Sam Winters so sehr, daß der Zureiter blinzelte. Dennoch hatte Lawson genug gesehen. Im Hof der Stellmacherei – sie lag neben der Schmiede von Joe Winters, dem Bruder Sams – hockte Luke Harris auf dem Doppeldeichsel-Buckboard.

Cannonball Jacksons affenähnliche Mißgestalt lehnte im Schatten des Schuppens, während Selwyn Harris gerade auf dem zweiten Buckboard herumkletterte.

Die beiden Wagen standen nebeneinander im Hof zwischen Schmiede und Stellmacherei. Selwyn Harris war dabei, den Rennwagen der McGruders zu untersuchen. Dann sprang er herunter und sagte etwas zu seinem älteren Bruder Luke. Der nahm augenblicklich den Kopf herum.

»Reite weiter!« zischelte Howie McGruder im selben Moment hinter Lawson. »Verdammt noch mal, was schnüffelt dieser schlappohrige Selwyn Harris auf unserem Wagen herum?«

»Howie, um Gottes willen, mach keinen Ärger!« warnte Lawson. »Wir können noch umkehren, Howie, müssen nicht in den Hof reiten. Das geht nicht gut, glaube mir.«

»Was soll das?« knirschte Howie. »Mensch, ein McGruder kneift nicht. Die Halunken haben uns gesehen. Soll es in der ganzen Stadt heißen, daß ich vor ihnen davongeritten bin? Ich soll den Wagen holen, hat der alte Löwe gesagt, und genau das

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tue ich, und wenn sich mir der Teufel in den Weg stellen sollte!«

»Howie, hör doch! Die haben zufällig dasselbe vor. Laß uns zu McClure reiten und einen trinken, bis sie aus der Stadt sind.«

Der jüngste McGruder ritt stur weiter. Er sah mit einem Blick, daß die Harrisbrüder ein hochbeiniges Pferd mitgebracht und im Schatten abgestellt hatten. Der Gaul, ein Dunkelbrauner, war so groß und langbeinig, daß Howie zusammenzuckte. Es mußte das neue Rennpferd für den Buckboard sein, auf das die Harris’ alle Hoffnungen setzten.

Meine Güte, ist das ein Riesentier, ging es Howard durch den Kopf. Dagegen ist Thunderstorm, unser Renner, geradezu zierlich.

Howie sah sich nach »Donnersturm« um, dem besten Pferd, das die McGruders ins Anual-Rennen bringen konnten. Das schwarze Tier lief hinter Howie McGruder an der Longe. Es stammte aus eigener Zucht, und sie hatten es zuerst Wirbelwind taufen wollen, weil es seine volle Schnelligkeit erst gewann, wenn es mehr als eine halbe Meile galoppiert war.

»Allmächtiger, was für ein Pferd!« entfuhr es Jim Lawson. »Was muß das Biest für einen Antritt haben! Du großer Gott, Howie, laß uns umkehren!«

Howie ritt stur weiter. Sam Winters und sein Bruder Joe waren dabei, die beiden Deichselschuhe umzusetzen. In diesem Augenblick begriff Howie McGruder, warum sie die Hakenösen des Brustgeschirrs an den Deichseln um gut zwanzig Zoll nach vorn versetzt hatten. Er sah es selbst aus dieser Entfernung: Das Harris-Pferd mußte einen so gewaltigen Antritt haben, daß es mit der Hinterhand an die Frontwand des Wagens kam. Tatsächlich entdeckte Howie die neu eingepaßte Frontwand. Der Riesengaul hatte die alte also bereits zertreten.

Die Harrisbrüder waren also schon einmal mit dem neuen Buckboard, diesem völlig flachen Wagen, der nur einen

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Doppelsitz besaß, dessen Gestell aber auf den Achsen saß und extrem leicht gebaut war, auf eine Probefahrt gegangen.

Die blöden Kerle, dachte Howie, nicht ohne Schadenfreude, da sind sie mit dem Wagen zuerst nach Hause gefahren, statt gleich das Pferd in die Stadt mitzubringen und sofort eine Probefahrt zu unternehmen. Es gibt immer wieder Änderungen, und das beste ist, man bringt das Pferd zum Stellmacher mit,damit er Änderungen gleich machen kann. Das ist typisch für die Harrisburschen, sie haben ihr Pferd geheimhalten wollen – aber jetzt sehe ich es.

Oha, die Burschen werden sich grün und schwarz ärgern. Howie sollte recht behalten.

* * *

Howie verkniff sich eine Bemerkung, obwohl er längst kochte. Der jüngste McGruder glich einem zu stark befeuerten Dampfkessel, der unter Überdruck stand und jede Sekunde zu explodieren drohte.

Zwar bemühte sich Howie, beide Ohren auf »Durchgangsverkehr« zu stellen, doch es gelang ihm nicht. Seit zehn Minuten lästerten Cannonball Jackson und Selwyn im Verein mit Luke, und Ausdrücke wie »Ziegenbock« und »nachgemachter Schinder« hatten Howie so in Wut gebracht, daß er sich kaum noch beherrschen konnte.

Die beiden Harrissöhne und Jackson waren herangekommen. Sie standen keine fünf Schritt vor dem knallrot gestrichenen Buckboard der McGruder.

»Sieh dir mal die Mißgeburt an«, lästerte Jackson grinsend. »Selwyn, das Mistvieh hat viel zu kurze Vorderhufe. Es sieht ja aus wie ein Känkuh, dieses komische Teufelsding, das in Australien herumhoppelt.«

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»Es heißt Känguruh!« belehrte ihn Selwyn. »Das ist ’ne tierische Mißgeburt – genau wie dieser Gaul, der keine Brust und steife Beine hat.«

»Wenn ›Donnersturm‹ eine Mißgeburt ist, dann weiß ich nicht, was euer Knochengestell sein soll«, knurrte Howie, und Lawson wurde langsam bleich.

»Du Scheißer!« stichelte Luke Harris bissig. »Du hast ja jetzt schon die Hosen voll, es stinkt bis hierher!«

»Und bis hierher stinkt es nach gekauften Revolverkillern, die jemand auf meinen Vater losläßt!« entgegnete Howie. »Das ist das einzige, was ihr Strolche könnt – Heckenschützen anwerben! Kämpft mal offen!«

Selwyn fuhr wie von der Natter gebissen herum und hatte die Hand am Colt, sah dann aber, daß Jim Lawson seinen Revolver bereits gezogen hatte.

»Vorsicht!« rief Lawson eisig. Der Zureiter war höllisch schnell mit dem Colt, wenn auch nicht gerade Selwyn Harris gewachsen, den sein Vater sogar mit dem Schießeisen ins Bett geschickt hatte. »Selwyn, fang nur nichts an, mein Freund!«

»So ist das?« fauchte Selwyn Harris. »Mit dem Colt in der Hand hast du gut reden, wie? Ich warne dich, Howie, verbreite keine Lügen, sonst blase ich dich um.«

»Hast wohl Mut, weil John wieder mal nicht hier ist, was?« erkundigte sich Howie höhnisch. »Den Mut solltest du mal haben, wenn John Warren in der Stadt ist. Der Sheriff macht dich klein und häßlich. Ist doch ein verdammter Zufall, daß ihr immer in der Stadt seid, wenn man auf meinen Vater schießt. Jeder kann euch dann sehen.«

»Selwyn«, keuchte Luke, als Selwyn vor Wut losschrie. »Reiß dich zusammen! – Keinen Kampf, vergiß nicht, was unser Vater befohlen hat! Dieser Affe Howie muß sich irgendwie Luft machen, seitdem er unseren Hengst gesehen hat und weiß, daß er keine Chance beim Anual-Rennen haben wird. Laß dich nicht reizen, Selwyn! ›Flying Arrow‹ schlägt

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seinen lahmenden Ziegenbock um zehn Längen auf die Drei-Meilen-Distanz«

»Was quakst du Frosch da?« zischte Howie. »Von mir aus könnte das Rennen gleich sein, damit du Großmaul den Gaul zum Abdecker bringen kannst, so wenig wert wird er am Ende sein«

»Howie, hör auf, hör auf!« warnte Lawson. »Ich hab’s dirgesagt, es gibt nur Ärger.«

»Für wen?« höhnte Cannonball. »Ja, warum soll das Rennen nicht gleich sein? Luke, du würdest doch sofort gegen Howie antreten, oder? Aber ich wette, der feige Hund drückt sich.«

»Was tue ich?« schrie Howie. »Sage das noch mal, du weggelaufener Affe!«

»Du würdest es nicht wagen, ein Rennen auszutragen«, wiederholte Jackson höhnisch. »Du kannst nur verlieren, und weil du es weißt, kneifst du.«

»Ich kneife – ich?« brüllte Howie los. »Nun gut, ich habe das Pferd noch nicht zwischen den Deichseln gehabt, aber ich würde sofort gegen euren Knochenbock antreten.«

»Würdest du?« fragte Luke, der auch im Rennen den Wagen fuhr, hämisch. »Na gut. Drei Runden nach Osten um die Stadt, Start und Ziel hier vor der Schmiede.«

»Howie, mach es nicht!« sagte Jim Lawson. »Der Boß reißt dir den Hals ab.«

»Ich lasse mich nicht feige nennen!« fauchte Howie. »Also gut, ein Rennen. Dreimal nach Osten um die Stadt.«

»Du großer Geist!« sagte Sam Winters. »Macht keinen Unsinn! Ihr wißt genau, daß Big John jede Raserei in der Stadt verboten hat. Er kann jeden Moment von Dutch-Henry zurückkommen, dem jemand zwei Pferde gestohlen hat, und dann ist der Teufel los. Ihr könnt doch kein Wagenrennen in der Stadt veranstalten.«

»Wer bestimmt in dieser Stadt?« entgegnete Luke Harris. »Wir haben ihn gewählt, oder etwa nicht? Ich will verdammt

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sein, wenn ich diesen lendenlahmen Gaul der McGruder nicht schlage. Los, vorwärts Howie, diesmal siehst du nur noch mein Wagenende!«

»Oder du meines!« erwiderte Howie McGruder bissig. Er stieg auf den Wagen und fuhr zum Tor, während Cannonball eine herumliegende Radspeiche nahm und damit quer über die Straße eine Linie zog.

»Das geht nicht gut«, sagte Sam Winters ahnungsvoll. »Der Teufel reitet sie wieder einmal, und Big John ist nicht da, Joe.«

* * *

Archie Slater hob den Kopf, ließ die Handkurbel der Häckselmaschine los und blickte aus der Stalltür. Das Rattern der Häckselmesser war verstummt. Archie hörte das Knallen der Peitschen, sah den Staub in den Hof wehen und trat vor die Tür. Sein erster Blick fiel auf Mrs. O’Connor. Die rundliche Frau des Sattlers schimpfte lauthals. Sie stand in einer dichten Staubwolke, die sich über ihre Wäsche gelegt hatte und träge zerflatterte. Der Ostwind hatte die Staubwolke zwischen dem Store von Judy Weiser und Mikel O’Connors Sattlerei durchgetrieben.

»Diese hitzköpfigen Burschen reitet der Satan!« schimpfte Mrs. O’Connor. »Immer wenn Big John nicht in der Stadt ist, spielen sie verrückt. Ich werde mich beschweren. Hörst du, Mann? – Warum unternimmst du nichts? Sie fahren wie die Wilden durch die Straßen und bringen die Menschen in Gefahr. Beinahe hätten sie Klumpfuß-Henry überfahren. – Sieh dir meine Wäsche an!«

In diesem Augenblick verlor sich das Rattern der Räder und Knallen der Peitschen hinter Dempseys Mietstall am südlichen Stadtausgang. Schrille Schreie verklangen, während Judy Weiser aus der Hintertür stürmte.

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»Mr. Slater«, fragte Judy Weiser aufgeregt, »wo ist Joey? Um Gottes willen, wo ist der Junge, Mr. Slater? Howie McGruder und Luke Harris tragen ein Rennen aus.«

»Was? Sind die Burschen völlig verrückt geworden? Joey spielt mit seinem Schiffchen, das ich ihm aus dem Lärchenholzkloben geschnitzt habe. – He, Joey…«

Archie Slater trat um den Stall und blieb erschrocken stehen. Die alte Badewanne hatte Joey – Judy Weisers fünfjähriger Sohn – als Wasserbecken und Flußersatz für das große Segelschiff gedient.

»Er ist nicht hier«, sagte Archie bestürzt. »Aber er war noch vor fünf Minuten…«

Archie dachte dann an Dempseys großes Wasserbecken. Dort hatten er und Little Joey vor Wochen ein viel kleineres Segelschiff schwimmen lassen. Das gemauerte Wasserbecken lag am Ende des Corrals neben Dempseys Pumpe, die von einem Windrad angetrieben wurde.

»Archie«, stieß Judy Weiser hervor, als der stoppelbärtige Slater nachdenklich schwieg. Sie war so erregt, daß sie sogar vergaß, ihn wie üblich mit Mister anzureden. »Archie, wo ist der Junge hin?«

»Machen Sie sich keine Sorgen, Madam«, erwiderte Archie. »Er könnte zu Dempseys Wasserspeicher gegangen sein. Ich sehe nach.«

»Archie, schnell, schnell! Wenn Joey auf die Straße läuft und diese wilden Burschen mit ihren Buckboards wiederkommen…«

Slater hastete aus dem Tor und überquerte die Straße. Das Peitschenknallen und Geschrei näherte sich wieder dem

Nordausgang der Stadt. Archie Slater hatte kaum den Gehsteig erreicht, als er weit hinten die beiden Wagen nebeneinander auftauchen sah. Sie rasten vor einer gewaltigen Staubwolke der Schmiede entgegen, vor der Lawson, Cannonball und Selwyn

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Harris in seltener Einmütigkeit nebeneinander zu Pferd hielten und lauthals schrien.

Im gleichen Augenblick erschien Judy Weiser in der Storetür.

»Joey – Joey!« rief sie angstvoll und schrill. »Joey, komm sofort nach Hause! Joey, wo bist du? Joey – Joey!«

Jackson und Selwyn Harris brüllten anfeuernd, bis Cannonball sah, daß Howie McGruder nicht mehr außen fuhr, sondern auf der Innenbahn. Cannonball stieß einen Fluch aus. Er hatte fest damit gerechnet, daß das Riesenpferd den schwarzen Hengst der McGruders nach der ersten Runde bereits um drei oder mehr Längen abschlagen würde. Auf den ersten hundertachtzig Yards bis zum Mietstall und mitten durch Sulphur Springs hatte das Riesenpferd mehr als eine Wagenlänge gewonnen.

Jetzt lagen die Wagen dicht nebeneinander. Der schwarze Hengst schien sogar die Nase vorn zu haben. Howie hatte sich längst aufgerichtet. Auch Luke Harris stand hinter dem Buckboard vor dem Sitz und schlug auf sein Pferd ein.

»Verdammt!« entfuhr es Selwyn ungläubig. »Howie, der Hundesohn, führt ja! Gib’s ihm, Luke, los doch!«

Die Wagen rasten so schnell heran, daß sie, ehe Selwyn das letzte Wort heraus hatte, vorbeigedonnert waren. Dann wallte Cannonball der Staub entgegen, und sie ritten hastig zur anderen Straßenseite. Der Wind trieb den Staub sofort nach Westen davon, so daß die Sicht von der östlichen Straßenseite aus frei war. Sie konnten nun die Wagen verfolgen. Die Staubwolke hüllte die Schuhmacherei, O’Connors Sattlerei, den Store und das Office Big John Warrens ein.

Beide Stepwalks waren wie leergefegt. Die Zuschauer hatten sich in die Hauseingänge zurückgezogen, nur ein Mann rannte auf den Mietstall zu: Archie Slater.

Und dann sah Jim Lawson, warum Archie, der Stadtsäufer und Herumtreiber, wie ein Irrer losgestürmt war.

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Archie Slater sprang in diesem Augenblick vom Gehsteig. Der Mann, der sich totsaufen wollte, lief Howie McGruders Wagen vor die Deichsel und riß beide Arme hoch. Daß er schrie und versuchte, dadurch Howies schwarzen Hengst mehr nach rechts zu bringen, war nicht zu hören.

Zwei Schritte vor dem östlichen Gehsteig stand – sein zweimastiges Segelschiff unter dem rechten Arm – Little Joey Weiser auf der Fahrbahn.

Er hatte seine Mutter rufen hören. Der Junge war nach wenigen Augenblicken losgelaufen. Jetzt sah er den heranrasenden Pferden entgegen und glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Er sah die Pferde in gestrecktem Galopp herankommen. Vor dem Pferd auf der Innenbahn rannte Archie Slater. Der unrasierte Archie schrie aus Leibeskräften, während er sich in wilden Sprüngen immer weiter vom Gehsteig entfernte und Howie zu zwingen versuchte, seinen Hengst mehr zur Straßenmitte zu treiben.

»Zurück, Joey!« brüllte Slater. »Zurück, Junge! Lauf auf den Gehsteig, Kid!«

Und dann bewegte sich der Junge endlich, doch er kehrte nicht um, sondern wollte auf seine entsetzt dastehende Mutter zulaufen.

In dieser Sekunde verlor Archie Slater die Angst. Der Mann, dessen einzige Medizin gegen die ständige Furcht der billigste und widerlichste Fusel gewesen war, wuchs plötzlich über sich selbst hinaus. Er war entschlossen, Little Joey um jeden Preis zu retten.

* * *

Howie McGruder sah voller Entsetzen das teuflische Funkeln in den Augen von Luke Harris. Einen Augenblick lang glaubte Howie, daß nun sein Ende gekommen sei, denn Harris lenkte das Riesenpferd jäh nach innen, statt es nach außen zu ziehen

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und damit Howie eine Chance zu geben, dem Jungen auszuweichen.

»Nach rechts« brüllte Howie verzweifelt. »Ich kann das Pferd nicht halten! Nach rechts, Luke, du Satan!«

Dann geschah alles so schnell, daß Howie der Atem stockte. Der jüngste McGruder sah genau, wie Harris die Peitschenschnur in die rechte Flanke des Riesenpferdes sausen ließ. Das Tier preschte noch mehr nach links herüber – und das Ende war da!

Der verfluchte Schweinehund, dachte Howie noch, während er sich mit aller Macht zurücklehnte, er will mich zwingen, die Innenbahn aufzugeben. Ich soll halten, aber ich kann den Hengst nicht mehr parieren.

Howie erkannte die teuflische Absicht von Luke Harris. In diesem einen Moment begriff Howie McGruder, daß ein Harris immer ein schlechter Verlierer sein würde. Der Schwarze der McGruders hatte das Rennen schon gewonnen, er hatte seine volle Schnelligkeit entwickelt, und da er die Kurven leichter nehmen konnte, hätte er hinter dem Corral des Mietstalles um eine Länge vorn gelegen. Aber der Schwarze war nicht mehr zu bremsen. Trotzdem versuchte der junge McGruder in höchster Verzweiflung, den rasenden Buckboard zum Stehen zu bringen. Er stemmte sich zurück und riß mit aller Gewalt an den Zügeln.

Dennoch wußte er, daß dieses Bemühen sinnlos war. Entsetzt verfolgte Howie, wie Archie Slater den Jungen zu erreichen suchte. Im selben Augenblick sauste Lukes Peitschenschnur erneut auf den Schwarzen nieder. Das Tier zuckte unter dem Schlag zusammen und ging durch. Nun war Slater samt dem Jungen verloren, Howies Wagen würde beide zermalmen.

Archie Slater rannte mit Riesensätzen auf den Jungen zu. Er bekam Little Joey mit der Rechten zu fassen und riß ihn zur

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Seite. Dadurch gelang es ihm, den Jungen direkt vor dem grell wiehernden Rappen der McGruders in Sicherheit zu bringen.

Den Bruchteil einer Sekunde später packte eine ungeheure Gewalt Archie Slaters linke Schulter.

Das Pferd hat mich gerammt, dachte Archie noch. Jetzt ist es aus. Festhalten! Den Jungen festhalten!

Über dem Trinker Archie wölbte sich plötzlich der strahlend blaue Himmel Arizonas. Der Giebel des Mietstalles von Dempsey drehte sich, und Archie wußte, daß er meterhoch in die Luft geschleudert wurde. Er hätte die Hände ausstrecken und die Gewalt des kommenden Aufpralles abfangen müssen, aber er hielt eisern Little Joey Weiser fest. In Archies Ohren gellte der helle Schrei des Jungen, und dann kam irgend etwas auf Archie zugeschossen.

Im letzten Moment erkannte der ehemalige Deputy, daß ihn der Stoß an der Vorbaudachkante vorbei in die Einfahrt zu Dempseys Hof geschleudert hatte. Archie Slater schoß um wenige Zoll – den Jungen in den Armen – an der letzten Dachstütze vorbei. Und dann schlug er mitten in eine ausgefahrene Spur, die unzählige Wagenräder hinterlassen und Pferde mit ihren Hufen immer wieder umgewühlt hatten.

Erst in diesem Augenblick gab Archie den kleinen Joey frei. Der stürzte in den weichen Sand, während Archie herumgeschleudert wurde und gegen den Eckpfosten eines Tores prallte. Archie rollte noch drei Schritte und blieb schließlich auf dem Rücken liegen. All dies registrierte er aber erst, als er die Augen öffnete und in die Sonne blinzelte. Staub wallte über Archie Slater hinweg. Aus dem dichten Schleier schälte sich eine sitzende Gestalt.

Sie war klein und blond und sperrte den Mund auf. Und sie saß auf ihrem kleinen Hintern mitten in einer Sandfurche. Der Junge war im Sand ein Stück gerutscht und hatte keine einzige Schramme abbekommen. Nur sein Segelschiff lag irgendwo

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auf der Straße – zertrümmert, von den Hufen in Stücke getreten.

Eine andere Staubwolke – jene, die hinter den beiden Wagen aufgewallt war – wälzte sich über die Straße. Sie verdeckte der bis an den Haltebalken vor dem Store getaumelten Judy Weiser die Sicht auf das Grauen, was sich, sobald sich der Staub verzogen hatte, ihren Blicken bieten mußte: der leblose, überfahrene Körper ihres Sohnes.

Judy Weisers Knie gaben nach. Sie versuchte am Balken einen Halt zu finden, doch sie sank auf die Knie und blickte leichenblaß und einer Ohnmacht nahe in den undurchdringlichen Staub.

In diesem Augenblick ertönte das furchtbare Krachen und grelle Wiehern. Holz brach, ein Mann schrie gellend.

Archie Slater blickte in die Richtung, aus der das Geräusch kam, und wußte, daß es noch eine Katastrophe gegeben hatte.

* * *

Howie McGruder bekam das Pferd in die Gewalt. Das höhnische Triumphgeschrei Lukes trieb Howie zwar die Galle ins Blut, doch dann sah der jüngste McGruder entsetzt, daß dieser Triumph nur anderthalb Sekunden gedauert hatte.

Luke Harris hatte das Zurücknehmen des Schwarzen ausgenutzt. Er brachte seinen Buckboard jetzt schräg vor Howies Wagen. Harris schnitt Howie, der nun halten mußte, wollte er nicht in den Corralzaun von Dempsey rasen, den Weg ab.

Und dann passierte es. Vielleicht war es das zu harte Zügelreißen, das das

Riesenpferd wild werden ließ, vielleicht war es die Peitsche – niemand konnte es jemals sagen. Luke Harris’ Pferd brach jäh nach links aus und steilte, so daß der Wagen herumgeschleudert wurde. Das rechte Hinterrad raste in die

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Corrallatten hinein. Luke Harris wurde in den Sitz gepreßt. Kaum aber saß er, als sich irgendeine gebrochene Corrallatte in die Speichen des Hinterrades schob. Das Rad machte noch eine halbe Umdrehung, dann krachte die armdicke Latte unter das Flachbrett. In der nächsten Sekunde zersplitterten die Speichen. Das Rad zerbrach, der Wagen krachte auf die linke Achse, die sich tief in den Boden grub.

Eine ungeheure Gewalt riß den Buckboard im Bruchteil eines Augenblicks nach links herum. Der Wagen stellte sich hoch, die Deichseln brachen wie Streichhölzer und schleuderten das Pferd zur Seite.

Der Riesengaul des alten Abe Harris schoß durch den Corralzaun auf die hüfthohe Mauer des Wasserspeichers von Dempsey zu. Das noch heile Untergestell des Buckboard flog links am Pferd vorbei und krachte gegen die Mauer.

Durch die Luft wirbelte ein Körper – Luke Harris. Ein höllischer Schmerz fuhr Harris von den Beinen aus

durch den Rücken bis ins Gehirn. Seine Beine brachen beim Anprall auf die Oberkante der Wasserspeichermauer. Danach überschlug sich Luke und landete im Wasser. Sein Pferd war mit dem Hals gegen die Mauer des Speichers gekracht. Es war tot, ehe es still am Boden lag. Dann schoß ein Wasserstrahl aus einem handbreiten Spalt in der Mauer. Der Riß begann an der Mauerkrone und lief bis zum Boden durch.

Luke Harris verdankte es diesem Riß, aus dem das Wasser in breitem Strahl hinausschoß, daß er nicht wie eine Ratte ersoff. Er blieb mitten in dem sich leerenden Wasserspeicher liegen, während hinter ihm die Hölle tobte.

Dort raste McGruders Schwarzer über einige Wagentrümmer von Harris hinweg. Die Vorderräder von Howies Buckboard sausten über den umgekippten Corraleckpfosten. Der Wagen stellte sich quer, kippte zur Seite und schleuderte Howie im hohen Bogen gegen die Kruppe des Schwarzen. Das Tier galoppierte weiter, während Howie

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ziemlich weich landete und im Sand liegenblieb, mit dem abgebrochenen Drehschemel hinter sich.

Es dauerte einige Sekunden, ehe Howie McGruder so weit bei Verstand war, daß er sich aufstemmen konnte. Zu seinem Glück war der Buckboard nicht mehr allzu schnell gewesen. Howie war nicht viel passiert, er hatte sich nur die Hose aufgerissen und eine Beule am Dickschädel.

»Verflucht noch mal, wo bin ich?« fragte Howie und wackelte heftig mit seinem Kopf. »Wo ist denn mein…«

Und dann sah er seinen Wagen. Besser: die Trümmer dessen, was einmal ein extra für das Rennen angefertigter Buckboard gewesen war. Howie McGruder starrte ungläubig auf zerbrochene Räder und den zerfetzten Sitz. Dann wanderte sein Blick langsam durch den Corral und erfaßte das, was von Harris’ Buckboard übriggeblieben war. Schließlich starrte Howie auf den toten Riesengaul, der Old Abe Harris sicherlich vierhundert harte Dollars gekostet hatte.

Im nächsten Augenblick hörte Howie McGruder den dumpfen Hufschlag. Zuerst tauchte Jim Lawson auf, danach erschien Selwyn Harris, und den Schluß machte Cannonball Jackson, während eine Menge Leute ihnen nachrannten. Aus der Hintertür des Mietstalles kam Fred Dempsey kreidebleich in den Corral gestürmt. Dempsey stierte auf die riesige Wasserlache, blickte in seinen beinahe leeren Wasserspeicher und sah den wimmernden Luke Harris dort liegen.

Selwyn war abgestiegen, auch Cannonball Jackson stand neben seinem Pferd. Selwyn Harris dachte an das, was ihnen bevorstand, wenn der alte Abe von ihrer Wahnsinnsidee eines Rennens in der Stadt erfuhr, die ihn einen runden Tausender kosten mußte.

»Meine Beine, meine Beine!« wimmerte Luke. »O Gott, ich sterbe, mein Rückgrat ist gebrochen!«

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Dennoch zog er sich am Rand des Speichers hoch. Sein Blick fiel auf das tote Pferd, und er ließ sich mit einem entsetzten Laut wieder fallen.

»Der Alte schlägt uns tot!« wehklagte Selwyn. In Gedanken stellte er sich den Geizkragen von Vater vor, der zähneknirschend, und nur, weil er Lionel McGruder eins auswischen wollte, zum Kauf des neuen Wagens und des Riesengauls bereit gewesen war. »Mein Gott, wie konnte das passieren? Luke, wie hast du das fertig gebracht, du Narr?«

»Narr – ich?« heulte Luke vor Wut, Schmerz und Furcht. Er zog sich wieder an der Mauer hoch und sah Archie herankommen. »Der da war es! Der versoffene Kerl ist schuld. Er ist den Pferden in den Weg gesprungen und hat sie verrückt gemacht. Oh, ich sterbe, meine Beine, und der Kerl ist schuld!«

Voller Wut fuhr Selwyn herum, sah dem mit langen Schritten herankommenden Archie Slater entgegen und legte die Hand an den Revolver.

»Du verfluchter Säufer!« brüllte Selwyn. »Dafür knalle ich dich ab wie einen räudigen Hund! Was du angerichtet hast, wirst du mit deinem verpfuschten Leben bezahlen!«

»Laß stecken!« sagte Lawson eiskalt. Der Zureiter war im Sattel geblieben und hatte schon bei Lukes Geheul das Gewehr gezogen. Jetzt zeigte die Mündung auf Selwyns Rücken. »Selwyn, wenn hier jemand schuld ist, dann dein verrückter und gemeiner Bruder. Ich habe gesehen, wie er versucht hat, Howie abzudrängen und auf den Schwarzen eingeschlagen hat, der gemeine Halunke. Luke, du Strolch, du hättest Archie und den kleinen Joey um ein Haar auf dem Gewissen. Pfui Teufel, du bist nichts wert, aber auch gar nichts!«

»Das ist wahr«, meldete sich Howie. »Ich konnte nicht mehr halten, Luke hat mich absichtlich behindert. Archie trifft nicht die geringste Schuld.«

»Du lügst!« giftete Luke. »Archie, der Hundesohn, hat die Pferde verrückt gemacht, darum ist es passiert.«

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»Du Lump!« keuchte Archie. »Ich habe gesehen, was du gewissenloser Kerl getan hast. Um das verdammte Rennen zu gewinnen, hast du versucht, Howie gegen den Gehsteig abzudrängen und Little Joey zu überfahren!«

Luke Harris starrte ihn voller Haß an. Dann glitt sein Blick zu Jackson.

»Cannonball, schlag ihn in Stücke!« schrie er schrill. Cannonball sah sich nach Lawson um, ehe er sich in

Bewegung setzte. »Lawson, wenn du abdrückst, wirst du hängen«, sagte

Cannonball. »Ich werde diesem Säufer und Verleumder die Zähne einschlagen, und niemand wird mich daran hindern!«

»Vielleicht doch«, erwiderte Jim Lawson grimmig. »Mit deinen Fäusten kannst du Archie in Stücke schlagen, aber was ist, wenn er einen Revolver hat? Archie, paß auf!«

Lawson hatte sein Gewehr nur noch mit einer Hand gehalten, mit der Linken den Waffengurt geöffnet und warf ihn jetzt Archie zu. Der fing ihn auf.

»Das feige Stinktier kann doch keinen Colt mehr halten«, spottete Jackson. »Na los, Archie, schnall den Gurt um und zieh den Revolver! Ich will sehen, wie deine Hand zittert.«

Es war totenstill geworden. Niemand hier zweifelte daran, daß er den Gurt fallen lassen würde. Ganz Sulphur Springs hatte es erlebt, daß er damals, als eine Horde Banditen aufgetaucht war, die Stadt verlassen hatte. Slater war vorher bereit gewesen, Big John Warren zu helfen, aber dann hatte er das große Zittern bekommen und war davongelaufen.

Archie Slater starrte auf den Gurt herab, dann hob er langsam den Kopf und sah Cannonball Jackson an.

»Du willst es sehen?« fragte er leise. »Nun gut, Mister, du wirst es sehen.«

Er legte den Gurt um und schloß die Schnalle. Seine Rechte lüftete den Colt kurz an, doch er zog ihn nicht aus dem Halfter.

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»Cannonball«, sagte Selwyn Harris, »überlasse ihn mir, das ist meine Sache! Der Lügenbeutel beschuldigt und beleidigt Luke. Wenn ich mit ihm fertig bin, wird er nie mehr betrunken in der Gosse liegen.«

»Und wenn ich mit euch fertig bin, sitzt ihr im Jail und wartet auf Big John Warren«, antwortete Archie Slater. »Mir reicht es mit euch verdammten, gewissenlosen Burschen. Ich werde euch alle ins Jail bringen. Irgendwer muß es tun.«

»Archie, um Gottes willen!« meldete sich Judy Weiser in diesem Augenblick. Sie hatte sich durch die Menge gedrängt und hielt Little Joey fest. »Archie, Sie haben keine Chance, keine Schießerei, Archie! Das überleben Sie nicht.«

»Halten Sie sich heraus, Madam«, erwiderte Archie finster. Seine Stimme klang hart und kalt. »Lawson, wer hat das Rennen vorgeschlagen? Antworte, Mister!«

Lawson blickte Archie sprachlos an. Dann sagte er: »Luke wollte es so haben, aber Cannonball forderte es

heraus. Er sagte, Howie wäre zu feige, ein Rennen gegen Luke zu machen. Archie, ich habe sie gewarnt, aber niemand wollte auf mich hören.«

»Was fällt dir ein, Jim?« knurrte Howie finster. »Archie, hast du zuviel in die Flasche gesehen, Mann? Du glaubst doch nicht, daß du mich auch ins Jail bringst?«

»Du fliegst auch hinein, das ist ein Versprechen!« sagte Archie eisig. »Einmal mußte es soweit mit dir kommen«

»Der Kerl ist verrückt!« knirschte Selwyn Harris. »Howie, er bildet sich ein, daß er hier den Deputy spielen kann. Mensch, Archie, ehe du mich ins Jail bekommst, pumpe ich dich voll Blei! Das ist mein Versprechen, du elender Säufer.«

»Bilde dir ruhig etwas darauf ein, daß du ein Harris bist. Für mich bist du ein Großmaul – genau wie Howie«, gab Archie Slater knapp zurück. »Big John würde euch einlochen, wenn er hier wäre. Und es würde ihn den Teufel kümmern, ob er einen Harris oder McGruder in den Käfig sperrt. Jedesmal, wenn er

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nicht hier ist, laßt ihr die Hölle in der Stadt los – und alle habenAngst, etwas gegen euch Burschen zu tun, weil es dann Ärger mit euren Vätern geben könnte. – Los, Selwyn, den Gurt aufmachen!«

»Du bist nicht bei Verstand!« fauchte Selwyn Harris. »Dir werde ich die heilige Furcht einblasen, du Strolch. Wer bin ich – und was bist du, he? Ich zähle bis drei. Bist du dann nicht weg, jage ich dir eine Kugel in dein verrücktes Gehirn. Eins – zwei…«

Selwyn Harris sah die Leute auseinanderrennen und grinste spöttisch. Auch der vom Säuferwahnsinn befallene Narr Archie würde gleich die Beine in die Hand nehmen und davonlaufen, dessen war Selwyn sicher.

»Zweieinhalb…« Slater sah ihn aus schmalen Augen an und hielt die Hand

locker neben dem Revolver. Und die Hand zitterte nicht. »Drei!« Und dann riß Selwyn den Colt heraus. Er konnte sein

Gesicht nicht verlieren. Ein Harris durfte nicht nur drohen, er mußte seine Drohung auch wahrmachen.

* * *

Sie sahen alle, wie Selwyn Harris zuerst zum Revolver griff, und sie dachten, daß der Trunkenbold Archie Slater nun sterben würde.

In der gleichen Sekunde wischte die Rechte des Trunkenboldes Archie Slater einmal über die Hüfte. Die Hand führte nur eine Bewegung aus, die spielerisch leicht aussah und mit dem blitzartigen Einknicken Archies zusammenfiel.

Es war seltsam, daß der Trinker Archie Slater in diesem Moment keinerlei Angst mehr hatte, gar nichts empfand, nur tiefen Grimm. Archie zog und zielte kurz. So hatte er früher einmal geschossen – schnell, eiskalt und entschlossen, kein

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Pardon zu geben. Wenn schon schießen, dann schneller als der andere.

Es war wie früher. Und doch war es anders, denn Archie sah nur die Hand, Selwyns Colt. Er sah diesmal nicht auf die Brust oder den Kopf. Archies Zeigefinger deutete auf Selwyns Revolver, der Mittelfinger zog den Abzug durch.

Die es sahen, glaubten es nicht. Sie hörten das Krachen. Einige dachten sogar, daß es nicht Archie gewesen war, der zuerst geschossen hatte, aber er feuerte zuerst. Die Kugel traf Selwyns Revolver, ehe der die Waffe in der Waagerechten hatte. Ihr Anprall riß den Colt aus Selwyns Fingern. Der Hammer schnellte nach vorn, der Schuß peitschte in den ersten Archies hinein. Dann flog die Waffe im Bogen nach rechts und schlug im Straßendreck auf.

Selwyns rechter Arm war herumgerissen worden. Vom Handballen tropfte Blut in den Staub, Schmerz schoß durch die Hand bis in Selwyns Schulter. Entsetzt starrte Selwyn Harris auf die blutige Hand. Da sah er, daß der Daumen ganz nach hinten stand, als hätte ihn jemand mit aller Gewalt zurückgebogen. Harris hörte das Keuchen und hob den Blick, Cannonball Jackson riß die Waffe heraus. Er zog…

Und der Säufer stand still, nur die Hand fuhr kurz herum, der Blick heftete sich auf Cannonballs rechten Oberarm, der Zeigefinger deutete jetzt auf ihn.

Rumms! Diesmal irrte die Kugel nicht ab. Sie bohrte sich durch

Jacksons rechten Oberarm und riß den schweren Mann herum. Sein gellender Aufschrei hallte über die Straße. Dann fiel Cannonball Jackson der Colt aus der zitternden Hand. Cannonball taumelte, seine Linke hob sich, umklammerte den heftig blutenden rechten Oberarm.

»Noch jemand?« fragte der Säufer Archie eisig. »Du vielleicht, Howie?«

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Er blickte in Howies aschgraues Gesicht und an ihm vorbei zu Doc Maydland.

Der stand mit seiner Tasche am Rande des Gehsteigs und schüttelte nur den Kopf. In diesem Moment war ihm klar, daß es keinen Säufer Archie mehr geben würde, sondern nur noch einen Archibald William Slater, vor dem früher andere weggerannt waren.

»Doc, da ist Arbeit für Sie«, sagte der Mann Archie Slater kühl und gelassen. »Fangen Sie an, mein Freund!«

Der Mann Archie Slater setzte sich in Bewegung. Er ging auf Howie McGruder zu und nahm ihm den Revolver ab. Und Howie, das Großmaul, ließ es geschehen – er, ein McGruder, der noch vor wenigen Minuten auf Archie, den Säufer, gespuckt hätte.

»Ab mit dir – vorwärts, Howie, neben Selwyn!« Das klang so entschieden, daß Howie den Kopf einzog und

lostrottete. Archie blickte hinter ihm her – und dann sah er den Mann.

Er hielt zwischen Store und Sattlerei in der schmalen Einfahrt und hatte die Arme auf der Brust verschränkt. Big John Warren schien müde zu sein, denn er blinzelte schläfrig. Wie lange er dort schon stand und doch keinen Finger gerührt hatte, wußte Archie nicht. Und doch war er sicher, daß Big John Warren kaltblütig zugesehen hatte.

»Bring sie nur in den Käfig, Archie«, sagte Big John träge. Die Köpfe der Leute flogen herum. »Gute Arbeit, Archie!«

Es hatte nie zuvor in Archies Leben etwas gegeben, worüber er sich mehr gefreut hatte. Gute Arbeit, Archie – und das aus Big John Warrens Mund. Es war das höchste Lob, das Archibald William Slater jemals erhalten hatte.

Der Sheriff von Sulphur Springs ritt an. Das sah so aus, als wäre nichts geschehen. Doch er sagte sich, daß dies Archies Stunde war.

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Big John blieb sitzen und sah sie kommen. Das Gewehr lag über seinen Knien und er blickte den drei Männern, die nun von Norden die Mainstreet heraufritten, einen Moment entgegen. Dann nahm Big John Warren träge den Kopf herum und sah die nächsten vier Mann. Sie waren aus der Senke südöstlich von Sulphur Springs gekommen, und der Teufel hatte es gewollt, daß sie gleichzeitig mit jener anderen Gruppe in die Stadt ritten. Keiner hatte den anderen gesehen. Dafür sahen sie sich jetzt. John beobachtete, wie Lionel McGruder irgend etwas zu Don Walsh sagte. Danach trieb der Alte sein Pferd hart an, fegte zum Haltebalken vor Dempseys Mietstall und saß ab.

Im Norden sah sich Abraham Harris nach Monty Challenger und dem riesenfüßigen Einohr-Joe um. Danach ritt der Alte los, daß sein Ziegenbart wehte. Er hielt vor der Bäckerei von Cornells, saß ab und starrte, während seine Männer weit hinter ihm gehalten hatten, zu Lionel McGruder. Der blickte mit einem Gesichtsausdruck zu Harris, als müßte er sich übergeben.

Don Walsh hielt mit Bill Shivers und Jim Lawson etwa vierzig Schritt hinter McGruder. Big John Warren war klar, daß die beiden Alten genau die gleichen Befehle an ihre Leute gegeben hatten. Im nächsten Moment zog Lionel McGruder sein Gewehr aus dem Scabbard.

Abe Harris starrte McGruder so angewidert an, als wäre er ein ekelerregendes Ungeheuer. Dann riß Harris sein Gewehr genauso wild und wütend an sich, drehte sich um und ging zur Straßenmitte.

Vor McClures Hoteltür tauchte nun Nora McClure auf. Ihr braunrotes Haar glitzerte im Sonnenschein. Ihre grüngrauen Augen weiteten sich vor Schreck, und ihr kräftiger Busen hob und senkte sich heftig.

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John betrachtete sie mit dem Vergnügen eines Mannes, der viele erlebnisreiche Stunden mit ihr erlebt hatte und noch möglichst viele genießen wollte. Wahrscheinlich hätte Nora McClure niemals geheiratet, da sie ihren Bruder Charlie zu versorgen und ihr Hotel zu führen hatte. Für John war es unglaublich gewesen, daß eine vierunddreißigjährige Frau noch nie einen Mann gehabt haben sollte. Nach der ersten Nacht mit Nora hatte er gewußt, daß sie viel mehr besaß als nur eine erstklassige Figur. Er hatte ihre Leidenschaft in einer Nacht geweckt, und es stand fest, daß er sie eines Tages heiraten würde.

Es hatte viele Frauen in John Warrens Leben gegeben, junge, sehr junge und auch ältere, aber keine war wie Nora gewesen. Sie schien sich all ihre Gefühle für nur einen Mann – ihn – aufgehoben zu haben. Sie war kein junges Ding mit Flausen und Rosinen und wenig Verstand im Gehirn. Was sie tat, das tat sie ganz und mit völliger Hingabe, und er hatte sich gesagt, daß die alte Wahrheit bestätigt worden war: eine Frau mußte erst in den Dreißigern sein, wenn sie richtig zu lieben verstehen wollte.

Charlie McClure erschien hinter ihr, wurde immer bleicher und schickte einen entsetzten Blick zu John hinüber. Doch der blinzelte weiter müde und gelangweilt vor sich hin.

Währenddessen kamen sich Abe Harris und Lionel McGruder immer näher. Sie waren noch achtzig Yards voneinander entfernt, als sie stehenblieben. Es war die beste Distanz für einen tödlichen Gewehrschuß.

Sulphur Springs war ihre Stadt. Sie gehörte den McGruders vielleicht etwas mehr, aber das machte nicht viel aus. Was etwas ausmachte, war die Tatsache, daß sie sich nicht um den Sheriff kümmerten. Er war ihr Sheriff, von dem jeweiligen Anhang gewählt und folglich von ihnen abhängig.

»Jetzt rechne ich mit dir ab, Abe!« drohte McGruder. »Wenigstens bist du nicht so feige gewesen, wegzurennen,

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obwohl du mir bis jetzt nur deine angeworbenen Heckenschützen auf den Hals geschickt hast!«

»Was habe ich, du Wasser- und Viehdieb?« brüllte Abe Harris los. »Du hast schon immer gelogen, aber du wirst nie mehr lügen, sobald ich mit dir fertig bin!«

John Warren schwieg. Er hätte viel sagen können. Er hätte sie fragen können, ob sie sich wirklich einbildeten, daß er ihr Mann war. Sie wußten längst, daß er es keine Sekunde gewesen war, aber anscheinend hatten sie sich das eingeredet. Und jetzt besaßen sie die Unverschämtheit, ihn zum Zeugen ihrer endgültigen Abrechnung zu machen. Da war der ständige Streit um die Wasserstelle gewesen. Da hatte es vergiftetes Wasser, gestohlene Rinder und zerschnittene Zäune gegeben – wechselseitig. Es mußte irgendwann zur Explosion zwischen ihnen kommen. Daß es hier dazu kam, hatte John vorausgesehen.

»Jetzt hört gut zu, ihr Narren«, sagte John Warren träge. »Und du siehst besser genauer her, Abe, ehe du ganz überschnappst!«

Abe Harris zuckte zusammen und schrie dann wild: »Du verdammter Kerl, zeigt etwa dein Gewehr auf meinen

Bauch?« »Ich glaube schon«, erwiderte der Sheriff gelassen. »John, zur Hölle mit dir!« brüllte McGruder. »Was soll das?

Warum zielst du verdammter Strolch auf Abe? Das Loch in seinen Bauch mache ich, kapiert?«

»Tatsächlich?« fragte John spöttisch. »Sieh dich mal um, Freund McGruder – zum Dach von Charlies Hotel!«

Die Köpfe flogen herum. Einige Leute – bis jetzt hatte sich niemand sehen lassen, die Stadt war wie ausgestorben gewesen – öffneten die Fenster, blickten zum Dach von Charlies Hotel. Auch Lionel McGruder tat es, fuhr herum und stieß einen greulichen Fluch aus, weil er den Gewehrlauf in der Dachluke entdeckt hatte. Die Mündung zeigte auf ihn.

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»Hölle, Pest und Verdammnis, wer wagt es, auf mich zu zielen, John?«

»Jemand, dem ich den Befehl gegeben habe, dich notfalls niederzuschießen«, antwortete John Warren scharf. »Ehe einer von euch Narren auf den anderen schießen kann, erwischt ihn eine Kugel. Und daran ändern auch Einohr-Joe und Don Walsh nichts. Sie könnten es nicht verhindern, sie würden vielleicht sogar dafür sorgen, daß wir nicht mehr genau zielen können und ihr beide tot auf der Straße liegenbleibt, wenn sie etwas versuchen. Ihr werdet eure Waffen jetzt mitten auf der Straße ablegen und danach ins Office kommen! Sobald ich das Geld für den von euren Söhnen angerichteten Schaden habe, könnt ihr die Burschen mitnehmen – keine Sekunde früher. Das ist alles, und nun versucht mal etwas.«

»Mensch!« grollte McGruder. »Bist du des Teufels? Du stellst dich uns in den Weg? Du bist die längste Zeit Sheriff gewesen!«

»Ja, das bist du!« schrie Abe Harris wütend. »Geh zur Hölle! Ich werde dafür sorgen, daß dich kein Mensch in diesem County wählt. Das wagst du nicht, Bursche, du läßt nicht schießen. – Er blufft, der elende Kerl!«

»Findet es heraus«, gab John kalt zurück. »Keine Schießerei in dieser Stadt – habt ihr das nicht euren Männern befohlen? Und was macht ihr? Eure Söhne tragen Wagenrennen durch die Stadt aus und bringen das Leben anderer Menschen in Gefahr. Die Waffen ablegen, oder ihr erlebt etwas!«

»Ehe ich meine Waffen abgebe, will ich lieber sterben«, zischelte Lionel McGruder. »Nun gut, ich werde für den Schaden zahlen, aber mehr erwarte nun nicht, du Narr. Ich will nichts gegen das Gesetz tun, doch das schwöre ich dir: dies ist dein letzter Sheriffstern gewesen.«

»Ja«, gab Abe Harris seinen Senf dazu. »Niemand soll sagen, ich hätte das Gesetz nicht geachtet, ich habe immer

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Respekt davor gehabt. Und ich will es nicht, daß irgendwer durch eine Schießerei verletzt wird.«

Sie waren alt, gerissen und listig wie erfahrene Füchse. Jeder erkannte sofort die sich ihm bietende Chance. Beide beeilten sich zu versichern, daß sie immer schon das Gesetz befolgt hätten. Und doch wußte John Warren, daß sie froh waren, um eine Schießerei herumgekommen zu sein. Ihre Worte hatten dafür gesorgt, daß sie ihr Gesicht nicht verloren.

Für John Warren begann die Arbeit. Er kannte den krankhaften Geiz von Harris und machte sich auf ein hartes Feilschen um jeden Dollar Schadenersatz für Dempsey bereit. Was der alte Abe Harris seinem Sohn Luke erzählen würde, konnte John sich vorstellen. Der Alte würde Gift und Galle spucken – aber schließlich doch nach Hause reiten.

* * *

Lionel McGruder blickte seinem jüngsten Sohn wütend nach. Harris hatte sich einen Wagen geliehen, um Luke nach Hause zu schaffen. Er und die Männer waren längst unterwegs. Howie ritt mit Jim Lawson und Bill Shivers davon, während Walsh mit unbeweglichem Gesicht bei den Pferden stand.

Er lernt es nicht, dachte Lionel McGruder und biß sich auf die Unterlippe. Dieser verdammte Bursche Howie wird sich noch eines Tages den Hals brechen. Fährt mir den Vierhundert-Dollar-Buckboard zusammen. Auslösen muß ich ihn, bezahlen, weil er nichts als Dummheiten im Kopf hat. Der Teufel soll ihn holen. Das hätte ich mit Matt nie erlebt, nichts von dem, was Howie schon alles angerichtet hat. Matt hätte sich nicht provozieren lassen, der nicht. Der hätte ihnen etwas vor das Maul gehauen, aber niemals das Eigentum seines Vaters in Gefahr gebracht.

Der Alte griff in die Brusttasche, um eine Zigarre herauszuziehen, stellte aber fest, daß er keine bei sich hatte.

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»Walsh, du bleibst hier!« sagte er mürrisch. »Wir reiten gleich, warte auf mich!«

Er wartete die Antwort des Revolvermannes nicht ab, ging wütend zum Store, mußte am Office vorbei und warf dem auf dem Stuhl vor der Tür sitzenden John Warren einen vernichtenden Blick zu. Das breite Grinsen Johns machte den Alten noch wütender, so daß er mit Riesenschritten weiterging und gegen die halb offenstehende Ladentür trat.

Im nächsten Moment ertönte ein heller Schrei, etwas klirrte laut, und Lionel McGruder blieb erschrocken stehen. Die Tür hatte irgendwen im Herumfliegen getroffen. Im ersten Augenblick glaubte der Alte, daß er einer Frau die Tür in den Rücken getreten hatte. Während er in den Store trat, sah er den Schemel umgestürzt am Boden liegen. Dann sah er den zerbrochenen Deckel eines Glases, in dem Lutscher waren und das dicht an der Tresenkante stand. Das Glas war heil geblieben, nur der Deckel lag zertrümmert neben dem umgekippten Schemel und dem Dreikäsehoch auf den Dielen.

Der Junge richtete sich auf, hielt seinen Daumen in die Höhe und betrachtete mit zuckenden Mundwinkeln den Blutfaden, der vom Daumen über die Handfläche rann. Er mußte den Deckel gerade abgehoben haben, als die Tür gegen den Schemel geprallt war. Anscheinend hatte er sich an den Splittern des Glasdeckels geschnitten. Der Alte zerrte hastig sein Taschentuch heraus, bückte sich und faßte nach der Hand des Jungen.

»Hallo, Kid«, sagte Lionel McGruder. »Da habe ich die Tür wohl etwas zu heftig aufgemacht, wie? Zeig her! Ah, das hast du, wenn du Großvater bist, längst vergessen. Tut’s weh?«

»Nein, Mister, es brennt bloß etwas.« Der kleine Kerl stand mit dick umwickeltem Daumen vor

dem stämmigen Alten und schluckte. Von seiner Mutter oder Judy Weiser war nichts zu sehen.

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»Du bist ein tapferer Bursche«, sagte Lionel McGruder. Er dachte besorgt daran, was hätte passieren können, wenn der Junge mit dem Gesicht in die zackigen Glassplitter gefallen wäre.

»Na, du weinst doch nicht? Komm mal her, Söhnchen! Nicht heulen, bekommst auch eine ganze Handvoll Lutscher.«

»Ein Mann weint nicht«, sagte der Bengel ernsthaft und ließ sich auf den Tresen heben. »Das ist nichts, worüber ein Mann weinen müßte, Sir.«

Lionel McGruder mußte lachen, strich dem Dreikäsehoch über das lockige dunkle Haar und griff dann in das Glas.

»Da hast du recht, Söhnchen, ein Mann weint nicht – niemals. Wer hat dir das denn beigebracht?«

»Mein Vater, Sir.« »So?« fragte der Alte, und er erinnerte sich plötzlich an

jemand, dem er einmal dasselbe gesagt hatte, nachdem er ihn mit ausgekugeltem Arm nach dem Sturz bei seinem ersten Ritt aus einem Haufen Kakteen gefischt hatte. »So? – Nun, wie heißt du denn, Söhnchen?«

»Barry, Sir.« »Barry?« murmelte Lionel McGruder. »Und – und wie

weiter? Wer ist denn dein Vater, Barry?« »Ich heiße Barrymore McGruder, Sir«, sagte der Bengel mit

heller Stimme. »Oh, die schönen Lutschstangen, Sir, sie sind ja alle zerbrochen!«

Lionel Barrymore McGruder öffnete ganz langsam die Hand. Eine Sekunde hatte sie sich zusammengepreßt und die Lutschstangen zerbrochen. Der alte Mann blickte auf die herabgefallenen bunten Lutscher, dann hob er den Kopf und sah den Jungen an. Lionel McGruder hatte plötzlich einen dicken Kloß im Hals und ein leichtes Zittern in seinen Knien. Er blickte auf das Haar des Jungen und sah ihm danach in die grauen Augen – und er schwieg, der alte Löwe und Narr. Er schwieg und schluckte einen vermeintlichen Kloß hinunter.

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»So, so«, sagte er dann hüstelnd. »Du heißt Barrymore McGruder?«

»Ja, so heiße ich«, antwortete der kleine Barrymore McGruder dem alten Löwen. »Und wie heißt du, Sir?«

»Ich? Wie ich… Wie – was?« stotterte der Alte und kämpfte schon wieder mit dem verdammten Kloß im Hals. »Wie ich heiße? Ich – ich heiße Großvater, weißt du?«

So was, dachte der Alte, Barrymore hat der Lümmel ihn genannt. Natürlich hat er ihn so genannt, schließlich hockte er immer bei seinem Großvater, dieser Bursche. Oder sollte er daran gedacht haben, daß sein zweiter Vorname genauso wie meiner ist: Barrymore?

»Du heißt Großvater?« fragte der kleine Barrymore. »Heißt du wirklich nur Großvater?«

»Ja, Söhnchen«, erwiderte der alte Löwe. »Bestimmt?« wollte der Dreikäsehoch wissen. »Mein

Großvater sieht aber anders aus. Meine Mutter nennt ihn immer Dad, aber ich sage Großvater.«

»Ja – so?« brummelte der Alte und nahm den kleinen Kerl auf den Arm. »Hast du – äh – hast du nur den einen Großvater?«

»Nein, ich habe noch einen, aber er hat schrecklich viel zu tun und ist nie zu Hause, sagt meine Mam. Manchmal ist er auch krank.«

»Krank?« wiederholte der wilde McGruder. »So – krank ist er auch? Das sagt wohl dein Vater, wie? Krank – so was! Als wenn ich jemals krank…«

Er hüstelte wieder, der alte Löwe, blinzelte eulenhaft. »Kannst du schon reiten, Söhnchen?« »Nein, Großvater, nur wenn Dad das Pferd führt. Allein darf

ich nicht reiten. Meine Mam hat Angst, ich könnte herunterfallen. Aber ich bekomme bald ein Pony und einen kleinen Sattel und – und richtige Stiefel, sagt mein Großvater.«

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»So? Sagt er das, dieser Barbier, der anderen Leuten den Bart… Nun ja, sagte er das, dein Großvater? Einen kleinen Sattel und Stiefel? Will er dir wohl kaufen, oder?«

»Ja, wenn ich fünf Jahre alt bin, Großvater-Sir.« »So, so«, machte der alte Löwe und fühlte, wie der Zorn in

ihm zu wühlen begann. Was verstand denn so ein Bartschaber schon von einem richtigen Pony und einem anständigen Sattel? »Möchtest du ein Pony haben und feine Stiefel? Solche, wie dort im Regal? Und vielleicht einen Sattel, einen Sattel, einen richtigen feinen Sattel, wie es keinen schöneren für meinen Enkel – äh, für dich geben könnte? Na, wollen wir mal sehen, ob dir die feinen Stiefel passen?«

»O ja, Großvater-Sir, das möchte ich schon gern haben. Aber bis ich fünf Jahre alt bin, ist es noch schrecklich lange hin, glaube ich.«

Der Alte setzte den Jungen kurzerhand auf den Tresen, zog ihm die Schuhe aus und nahm die kleinen Stiefel aus dem Regal.

Teufel noch mal, dachte der Alte, wie seine Augen blitzen, was? Hat noch nicht mal Stiefel, der Junge. Die hier, die passen ihm, wenn sie auch nicht gerade das sind, was sie sein sollten. Immerhin, so schlecht sind sie nun auch wieder nicht. Mal sehen, was sie für eine Nummer haben, dann lasse ich ihm ein Paar machen.

»Na, Söhnchen, kannst du in ihnen gehen? Komm mal, probier’s mal aus, geh mal ein Stück!«

Der kleine Barrymore McGruder stand anfänglich, unbeweglich und stolz auf seine Stiefel blickend, vor dem Tresen. Dann machte er ein paar Schritte. Schließlich rannte er und hielt mit blitzenden Augen vor seinem Großvater an.

»Na, Söhnchen, gefallen sie dir, deine Stiefelchen? Jetzt mußt du nur noch die richtige Hose und eine feine Weste dazu haben. Da hängen die Hosen, dort liegen die Hemden. Na, nun suchen wir uns mal was aus, wie?«

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Dem werde ich’s zeigen, dachte der alte Löwe, diesem Bartschaber. Ich bin schließlich auch noch da. So, her mit den Hosen, dem Hemd und der Weste. Du wirst sehen, es wird schon passen. Habe ja oft genug für seinen Vater Sachen aussuchen müssen, nachdem er keine Mutter mehr hatte und Howie so klein wie dieser Bursche hier war.

»Siehst du, Söhnchen, das nimmst du mit nach Hause, und die Lutscher packe ich auch noch dazu. Sieh mal her, eine kleine Peitsche! Die möchtest du wohl, oder? Und dein Pony, das bekommst du und einen Sattel, einen richtigen feinen Sattel, Söhnchen. Ich kaufe dir ein Pony, ich, der Großvater, hörst du?«

Der Junge stand auf dem Tresen und sah den seltsamen Großvater hin und her springen, hörte ihn leise lachen, bis das Lachen jäh erstarb, der Alte stillstand und sich umblickte, weil Stimmen laut wurden, Schritte näher kamen.

Da stand er, der alte Löwe, drückte sich in die Ecke hinter dem Regal und sah durch die Regalbretter die beiden Frauen kommen. Blond die eine, dunkelhaarig die andere, schlank, blau die Augen.

»Barry, was soll das? Um Gottes willen, Mrs. Weiser, wie kommt der Junge auf den Tresen? Was sollen die Sachen neben ihm? Himmel, so viele Lutscher! Barry, du durftest dir das alles doch nicht nehmen. Sagen Sie, Mrs. Weiser, haben Sie ihm das etwa erlaubt? Barry, Junge, was hast du nur gemacht? – Das hat er noch nie getan, glauben Sie mir, Mrs. Weiser. Ich weiß gar nicht, was in den Jungen gefahren ist. Was hat er denn am Daumen? Barry, was hast du angestellt?«

»Das war ich!« Der alte Löwe trat hinter dem Regal hervor. Der Boden

dröhnte, als er kam, die Frau ansah, die ihm seinen ältesten Sohn weggenommen hatte. Sie war gerade vor Verlegenheit blutrot geworden – jetzt wurde sie blaß, genauso wie Judy Weiser.

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»Was ist das für eine Art?« polterte der Alte los. »Man läßt doch so einen kleinen Burschen nicht allein auf Schemel klettern, dazu noch neben der Tür. Ich habe ihn vom Schemel gestoßen, als ich die Tür aufmachte. Dabei hat er sich am Glasdeckel geschnitten. Hätte sich ja sonstwas aufschneiden können. Die Stiefel habe ich ihm angezogen, verstanden? Und die Sachen da, die sind für ihn. Und ein Pony bekommt er von mir und auch den richtigen Sattel, verstanden? Den Jungen allein auf Schemel steigen zu lassen – so was! Zigarren, Judy – meine Sorte!«

Herr im Himmel, kann ich brummen. Und wie sie dasteht, blaß, zu Tode erschrocken. Barbierstochter – mexikanische Eltern. So sieht sie also aus. Nun ja, schlank, blaue Augen, schwarzes Haar – verteufelt hübsch.

»Na, wo bleiben meine Zigarren, Judy? Alles auf meine Monatsrechnung, verstanden?«

»Er braucht ein ordentliches Pflaster!« raunzte der Alte weiter. »Na, was ist, bekommt er bald ein Pflaster? Ah, endlich, meine Zigarren!«

»Sir…« »Was?« knurrte er und fuhr herum, warf das Streichholz auf

den Boden und sah die Frau an, die ihm den Sohn einfach so mir nichts dir nichts gestohlen hatte. Verdammte Tat!

»Sir, ich – ich wollte…« »Na, was denn?« .. »Ich – ich hoffe, Matt nimmt das an, Sir. Er hat seinen

eigenen Kopf, fürchte ich. Damals. Ich habe ihn weggeschickt. Ich wußte, daß Sie es nicht zulassen würden. Schließlich bin ich von zu Hause fortgegangen, weil ich dachte, er würde mich vergessen, aber er kam mir nach. Ich wollte ihm kein Unglück bringen, Sir. Matt trifft keine Schuld, Sir, ich hätte noch weiter fortgehen sollen. Sir, er ist ein guter Mann. Einen besseren Vater könnte kein Junge auf dieser Welt haben, aber etwas fehlt ihm, Sir. Er kann noch so glücklich sein, etwas wird ihm

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immer fehlen, verstehen Sie, Sir? Sie mögen mich hassen, aber nicht ihn, Sir, das – das verdient er nicht, Sir. Er will seinem Bruder nichts nehmen, bestimmt nicht. Und ich – ich zähle nicht, ich will gar nichts für mich, ich bitte nur für meinen Mann, Sir. Niemand weiß so gut wie ich, was ihm fehlt. Er ist so stolz, Sir, und Sie sind so stolz, das weiß ich, aber – Sie haben ihm etwas voraus: die Weisheit, Sir, die man nur in einem ganzen Leben erwerben kann. Ich will beten, daß er es annimmt.«

»So, – meinst du?« grollte der alte Löwe und trat vor sie hin. »Meinst du, ich wäre weise? Hast Mut, sehe ich. Liebst ihn wohl sehr, ja?«

»Ja, Sir.« Da hatte sie die Augen voll Tränen. »Na, na!« sagte er. »Kann heulende Frauen nicht leiden,

verstanden?« Einen Moment sah es so aus, als würde er sie in seine Arme

nehmen. Dann drehte er sich abrupt um, packte seine Zigarren, stampfte zur Tür und verließ den Laden.

»Du großer Geist!« entfuhr es Judy Weiser. »Clarissa, ich glaube, ich habe geträumt.«

Draußen verklangen die Schritte. Die Tür von O’Connors Sattlerei fiel hart ins Schloß.

Clarissa McGruder zitterten die Knie.

* * *

Ich werde verrückt, dachte Bill Shivers und starrte das Pony, das Lawson aus Bowie geholt hatte, wie ein achtköpfiges Wunder an. – Ein Pony? Zuerst schickt er Rocky in die Stadt, um einen Kindersattel zu holen. Und was für einen Sattel. Den hat er nun schon drei Tage in seinem Zimmer neben dem Schreibtisch liegen. Und nun noch das, Pony!

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Der Alte nahm das Pony am Zaumzeug und lief ein Stück mit ihm.

»Wirklich lammfromm, Lawson?« »Ja, Boß. Brian Hodges ließ zuerst seine Tochter reiten,

dann holte ich eins der draußen spielenden Kinder und hob es in den Sattel. Das Pony ist wirklich lammfromm, Boß.«

»Gut«, sagte der Alte. Er stand in seinem grauen Anzug und mit blanken Stiefeln am Vorbau. »Walsh – Howie!«

Howie hatte das Pony genauso verrückt angestarrt wie alle anderen. Vor drei Tagen hatte Howie wissen wollen, für wen denn der Sattel eigentlich wäre. Der Alte hatte ihn angebrüllt, er solle sich gefälligst um seinen eigenen Dreck kümmern.

»Howie«, knurrte der alte Löwe, »du reitest mit Don Walsh in die Stadt und bestellst einen neuen Buckboard bei Winters! Eigentlich sollte ich dir das Fell gerben, statt einen neuen Wagen zu bezahlen. – Walsh, du paßt auf, daß er nichts anstellt. Sollte ihm wieder das Fell jucken, bremst du ihn mit jedem Mittel – mit jedem, verstanden?«

»Ja, Sir.« »In Ordnung.« Lionel McGruder nickte. »Mein Pferd! –

Bill, ich reite fort und komme wahrscheinlich erst morgen wieder.«

»Lionel, du wirst doch wohl nicht allein reiten?« fragte Bill Shivers bestürzt. »Was ist, wenn wieder jemand auf dich schießt?«

»Ich reite schließlich am Tag und nicht nachts«, fuhr ihn der Alte schroff an. »Das feige Stinktier hat sich nur nachts zu schießen getraut. Ist mein Pferd vielleicht bald hier?«

Lionel McGruder verschwand im Hause, um sein Gewehr zu holen. Sie blickten ihm nach und rätselten alle, was ihm jetzt wieder eingefallen sein mochte. Als er herauskam und auf sein Pferd stieg, gab er auch keine Erklärung ab. Er ritt an, das Pony an der Longe, und entfernte sich in südlicher Richtung. Erst in diesem Moment kam Bill Shivers ein Gedanke, doch er

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hielt ihn für zu verrückt, als daß etwas daran sein konnte. Lionel McGruder hatte sich in seinem Leben weder jemals für etwas entschuldigt, noch hatte er auch nur einmal nachgegeben.

* * *

John Warrens Unbehagen wuchs, als er den hageren Mann im dunklen Anzug aus Rossmans Saloontür in die Sonne treten sah. Der Mann hatte die dunkle Jacke geöffnet, die goldene Uhrkette blinkte über seiner Weste, und er setzte sich auf den Stuhl rechts neben der Tür.

Anscheinend hatte er sein Mittagessen hinter sich, er schien die Sonne zu genießen und blickte schläfrig über die Straße.

»Na, wie gefällt er dir?« fragte Archie Slater in Warrens Rücken. Der Sheriff stand am Fenster seines Offices, bereit, zu Nora McClure hinüberzugehen und mit Archie zu Mittag zu essen.

»Wie gesagt, er kam gestern am späten Nachmittag auf einem Bermudian-Falben, der ziemlich staubig war. Und er ritt an McClures Hotel vorbei, um bei Rossman abzusteigen.«

Warren war erst vor einer Stunde aus Bowie zurückgekommen, wo es Streit zwischen einigen Leuten gegeben hatte. Der Mann drüben streckte die langen Beine aus und lehnte sich zurück. Er hatte seinen Hut tief in die Stirn gezogen, um nicht von der Sonne geblendet zu werden.

»Ein Typ wie Don Walsh«, stellte Warren kurz fest. »Was will er hier? Auf wen wartet er?«

»Ich wollte ihn nicht fragen«, antwortete Archie und zupfte an seinem neuen dunkelroten Halstuch, das ihm Judy Weiser morgens umgebunden hatte. »John, das ist ein Killer, und jeder scheint es zu wissen. Ich dachte, ich sollte warten, bis du zurück bist.«

Archie Slater trug den Deputystern an der dunkelbraunen Lederweste über seinem gelben Hemd und schnippte einen

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Wollfaden von seiner gebügelten Hose. Der ehemalige Säufer hatte seit neun Tagen kein Glas mehr angerührt. Er ging aufrecht, der Sympathie der Bewohner von Sulphur Springs sicher, seine Runden, wenn er John Warren ablöste. Daß er Little Joey gerettet hatte, würde ihm niemand vergessen.

»Geh schon voraus, ich komme nach«, sagte John Warren. Er nahm sein Gewehr, lud durch und wartete, bis Archie draußen war. Der Mann auf Rossmans Vorbau hob kaum den Kopf, und dennoch war Big John sicher, daß der Mann Archie beobachtete und alles sah, was sich auf der Mainstreet tat. Der Fremde blieb wie dösend sitzen, als John die Straße überquerte. Die Hände des Mannes lagen gefaltet auf dessen Gurtverschluß, und er verharrte stur in dieser Haltung, als der Sheriff neben ihm stehengeblieben war.

»Hallo, mein Freund«, sagte John träge. Sein Gewehr zeigte mit der Mündung zur Erde. »Auf der Durchreise, Mister…«

»Hallo, Sheriff«, antwortete der Mann freundlich. »Ja, auf der Durchreise. So könnte man es nennen.«

Hinter der Freundlichkeit verbarg sich Kälte, das spürte John fast körperlich.

»Einen Namen haben Sie auch, oder?« erkundigte sich John gemütlich. »Ich weiß immer ganz gern, wer sich in dieser Stadt aufhält. Also?«

»Campbell«, murmelte der hagere Mann. Er hob den Kopf und lächelte, seine Augen jedoch blieben kalt, und das Lächeln wirkte wie einstudiert und gefroren. »Lacy Campbell, Sheriff. Ich sitze nur so herum und werde irgendwann wieder fortreiten. Genügt das, mein Freund?«

»Wenn Sie fortreiten und keine Arbeit für den Totengräber hinterlassen, ist es in Ordnung«, antwortete John etwas schärfer. »Campbell – Lacy Campbell? Waren Sie mal in New Mexiko?«

»Ja«, lautete die gleichmütige Antwort. »Dort war ich auch schon, Sheriff.«

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»Ich erinnere mich, von Ihnen gehört zu haben«, sagte Warren. »Wenn ich mich nicht irre, stammen Sie aus Laredo, Texas, ja? Sie haben für einige Minenbosse in Colorado gearbeitet, und dann sind Sie für dieselben Leute in New Mexiko geritten. Campbell, wenn Sie in dieser Stadt jemanden töten, so könnte es das letzte sein, was Sie in Ihrem Leben tun. Haben wir uns verstanden?«

»Ich bin nicht taub«, gab Lacy Campbell zurück. Sein schmallippiger Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. »Außerdem bin ich der friedlichste Mensch der Welt, Sheriff.«

»Genauso sehen Sie aus, Mister. Und Ihren Fünfundvierziger da tragen Sie zum Spaß, wie?« entgegnete Warren verächtlich. »Campbell, falls dieser Narr Abe Harris Sie angeworben haben sollte, bleiben Sie friedlich und bestellen Sie ihm, daß er sein Geld verschwendet hat!«

Big John machte auf dem Absatz kehrt, denn Campbell lächelte nur und zuckte die Achseln. Die ganze Art dieses Mannes verriet John, daß dieser Kerl nichts von einem Ordenträger hielt. Der hatte vor keinem Respekt.

Das Unbehagen Warrens hatte sich zum leichten Zorn gesteigert, als er ins Hotel kam und sich zu Archie an den Tisch setzte.

»Er heißt Campbell«, klärte er Slater auf, ehe der neugierig fragen konnte. »Lacy Campbell. Hast du von ihm gehört?«

»Nein, John. Wer ist der Bursche?« »Jemand, der fast in jeder Stadt, in der er war, einen Toten

oder Zusammengeschossenen zurückgelassen hat«, antwortete Big John grimmig. »Er vermietet gewöhnlich seinen Revolver. Die Campbells haben mit dem Brassada-Krieg in Texas zu tun gehabt – eine verdammt schießwütige Sippe aus Brüdern, Vettern und Anverwandten. Die Hälfte der Campbells starb im Brassada- Privatkrieg, er blieb mit zwei oder drei Brüdern und

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Vettern übrig. Der Kerl ist mir auf den Magen geschlagen, Archie, ich mag die Sorte nicht.«

Nora McClure war hereingekommen, stellte die Teller hin und sah Warren besorgt an.

»John, glaubst du, er ist von jemandem geholt worden?« »Ja«, sagte Big John, »ein Mann wie Campbell kommt nicht

zufällig in eine so kleine Stadt. Mach dir keine Sorgen, Nora, ich werde mit ihm fertig.«

»Ich bin auch noch da«, sagte Archie. »Mir kann der Bursche nicht den Appetit verderben. Ob Harris ihn…«

»Kann sein«, unterbrach Big John. »Sieh dich vor, Archie! Der Bursche könnte dir den Hunger für alle Zeit nehmen. Blei liegt einem manchmal so schwer im Magen, daß man daran stirbt. Nichts ohne mich tun, verstanden?«

John Warren stand noch einmal auf und blickte aus dem Fenster. Die Sonne schien auf Campbells lange, dürre Beine. Der Mann lag friedlich dösend in seinem zurückgekippten Stuhl. John ahnte, daß der Bursche dennoch Ärger machen würde. Campbell wartete auf irgendwen.

* * *

Don Walsh sah nicht mehr zur Hickorybohle, aus der Winters das Untergestell des Wagens machen wollte. Der Revolvermann sah den Schatten, den Mann an der Schuppenecke stehen und die offene Jacke.

»Walsh?« fragte der Fremde mit dem Fünfundvierziger im schwarzen Halfter. »Du bist Walsh – Don Walsh?«

Winters ließ die schwere Holzbohle langsam sinken. Howie McGruder drehte sich ruckartig um. Irgend etwas an der Haltung von Walsh erinnerte Howie plötzlich an ein Raubtier, das einem anderen gegenübersteht und ihm die Zähne zeigt. Howie McGruders Blick wanderte herum, bis er den Fremden voll erfaßte.

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Mein Gott, dachte Howie, ein Killer! Wenn Walsh ein Eisblock war, dann war der Mann an der

Schuppenecke von Winters ein Gletscher, dessen Kälteausstrahlung Howie zu spüren glaubte.

»Ja«, sagte Walsh, und er war nicht mehr der Mann, der noch vor wenigen Minuten mit Howie über den Buckboard und Rennpferde gesprochen hatte. Irgendwie hatte sich Don Walsh verändert. »Und, Mister, was willst du?«

»Ich soll dich grüßen«, erwiderte der Mann an der Ecke und bewegte sich träge wie eine satte Schlange, machte jedoch nur einen halben Schritt vorwärts. »Jemand braucht dich zum Stiefelputzen, Walsh: mein Bruder Terry! Oder erinnerst du dich nicht mehr an Santa Rita in New Mexiko?«

Howie sah, wie Walsh erstarrte, wie er einige Sekunden, reglos und blaß werdend, am anderen Ende des Holzstapels stand, bis er sich leicht zusammenkrümmte. Terry, dachte Howie McGruder, Terry Campbell. Dann muß das Lacy Campbell sein, der Mann, dem Walsh aus dem Wege gehen wollte.

»Ich erinnere mich«, sagte Walsh. »Du hast mich also gefunden, Campbell. Und was willst du? Dasselbe wie dein Bruder Terry? Langsam, Campbell, mach nicht denselben Fehler. Es war Terrys Schuld, nicht meine.«

»Er hatte nie eine echte Chance gegen dich«, zischte Campbell. Seine Augen waren ausdruckslos wie die einer Giftschlange. Seine Hand schwebte über dem geriffelten Kolben des Fünfundvierzigers.

»Ich habe ihn gewarnt, Campbell, er wollte nicht hören.« »Er war zu jung«, sagte Campbell. »Er hatte keine Chance.« »Jung – zu jung?« knurrte Walsh. »Er war ein ausgemachter

Satan, alt genug, um sich wie ein Wolf zu gebärden. Ich warne dich, Campbell. Versuche es nicht auch noch!«

»Hast du Angst?« erkundigte sich Campbell abfällig. »Du hast Angst. Warum bist du auch Hals über Kopf aus New

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Mexiko verschwunden. Niemand wußte, wohin du geflohen warst, wo du dich verkrochen hattest. Du hast dich vor mir versteckt, du Feigling. Das ist die Wahrheit, denn du hattest von mir gehört. Du konntest dir ausrechnen, daß ich kommen und mit dir abrechnen würde. Ein kleines Nest in Arizona, wo sich selten jemand hinverirrt, wie? Der richtige Platz für jemanden, der Gras über eine Sache wachsen lassen muß, der…«

»Don!« rief Howie McGruder. »Laß dich in nichts ein! Der Kerl will dich nur reizen. Denke an den Befehl meines Vaters!«

Campbells Blicke schienen Howie förmlich aufzuspießen. »Halt’s Maul, Kid«, knurrte Campbell. »Misch dich nicht

ein, wenn Männer reden!« »Was soll ich?« schnappte Howie. »Mann, verschwinde aus

dieser Stadt und diesem Land! Du weißt wohl nicht, wer ich bin? Ich soll das Maul halten, ich? Du Narr, dies ist unsere Stadt.«

»Sagtest du Narr?« zischte Campbell. »Mit dir befasse ich mich, sobald ich mit dieser zweibeinigen Ratte fertig bin, die meinen guten Bruder kaltblütig abgeknallt hat. – Nun los, Walsh, du Ratte, zieh endlich!«

»Nein«, sagte Walsh leise. »Nein, Mister, ich werde…« Walsh drehte sich langsam und sah aus den Augenwinkeln,

wie die Hand Campbells zuckte und Howie rief: »Vorsicht, Don, er…« Der Narr – Howie, dieser Narr, dachte Walsh entsetzt, den

alten Trick kennt er nicht mal. Um Gottes willen, Howie zieht, der hat sich bluffen lassen und gedacht, Campbell würde tatsächlich zum Colt greifen. Dabei hat Campbell die Hand doch nur nach unten zucken lassen, um ihn herauszufordern.

Don Walsh erkannte, was Campbell beabsichtigt hatte, um ihn zum Ziehen zu bringen. Campbell hatte die Unerfahrenheit Howies kaltblütig ausgenutzt. Seine kurze Handbewegung

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hatte Howie glauben lassen, daß er von hinten auf den Rücken von Walsh feuern wollte. Und darum griff Howie zum Colt.

Dieser großmäulige, dumme Junge, dachte Walsh, ehe er herumwirbelte und den Colt herausriß. Jetzt ist alles aus, das schaffe ich nicht mehr.

Er hatte eine wertvolle Sekunde verloren. Und die war in diesem Fall entscheidend.

Als Walsh den Revolver schon heraus hatte, sah er, daß Howie die Waffe gerade erst anlüftete. Im Herumwirbeln schwang der Revolver von Don Walsh in die Höhe, und doch kam er zu spät.

Lacy Campbell hatte nach seinem Colt gegriffen, als Howie McGruder die Hand schon am Kolben seiner Waffe hatte. Campbells langläufiger Fünfundvierziger zuckte in die Höhe, richtete sich aber nicht auf Howie. Ein Mann wie Campbell wußte zu genau, daß Howie gegen ihn eine Schnecke war. Er feuerte, ehe Don Walsh ganz herum war.

Der einzige Mann, der alles genau sah und wie gelähmt am Bohlenstapel stehenblieb, war Sam Winters. Der Stellmacher blickte entsetzt zu Howie McGruder. Der packte den Kolben seines Revolvers, während Campbell die Hand mit dem Fünfundvierziger anhob.

Campbell feuerte, indem seine Linke flach über den Revolverhammer schlug. Der Knall zerriß die lastende Stille unter der Hitzeglocke des Mittags über Sulphur Springs. Die Kugel traf Walsh mitten in die Brust. Walsh feuerte dennoch. Das Geschoß erwischte ihn um den Bruchteil einer Sekunde zu früh. Er taumelte zwei Schritte zurück. Seine Kugel hatte Campbell nur um wenige Zoll verfehlt und sich in die Bretterwand des Schuppens gebohrt.

Während Walsh ins Stolpern kam und sich schwerfällig um einen festen Stand bemühte, wirbelte Campbell herum.

Einen schrecklichen Augenblick hatte Sam Winters das Gefühl, daß Campbell auch auf ihn schießen wollte. Der Killer

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riß die Rechte herum, die Linke wanderte mit und schlug noch einmal über den Hammer, ehe Howie McGruder seinen Colt in Zielrichtung gebracht hatte.

Im letzten Moment erkannte auch Howie, daß er auf einen Trick hereingefallen war. Ehe Howie auf Campbell anschlagen konnte, entlud sich dessen Revolver, und Don Walsh stolperte rückwärts. Plötzlich packte Howie die nackte Furcht. Er sah, wie Campbell herumzuckte, schrie in seiner Angst gellend auf und duckte sich.

Und schon krachte Campbells zweiter Schuß. Die Kugel hätte Howie McGruders Herz durchbohrt, wenn er sich nicht vor lauter Angst geduckt hätte. Sie traf seine linke Schulter mit so fürchterlicher Gewalt, daß er zurückgeschleudert wurde und gegen die scharfen Kanten der Bohlen prallte. Rasender Schmerz durchströmte seinen Körper, seine Knie gaben nach, seine Rechte knallte gegen die vorstehenden Stapellatten, und er verlor im Fallen seinen Colt.

Am anderen Ende des Bohlenstapels war Don Walsh in die Knie gegangen. Es gelang ihm, auf den Knien zu bleiben und den Colt mit beiden Händen zu packen. Er hob die Arme, sah Campbell wieder herumzucken und wußte, während ihn der Schmerz fast zerriß, daß er verloren war. Campbell würde ihn kaltblütig töten!

Dann verließ Walsh die Kraft, er konnte den Colt nicht weiter anheben. Das nackte Grauen in den Augen, sah Walsh, daß Campbells schwerer Revolver bereits auf ihn zeigte. Er schloß die Augen, um jenen Blitz nicht sehen zu müssen, der ihm den Tod brachte.

»Campbell!« Der scharfe Ruf ließ Walsh die Augen wieder aufreißen. Er

blickte nach links, wo eine dünne Staubfahne über der Fahrbahn lag und verriet, daß jemand dort gerannt sein mußte.

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Der Mann stand mitten auf der Straße, hielt sein Gewehr im Hüftanschlag und sah, wie Campbell auf dem rechten Absatz herumwirbelte.

In dieser Sekunde erkannte Big John Warren, daß er sich in Campbell nicht getäuscht hatte. Der Killer hatte weder Respekt vor einem in drei Staaten bekannten Sheriff, noch machte er sich etwas daraus, ob ein Mann einen Stern trug.

Lacy Campbell riß seinen langläufigen Colt hoch. Die Waffe schoß auch auf fünfzig Yards noch genau. Und auf diese Distanz war Big John herangekommen.

Irgendwann, während er sich eine Gabel Bohnen in den Mund geschoben hatte, hatte die Unruhe Big John aufstehen lassen. Er hatte aus dem Fenster geblickt, die beiden Pferde vor dem Haltebalken zwischen Stellmacherei und Schmiede stehen, aber nichts mehr von Lacy Campbell gesehen. Im selben Moment war Big John losgerannt, hatte sein Gewehr an sich gerissen und aus der Tür gestürmt.

Der verstörte Archie Slater besaß jenen sechsten Sinn, den ein Mann wie Big John im Verlauf vieler Jahre erworben hatte, noch lange nicht.

John Warren feuerte, als Campbells Fünfundvierziger auf ihn zeigte. Die Kugel war kaum heraus, als Campbells Revolverlauf eine grauschwarze Pulverwolke ausstieß. Das Pfeifen der Kugel ging über Big Johns Kopf hinweg. In Rossmans Saloon zersplitterte eine Fensterscheibe, die Scherben regneten herunter, und ihr Klirren vermischte sich mit Campbells zweitem Schuß.

Der Killer taumelte um die Ecke des Schuppens auf die Straße. Es sah aus, als wollte er auf Big John zulaufen und ihn dabei niederschießen.

Die zweite Kugel schlug vor dem Sheriff in den Staub. Sie riß eine Fontäne hoch. Die dritte Kugel verpuffte zwischen Big John und Campbell und die vierte und letzte jagte unmittelbar vor Campbells staubigen Hosenbeinen in die Straße. Dann

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knickte der Killer ein, stützte sich nach dem Sturz einen Moment auf die linke Hand und brachte die rechte noch einmal hoch. Er schien wieder schießen zu wollen und vergessen zu haben, daß sein Fünfundvierziger nur sechs Schuß in der Trommel gehabt hatte.

Big John Warren stand still. Sein Gewehr zeigte auf Campbell. Aus der Mündung kräuselte eine dünne Rauchfahne. Irgendwo weit hinten hörte John den Schrei Noras, und er ging langsam los. Campbell fiel in dieser Sekunde auf die Brust, krümmte sich zusammen und wälzte sich auf die Seite. Sein Colt lag neben ihm.

»Nun?« fragte Big John düster. Er blickte auf den Mann hinab, der sich auf den Rücken wälzte. »Nun, Campbell, so schnell stirbt es sich. Wer hat dich geholt, Mann?«

Campbell sah ihn mit flatternden Lidern an. Seine Hände preßten sich auf die rechten unteren Rippen. Zwischen seinen Fingern quoll langsam dunkles Blut über seine dunkelgraue Weste und die von der Kugel zerfetzte Uhrkette.

»Nachricht… Er hat mir – Nachricht nach Santa Rita geschickt – schon vor Wochen«, sagte Campbell stockend.

Big John beugte sich hinab, denn der Killer sprach immer leiser und in größeren Abständen.

»Wer hat dir Nachricht geschickt?« Warren hörte, wie Leute heranliefen, sah aber nicht hoch.

Der Mann starb vielleicht zu schnell und würde nichts mehr sagen können.

»Wer hat dir Nachricht geschickt, daß Walsh hier zu finden sei?« wiederholte Big John scharf. »Rede, Campbell, rede – den Namen! Wer hat dich geholt?«

»Car – Carpenter – Angus Carpenter«, flüsterte Campbell mühsam.

Doc Maydland kniete sich nieder, sah Big John an und schüttelte dann unmerklich den Kopf.

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»Der andere Mann – wer ist der andere Mann, der auf Lionel McGruder schoß?« forschte John. »War es Angus Carpenter selbst? – Wer feuerte auf McGruder?«

»Weiß nicht«, lallte Campbell. »Vorgestern nach Dos Cabezas gekommen. Habe nur mit Carpenter gesprochen. War schon Nacht – war allein mit Carpenter, kein anderer…«

Sein Kopf fiel zur Seite. Er war tot, und Big John richtete sich hastig auf. Dann ging er, ohne auf die Menschen zu achten, in den Hof von Winters. Dort hatte man Howie an das Holz gelehnt. Walsh lag im Schatten, biß sich auf die Lippen und stöhnte:

»Howie – Howie hat sich tricksen lassen, Sheriff. Der Narr kannte den Falltrick der Revolverhand nicht.«

»Ja«, sagte Big John Warren. »Wem hast du erzählt, daß duÄrger mit Campbell gehabt hast? Howie?«

Walsh nickte. »Er fragte mich, warum ich nicht in New Mexiko geblieben wäre, ich…«

Big John ging schon weiter, blieb vor dem leichenblassen Howie stehen und sah ihn durchbohrend an.

»Hast du jetzt genug von deiner verdammten Großmäuligkeit, du Taugenichts?« fuhr er ihn an. »Ich denke, Carpenter ist ein guter Freund von dir – oder? Was hast du ihm von Walsh erzählt?«

»Er fragte mich nach Walsh. Wir redeten nur so. Ich sagteihm, Walsh hätte Ärger in Santa Rita mit einem Campbell gehabt und sei, um Ärger mit dessen Bruder und anderen Verwandten aus dem Wege zu gehen, davongeritten. Ich wollte Carpenter nur erklären, daß Walsh kein Killer sei, weil er das glaubte. Was – was hat Angus damit zu tun?«

»Alles, du Idiot!« knirschte John. »Ich weiß zwar nicht, warum er Walsh unbedingt aus dem Wege haben wollte, aber ich denke, Walsh war ihm oder jenem Halunken, den er auf deinen Vater schießen ließ, zu gefährlich. Beim nächsten Versuch, deinen Vater zu töten, hätte Walsh den

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Heckenschützen erwischen können. Denke nach, denke endlich mal, Howie! Welchen Grund kann Carpenter haben?«

»Das – das verstehe ich nicht«, stotterte Howie. »Angus. Aber – Angus ist mein Freund!«

»Schöner Freund, der einen Killer herkommen läßt!« knurrte John Warren. »Ihr könnt im Jail liegen, bis dich dein Vater mit einem Wagen abholen kommt. – Archie!«

»Hier«, meldete sich Slater. »Was gibt es, John?« Gott im Himmel, dachte Archie, wie John werde ich nie

sein. Wie der aufgesprungen ist und losrannte – das schaffe ich nie. Wie hat er wissen können, daß es knallen würde?

»Schicke jemand zu Lionel, er soll herkommen und…« »Er kann nicht kommen«, sagte Howie stöhnend. »John, er

ist nicht zu Hause, er ist am frühen Morgen mit einem Pony und einem Kindersattel fortgeritten. Wohin, weiß ich nicht.«

Archie zuckte zusammen, sah Big John an. Und beide erinnerten sich an das, was ihnen Judy Weiser über den alten Löwen und dessen Enkel Barry erzählt hatte.

»Was ist?« fragte John scharf. »Lionel ist mit einem Pony und einem Kindersattel… Mit wem ist er unterwegs?«

»Er – er ist allein los. Er wollte unbedingt allein reiten.« »Waaas?« stieß Big John hervor. »Archie, lauf, hol mein

Pferd, schnell!« »Verflucht!« Das war alles, was Slater herausbekam. Dann rannte er wie

vom Teufel gejagt davon, während Big John Howie anstarrte. »Junge, ist er allein? Zum Teufel mit dem dicken Schädel

Lionels! Wie oft habe ich ihm gesagt, er dürfe niemals allein reiten. Du großer Geist, Campbell hier – und wo ist der zweite Mann? Wo ist der Halunke, der immer dann auftauchte, wenn dein Vater allein ritt?«

Big John Warren warf Howie und Walsh einen finsteren Blick zu. Dann rannte er los und knurrte:

»Idioten, allesamt Idioten!«

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In weniger als einer Minute saß er im Sattel und sagte zu Archie:

»Der alte Narr ist bestimmt zu Matt geritten. Archie, wenn der zweite Mann unterwegs gewesen ist und die Ranch, wie ich schon früher angenommen habe, beobachtet hat, komme ich zu spät. Er hat dann Lionel McGruder erwischt. Archie, ich reite nach Dos Cabezas und kaufe mir Angus Carpenter. Irgendeinen Grund muß es für ihn geben.«

»Er und sein Bruder haben doch den Steinbruch und die Steinhauerei, was?« brummte Archie. »John, sei vorsichtig! Was Angus getan hat, das hat sein Bruder sicherlich gewußt. Du kannst es mit beiden zu tun bekommen.«

»Ich weiß«, antwortete Big John kühl. »Vielleicht gibt es gar keinen zweiten Mann. Vielleicht war es Angus, der auf den alten Löwen feuerte. Archie, dann hat Angus mit Sicherheit auf der Lauer gelegen, denn er wußte, für Walsh war gesorgt, der würde ihm nicht mehr in die Quere kommen können. Wenn du beten kannst, dann tue es. Ich fürchte aber, es wird Lionel McGruder nicht mehr helfen.«

Big John Warren zog sein Pferd herum und preschte davon.

* * *

Der Alte spie aus, grunzte vor sich hin, als wäre er ein wilder Eber. Doch dann grinste er wieder.

»Nun ja«, brummte er. »Hat Mut, das Frauenzimmer, sieht wirklich fein aus, muß ich schon sagen. Hat mir mächtig gefallen, wie sie für ihn eingetreten ist. Aber dieser Bartschabevater dabei – pfui Teufel, so was in der Verwandtschaft zu haben, direkt entsetzlich! – Wenn er wenigstens kein geborener Mexikaner wäre, der Kerl. Will meinem Söhnchen ein Pony schenken, der…«

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Er schüttelte sich, sah sich nach dem Pony um, über dessen prächtigen Sattel er eine Decke gebunden hatte, damit der Sattel auch schön blank war, wenn er zur Barfoot-Ranch kam.

»Der wird Augen machen, der kleine Bursche, was?« fragte der Alte kichernd das Pony. »Bin mal neugierig, was er sagt, wenn sein richtiger Großvater mit dem feinen Pony und dem prächtigen Sattel ankommt. Na, was sagst du, wird er sich freuen, der Junge? Wehe, du wirfst mir meinen Enkelsohn ab, du langmähniges, dickschweifiges Ungeheuer! Dann bekommst du es mit mir zu tun. Und wer immer es mit mir zu tun bekommen hat – geschmeckt hat das noch kein…«

Das Pony wieherte grell und sprang mit allen Vieren zugleich in die Luft, als der Knall durch den Rough Gulch raste.

Es kam Lionel McGruder vor, als hätte ihn jemand nur gerade so eben mit dem Finger gegen die rechte Schulter gestoßen, mehr spürte er zuerst nicht. Dann warf er sich zur Seite, in das Nachrollen des Schusses hinein, tauchte weg, zur Flanke des Pferdes.

Rumms! Der zweite Schuß krachte. Aus, dachte der Alte, aus – vorbei, die Kugel mäht mich um. Pfeifend strich es über ihn hinweg, zupfte irgendwo an

seiner Sonntagsjacke. Doch nicht umgemäht, was? Runter, Lionel, tiefer weg,

ganz an die Flanke des Pferdes und festhalten um jeden Preis! Der Schmerz, der verfluchte Schmerz in der Schulter!

Der Alte fiel, hing mit der Linken in der Mähne, steckte mit dem linken Stiefel fest im Steigbügel. Seine Rechte hatte die Sattelpacken hinten umkrallt.

»Lauf!« stöhnte der Alte, während die Schmerzen sich von der Brust bis zu den Hüften ausdehnten. »Lauf doch – lauf!«

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Dort waren Büsche, einzelne Kakteen, Felsbrocken – aber weit, sehr weit entfernt war das noch alles. Auch zwanzig Yards können weit sein.

Rumms! Aus, dachte er, das Pferd ist hin. Keine Chance mehr, die

Büsche zu erreichen. Hölle und Pest, der Gaul steilt schon… Lionel McGruder warf sich zur Seite. Geröll kam ihm

entgegen, Steine. Herrgott, die Hände vor den Kopf, abrollen und…

Plötzlich war der Schatten da. Das Pferd schien in den Himmel steigen zu wollen, neigte

sich dann und drohte auf den Alten zu fallen. Da packte ihn die Angst, denn schlimmer konnte es nicht werden, als wenn man eingeklemmt unter einem Gaul lag und seinen Mörder mit der ganzen Hilflosigkeit einer noch lebenden, aber dennoch schon toten Kreatur herankommen sah. Nur nicht unter das Pferd geraten, wegrollen.

Neben ihm schien der Boden zu explodieren, als der Gaul stürzte, auf die rechte Flanke schlug, die Hufe beim Auskeilen Steine wegschleuderten. Dann lag das Pferd in der Staubwolke still und der Alte wälzte sich stöhnend herum.

Rumms! Die vierte Kugel pfiff handbreit über ihn hinweg, prallte von

den Steinen ab und sauste in den Himmel. Der Alte lag am Pferdebauch und machte sich klein.

Dennoch war er verloren. Das Gewehr lag eingeklemmt unter dem Pferd.

Das Kollern von Steinen war auf dem nördlichen Hang über dem Rough Gulch zu hören.

Aus, dachte der alte Löwe, vorbei! Der Lump, dieser verfluchte Kerl – jetzt rennt er los. Er

braucht nur achtzig Yards zu laufen, dann ist er an der Biegung und erreicht diese Seite. Also erwischt er mich mit Sicherheit, der Hund, der verfluchte. Gegen sein Gewehr bin ich machtlos.

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Der Mann lief. Der Alte hörte es und stemmte sich auf. Dann sprang er los, von höllischem Schmerz gepeinigt und rannte um sein Leben, das er so gern behalten wollte. Immerhin gab es einen kleinen Barrymore McGruder, wie? Und der sollte einen richtigen Großvater haben.

Lauf, Lionel, hämmerte sich der Alte ein, lauf! Du mußt es schaffen, du mußt bis zu den Büschen kommen, sonst…

Rumms – rumms! Links pfiff es vorbei, staubte, prallte von Steinen ab. Rechts

klatschte die nächste Kugel gegen die Steine. Zehn Yards noch – acht – sechs – vier…

Rumms – rumms! Und dann riß es ihm das linke Bein glatt weg. Von der

Wucht des Einschlags wurde er bis dicht vor die Büsche geschleudert. Wie er trotzdem hochkam und auf nur einem Bein den Sprung in die Büsche tat – wie, das wußte er selbst nicht.

Rumms! Die Kugel sirrte durch die Zweige, aber der Alte kroch,

stöhnte, biß die Zähne zusammen, schob sich weiter. Nein, dachte er, so leicht nicht, Hundesohn! Noch hast du

mich nicht, noch lange nicht. Du mußt kommen und mich holen. Das ist meine Chance: mein Colt gegen dein Gewehr! Du oder ich, klar? Und ich werde es nicht sein!

Lionel McGruder, der alte Löwe, kroch zwischen zwei kniehohe Felsbrocken neben ein paar Kakteen und sah nach seinem Bein. Das Blut tropfte in den Sand.

Die Blutspur! Der alte Löwe riß sich die Jacke auf, zerrte im Liegen das

Hemd aus der Hose, griff in die Hosentasche und klappte sein Messer auf. Das schöne Sonntagshemd mußte dran glauben, aber wenn er es nicht tat und sich nicht verband, dann brauchte dieser Hundesohn, der jetzt irgendwo herankam, nur der Blutspur zu folgen.

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Du machst nicht schlapp, Lionel, sagte er sich. Du doch nicht, du hast nie aufgegeben!

Der Wille war stark genug, daß er endlich weiterkroch, vor sich die Reihe kleiner Felsbrocken. Sie waren vielleicht drei Fuß hoch – eine Kette von Steinen am Hang. Der alte Löwe sah sich vorsichtig um.

Rumms! Eine Kugel schlug dicht, neben ihm ein. Er war mit den

Beinen an einen Busch gestoßen, die Zweige hatten gewippt und der Lump geschossen. Links lag er, irgendwo dort oben und etwa siebzig Yards entfernt am Hang. Der Alte kroch schneller.

Rumms – rumms! Zwei Kugeln warfen vor ihm Dreck hoch. Ah, der Kerl ahnt,

wohin ich will, aber verhindern kann er es nicht. Der Löwe McGruder erreichte die Felsbrocken, grinste, als

der Narr seine Kugeln zwischen sie setzte. »Eh, McGruder – McGruder!« Wie ruft der denn? dachte der Alte und lag still, den Colt in

der Faust. Was hat der für eine Stimme? Der Kerl ist doch wohl kein zweibeiniger Frosch, daß er so quakt?

»Mäck Grudäär – Mäck Grudäär!« plärrte es vom Hang. »Komm heraus, Mäck Grudäär! Jätzt mußt du stärbän, Mäck Grudäär, hähähä!«

Etwas wußte der Alte nun: da oben lag ein Greaser oder ein Halbblut. Nur diese Sorte zweibeiniger Wölfe sprach so breit.

Du Dreckskerl, dachte Lion McGruder, du hast Angst, ich weiß es genau. Du hast die Hosen voll, Scheißkerl. Solange du aus dem Hinterhalt knallen konntest, war es leicht, aber nun mußt du kommen und mich holen. Und dabei riskierst du eine Kugel in deinen fetten Froschbauch, was?

Stille – drei, vier Minuten war nichts zu hören, absolut nichts. Aber dann knisterte etwas.

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Der Alte zuckte hoch, sah Zweige, einen trockenen Busch und Flammen daraus schlagen, während das Ding den Hang hinabsauste und unten zwischen die Büsche flog.

Verdammt, dachte der Alte, das feige Warzenschwein hat Feuer gelegt. Er braucht gar nicht herunter, er brät mich gar. Jetzt ist es aus!

Und da – da wirbelte achtzig Yards hinter ihm noch ein brennender Busch über den Hang in die Tiefe.

Aus! Der Alte saß in einer Feuerfalle. Überall begann es zu knistern und knacken, Flammen

schossen empor. Die Hölle! Lionel McGruder war verloren.

* * *

Der Alte lief humpelnd durch die dichten Rauchschwaden. Dabei mußte er ständig husten. Das verletzte Bein schleppte er nach. Vor ihm war nichts als dieser verdammte Rauch, aber vielleicht hatte gerade der eine Chance offen gelassen? Nur mittendrin bleiben, nur nicht herausrennen, lieber ersticken.

McGruder lief, aber er war am Ende, hatte keine Kraft mehr, mußte bereits mehr als hundert Yards hinter sich gebracht haben. Und das war zuviel gewesen. Der Wille hielt den Alten noch aufrecht, doch dann schälte sich etwas so schnell aus dem Rauch – ein Loch im Boden, eine Geröllfläche. Sie war zu steil, und der Rauch lag wie ein Vorhang darüber ausgebreitet, so daß der Alte sie zu spät sah, in die Tiefe des Rough Gulch stürzte und aufschlug.

Dort blieb Lionel McGruder liegen und rang keuchend nach Luft. Sein Bein schmerzte höllisch, seine Schulter brannte wie Feuer. Mit seiner Kraft war es vorbei. Es gab nur noch den Schmerz und dieses Stechen in den Lungen.

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Der Revolver fiel ihm ein, aber er sah ihn nicht. Er hatte beim Sturz die Waffe verloren. Rauch zog über ihn hinweg, wehte wie ein Schleier über die Mulde.

Großer Gott, dachte er, gleich müssen sich die Flammen totgelaufen haben. Dann ist kein Rauch mehr da, der mich deckt. Der Kerl wird mich suchen.

Ich muß den Revolver finden! Die Mulde war vielleicht fünfzehn Yards lang und sechs

breit. Und ganz unten blinkte etwas – sein Colt! Der Alte kroch, weil ihn die Beine nicht mehr trugen, der

Schmerz war zu groß. Während er dem Revolver näher kam, wurde es heller, der Rauchschleier verzog sich. Und dann, als er fünf Yards vor dem Revolver war…

Rumms! Die Kugel schlug gegen den Kolben, das Schießeisen

wirbelte ein Stück durch die Luft. Eine der Griffschalen flog weg. Und der Mann lachte breit.

»Hähähä – du Mäck Grudäär, liegän still, sähen här, ich hier – hieee!«

Aus, vorbei! Der Alte blickte nach oben, sah den Mann dort stehen. Er

war nicht groß, aber stämmig, untersetzt, hatte Sichelbeine, die durch Lederchaparajos geschützt waren. Der Mann hatte ein breites Gesicht mit stark hervortretenden Wangenknochen und Schlitzaugen – ein Mestize, ein Mischling.

»Sähen mich, Mäck Grudäär, gut mich sähän, ja?« Der Gewehrlauf zeigte auf den Alten. Der Kerl lachte, die

Gewehrmündung wackelte ein bißchen. Unterhalb des Mannes brannte noch alles lichterloh, doch der Rauch wurde zur Seite geweht.

»Äh, Mäck Grudäär, jätzt du stirbst!« Das Gewehr wackelte nicht mehr. Das breite Froschmaul

schloß sich, das linke Lid klappte zu, das rechte Auge war weit offen hinter Korn und Kimme.

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Rumms – rumms – rumms! Was denn, was denn? dachte der alte Löwe. Was fehlt dem

denn? Der tanzt ja, der schießt doch gar nicht, und dennoch knallt es?

Der Mann dort oben tanzte nicht, sondern taumelte. Er ließ sein Gewehr fallen und neigte sich vornüber. Dann fiel er den Hang herab in das Feuermeer und schrie noch einmal, als die Flammen, in denen der alte Löwe hatte sterben sollen, ihn empfingen und nicht mehr freigaben.

Ein Pferd galoppierte heran. Die Hufe hämmerten auf Steine.

Nein, nein, dachte der Alte, das ist nicht wahr – er? Warum denn ausgerechnet er? Schießt den Kerl ab, als der mich noch mal voll Blei pumpen will. Ich kann nicht mehr, ich bin am Ende. Herrgott, jetzt wird mir erst richtig schlecht!

Aufstehen, Lionel McGruder, ein Mann stirbt aufrecht! Los, wirst du wohl Aufstehen, Lionel! Was soll er denn von dir denken, wenn du wie ein jammerndes Weib am Boden liegst und ihn so empfängst, he? Stehst du, auf, Lionel, wirst du wohl!

Es ging nicht, er zitterte zu sehr. Das Pferd wieherte, jagte durch nachzüngelnde Flammen, stob heran, raste über das Geröll herab.

»Komm!« sagte der Mann seltsam heiser, rauh und kratzend. »Na, komm schon, ich helfe dir!«

Noch klang die Stimme normal, sie veränderte sich erst, als der Mann sich bückte und das Blut sah, das der Sand aufgesogen hatte.

»O Gott, was hat der Hund gemacht? Was hat dieser Satan… Du bist verwundet! Den bringe ich noch mal um. Auf meinen Vater zu schießen! Das Schwein, das verdammte Schwein! Vater, Vater, ist es schlimm, hast du Schmerzen? «

Der große Matt war in die Hocke gegangen, umschlang ihn, als wäre er ein Kind.

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»Vater, sag doch was! Sag doch ein gutes Wort, Vater, bitte! Ich – ich habe solche Unruhe in mir gehabt, ich bin einfach losgeritten. Ich weiß nicht, warum, aber ich mußte los, Vater. Ich wollte zu dir kommen und mich entschuldigen, daß ich dir die Peitsche zerbrochen und ins Gesicht geworfen habe, Vater, ich entschuldige mich, hörst du? Ich bitte dich um Verzeihung, ich war kein gehorsamer Sohn…«

Pah, dachte der alte Löwe McGruder, ein Mann weint nicht, nein, das sollte er nicht. Das weiß schon der kleine Barrymoore McGruder, und du alter Narr solltest dich schämen. Ja, schäm dich, Lionel McGruder! Du hast ihn in deiner verfluchten Wut wie einen Hund verprügelt, deinen großen Sohn.

»Ich – ich muß mich entschuldigen, Junge. Ich – nicht du! Es war nicht gerecht von mir, ich habe unrecht an dir gehandelt, mein Junge. Nein, nein, sage nichts, es ist wahr. John, der verfluchte Kerl, hat es mir neulich ins Gesicht gesagt. Ich wäre ein ungerechter Teufel, hat er gesagt, und er hat recht gehabt. Du warst also unruhig, wolltest zu mir? Ach, ich wollte dem Söhnchen das Pony bringen. Die ganze Nacht habe ich nur an den Kleinen gedacht. Guter Name, den du ihm da gegeben hast – Barrymore McGruder. Feiner Name, Sohn!«

»Vater, rede nicht soviel. Das ist jetzt nicht gut! Ich mache eine Schleppbahre, werde dich darauf festbinden. Wohin soll ich dich bringen, Vater?«

»Zu dir, zu dem Kleinen und – zu deiner Frau. Ist eine hübsche Frau, hat gute Augen und Mut. Den muß eine McGruder auch haben. Es macht nichts, daß ihr Vater bloß Barbier und Mexikaner ist, macht gar nichts. Ich mag deine Frau, mein Junge.«

»Du magst sie wirklich?« »Ja, Junge. Hat mir imponiert, hat mir mächtig gefallen, wie

sie für dich eingetreten ist. Muß ein gutes Herz haben. Bring mich zu ihr, Junge!«

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Ach, welch ein Gefühl, endlich wieder seinen Ältesten bei sich zu haben. Mochte kommen, was da wollte, er hatte ihn wiederbekommen, nun war alles gut.

»Den Kerl hat mir Harris auf den Hals gehetzt, Matt, ich bin ganz sicher. Matt, wenn du auf Harris losgehst, dann mußt du es ganz rauh machen, hörst du?«

»Ich bekomme es heraus, und wer immer den Lump geschickt hat, ich kaufe ihn mir. Mach dir keine Sorgen, das kommt in Ordnung, Vater. John wird mir schon helfen.«

»John, John! Dieser alte Halunke hat mich immer geärgert. Aber hör auf ihn, er kann denken. Na gut, wenn du es mit John machen willst… Matt, hast du den Kerl gekannt?«

»Nein, nie gesehen. Muß ein Grenzbandit sein. Ich finde es heraus.«

Matt McGruder rannte los, um Stangen für die Schleppbahre zu besorgen. Und er dachte an den heimtückischen Schützen, als er zum Hang und auf die kleiner werdenden Flammen blickte.

Sollte ihn Harris geschickt haben? dachte Matt zweifelnd. Ich glaube es nicht, es will mir nicht in den Kopf. Harris würde kämpfen, aber doch keinen Halunken schicken. Ich muß zu John, sobald ich Vater zu Hause habe. Ich muß mit John reden. Vielleicht kam der Kerl aus Nogales? Dann müßten wir ihn nach dort bringen und die Leute ausfragen. Irgendwer wird ihn schon kennen und vielleicht wissen, mit wem er zusammen war, wer ihn aufgesucht hat.

Ich muß mit Big John sprechen.

* * *

Mein County, dachte Big John Warren grimmig und sah die Straße hoch. Hier ist immer noch mein Distrikt. Ich bin Sheriff für drei Städte, für Sulphur Springs, Bowie und Dos Cabezas. Und jetzt bin ich in Dos Cabezas, und dort hinten ist die

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Steinbrecherei der Carpenters. Nur ruhig, immer langsam! Da sitzen ein paar Leute vor der Bodega von Chicco Gonzales. Freundlich sein, John, schön lächeln, harmlos tun.

»Ah, buenas dias, Big John!« Chicco trat aus der Saloontür. »Hallo, Chicco,!« sagte John und grinste. »Feiner Tag, wie?

Alles in Ordnung bei euch?« Hier lebten nur drei Amerikaner, der überwiegende Teil der

Bewohner waren ehemalige Mexikaner. Vielleicht war es darum so friedlich in Dos Cabezas. Bis auf eine Prügelei gab es hier nie was zu schlichten.

»Was soll sein, Big John? Immer schön ruhig, immer Sonne. Kommen Sie herein, trinken Sie ein Glas Tequila, Sheriff!«

»Nachher, Amigo, ich muß Steine bestellen.« »Oh! Sheriff, wollen Sie heiraten – eine hübsche Frau,

vielleicht eine Frau mit roten Haaren?« Sie lachten, saßen im Schatten der Hauswand und hatten

einen Kampfhahn in einem Käfig. Der Hahn krähte mißtönig. Vielleicht wollte er den Sheriff begrüßen.

»Chicco, vielleicht werde ich es tun.« »Ah, was ist ein Mann ohne Frau, Big John? Habe ich

recht?« »Du hast recht, Chicco! Ah, guten Tag, Franco!« Franco Silva trat aus der Tür seines Barbierladens, das

Schaumbecken in der einen, den Rasierpinsel in der anderen Hand.

»Hallo, Big John! Du mußt rasiert werden – komm vorbei!« »Ja, Franco, mache ich gleich, will nur ein paar Steine

bestellen.« »Willst du endlich ein Haus für dich bauen?« »Ja, bald, Franco.« »Das ist gut, ein Mann muß ein Haus haben – und eine gute

Frau. Sie ist eine hübsche Frau – und gut, gut, ich weiß es.«

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So waren sie, sie trugen ihr Herz auf der Zunge. Wen sie einmal Amigo nannten, der blieb es ein Leben lang. Und Big John war ihr Freund. Der sagte nichts, wenn sie Tequila hatten, den jemand über die Grenze geschmuggelt hatte. Er stand auch dabei, wenn ihre Kampfhähne sich mit den angeschnallten Messern bearbeiteten, obgleich das streng verboten war.

Big John – das war ein Americano, den sie mochten, der sie verstand und immer ein offenes Ohr für sie hatte.

Der Sheriff ritt weiter, hielt vor dem offenen Tor der Steinbrecherei an. Im Hof war niemand. Die kleine Dampfmaschine, die die Steinsäge antrieb, qualmte nicht. Auch die beiden Wagen waren nicht zu sehen. Anscheinend waren die beiden mexikanischen Arbeiter der Carpenters irgendwo in den Bergen in einem der Steinbrüche, die zumeist auf dem Gebiet der McGruder-Ranch lagen. Der alte Lionel hatte ihnen erlaubt, dort, wo die Berge nichts an Weide hergaben, Nutzsteine zu brechen.

Big John glitt aus dem Sattel. Dann ging er zur offenen Hintertür und gelangte in den Flur.

»Jemand da?« fragte er laut. »He, ist jemand zu Hause? Gregg – Angus? He, Leute, ich brauche Steine!«

»Hier!« meldete sich Gregg Carpenter, ein stämmiger Mann mit schütterem Haar und klobigen Fäusten. »Hallo, Big John, du brauchst Steine?«

Er tauchte in der Tür des Zimmers auf, das ihnen als Office diente, ein meist mürrischer Mann, der nun jedoch breit lachte.

Lach nur, dachte John, das kenne ich längst. Leute, die ein schlechtes Gewissen haben, versuchen dadurch einiges zu verbergen. Das schafft anscheinend Erleichterung. Und du bist erleichtert, mein Freund, ich sehe es dir an

»Ja, ich will bauen.« »Was du nicht sagst. Alle Teufel, wer baut, der will auch

heiraten, oder? – Komm doch herein!«

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Gregg Carpenter lachte ein bißchen zuviel. Himmel, war der Bursche nervös gewesen und plötzlich maßlos erleichtert. Er wußte also Bescheid. Dabei hätte John ihm diese Gemeinheit nie zugetraut, denn Gregg Carpenter war ein harter Arbeiter, nicht gerade sehr klug, kein Mann also, der jemand einen Killer auf den Hals hetzte. Aber wer kennt schon die Menschen?

Angus Carpenter war da anders – schlau, wenn nicht sogar gerissen. Sein Vater hatte ihn noch nach Denver auf das Mineninstitut geschickt. Dort hatte Angus genug über alle Gesteinsarten gelernt, nur nicht alles, denn er war im hohen Bogen herausgeflogen, weil er die Finger nicht von den Karten gelassen und seine Mitschüler betrogen hatte. Eine Jugendsünde, weiter nichts. Wer betrog nicht schon mal im Spiel? Er spielte scharf, hockte oft mit Howie McGruder zusammen. Manchmal ritten die beiden Burschen sogar nach Nogales und Agua Prieta, um an der wilden Grenze richtig rauh und wild zu spielen.

»Setz dich doch, John«, sagte Gregg lachend und schob sich hinter seinen Schreibtisch »Na, was sollen es denn für Steine sein? Willst du dich nicht setzen?«

»Mann, ich habe die ganze Zeit im Sattel gesessen und bin froh, wenn ich stehen kann«, erwiderte John grinsend. »Ja, die Steine, Gregg. So viele sind es gar nicht. Einen großen Stein brauche ich und ein paar schmale, kleine.«

»Nanu, was willst du denn bauen?« Big John Warren grinste immer noch. »Ein Grab«, sagte er sanft. »Ein Grab für Lacy Campbell.

Das stiftet ihr doch wenigstens, oder?« Und dann schnellte er urplötzlich vor. Die offene Schublade des Schreibtisches hatte er längst

gesehen. Sein Grinsen war wie weggeblasen, als er sich gegen den Tisch warf und ihn bis zur Wand zurückschob – mitsamt dem Stuhl, auf dem Gregg Carpenter saß. Dabei knallte die

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Schublade zu – nicht ganz, denn Gregg Carpenters Hand war darin.

Der Mann schrie vor Schmerz. Er hatte gewiß kräftige Knochen und ein stabiles Handgelenk. Aber eine Schublade hat eine verdammt scharfe Kante.

»Nicht doch, mein Freund!« sagte Big John, und seine Stimme klang nun nicht mehr sanft. »Doch nicht mit mir, Gregg! Dazu bist du nicht groß genug. Ich habe Campbell erschossen, aber er konnte vorher noch reden. Und nun will ich ein paar Dinge wissen. Spuck sie aus, mein Freund!«

Gregg redete nicht, er schrie, als der Druck stärker wurde und sein Handgelenk zu brechen drohte.

»Meine Hand, meine Hand! Nicht drücken! Du zerbrichst mir ja die Knochen.«

Big John zog den Colt, drückte die Mündung gegen Carpenters Kinnwinkel und schob ihm den Kopf in den Nacken. Gregg brüllte wie von Sinnen.

»Zieh die Hand aus der Schublade, aber ohne den Colt!« befahl Warren. »Also? Ich drücke ab, wenn du einen Trick versuchst, Mister! Raus mit der Hand!«

Der Tisch rutschte etwas vor, die Hand kam blau angelaufen zum Vorschein – ohne Waffe.

»So, du Strolch. Und nun heraus damit! Warum hat Angus an Campbell geschrieben? Warum wollte er McGruder erledigen? Warum?«

»Ich wollte es nicht!« beteuerte Gregg Carpenter. »John, zuerst wollte ich gar nichts damit zu tun haben. Dann fand Angus noch mehr von dem Zeug und holte sich Lopez aus Agua Prieta. Aber der erwischte den Alten nicht. Lopez hatte Angst, nachdem Walsh auftauchte und immer mit dem Alten ritt. Einmal war der Alte mit Shivers unterwegs, aber auch da ging es schief. John, ich war gegen Mord, aber Angus sah keine andere Chance, an das Zeug heranzukommen.«

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»Moment, Moment!« knurrte John. »Was für Zeug? Ihr habt Lopez – es ist doch Tinio Lopez, der Grenzbandit, was? – an die Herde und die Pferde von Harris und McGruder gehen lassen. Lopez stahl Vieh und zerschnitt die Zäune, schoß also auf McGruder. Der Kerl hat versucht, Harris auf McGruder zu hetzen. Oder umgekehrt? Sie sollten sich in die Haare kriegen. Doch beide taten es nicht, keiner ging blindwütig auf den anderen los. Sie sind schon zu alt, sie bellen nur, aber sie beißen nicht. Und da kam Angus die Idee, Lopez direkt auf McGruder schießen zu lassen. Um welches Zeug geht es? Heraus damit!«

»Die Berge – die Berge sind doch nutzlos für McGruder«, stammelte Carpenter. »Nur Steine, Felsen, keine Weide für Rinder. Wir brachen Steine auf seinem Land, jahrelang. Dann kam Angus aus Denver zurück. Er hatte alles über Gesteinsarten und Erze gelernt. Eines Tages fand er Blei – zuerst Blei. Danach Kupfererz, schließlich Silber – und zuletzt Gold.«

»Gold?« »Ja«, stöhnte Carpenter, »die Berge – überall Edelmetalle,

überall, John!« In seine Augen trat ein verrückter Glanz. Das ist es, dachte John verstört, Gold in den Bergen. Darum

der Versuch, Harris und Lionel in einen Weidekrieg zu treiben. Darum die Schüsse auf den alten Löwen. Mein Gott, dann hätten sie ja auch Howie…

»So ist das«, knirschte er. »Der Alte sollte weg, was? Aber dann wäre noch Howie dagewesen.«

»Der hätte uns ein Stück Bergland verkauft, der sofort«, sagte Gregg Carpenter. »Aber der Alte, der würde nie etwas von seinem Land abgegeben haben. Zweimal hat ihn Angus angesprochen. Zweimal wegen einer halben Wüste gefragt, aber der Alte lachte ihn aus. No, von seinem Land gab er nichts ab. Wir konnten Steine brechen, dagegen hatte er nichts, doch verkaufen – keinen Fußbreit!«

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»Ihr hättet Howie auch abknallen müssen. Irgendwann wäre selbst ihm aufgegangen, daß der Mord an seinem Vater euer Werk war. Sobald ihr das Gold ausgebeutet hättet, wäre er auf den Trichter gekommen, ihr Narren. Und dann hättet ihr etwas erlebt. So blöde der Junge noch ist, aber er hätte euch in die Hölle gejagt. Ganz zu schweigen von Matt. Verdammtes Volk,darum der ganze Ärger. Los, hoch mit dir! Du kommst mit! Und wo ist Angus? Raus mit der Sprache! Wo steckt er?«

»Hier!« Aus, dachte Big John, ich Narr! Blitzschnell knickte er ein, warf sich lang über den

Schreibtisch, riß Gregg nach vorn und hörte den brüllenden Knall hinter sich. Ein Schlag traf seine rechte Schulter. Gregg schrie gellend auf, während John sich nach links abstieß und den Colt im Fallen herumnahm.

Rumms – rumms! In dem schmalen Raum war der Teufel los. Eine Kugel

streifte Johns Jacke, eine andere bohrte sich durch den Stiefel. Er fiel und drehte sich, prallte auf den Rücken, riß den Arm hoch und feuerte auf den Mann neben der Tür. Nie gekannte Angst verspürte er, als der Mann stehenblieb, wieder schoß. Carpenter hatte die Wand im Rücken, er feuerte weiter, obwohl John Warren noch einen Schuß abgab. Dann endlich öffnete sich seine Hand, der Colt fiel auf die Dielen.

Angus Carpenters etwas aufgedunsenes Gesicht verfiel zusehends, die Augen zuckten hin und her wie bei einer Ratte, die nach einem Ausweg aus einer Falle sucht. Angus stolperte nach rechts, taumelte durch die Tür hinaus und knickte im Flur ein.

Als er auf die Dielen krachte, lief das Dröhnen durch das ganze Haus. Es verstummte, während John auf die Knie kam und merkte, daß es an seiner rechten Schulter ganz klebrig war.

»Angus«, lallte Gregg Carpenter, »Angus, warum…«

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Die Stimme ging in ein Gluckern über. John Warren fuhr herum, sah Gregg im Stuhl lehnen, das Blut lief ihm über das graue Leinenhemd.

Nun, dachte John Warren, zu hoch getroffen, daran stirbt er nicht. Er ist ohnmächtig geworden. Mein Gott, ich lebe ja noch, kann sogar den Arm bewegen. Das kann nicht schlimm sein, wahrscheinlich hat mich die Kugel nur an der Schulter gestreift, ehe sie Gregg in die Brust zischte. Diese Schlangenbrut!

»John – John, wo bist du? John!« Ein Pferd kam in den Hof geprescht, ein Mann sprang ab

und rannte durch den Flur, schrie nach dem Sheriff. »John!« »Hier, Archie!« »Du großer Manitou!« entfuhr es Archie Slater. Er stieg

über den toten Angus hinweg. »John, sie haben mich verrückt gemacht. Zuerst Howie, dann Nora und Judy. Frauen reden einen Mann glatt tot, glaube mir. Judy sagte, es wäre meine verdammte Pflicht, dir nachzureiten. Und Nora jammerte, sie wüßte genau, du würdest es nicht überleben. Sie starb beinahe vor Angst. John, was ist passiert – du blutest?«

»Sieh nach.« Archie tat es. Sein blasses Gesicht bekam langsam wieder

Farbe. »Gott sei Dank, nur ein Streifschuß, sonst nichts! Ich dachte,

als ich heran jagte, ich hörte ein Gefecht zwischen tausend Indianern und einer Kavalleriebrigade. Irgendwen habe ich umgeritten, einen der Mexikaner. Tut mir leid, der Kerl rannte mir, nach seinem Amigo Big John brüllend, vor das Pferd. Es kann aber nicht schlimm sein.«

»Hör mal, hör mal«, knurrte Big John, »seit wann machst du dir denn Sorgen um mich, he? Und Howie erst. Hat er nicht genau wie sein Vater gesagt, ich solle in die Hölle gehen? Was fällt euch denn ein?«

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»Zum Teufel, du weißt verdammt genau, daß es niemanden gibt, der dich nicht mag. Du wirst noch in zehn Jahren unser Sheriff sein.«

»Ich?« wunderte sich Big John Warren. »Ich habe die Nase voll von allem, was mit Gesetz zu tun hat. Ich will endlich eine Frau haben, verstehst du? Und die soll nicht dauernd um mich zittern müssen. Verdammte Tat. Lopez muß sich noch irgendwo herumtreiben. Der Kerl ist sicher hinter Lionel her. Komm, hilf mir, mach Gregg munter! – Hallo, Franco!«

Franco Silva stürmte herein und hielt seine Tasche umklammert. Der Barbier versah hier das Amt eines Zahnausrupfers, Knochenverbiegers und Lochverpflasterers.

»Dios – dios, was machst du denn für Sachen, Big John? Diablo, sie haben auf dich geschossen? Frisch rasiert ist Angus gestorben, frisch rasiert! Er saß bei mir im Stuhl, als du kamst, Big John. Ich hatte ihn gerade eingeseift und eine Wange rasiert… Da liegt er nun und hat es nicht mehr eilig, zu dir zu kommen.«

»Was, er saß bei dir, der Kerl?« staunte John und sah zu Angus. »Am Nachmittag rasieren – wollte er weg?«

»Si, er wollte nach Sulphur Springs, sagte er.« Zusehen, wie Campbell Walsh erwischte, dachte John und

wurde verbunden. Er bewegte den Arm. Jetzt hat er ihn schon getroffen, was? Sicher ist vor dem Höllentor ein gewaltiger Andrang, und Campbell wird bestimmt warten müssen.

»Archie, du bringst Gregg ins Jail! Sieh zu, daß er mit keinem zusammenkommt, ich erkläre es dir gleich. Komm mit hinaus!«

John Warren erzählte Archie Slater alles. Der würgte, als er von Gold hörte.

»Archie, komm nur nicht auf die Idee, in die Berge zu reiten und eine Schürfausrüstung mitzunehmen. Das Land gehört den McGruders.«

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»Daran dachte ich nicht«, erwiderte Archie. »Mann, John, was kommt da auf uns zu? Wenn das bekannt wird, kommen Tausende in die Berge. John, wir zwei sind zu wenig, um das aufzuhalten.«

»Meinst du?« Allmächtiger, der traut sich auch das noch zu, dachte

Archie. Wenn ich das an seiner Seite überstehe und die McGruders das Gebiet an Minengesellschaften verkauft haben, bin ich reif für das Irrenhaus. Oder ich bin endlich hart genug, um Sheriff zu werden.

»Nun ja, John, wir werden es schon schaffen, oder?« »Das denke ich, Archie. Also, ich reite jetzt zu Matt. Ist der

Alte da, fällt mir nicht nur ein Stein vom Herzen, worauf du wetten kannst. Also, Archie, paß gut auf!«

»Dasselbe gilt auch für dich, mein Freund, oder?« John stieg auf und ritt im scharfen Galopp aus der Stadt. Der

Alte ist bestimmt tot, dachte Big John Warren. Einen Mann wie ihn gibt es nie wieder, das weiß ich. Männer wie er haben dieses Land besiedelt, aber nun ist er tot.

* * *

»Was starrst du mich so an, he?« schimpfte der Alte. »Bah! Wenn ich auf meinen Sheriff warten sollte, daß der mich vor einem Mörder schützt, wäre ich längst tot. Mein Junge mußte mich retten, verstehst du? Wozu bezahlen wir dir eigentlich das viele Geld?«

Da liegt er, dachte Big John, und bellt immer noch. Oder brüllt er? Löwen brüllen ja. Erzählt dieser Großvater seinem Enkel die wildesten Geschichten, statt zu schlafen. Es ist nicht zu fassen! Dem alten Löwen muß man das Maul zunähen, falls er mal stirbt, sonst redet er noch im Grab.

»Du hast recht, Lionel«, sagte John Warren und setzte sich auf einen Stuhl. »Ich bin mein Geld nicht wert, darum habe ich

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auch den Mann erschossen, der Lopez immer hinter deinem Skalp herhetzte!«

»Halleluja, der Hund Abe Harris ist tot. Hörst du, Sohn? Habe ich gesagt, daß du dein Geld nicht wert bist, John? Da muß ich mich versprochen haben, ehrlich! Der alte Hundesohn Abe ist in die Grube gesaust, geschieht ihm nur recht.«

»Von wem redest du?« fragte John. »Ich spreche nicht von Harris, Lionel. – Unterbrich mich nicht wieder, hör lieber zu!«

Dann berichtete er und sah, wie das Gesicht des Alten immer länger wurde, wie es erstarrte, fahl wurde, als er ihm sagte, was es in den Bergen zu finden gab.

Es war still im Raum, nachdem Big John gesprochen hatte. Die Stille dauerte eine Minute, bis der Alte den Kopf drehte und seinen Sheriff ansah, den er so oft in die Hölle gewünscht hatte.

»John, nicht Abe? Und ich habe es seit Jahren geglaubt. John, was denkst du jetzt von uns, von Abe und mir? Zwei alteNarren, wie? Wir haben dir eine Menge Ärger gemacht. John, was soll ich tun?«

Er fragt John, dachte Matt verstört, er, der nie jemanden um Rat gefragt hat.

»Du hast die Schürfrechte«, erwiderte John Warren. »Du kannst alles selbst ausbeuten, aber dann kommen Kosten auf dich zu, die ich nicht haben würde. Bis heute waren dir die Berge nichts wert, aber nun sind sie mehr wert als alles, was du besitzt. Ich würde mir drei, vier Fachleute kommen und sie alles abschätzen lassen. Jede Minengesellschaft macht das. Ich war in genug wilden Städten und Diggercamps, Lionel, und weiß, was passieren kann, wenn du auf eigene Faust an die Ausbeute gehst. So viele Männer, wie du zum Schutz deines Landes brauchst, könntest du gar nicht bezahlen. Laß alles abschätzen – dann verkaufe an eine Minengesellschaft, und das nur unter Anteilsrechten. Das würde ich tun, Lionel. Und noch etwas: Ich würde jemanden zu Abe Harris schicken, ihr braucht

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euch gegenseitig. Wo Digger sind, braucht man Fleisch. Manche Digger holen es sich einfach von der nächsten Weide. Ihr werdet also zusammenhalten müssen.«

»Wenn du meinst, John«, murmelte der Alte. »Ich tue es, wenn du Sheriff bleibst. Archie mag gut sein, aber niemals so gut wie du. Du mußt uns helfen, John.«

»Ich denke, ich soll zur Hölle gehen?« knurrte John. »Ich werde gehen, weil ich endlich heiraten und eine Familie haben will, verstehst du? Nun gut. Einige Wochen will ich es noch tun, aber dann setze ich mich zur Ruhe. Kann sein, daß ich ab und zu, wenn ihr euch wieder in den Haaren liegt, für Archie als Deputysheriff arbeite, damit ich euch auseinanderhalten kann.«

John Warren erhob sich, reckte sich und griff nach seinem Hut. Von der Tür aus lächelte er kurz den McGruders zu.

»Morgen ist auch noch ein Tag«, sagte er müde. »Ich bin dann in der Stadt und werde versuchen, Nora beizubringen, daß wir noch etwas warten müssen. Es wird nicht ganz leicht sein, fürchte ich. Also…«

Draußen wartete sein Pferd auf ihn. Er saß auf und grüßte noch einmal, dann ritt er davon und dachte an Nora McClure.

Sie wird toben, dachte John. Vielleicht wünscht sie mich auch zur Hölle, aber dann wird sie sich in meine Arme werfen und froh sein, daß ich diese Nacht bei ihr bleibe. Diese und viele andere.

– ENDE –

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