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EVfK Das Training der Faszien – Hype oder ultimative ...

Date post: 16-Oct-2021
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EVfK EVfK_a September | 2015 CO.med Das Training der Faszien – Hype oder ultimative Trainingsmethode? Eine mögliche Antwort aus Sicht eines Sportorthopäden | Werner Klingelhöffer Wer sportlich vorwärts kommen will und etwas auf sich hält, kommt derzeit am Training der Faszien nicht vorbei. Der Ge- danke dahinter ist, dass das Training der Faszien einen wesentlichen Baustein zur Verbesserung der Fitness darstellt. Da die Faszien den ganzen Körper als Endlossys- tem durchziehen, soll über diesen Ansatz ein ganzheitliches Training erzielt wer- den. Was ist dran an diesem Training? Kann es aus medizinischer Sicht bestätigt werden? Oder sitzen wir einem neuen Hype auf, der schnell wieder vergeht und ver- mutlich „verbrannte Erde“ hinterlässt? Ist es auch ein Thema für die Sportkinesiologie? Eines gleich vorweg: Endlich sind Faszien auch in der Öffentlichkeit ein Thema! Aber ist das wirklich so neu? Hat nicht Ida Rolf in den 1950er- / 1960er- Jahren die Balancierung des Geistes und des Körpers im Gesamten über die Faszien ent- deckt und dabei den Grundstock für ein neu- es Denken entfacht (Rolfing®)? Hat nicht Buckminster Fuller 1895 das Tensegrity-Mo- dell als Erklärung einer neuen anatomischen Architektur gefunden, welches nun pro- blemlos in die menschliche myofasziale Be- wegung eingefügt werden kann (Abb. 1)? Sind nicht nahezu alle östlichen Trainings- und Tanzformen (wie z. B. Shiatsu) auf die- ses ganzheitliche System aufgebaut? Sind die Methoden BGM, Osteopathie, Craniosac- rale, FDM, MFT usw. wirklich etwas Neues oder unterscheiden sie sich nur in Nuancen, um einen neuen Namen zu rechtfertigen? Hat man die muskelfasziale Beziehung aus Touch for Health oder Hyperton X im Meridi- ansystem vergessen? Thomas W. Myers hat in seinem Buch, wel- ches heute zum medizinischen Standard- werk gehört, die Anatomy Trains beschrie- ben. Auch er stützt sich auf das Tensegrity- Modell und hat die myofaszialen Linien gefunden, die unseren Körper durchziehen. Bedeutsam ist vor allem, dass eine Verkle- bung, die Osteopathen sprechen von Verfil- zung, auch Auswirkungen auf Stellen hat, die nicht zwingend gefühlt werden. So wis- sen wir, dass, wenn wir im aufrechten Stand die Arme nach vorne heben, zuerst die Wa- denmuskulatur aktiv wird. Und eines hat die Forschung über Faszien si- cher hervorgebracht: Sie stellen die körper- liche Erinnerung dar. Deswegen allerdings die Faszien immer als alleiniges Konstrukt zu sehen, ist falsch. Die Faszien und das Bin- degewebe legen sich wie ein Schlauch um die Muskeln und füllen Nerven-Gefäßlogen aus (Abb. 2). Wir sprechen hier mittlerweile vom „zweiten Gehirn“. Es ist ein Schlauch, eine Hülle, die umgibt. Ohne Inhalt hat sie vor allem neben der Erinnerungsfähigkeit eine stützende Funktion, mehr aber auch nicht. Wenn wir aus einem Menschen alles herausnehmen würden, nur nicht dieses Faszien-Bindegewebe-Konstrukt, hätten wir eine Fläche von ca. drei Fußballfeldern vor uns. Das Besondere ist aber, dass der Abb. 2: Der Muskel braucht zum Funktio- nieren neben seiner Kontraktionsfähigkeit auch immer einen bindegewebigen Schlauch. Abb. 1 (links): Das Tensegrity-Modell beschreibt den Zusammenhang zwischen festen und beweglichen Teilen. Wenn sich ein Teil bewegt, so bewegen sich andere Teile mit. Abb. 3 (rechts): Titin ist ein Muskeleiweiß und kann durch Training vermehrt werden. EVfK Europäischer Verband für Kinesiologie e.V. Cunostr. 50 - 52 D-60388 Frankfurt Bergen E-Mail: [email protected] www.kinesiologie-verband.de
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Das Training der Faszien –Hype oder ultimative Trainingsmethode?Eine mögliche Antwort aus Sicht eines Sportorthopäden | Werner Klingelhöffer

Wer sportlich vorwärts kommen will undetwas auf sich hält, kommt derzeit amTraining der Faszien nicht vorbei. Der Ge-danke dahinter ist, dass das Training derFaszien einen wesentlichen Baustein zurVerbesserung der Fitness darstellt. Da dieFaszien den ganzen Körper als Endlossys-tem durchziehen, soll über diesen Ansatzein ganzheitliches Training erzielt wer-den. Was ist dran an diesem Training?Kann es aus medizinischer Sicht bestätigtwerden? Oder sitzen wir einem neuen Hypeauf, der schnell wieder vergeht und ver-mutlich „verbrannte Erde“ hinterlässt?

Ist es auch ein Thema für dieSportkinesiologie?

Eines gleich vorweg: Endlich sind Faszienauch in der Öffentlichkeit ein Thema! Aber istdas wirklich so neu?

Hat nicht Ida Rolf in den 1950er- / 1960er-Jahren die Balancierung des Geistes und desKörpers im Gesamten über die Faszien ent-deckt und dabei den Grundstock für ein neu-es Denken entfacht (Rolfing®)? Hat nichtBuckminster Fuller 1895 das Tensegrity-Mo-dell als Erklärung einer neuen anatomischenArchitektur gefunden, welches nun pro-blemlos in die menschliche myofasziale Be-wegung eingefügt werden kann (Abb. 1)?Sind nicht nahezu alle östlichen Trainings-

und Tanzformen (wie z. B. Shiatsu) auf die-ses ganzheitliche System aufgebaut? Sinddie Methoden BGM, Osteopathie, Craniosac-rale, FDM, MFT usw. wirklich etwas Neuesoder unterscheiden sie sich nur in Nuancen,um einen neuen Namen zu rechtfertigen?Hat man die muskelfasziale Beziehung ausTouch for Health oder Hyperton X im Meridi-ansystem vergessen?

Thomas W. Myers hat in seinem Buch, wel-ches heute zum medizinischen Standard-werk gehört, die Anatomy Trains beschrie-ben. Auch er stützt sich auf das Tensegrity-Modell und hat die myofaszialen Liniengefunden, die unseren Körper durchziehen.Bedeutsam ist vor allem, dass eine Verkle-bung, die Osteopathen sprechen von Verfil-zung, auch Auswirkungen auf Stellen hat,die nicht zwingend gefühlt werden. So wis-

sen wir, dass, wenn wir im aufrechten Standdie Arme nach vorne heben, zuerst die Wa-denmuskulatur aktiv wird.

Und eines hat die Forschung über Faszien si-cher hervorgebracht: Sie stellen die körper-liche Erinnerung dar. Deswegen allerdingsdie Faszien immer als alleiniges Konstruktzu sehen, ist falsch. Die Faszien und das Bin-degewebe legen sich wie ein Schlauch umdie Muskeln und füllen Nerven-Gefäßlogenaus (Abb. 2). Wir sprechen hier mittlerweilevom „zweiten Gehirn“. Es ist ein Schlauch,eine Hülle, die umgibt. Ohne Inhalt hat sievor allem neben der Erinnerungsfähigkeiteine stützende Funktion, mehr aber auchnicht. Wenn wir aus einem Menschen allesherausnehmen würden, nur nicht diesesFaszien-Bindegewebe-Konstrukt, hättenwir eine Fläche von ca. drei Fußballfeldernvor uns. Das Besondere ist aber, dass der

Abb. 2: Der Muskel braucht zum Funktio-nieren neben seiner Kontraktionsfähigkeitauch immer einen bindegewebigenSchlauch.

Abb. 1 (links): Das Tensegrity-Modell beschreibt den Zusammenhang zwischen festen und beweglichen Teilen. Wenn sich ein Teil bewegt, sobewegen sich andere Teile mit.Abb. 3 (rechts): Titin ist ein Muskeleiweiß und kann durch Training vermehrt werden.

EVfK – Europäischer Verband für Kinesiologie e.V.Cunostr. 50 - 52

D-60388 Frankfurt – BergenE-Mail: [email protected]

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Mensch immer noch aufrecht vor einem ste-hen würde. Es ist wie bei einem Kartenhaus,nur dass es nicht sofort zusammenfällt,wenn eine Karte gezogen wird – es kenntauch die Eigentherapie. Leider geht dasmanchmal nur mit „Verfilzung“ einher, diedann wiederum therapiert werden muss.Wohl gemerkt, es sind Therapien, die vonFachkundigen ausgeführt werden. Soweitist dagegen nichts zu sagen und es ergibtsich zur Schulmedizin in vielen Fällen einegute Alternative.

Die sportkinesiologische Meridianmassagesetzt genau hier an. Verfilzungen sind zwarein anatomisch-pathologisches Korrelat,haben aber immer auch was mit dem energe-tischen Fluss zu tun. Nicht umsonst deckensich 80 Prozent der Akupunkturpunkte mitden Triggerpoints. Diese wiederum sind einAusdruck der hier angesprochenen Verfil-zung. Sie sind nicht nur ein Phänomen derFaszien, sondern auch der Muskulatur oderbeides.

Genauso wichtig ist aber der Inhalt diesesSchlauches, der Muskel, mit Aktin (Abb. 3),Myosin und Titin aus der Myofibrille, diedem Sarkolemm (vereinfachte Darstellung)entspringt. Genauso, wie wir einen Muskeltrainieren, fördern wir besonders die Anrei-cherung des Titins als „Sicherheitsgurt“ fürdie Verschiebbarkeit von Aktin und Myosin.Die Faszie wird diese Bewegung mitmachen.Ein Muskel ohne Faszienschlauch wäreebenfalls sinnlos, er würde bei Aktivität„explodieren“.

Ein Faszientraining als solches kann es alsogar nicht geben – Faszien sind nicht alleinetrainierbar. Das ist wohl auch der der Grund,

warum nun einige Trainer lieber vom myofas-zialen, also einem Muskel-Faszien-Training,und nicht nur vom Faszientraining sprechen.

Das wiederum ist aber nicht neu, sondernwird seit jeher schon gemacht. Allerdingslag der Fokus bisher fast ausschließlich aufdem Muskel.

Auch aus medizinischer Sicht ist dieser An-satz also grundsätzlich richtig und das Fas-zientraining inklusive Muskeltraining un-terstützenswert. Die derzeitige Umsetzungin die Praxis ist aber leider oft fragwürdig.

Bei einem neuen Thema ist Schnelligkeithäufig wichtig. Gerade Fitnessstudios, dieauf ständige Innovationen angewiesen sind,greifen solche Themen gerne auf. Darunterleidet aber meist die fachliche Qualifizierungdes Trainers. Vor allem ist auf die Zusammen-hänge zwischen Faszien, Muskeln und Skelettzu achten. Genauso bedarf es der Kenntnisseüber die anatomischen Ursprungs- und An-satzpunkte eines Muskels und der dazugehö-rigen Faszie (siehe Tensegrity).

Auch die harte Schaumstoffrolle, die vor al-lem Nichtmediziner oder der PhysiotherapieUnkundige propagieren, gehört zum populä-ren Faszientraining dazu. Mittlerweile gehenFußballmannschaften, jeder Spieler mit ei-ner Rolle unter dem Arm, zum Aufwärmen.Eishockeyspieler lieben dieses Tool. Wennman fragt, warum das so ist und sich mit derAntwort „für die Erhöhung der Fitness“ nichtzufriedengibt, kommt unisono: „Es ist gut,weil es weh tut.“ Und was weh tut, so denktder Sportler, muss gut sein. Es zeigt die Gren-zen des Körpers auf, und alles, was darüberhinausgeht, hat einen Trainingseffekt.

Zurück zum Tensegrity-Modell:

Es beschreibt, wie, wenn ein Teil des Körpersbewegt wird, sich die anderen darauf ein-stellen. Wo liegt also der Sinn, wenn die Rol-le z. B. unter der Wadenmuskulatur liegt undalle anderen Strukturen „blockiert“ werden,um die Übung korrekt durchzuführen? InAbbildung 4 erkennt man sogar, dass derKopf in den Brustkorb eingezogen wird, umdie Spannung zu halten. Mit einem Releaseder Faszien hat das nichts zu tun und daswollen wir doch eigentlich. Die Rolle übt ei-nen flächigen Druck aus. Hier wird wenigerdie Faszie als der Muskel komprimiert (Abb.5). Findet wirklich eine Verschiebung derFaszien benachbarter Muskulatur statt, diedie Verfilzung lösen soll? Es ist die Verschie-bung, die der Therapeut erreichen will unddas kann er nur sehr feinfühlig in der Tiefe

Abb. 4 (links): Das Trainingsgerät ist am Unterschenkel, die anderen Muskeln bis zum Nacken verspannen sich. Das widerspricht demTensegrity-Modell!Abb. 5 (rechts) : Das Trainingsgerät verursacht einen flächigen Druck und hat mit faszialer Verschiebung nur wenig zu tun.

ist Facharzt für Sportorthopädie, Aku-punktur und Sportkinesiologie und lei-tet das Institut & Campus für sportkine-siologische Trainingsmethoden Kin-sporth®.

Kontakt:www.kinsporth.de

Dr. med. Werner Klingelhöffer

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Literaturhinweis

erfolgreich schaffen. Er muss seine Impuls-gebung an den Fingerspitzen, das Listening(Rolfing®) in den Handflächen haben undsein Handeln darauf einrichten. Dr. PeterSchwind, ein Rolfer®, spricht in seinen Bü-chern von „schmelzender Berührung“. Bes-ser kann man es nicht ausdrücken. Eine Rol-le zum Eigengebrauch wird das nicht schaf-fen. Sie schafft einen Druck, der schmerzt,nicht mehr und nicht weniger. Die Rollesorgt für eine Hypertension der Faszien ananderer Stelle, genau das, was Faszienthera-peuten nicht wollen.

Mittlerweile erheben sich kritische Stim-men, die davor warnen, dass beim Zurück-rollen des Tools wie in Abbildung 4 die Ve-nenklappen negativ beeinflusst werden (In-suffizienz durch Klappenumstülpung).

Die Rolle ist ein interessantes Tool, das einenHype bei medizinischen Laien aufrechter-hält.

Wichtiger als eine Rolle beim Training istdas, was beim myofaszialen Training dahin-tersteckt: Ein Zusammenspiel zwischen Fas-

zie und Muskeln, das durch Dehnung und Ak-tivierung im Wechsel erreicht wird. Wir ken-nen dies in Teilbereichen vom früheren„Turnvater Jahn“; heute spricht man vomDynamischen Stretching. Hier erfolgt wirk-lich ein Training des myofaszialen Gewebes.In der deutschen Sportkinesiologie zeigenwir dies im Meridianumlauf aus der Traditio-nellen Chinesischen Medizin, um auch ener-getisch in der Balance zu bleiben. Hierbeiwerden die Kennmuskeln der beiden Meri-diane in einem Element – in der Abbildung 6das Metallelement – im Wechsel gedehntund aktiviert. So kann ein effektives undsinnvolles myofasziales Training aussehen.Über den Lungenmeridian sprechen wir denM. serratus, M. deltoideus, M. coracobra-chialis und das Zwerchfell an. Im Dickdarm-meridian finden wir die Beugemuskulatur(Mm. ischiocruralis, M. tensor fasciae lataeund M. quadratus lumborum). Zu all diesenMuskeln gibt es bei Schwäche auch die ent-sprechenden Massage- und Akupressur-punkte.

Abbildung 7 zeigt die Schautafel „Dick-darm“ aus dem Buch: Basics der Sportkinesi-ologie.

Und damit haben wir für das sportkinesiolo-gische Training ein hervorragendes Instru-ment bekommen. Aus dem Touch for Healthund Hyperton X die Beziehungen der Meri-diane zu den Kennmuskeln und damit zu denmyofaszialen Strukturen anzusprechen, isteine Domaine der Sportkinesiologie, wie siein Deutschland gelehrt wird (kinsporth®).Sie setzt sich mit dieser Vernetzung von deramerikanischen Sportkinesiologie deutlichab und ist damit auch ein Thema für Heil-praktiker, Kinesiologen und Alternativmedi-ziner geworden.

Zu erwarten ist, dass, teilweise zu Recht,auch der Faszien-Hype wieder abflauen wird– um vom nächsten „großen Ding“ abgelöstzu werden. Schade wäre allerdings, wennder hervorragende Ansatz, sich endlich mitdem myofaszialen Konstrukt zu beschäfti-gen, mit in Vergessenheit geraten würde.

Abb. 6: Dynamisches Stretching mit Aktivierung der Kennmuskeln aus den Meridianen derElemente ist wirkliches aktives myofasziales Training.

Abb. 7: Anatomie, Funktionstestung, Ansatz-und Endpunkt, Massage- und Akupressurpunk-te und mögliches Kinesio-Taping (sportkinesiologische Begleit-Tafel aus „Basics der Sport-kinesiologie“, s. Literatur)

Klingelhöffer, Werner: Basics der Sportkinesiologie. Kin-sporth®-Verlag, 2014Schwind, Peter: Faszien – Gewebe des Lebens. Irisiana Ver-lag, 2014Schwind, Peter: Faszien- und Membrantechnik. Urban &Fischer Verlag / Elsevier GmbH, 3. Aufl., 2014Myers, Thomas W: Anatomy Trains. Urban & Fischer Verlag/ Elsevier GmbH, 2015


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