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Erziehung und die „Vernunft der Gefühle“ · und Scherers integratives Prozeßmodell der...

Date post: 13-Jul-2020
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1 Erziehung und die „Vernunft der Gefühle“ Gefühlserziehung – Möglichkeit, Notwendigkeit, Relevanz? Der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Gerhard-Mercator-Universität-GesamthochschuleDuisburg zur Erlangung des akademischen Grades Dr. phil. vorgelegte Dissertation von Barbara Krimm aus Heppenheim a.d.B. Tag der Einreichung: 19.09.2002
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Page 1: Erziehung und die „Vernunft der Gefühle“ · und Scherers integratives Prozeßmodell der Emotionen 124 3.4 Grundlegende Untersuchungen zu dem Verhältnis von Denken und den Gefühlen

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Erziehung und die „ Vernunft der Gefühle“

Gefühlserziehung – Möglichkeit, Notwendigkeit, Relevanz?

Der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften

der Gerhard-Mercator-Universität-GesamthochschuleDuisburg

zur Erlangung des akademischen Grades

Dr. phil.

vorgelegte Dissertation

von

Barbara Krimm

aus

Heppenheim a.d.B.

Tag der Einreichung: 19.09.2002

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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung 3

2 Problemaufriß 7

3 Die Bedeutung der Gefühle für das Wesen

des Menschen 27

3.1 Einführung in die Problematik des Untersuchungs-

gegenstandes 27

3.2 Die Problematik der Begriffsbestimmung 36

3.3 Die Emotionsforschung in der Psychologie 46

3.3.1 Allgemeine Einführung 46

3.3.2 Psychologische Begriffsbestimmung 50

3.3.3 Emotionstheorien 58

3.3.3.1 Emotionserleben und Körperprozesse 58

3.3.3.1.1 Periphere Prozesse 58

3.3.3.1.2 Zentrale Prozesse 65

3.3.3.2 Die Verhaltenskomponente des Emotionserlebens 71

3.3.3.2.1 Evolutionstheoretische Ansätze 71

3.3.3.2.2 Ausdrucksgeschehen als Komponente des

Emotionserlebens 83

3.3.3.3 Das Verhältnis von Kognition und Emotion 97

3.3.3.3.1 Richard S. Lazarus Theorie der Emotionen 98

3.3.3.3.2 Robert B. Zajoncs Theorie der Emotionen

als präkognitives Phänomen 101

3.3.3.3.3 Howard Leventhals mehrstufiges Prozeßmodell der Emotionen 111

3.3.3.3.4 Klaus R. Scherers Komponentenprozeßmodell der Emotionen 121

3.3.3.3.5 Verarbeitungsebenen und Reizprüfungsprozesse: Leventhals

und Scherers integratives Prozeßmodell der Emotionen 124

3.4 Grundlegende Untersuchungen zu dem Verhältnis von

Denken und den Gefühlen 132

3.5 Zusammenfassung und Diskussion der Untersuchungser-

gebnisse mit Blick auf die Aufgabenstellung der Pädagogik 141

4 Gefühle und Moralerziehung 153

5 Resümee 183

6 Literaturverzeichnis 191

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1 Einleitung

„Gefühle haben Hochkonjunktur“. Diese zugegebenermaßen provokative Verallgemeine-

rung entbehrt als subjektive Einschätzung bestimmter Tendenzen in den Medien und in

der freien Wirtschaft, jeglicher wissenschaftlicher Grundlage. Und dennoch, angesichts

der folgenden Tatbestände scheint diese Einschätzung nicht ganz von der Hand zu

weisen. In den letzten Jahren ist eine wachsende Anzahl von wissenschaftlichen und

populärwissenschaftlichen Buchveröffentlichung zu verzeichnen, die sich mit den Ge-

fühlen und deren Funktion auseinandersetzen. Das in einigen dieser Veröffentlichungen

verfolgte Ziel ist, unter Rückgriff auf eine Selektion von wissenschaftlich als erwiesen

geltenden Aspekten der Emotionsgenese in Verbindung mit Erkenntnissen aus Studien

über den Zusammenhang zwischen Krankheitsverläufen und emotionaler Disposition,

darüber aufzuklären, daß eine „adäquate Nutzung“ der menschlichen Emotionalität zur

Steigerung der Lebensqualität und – damit in eins gesetzt – zu Erfolg in privater und

beruflicher Hinsicht führt. Eben diesem Versprechen ist es zu verdanken, daß Gefühle

einmal mehr an Popularität oder besser noch an „öffentlichem Ansehen“ gewinnen, was

sich auch darin zeigt, daß nicht nur größere, sondern auch mittelständische Betriebe das

wachsende Angebot an Schulungsmaßnahmen für Firmenangehörige nutzen, die darauf

abzielen, spezielle emotionale „Fähigkeiten“ wie bspw. Freundlichkeit, Empathie und

Selbstbeherrschung zu fördern.1

1 Die steigende Popularität der Gefühle ist unter anderem einer Veröffentlichung von Daniel Goleman, die

1995 in erster Auflage in Deutschland erschienen ist, zu verdanken. Der Titel seines Werkes „Emotionale Intelligenz“ ist mittlerweile ein „anerkannter“ Begriff für die Bezeichnung einer „gewissen“ Gefühlsver-faßtheit, die als notwendige Ergänzung zu den logischen Denkfähigkeiten angesehen wird. Dies wurde anschaulich dokumentiert in einer Sendung von der Sendeanstalt RTL am Freitag, den 05.09.2002 in der Zeit von 22.15 bis 23.00 Uhr. Hier stand – eingerahmt von einem konventionellen IQ-Test für die breite Bevölkerung vor und nach dieser Sendung – die Bedeutung der emotionalen Intelligenz im Mittelpunkt. Eingeleitet wurde diese Sendung mit einer Filmsequenz, in der 3 Personen bei einem Test zur Messung ihrer „emotionalen Intelligenz“ gezeigt wurden. Bei diesem Versuch waren die Probanden aufgefordert, die auf (18) Photographien abgebildeten mimischen Ausdrücke bestimmter Gefühle zu identifizieren. Darüber hinaus wurden für Personalfragen zuständige Führungskräfte größerer Betriebe zu ihren Einstellungs-kriterien hinsichtlich der Berücksichtigung der emotionalen Intelligenz befragt. Alle drei in diesem Bericht Befragten (und auch gezeigten) räumten diesem Einstellungskriterium gemäß Golemans Motto „Was nützt ein hoher IQ, wenn man ein emotionaler Trottel ist“ (Klappentext der 11. Auflage, München 1999) höhere Priorität ein, als den funktionsspezifischen Fähigkeiten. (Tests zur „Messung“ der emotionalen Intelligenz finden sich im Internet z.B. unter: http://www.vol.at/topos/html-texte/eqjob.htm und http://www.telecol.ch/ge/testEQ/testEQ.html ebenso finden sich unter dem Stichwort „emotionale Intelligenz“ eine Fülle von Schulungsangeboten). Wie die Lektüre von Golemans Bestseller zeigt, geht es hier vor allem um eine „allgemeinverständliche“ Erklärung der neuesten neurobiologischen Forschungsergebnisse zur Emotionsgenerierung und darauf aufbauend – in Wiederbelebung des Aristotelischen Grundsatzes der Mäßigung – um die Empfehlung, den maßvollen Umgang mit den Gefühlen einzuüben.

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Daß Gefühle nicht immer Berücksichtigung fanden, deren Wirkung im menschlichen

Lebenszusammenhang sogar sehr kritisch betrachtet wurde zeigt Erich Webers2

Rückblick in die Geschichte der Pädagogik, mit dem er belegt, daß sich die von ihm

differenzierten zwei prinzipiellen Gegenpositionen einer einseitig rationalistischen Position

und einer einseitig irrationalistischen Position als Strömungen mit wechselnder Betonung

der einen oder anderen Position historisch nachweisen lassen. Nach Weber ist das Kenn-

zeichnende der einseitig rationalistischen Position, daß die Vernunft das Wesen des

Menschen ausmacht. Danach ist es dem Menschen durch die ihm eignende Vernunft

möglich, „sein Leben aus eigener Einsicht zu bestimmen und seine ihn umgebende Natur

seinen rationalen Zwecksetzungen technisch zu unterwerfen. [...] Der Intellekt im Sinne

des formal-logischen Verstandes, des kausal-analytischen und diskursiven Denkens gilt

als die höchste Fähigkeit des Menschen, durch die auch der ständige For[t]schritt garan-

tiert werde.“3 Dem gegenüber steht die einseitig irrationalistische Position, nach der die

Gefühle und die Phantasie als das Wertvollste in der menschlichen Natur gelten. Hier wird

auf die irrationalen Mächte im Menschen und die Kräfte seiner Innerlichkeit vertraut. „Was

die Erkenntnis betrifft, so verläßt man sich auf die ‚Wahrheit des Gefühls’, die ‚Logik des

Herzens’, die intuitive Schaukraft und Ahnung.“4

Gemäß dieser Gegenüberstellung werden für den Menschen zwei Erkenntnisweisen

unterschieden: zum einen die auf die geistigen Fähigkeiten als Verbindung von Verstand

und Vernunft zurückgeführte Erkenntnismöglichkeit, zum anderen jene Erkenntnisquelle,

die auf die durch die Leiblichkeit vermittelten Befindlichkeiten zurückgeht, die Gefühle.

Bezeichnend ist, wie der geschichtliche Rückblick Webers erkennen läßt, daß die Favori-

sierung einer der beiden Erkenntnisquellen zumeist einhergeht mit der Diskriminierung

der jeweils anderen, woraus folgt, daß eine einseitige Förderung der Fähigkeiten, die der

als „wertvoller“ erachteten Erkenntnisquelle zugrunde liegen, statt hat. Zudem erfolgen

diese einseitigen Förderungen oftmals unter Mißachtung oder Verachtung der jeweils

diskriminierten Position.5

2 Weber, Erich: Emotionalität und Erziehung. Ein pädagogischer Orientierungsversuch. In: Oerter, Rolf;

Weber, Erich (Hrsg.): Der Aspekt des Emotionalen in Unterricht und Erziehung. 2. Auflage, Donauwörth 1975, S. 69 – 128. Vgl. hierzu auch: Buddrus, Volker: Das pädagogische Dilemma im Umgang mit den Gefühlen – Eine historische Nachzeichnung. In: Ders. (Hrsg.): Die „verborgenen“ Gefühle in der Pädagogik. Impulse und Beispiele aus der humanistischen Pädagogik zur Wiederbelebung der Gefühle. Hohengehren 1992, S. 16 – 38.

3 Ebd. S. 75. 4 Ebd. S. 76. 5 Vgl. hierzu die kritische Betrachtung unterschiedlicher Erziehungsziele und -praktiken in Palla, Rudi: Die

Kunst Kinder zu kneten. Ein Rezeptbuch der Pädagogik. Frankfurt/Main 1997.

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Zweifellos gründen diese Vorgehensweisen in der Eigenart der Gefühle, denen als Aus-

druck zutiefst privater, subjektiver und nur höchst unzureichend verbal kommunizierbarer

Befindlichkeiten des Menschen, deren Entstehen häufig nur schwer rational nachvollzieh-

bar ist und die oft nur schwer kontrollierbar scheinen, etwas Mysteriöses anhaftet, denn

diese Eigentümlichkeiten werden entsprechend des der jeweiligen Position unterliegen-

den Menschenbildes unterschiedlich gewertet: Für das der rationalistischen Position

unterliegende Verständnis des Menschen als Geistwesen stellen die Gefühle, insofern sie

zwar den Geist affizieren, sich ihr Entstehen und ihre Wirkungsweise jedoch nur unzu-

länglich rational ergründen und kontrollieren läßt, eine Unwägbarkeit und damit eine Art

„Bedrohung“ dar. Demgegenüber ist es eben diese rationale Unergründbarkeit, die der

irrationalistischen Position, die aus dem Verständnis des Menschen als Naturwesen

hervorgeht, die Annahme ermöglicht, in den Gefühlen offenbare sich die „wahre Natur“

des Menschen, verbunden mit der Befürchtung, der rationale Zugriff verdecke die

Möglichkeit die „Vernunft der Gefühle“ zu erkennen.

Vor dem Hintergrund der sich aufgrund der Eigentümlichkeit der Gefühle nahezu unver-

söhnlich gegenüberstehenden Menschenbilder in Verbindung mit der oben beschriebenen

„Wiederentdeckung“ der Gefühle ist diese Arbeit der genaueren Untersuchung des Ur-

sprungs der Gefühle, ihrer Entwicklung und ihrer Wirkungsweise im menschlichen Leben

gewidmet. Ein Ziel dieser Untersuchung ist, einen Beitrag zu leisten für die Klärung der

Fragen, inwieweit den Gefühlen eine „wahre Natur“ oder „eine Vernunft“ zugesprochen

werden kann und damit in Verbindung, ob und wenn ja welchen Einfluß Gefühle auf das

intellektuelle Vermögen haben. Darauf aufbauend wird zu zeigen sein, daß die Klärung

dieser Sachverhalte aus pädagogischer Sicht von doppelter Relevanz ist, also nicht nur

hinsichtlich der Zielvorstellungen erzieherischer Arbeit, die in Abhängigkeit von dem

zugrundeliegenden Menschenbild, welches wiederum, wie oben deutlich wurde, ent-

scheidend von der Beurteilung der Eigentümlichkeiten der Gefühle beeinflußt wird,

sondern auch und gerade hinsichtlich der Ausgangsvoraussetzungen erzieherischen

Tätigseins von Bedeutung sind.

Die Grundlage für die hier angestellte Untersuchung bildet die Erörterung zweier pädago-

gischer Anthropologien, die aufzeigt, wie sich das Menschenbild auf den (pädagogischen)

Umgang mit den Gefühlen und dem Stellenwert, der ihnen beigemessen wird, auswirkt.

Die daran anschließende Untersuchung der Gefühle wird eingeleitet mit einer Diskussion

um die Begriffsbestimmung. Durch die hier angestellte kritische Betrachtung von aus

unterschiedlichen Perspektiven gewonnenen Begriffsverständnissen gelingt es zum

einen, die Komplexität der Gefühle aufzuzeigen und zum anderen deutlich zu machen,

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wie der jeweilig gewählte Zugang vor allem als Ausschlußkriterium für wesentliche

Aspekte der die Gefühle begleitenden Phänomene wirkt. Hinsichtlich des Sachverhalts,

daß eine exakte Begriffsbestimmung notwendig eine Engführung der Untersuchungsper-

spektive zur Folge hat, wird auf eine solche verzichtet, dagegen von einem weiten Ver-

ständnis der Gefühle als sowohl eine körperliche als auch eine geistige Komponente

beinhaltend ausgegangen.

Die Untersuchung des Ursprungs, der Entwicklung und Wirkungsweise der Gefühle erfolgt

im Hauptteil der Arbeit über die Darstellung unterschiedlicher emotionspsychologischer

Ansätze. Hierdurch zeigt sich zunächst einmal mehr, wie die gewählten Ausgangsprä-

missen (und damit das jeweils zugrundeliegende Menschenbild) nicht nur die Zugangs-

weise, sondern in der Folge auch die jeweiligen Forschungsergebnisse bestimmen. Die

kritische Erörterung der aus den jeweils gewählten Perspektiven gewonnenen emotions-

psychologischen Konzepte der Emotionsgenese und -generierung im Hinblick auf die

dieser Arbeit zugrundeliegende pädagogische Fragestellung: wie das Verhältnis zwischen

Fühlen und Denken vorzustellen sei, führt zum Votum für eine Theorie der Emotions-

genese, in der davon ausgegangen wird, daß wohl eine Interaktion zwischen Denkpro-

zessen und Emotionsprozessen besteht, diese jedoch nicht als einseitig kausale Ab-

hängigkeit vorzustellen ist.

Mit der Prüfung zweier unterschiedlicher Konzepte zur Werteerziehung vor dem Hinter-

grund der ausgewählten Emotionstheorie werden die gewonnenen Erkenntnisse pädago-

gisch gewendet. Die kritische Sichtung der beiden Konzepte läßt zum einen erkennen,

wie sehr pädagogische Zielvorstellungen die erzieherische Praxis bestimmen. Darüber

hinaus kann durch die Abwägung der jeweiligen Zielvorstellungen in Verbindung mit den

zur Realisierung anempfohlenen Methoden vor dem Hintergrund der Annahmen zur

Emotionsgenese klar herausgearbeitet werden, daß im Hinblick auf die spezifischen

Gegebenheiten einer wertepluralistischen Gesellschaft weder eine einseitig auf die

Gefühle noch eine einseitig auf die Förderung der intellektuellen Fähigkeiten ausge-

richtete Werteerziehung hinreicht zur Ausbildung einer sicheren Orientierungsgrundlage

für die Abwägung von Wertfragen. Vielmehr wird deutlich, daß die Entwicklung einer

solchen fundamentalen Werthaltung, die in Situationen, die selbstverantwortete Hand-

lungsentscheidungen zwischen divergierenden Wertansprüchen erfordern, abhängig ist

von der Förderung des Gefühls und des Intellekts.

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Ohne Leidenschaft gibt es keine Genialität

Theodor Mommsen

2 Problemaufriß

Die Bestimmung des Begriffs ‚Pädagogik‘ als „Lehre, Theorie und Wissenschaft von

Erziehung und Bildung“6 macht deutlich, daß sich dieses Fachgebiet mit Blick auf eine

Richtungsweisung für Praxis der Erforschung der Grundlagen widmet, die den Menschen

in seiner ihm eigenen Verfaßtheit ausmachen. Gegenstand von Pädagogik ist somit der

Mensch unter der speziellen Fragestellung seiner Erziehbarkeit und Bildsamkeit oder

anders gewendet: pädagogische Forschung und Praxis sind untrennbar verbunden mit

der Fragestellung: „Was ist das Wesen oder die Natur des Menschen?“ oder mit Kant

gesprochen „Was ist der Mensch?“. Diese grundsätzlich philosophische Fragestellung hat

für die Pädagogik als Handlungswissenschaft zwei sich gegenseitig bedingende Perspek-

tiven: zum einen zielt sie auf die Ausgangsbedingungen, die pädagogisches Handeln

möglich und nötig machen, zum anderen auf die Intentionen pädagogischen Handelns.

Die grundlegende Notwendigkeit der Berücksichtigung beider Perspektiven zeigt sich in

den zahlreichen Veröffentlichungen zu dem Thema „Pädagogische Anthropologie“7. Aber

auch allgemeinpädagogische und erziehungsphilosophische8 Erörterungen können sich

nicht der Bestimmung des Menschen im Sinne von Zielvorstellungen pädagogischen

Handelns widmen, ohne der Frage nach der Grundlage ihres Forschungsgegenstandes

nachgegangen zu sein, denn „Wissenschaften nun, die den Umgang von Menschen mit

Menschen betreffen, müssen sich dessen vergewissern – und sei es auch noch so unvoll-

kommen –, worin die Eigenart ihres Erkenntnisgegenstandes begriffen liegt“9.

Mit dieser Feststellung verweist Löwisch auf die beiden Aspekte, die mit der unbe-

strittenen Problematik des Forschungsgegenstandes Mensch unter der Fragestellung

nach seiner Wesenhaftigkeit verbunden sind: daß einerseits eine Antwort auf die Frage

6 Lenzen, Dieter: Pädagogik – Erziehungswissenschaft. In: Ders. (Hrsg.) Pädagogische Grundbegriffe. Bd.

2, 4. Aufl. Stuttgart 1997. 7 Beispielhaft seien hier genannt: Hamann, Bruno: Pädagogische Anthropologie. Theorien – Modelle –

Strukturen. Eine Einführung. 2. überarb. und erw. Aufl. Bad Heilbrunn/Obb. 1993; König, Eckard; Ramsenthaler, Horst (Hrsg.): Diskussion Pädagogische Anthropologie. München 1980. Roth, Heinrich: Pädagogische Anthropologie. 2 Bände, Berlin, Darmstadt, Dortmund 1967 und 1971; Zdarzil, Herbert: Pädagogische Anthropologie. 2. überarb. und erw. Aufl. Graz, Wien, Köln 1978.

8 Siehe z. B.: Benner, Dietrich: Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns. 3. Aufl. Weinheim und München 1996 und Löwisch, Dieter-Jürgen: Einführung in die Erziehungsphilosophie. Darmstadt 1982.

9 Löwisch, Dieter-Jürgen: a.a.O. (1982), S. 13.

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nach dem spezifisch Menschlichen versucht werden muß, andererseits aber eine Antwort

darauf immer nur annäherungsweise gegeben werden kann und notwendigerweise unvoll-

kommen bleiben muß10. Unter uneingeschränkter Akzeptanz des letztgenannten Aspekts

ist diese Arbeit der Untersuchung eines Teilbereichs der menschlichen Verfaßtheit gewid-

met, der nach Meinung der Autorin entscheidend zur menschlichen Gesamtkonstitution

beiträgt, in der Pädagogik vor allem im letzten Jahrhundert jedoch eine eher untergeord-

nete Rolle spielt: der Bereich der Gefühle.

Die in der Pädagogik zu verzeichnende Vernachlässigung der Gefühle im Hinblick auf

deren Stellung und Funktion im menschlichen Handeln begründet sich vor allem darin,

daß die geistigen Fähigkeiten, verstanden als die Möglichkeit, sich kritisch reflektierend

mit den Gegebenheiten des Weltbezuges auseinanderzusetzen, als bestimmendes

Charakteristikum des Menschen gelten. Durch diese geistigen Fähigkeiten grenzt sich die

Gattung Mensch von allen anderen Lebewesen ab, ihnen verdankt der Mensch seine

Überlebensfähigkeit, die aufgrund seiner im Vergleich zu anderen Lebewesen mangel-

haften Organ- und Instinktausstattung in einer natürlichen Umgebung gefährdet wäre.

Diese geistigen Fähigkeiten begründen die dem Menschen zugesprochene Freiheit, als

ein Freisein von unabwendbaren Verhaltensdeterminationen11. Diese Sichtweise des

Menschen als primär geistiges Wesen, welches sich in seinen Lebensbezügen frei

bestimmen kann, bildet die Grundlage für die in der Pädagogik vorherrschende formale

Antwort auf die obengenannten zwei Perspektiven der Frage nach der Natur des

Menschen: die Ausgangsbedingung stellen die als Anlage vorhandenen speziellen

geistigen Fähigkeiten des Menschen dar, deren Entwicklung gefördert werden soll mit

dem Ziel, ein Leben in Selbstbestimmung zu ermöglichen.

Anhand der nachfolgenden Skizzierung der Positionen von Heinrich Roth und Herbert

Zdarzil, die sich beide unter der Überschrift „Pädagogische Anthropologie“ ausführlich mit

der Frage nach der Natur des Menschen auseinandergesetzt haben, soll zunächst unter-

sucht werden, inwieweit die oben aufgestellte These bezüglich der Bedeutung der Geistig-

keit für den Menschen Gültigkeit hat. Darüber hinaus soll die Gegenüberstellung der aus

unterschiedlichen Blickrichtungen gewonnenen Erkenntnisse fruchtbar gemacht werden

für die Ausdifferenzierung der dieser Arbeit zugrundeliegenden Fragestellung: die

10 Vgl. auch Bollnow, Otto Friedrich: Die anthropologische Betrachtungsweise der Pädagogik. In: König,

Eckard; Ramsenthaler, Horst: Diskussion Pädagogische Anthropologie. München 1980. S. 36 – 54. 11 Vgl. hierzu auch: Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. 13. Aufl.,

unveränd. Nachdr. d. 12. Aufl. Wiesbaden 1986, S. 31 ff.

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Bedeutung des Bereichs der Gefühle für die Verfaßtheit des Menschen und deren

Stellenwert in seinen Handlungsbezügen.

Heinrich Roth, der als einer der ersten empirische Forschungsergebnisse anderer

Humanwissenschaften in seine pädagogischen Überlegungen einbezogen hat, widmet

sich unter dem Untertitel ‚Bildsamkeit und Bestimmung‘ im ersten Band seines zweibändi-

gen Werkes zur pädagogischen Anthropologie12 eingehend der Erforschung der Grund-

lagen und Zielsetzungen, aus denen sich die Aufgaben der Pädagogik ableiten lassen.

Zunächst arbeitet er über den Vergleich Tier-Mensch die Wesensmerkmale13 des

Menschen heraus: Untersucht wird die Eigenart menschlicher Lebensführung unter vier

Aspekten: der spezifischen Eigenarten seiner biologischen Ausstattung, der spezifischen

Eigenart seines Sozialverhaltens, seines geistig-kulturellen Erlebens und Schaffens und

seiner religiösen Erfahrung. In bezug auf die Methode des kontrastierenden Tier-Mensch-

Vergleichs macht Roth deutlich, daß zwar „die immer diffiziler werdenden Studien hoch-

entwickelten Tierverhaltens zu Befunden führen, die vor einer zu raschen Abhebung der

Eigenart der humanen Lebensform warnen“14, aber bei Einbeziehung kultureller und

geistiger Aspekte die Grenzen jedes Vergleichs voll in Erscheinung treten, was diese

Methode nur bis zu einem gewissen Punkt sinnvoll erscheinen läßt. 15 Aber gerade die

Begrenzung verdeutlicht den Unterschied zwischen Tier und Mensch, der darin besteht,

daß die menschliche „Lebenserfahrung auf eine geistige Führungshierarchie hin angelegt

ist, und [...] daß [der Mensch] im Vergleich zum Tier in seiner Lebensgestaltung auf

zunehmende Freiheit gestellt ist"16. Diese beiden Gesichtspunkte bilden Roth die Grund-

lage für die Bedeutung der Erziehung, „die notwendig wird, wenn geistige Lebens-

erfahrung gelernt und Freiheit verantwortet sein will“.17

In der Zusammenfassung der „wichtigsten Einsichten“ über die Wesensmerkmale des

Menschen, die durch die Gegenüberstellung von Tier und Mensch gewonnen wurden und

vor allem aus biologischer Sicht fruchtbar sind, betont Roth nachdrücklich den hohen

Stellenwert und die Funktion, die den geistigen Fähigkeiten des Menschen zukommen:

12 Roth, Heinrich: Pädagogische Anthropologie. Band I: Bildsamkeit und Bestimmung. 3. Aufl. Hannover

1971; Band II: Entwicklung und Erziehung. Grundlagen einer Entwicklungspädagogik. Hannover 1971. Bei den folgenden Zitaten werden diese beiden Bände mit „Band I“ und „Band II“ abgekürzt.

13 Vgl. Roth, Heinrich: Band I, S.144 ff. 14 Ebd. S. 145. 15 Vgl. ebd. 16 Ebd. S. 147. 17 Ebd.

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Die im Vergleich zu Tieren festzustellenden „Mängel an angeborenen Fertigkeiten und

Instinkten werden überspielt von der positiven, den Menschen auszeichnenden Gabe –

und das ist die wichtigste Einsicht der pädagogischen Interpretation dieser biologischen

Fakten –: nämlich von einer unendlichen Lernfähigkeit“18. Diese Lernfähigkeit, die den

Menschen als primär intelligentes und geistiges Wesen ausweist, bildet für Roth die

Begründung für die Notwendigkeit von Erziehung einerseits, denn der „Mensch ist schon

von seinen Fundamenten aus auf seine höchste Bestimmung hin entworfen, d. h. auf

Kultur, Sprache, Denken, Gewissen, Freiheit und Entscheidung angelegt“19 und die

Zielbestimmung für Erziehung andererseits: „die geistige Freiheit und Mündigkeit der

einzelnen und der Gruppen“20:

Das Zentrum von Roths pädagogischer Anthropologie bildet also die ausgeprägte Lern-

fähigkeit – er spricht in diesem Zusammenhang nicht nur von einer unendlichen Lern-

fähigkeit, sondern auch von einer unendlichen Lernbedürftigkeit21 –, die die Kompensation

für den Mangel an richtungweisender bzw. determinierender Instinktausstattung des

Menschen darstellt und somit seine Weltoffenheit begründet. Es wird betont, daß es sich

dabei um eine Ausgangsbedingung für menschliches In-der-Welt-sein handelt, das ohne

die grundlegende Fähigkeit, sich den Umgang mit Welt lernend anzueignen, nicht zu

denken ist. Hierin begründet sich auch Roths kritische Position bezüglich der Problematik

des Primats der Anlage vor den Umwelteinflüssen bei der Entwicklung der Persönlichkeit.

In diesem Kontext wird festgestellt, daß zwar kaum zu beeinflußende körperliche

Reifeprozesse Grundvoraussetzungen für menschliche Entwicklungsfähigkeit darstellen,

die Gestaltung und Reifung individueller Persönlichkeit jedoch entscheidend mitbestimmt

und gefördert wird von Lernprozessen22. Über die Auseinandersetzung mit der Abhängig-

keit der Lernprozesse von sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Einflußfaktoren,

Lehr- und Erziehungsprozessen sowie deren didaktische Implikationen macht der Autor

deutlich, daß „eine Entwicklungstheorie nicht mehr ohne Erziehungstheorie darstellbar ist,

weil eine Entwicklung nicht mehr als unabhängige Variable verstanden werden darf. Die

Veränderungen, die durch Erziehung bewirkt oder versäumt werden können, müssen

gleichzeitig mitdurchdacht und mitbehandelt werden“23. Dementsprechend gilt ihm

Erziehung als Entwicklung bewirkender und verändernder Faktor.

18 Ebd. S. 115. 19 Ebd. S. 147. 20 Ebd. S. 148. 21 Vgl. ebd. S.115. 22 Vgl. Roth, Heinrich: Band II, S. 164 ff. 23 Ebd. S. 172.

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Roths Erziehungsziel ist der reife und mündige Mensch24. Die Merkmale von Reife25 sind

ein körperlich ausgewachsener, bezüglich seiner Kräfte und Fähigkeiten voll entwickelter

Mensch, der über ein stabiles Ich verfügt, welches sich im Gleichgewicht zwischen

inneren und äußeren Gegebenheiten befindet. Diese ausgeglichene Persönlichkeit

entsteht durch den differenzierenden, strukturierenden und wertenden Umgang mit sich in

Abwägung mit den Anforderungen der Welt. Betonung findet hier das „dynamische

Gleichgewicht“ im Verhältnis von Person und Welt, d. h. die produktiv ausgleichende

Wendung des Spannungsverhältnisses zwischen je individuellen Wünschen, Trieben und

Motiven und gesellschaftlichen Erwartungen. „Wir sprechen eigentlich erst dann von einer

reifen Person, wenn in dieser Weise Ich und Es, Oberperson und Tiefenperson, Geist und

Trieb sich einander gegenüberstehen und zu einer – mindestens relativen – Versöhnung

gelangt sind. Diese Ausgeglichenheit bleibt immer spannungsgeladen, weil die Versöhn-

ung zwischen den Wünschen und Forderungen, den Trieben und der Moral, dem Wollen

und Können usw. nie endgültig sein kann: das Verhältnis beider Bereiche bleibt eine

unendliche Aufgabe, macht aber gerade dadurch die dynamische Lebendigkeit der

Person aus.“26 Darin liegt aber auch die Möglichkeit des Scheiterns von Handlungsvoll-

zügen begründet, was wiederum von dem reifen Menschen einen produktiven Umgang

mit Schuld erfordert, daß heißt „eigene und fremde Schuld auf sich zu nehmen[, zumin-

dest jedoch]... dem menschlichen und allzumenschlichen Drang [zu widerstehen], Schuld

unbefragt und ungeprüft von sich abzuwälzen.“27

Die Reife eines Menschen, als sein durch Wissen, Werthaltungen und Können geprägter

und gefestigter Charakter, zeigt sich in der Bewältigung aller Lebenssituationen, indem er

die jeweilige Anforderung einer Situation „sachlich zu erfassen suchen und den in ihr zur

Geltung kommenden höchsten sozialen, sittlichen oder geistigen Wertbezug erspüren und

soweit wie möglich erkennen [wird]; er wird sich ihm verpflichtet fühlen, um seine Verwirk-

lichung bestrebt sein und sich im Konfliktfalle entschieden für ihn einsetzen“28.

Bedingung für die in dieser Form beschriebene Situationsbewältigung ist die moralische

Handlungsfähigkeit, die dem Zögling durch Erziehung zu vermitteln ist29, da nach Roth

„moralische Mündigkeit zur Selbstbestimmung der Person“ durch ein Zusammenwirken

von kognitiven, moralischen und sozialen Lernprozessen unabhängig von der indivi-

24 Vgl. Roth, Heinrich: Band I, S. 361 ff. 25 Vgl. ebd. S. 435 ff. 26 Ebd. S. 436. 27 Ebd. 28 Ebd. S. 436 f. 29 Roth, Heinrich: Band II, S. 381 ff.

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duellen genetischen Ausstattung erworben wird.30 Betont wird hier die Aufgabe der

Erziehung, befreiende Lernprozesse31 zu ermöglichen, wobei befreiend im doppelten

Sinne gebraucht wird, als Befreiung von determinierenden biologischen, sachlich

bedingten und gesellschaftlichen Einflüssen mit dem Ziel der Befreiung für die Weiter-

entwicklung der „großen Menschheitsideen“32. Denn die eigentlich moralische Aufgabe

der Erziehung ist es: „[d]ie Entwicklung von Werten und Normen im Individuum und in der

Gesellschaft [...] soweit zu analysieren und zu verfolgen, daß einsichtig wird, wie das

Individuum befähigt werden kann, die Motive zu durchschauen, nach denen es selbst und

nach denen andere handeln, und wie es sich zu jenen befreien kann, die in die Freiheit

führen bzw. Fortschritte in Richtung auf die Verwirklichung der großen Menschenrechte

[Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit] ermöglichen“33.

Diese kurze Darstellung der zentralen Gedanken Roths diente der Verdeutlichung seiner

Grundposition, daß die individuelle menschliche Entwicklung, mithin die Formung der

gesamten Persönlichkeit auf Lernfähigkeit basiert und demgemäß entscheidend mitbe-

stimmt wird von der Möglichkeit zu lernen einerseits und der Gestaltung der Lernprozesse

andererseits. Wenn auch durch die in dem kontrastierenden Tier-Mensch-Vergleich

gewonnenen Erkenntnisse zunächst den intellektuellen Fähigkeiten des Menschen sehr

großes Gewicht beigemessen wird, so zeigt die Erziehungszielbestimmung, daß es ihm

keineswegs nur um die Förderung des Intellekts geht, sondern um die Förderung der

menschlichen Gesamtverfaßtheit. Die unauflösbare Komplexität dieser Aufgabenstellung

erweist sich, indem er unter dieser Zielsetzung zwar die drei Lernbereiche der kognitiven,

moralischen und sozialen Lernprozesse expliziert, das Gelingen der Erziehung jedoch

abhängig macht von der adäquaten Berücksichtigung jedes einzelnen Bereiches und dem

ausgewogenen Zusammenwirken aller drei Bereiche. Daß es sich bei dieser Differenzie-

rung nur um eine analytische Trennung zu Untersuchungszwecken handelt, zeigen die

detaillierten Erörterungen einzelner Lernsegmente. Gerade mit den gründlichen Unter-

suchungen der zu fördernden Fähigkeiten und Fertigkeiten deckt Roth auf, daß diese

nicht jeweils unter einem der drei Lernbereiche zu subsumieren sind, sondern immer

gleichzeitig - wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung - in alle hineinwirken, was im

Gegenzug aber auch bedeutet, daß die Vernachlässigung eines einzelnen Segmentes

wiederum Rückwirkungen auf alle drei Lernbereiche haben wird. Die Grundlage für diese

These bilden die Forschungsergebnisse der Kleinkindentwicklung von Renè Spitz und

30 Vgl. ebd. S. 389. 31 Vgl. ebd. S. 396. 32 Ebd. S. 387. 33 Ebd.

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anderen Wissenschaftlern, die die Abhängigkeit einer gesunden seelischen, körperlichen

und intellektuellen Entwicklung des Babys von der emotionalen Fürsorge belegen.34

Demgemäß erörtert Roth neben der Notwendigkeit, sacheinsichtiges und problemlösen-

des Denken zu fördern, eingehend die Bedeutung der emotionalen Erziehung. Er hebt

hervor, daß die Gefühle als Grundlage des „Wertungssystems“35 des Menschen

unbedingte Beachtung finden müssen und beklagt in diesem Zusammenhang nicht nur

den diesbezüglich unzulänglichen (empirischen) Forschungsstand, sondern auch deren

generell geringe Berücksichtigung im Erziehungswesen. Zweifellos sind Gefühle

außerordentlich vielschichtig und zeigen in ihrer Vielschichtigkeit auch divergente Wirk-

mechanismen, so verortet Roth die Hauptproblematik der Gefühle in dem Spannungsfeld

zwischen Wirkmächtigkeit und Beherrschbarkeit bzw. Steuerbarkeit. In der

Differenzierung dieses Spannungsfeldes beschreibt er den einmal negativen ein anderes

Mal positiven Einfluß von Gefühlen oder Affekten auf die menschliche Handlungsweise: in

einer groben Differenzierung ist ihre Wirkungsweise aufbauend und antreibend aber auch

hemmend, störend, mithin zerstörerisch. Dabei ist eine Wertung der Einflußnahme des

Gefühlszustandes auf die Handlung im Sinne von positiv oder negativ jeweils nur vor dem

Hintergrund der Situation aus vorzunehmen und erfolgt immer in Abhängigkeit von dem

Blickwinkel des Beteiligten als Betroffener, Akteur oder Betrachter.

Hier wird schon die vieldimensionale Problematik des Gefühlsbereiches angedeutet.

Gemäß seines anthropologischen Verständnisses vertritt Roth die Ansicht, daß zwar eine

gewisse Gefühlsansprechbarkeit als genetische Disposition vorhanden ist, die Entwick-

lung der Gefühle in bezug auf Intensität und Ausrichtung jedoch in deutlicher Abhängigkeit

vom Erziehungsgeschehen zu sehen ist. Am Beispiel der Angst als Phänomen der Erzie-

hung36 reißt Roth das Grundproblem an: zum einen die Schwierigkeit der genauen

Begriffsbestimmung, zum anderen die Komplementarität zwischen der Fähigkeit, Angst zu

empfinden bzw. der genetischen Disposition, bestimmten Situationen mit Angst zu

begegnen37 und den durch Erziehung erzeugten Ängsten. In diesem Zusammenhang wird

darauf hingewiesen, daß die meisten Ängste erlernt sind und demgemäß die mit Angst

besetzten Objekte, Sachverhalte und Situationen abhängig sind von dem jeweiligen

kulturellen und historischen Hintergrund. Problematisiert wird die einerseits lebensnot-

wendige Funktion von Angst, zum anderen die hemmende bzw. zerstörerische und vor

34 Vgl. Roth, Heinrich: Band I, S. 118, besonders 180 f.; und Band II, S. 247 35 Roth, Heinrich: Band II, S. 173. 36 Ebd. S. 332. 37 Hier genannt wird die sich im 8. Monat entwickelnde Angst vor Fremden, Roth, Heinrich: Band II, S. 335.

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allem unkontrollierbare Kraft von unbegründeten Ängsten. Roth weist darauf hin, daß es

die Aufgabe von Erziehung sein muß, Gegebenheiten immer nur aus Gründen mit Angst

zu besetzen, um die Erzeugung von unnötigen Ängsten zu vermeiden.

Mit dem letzten Aspekt kommen wir zum Kernpunkt von Roths Aufgabenstellung bezüg-

lich der emotionalen Erziehung: Auch wenn er einräumt, daß Gefühle nie vollends be-

herrschbar38 sind, so gilt es doch, sie so weit wie möglich zu rationalisieren, daß heißt sie

bewußt zu machen, um so deren anderenfalls unbemerkten Einfluß auf Entscheidungs-

und Handlungsvollzüge vorzubeugen. Roths Zielsetzung ist es, wie oben angeführt, dem

Menschen zur Entwicklung einer „Persönlichkeit mit Gründen“ zu verhelfen. Dazu ist es

notwendig, daß die Gefühle so ausgerichtet und instrumentalisiert werden (können), daß

sie unterstützend wirken bei der Realisierung der rationalen Zielsetzung. Hierzu muß

zunächst für ein Umfeld gesorgt werden, welches Lernprozesse ermöglicht, die eine

adäquate emotionale Grundstimmung erzeugen. Diese Grundstimmung gilt es dann

mittels kognitiver Lernprozesse zu fundieren, zu eruieren und kritisch zu hinterfragen, mit

dem Ziel, sich von deren unmittelbar determinierenden Wirkung zu befreien. In diesem

Sinne deutet Roth die menschliche Entwicklung „als zunehmende Freiheit aus den

instinktiven Verhaltensregelungen und den durch die primären Sozialisationsprozesse in

uns automatisierten sozialen und moralischen Verhaltensnormen“39.

Ebenso wie Roth gewinnt Zdarzil40 in seiner Pädagogischen Anthropologie die den

Menschen auszeichnenden Eigenschaften über den probaten Weg des Tier-Mensch-

Vergleichs. Im Zentrum steht für Zdarzil die nur dem Menschen als Geist-Wesen zukom-

mende Reflexivität, die die Grundlage bildet für die Selbstbestimmungs-, Selbstge-

staltungs- und Darstellungsfähigkeit des Menschen41. Als Merkmal der Reflexivität gilt

Zdarzil, daß der Mensch in einem gedanklich vermittelten Wirklichkeitsbezug steht, was

sich unter anderem ausdrückt in dem Wissen um räumliche Beziehungen, dem Bewußt-

sein von Zeit und dem nicht allein zweckhaften, sondern vor allem sinnhaften Handeln.

Nicht zuletzt ermöglicht die Reflexivität normatives Bewußtsein, welches alle Bereiche des

menschlichen Miteinanders und „in-der-Weltseins“ prägt, so ist der Mensch „der Bindung

an andere in Liebe und Freundschaft nur fähig, sofern er das Bewußtsein der Norm

besitzt, denn eine zwischenmenschliche Bindung solcher Art verstehen wir ja nicht als

38 Vgl. ebd. S. 330. 39 Roth, Heinrich:, Band II, S. 447. 40 Zdarzil, Herbert: Pädagogische Anthropologie. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage. Graz, Wien, Köln

1978. 41 Vgl. ebd. S. 38 ff.

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Verhältnis gegenseitiger Sympathie oder wechselseitiger Trieb- und Bedürfnisbefriedi-

gung, sie besteht vielmehr in einer gegenseitigen Verpflichtung unter bestimmten

Gesetzen (welche Rolle Sympathie und gegenseitiger Nutzen bei ihrem Zustandekommen

oder in ihnen auch immer spielen mögen)“42. Nach Zdarzil tragen „[a]lle Formen mensch-

licher Vergesellschaftung, ob es sich um informelle oder um institutionalisierte Gemein-

schaften handelt, [...] die Züge menschlicher Reflexivität“43. Die wichtigste Grundlage für

die Reflexivität ist das Kommunikationsmittel Sprache, welches erst ermöglicht, sinnlich

Gegebenes zu ordnen und diesem durch begriffliche Fassung Bedeutung zuzuweisen.

„Sprache ist als Einheit von Zeichen und Bezeichnetem versinnlichter Sinn.“44

Die Reflexivität als gedanklich vermittelter Wirklichkeitsbezug ermöglicht dem Menschen,

sich von anderen und anderem zu unterscheiden und darüber ein Bewußtsein von sich

selbst als Individuum zu entwickeln. Kraft dieser Selbsterkenntnis „wird der Mensch

schließlich in die Lage versetzt, sich zu sich selbst zu verhalten“45, was sich bspw. aus-

drückt in bewußter Triebregulierung und der Fähigkeit zur Selbstkritik.

Mit Rückgriff auf Kant versteht Zdarzil die „Selbstreflexion des Menschen als Bedingung

der Möglichkeit, als transzendentale Voraussetzung seiner Selbstbestimmung“46 oder

Freiheit, welche das zweite Wesensmerkmal des Menschen kennzeichnet. Freiheit zeigt

sich in zwei Momenten, nämlich als ein Moment des Freiseins von determinierenden

Einflußfaktoren, wie bspw. Trieben, Wünschen und Neigungen, das zurückzuführen ist auf

die geistige Fähigkeit, sich bewußt mit aller Art Faktoren, die Verhalten und Handeln

bestimmen, auseinandersetzen und damit zu ihnen in Distanz treten zu können, welches

in das zweite Moment eines Freiseins für den bewußten Willensakt in Form von selbst-

bestimmter Lebensgestaltung mündet. „Freiheit im Vollzug ist immer beides zugleich:

Unbestimmtheit und Selbstbestimmung, weil Selbstbestimmung Unbestimmtheit an sich

hat; nur in der Reflexion auf Freiheit treten beide Momente an ihr auseinander. Die

Reflexivität des Menschen aber erweist sich in diesem Gedanken als Bedingung der Mög-

lichkeit seiner negativen Freiheit, d.h. als Freiheit von Verhaltenszwängen, und in der

Folge auch als Voraussetzung der Selbstbestimmung, der positiven Freiheit.“47

42 Ebd. S. 44. 43 Ebd. 44 Ebd. S. 46. 45 Ebd. S. 50. 46 Ebd. S. 51. 47 Ebd. S. 52.

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Reflexionsfähigkeit und Entscheidungsfähigkeit verstanden als bewußte Willensakte

begründen die „Weltoffenheit“ des Menschen als „Gegenbegriff zur tierischen ‚Trieb- und

Umweltgebundenheit‘“48. Zwar sind, wie Zdarzil betont, zum einen dem Menschen durch

seinen Körper Grenzen des Wollens gesetzt, zum anderen wird „das Verhalten des

Menschen in einzelnen Situationen zumeist durch ein ‚Lageschema‘ bestimmt“49, welches

sich aus Erfahrungen des bisherigen Lebens in Form von Haltung und einer bestimmten

Art zu denken ausdrückt. Jedoch ist ihm die Möglichkeit, über seine Einstellung nachzu-

denken, prinzipiell gegeben, denn die Lageschemata sind nicht angeboren, sondern

erlernt, wodurch „die These von der ‚Weltoffenheit des Menschen‘ doch ihre – wenn auch

eingeschränkte – Berechtigung behält“50.

Selbstbestimmung führt zur Selbstgestaltung, die sich vollzieht durch bewußte Entschei-

dungen für bestimmte Verhaltensweisen, die nicht nur für den Augenblick gefällt werden,

sondern auch in der Antizipation von Zielvorstellungen in der Zukunft, in der Art als „der

immer wieder ausgeführte Entschluß, einer Pflicht Genüge zu tun, [...] nach und nach

Neigungen, die der Erfüllung dieser Pflicht entgegenstehen, schwächen [wird], die

Erfüllung dieser Pflicht leichter erscheinen und sie selbst zum Bedürfnis werden lassen;

[...] die mehrmals geübte Handlung wird schließlich beherrscht; häufig vollzogene gedank-

liche Operationen werden am Ende ohne Schwierigkeit reproduziert, der einmal gefaßte

Vorsatz, die einmal eingegangene Bindung an einen anderen Menschen, an eine Ge-

meinschaft bestimmen die Motivation des Menschen auch weiterhin“51. Wohl hat der

Vollzug der „Selbstformung“ des Menschen immer innerhalb von Vorgegebenheiten wie

z.B. geschichtlicher und kultureller Art statt, jedoch werden diese von dem Menschen in je

individueller Selbstbestimmtheit beantwortet.

Reflexivität ist auch die Grundlage für die Darstellungsfähigkeit des Menschen, die sich

am besten an der Kunst demonstrieren läßt. In Abgrenzung zu „erkennende[m] Bestim-

men von Konkretem unter Begriffen und daher als Allgemeinem“ versteht Zdarzil „Kunst

[als] Darstellung des Konkreten in seiner Konkretheit“52. Demgemäß wird Darstellung

gefaßt als die „Vergegenwärtigung von Konkretem in seiner Konkretheit, genauer gesagt:

sie ist intendierte Vergegenwärtigung von konkret Wirklichem“53. In der künstlerischen

Darstellung geht es also um die bewußte Demonstration von Gegebenheiten wie bspw.

48 Ebd. S. 54. 49 Ebd. S. 55. 50 Ebd. 51 Ebd. S. 55 f. 52 Ebd. S. 57. 53 Ebd. S. 58.

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Gefühlszuständen oder Charakteren und nicht um ein Erkennen im Sinne von begrifflich

vermittelter Eigenschaftszuweisung, die immer nur in der Form einer Aussage über diese

und jene Gegenstände oder Sachverhalte erfolgt und aufgrund der begrenzten Aussage-

kraft der Sprache notwendig „allgemein“ gehalten werden muß.

Die Darstellungsfähigkeit ist jedoch nicht auf den künstlerischen Bereich beschränkt,

sondern prägt auch einen erheblichen Teil des alltäglichen Lebens dadurch, daß nicht nur

über die Gestaltung des äußeren Erscheinungsbildes mittels Kleidung und Frisur, sondern

durch das „Benehmen“ die Darstellung individueller Persönlichkeit unterstützt wird. Zdarzil

betont, daß sich die Darstellungsfähigkeit des Menschen begrenzt auf die „Gegenstände“,

zu denen er in einem vermittelten Verhältnis steht. „Der Mensch ist also nur insofern der

Darstellung fähig, als er zu dem, was er darstellt, in einem vermittelten Bezug steht. Das

aber bedeutet – was wir oben als These einfach aufgestellt haben –, daß der Mensch nur

aufgrund seiner Reflexivität der Darstellung fähig ist. Darstellung ist also nicht gedanklich

vermittelnder oder gedanklich vermittelter Wirklichkeitsbezug, setzt ihn aber als Bedin-

gung ihrer Möglichkeit voraus.“54

Entsprechend der von ihm explizierten Wesenheiten des Menschen, ist der Mensch

einmal „ein Wesen (reflexiver) Kreativität“55, die sich zeigt im planvollen bewußten Gestal-

ten seiner selbst und seiner Umwelt, und „ein Wesen der Tradition, ein Wesen der Kultur-

überlieferung“56, weil er seine schöpferischen Leistungen weitergeben kann und durch

seine Sprachfähigkeit zur Mitteilung eigener und zum Nachvollzug der Gedanken anderer

fähig ist. Das Vermögen zur Vermittlung und Aneignung von Erkenntnisgewinnen bildet

Zdarzil die Grundlage für die Erziehungsbedürftigkeit des Menschen. Da der Mensch in

ein bestimmtes Gesellschaftsgefüge hineingeboren ist, welches ein je eigenes Sprachver-

halten, Wirtschafts- und Rechtssystem aufweist und von je eigenen kulturellen Gegeben-

heiten geprägt ist, ist er auf die Vermittlung der Fähigkeiten und Fertigkeiten angewiesen,

die er zum Überleben in diesem Gesellschaftsgefüge braucht. Damit aber „ist er ein auf

Tradierung angewiesenes Wesen: er ist ein der Erziehung bedürftiges Wesen, ein animal

educandum“57.

Zdarzils Erziehungsverständnis ist geprägt von seinem Freiheitsbegriff: Der Vollzug der

den Menschen fremdbestimmenden Erziehung ist immer nur im Zusammenhang zu

54 Ebd. 55 Ebd. S. 60. 56 Ebd. 57 Ebd. S. 60 – 61.

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sehen mit seiner Selbstbestimmungsfähigkeit, denn „[d]er Mensch ist keineswegs, auch

nicht als ein erziehenden oder sozialisierenden Einflüssen unterliegendes Wesen, in

seinem Verhalten, in seinen Einstellungen und in seiner Apperzeption der Wirklichkeit an

sozial präformierte Muster gebunden, er ist kein ausschließlich sozial fixiertes, deter-

miniertes Wesen“58. Wohl erfolgt die Selbstverwirklichung in jeweils vorgegebenen

sozialen Bezügen, die die Lernvorgaben und damit auch das Maß an Anregungen zu

kreativem Lernen bestimmen, wodurch „gilt [...], daß Fremdbestimmung einerseits und

Selbstverwirklichung (und Selbstbestimmung) andererseits nicht beziehungslos

nebeneinander herlaufen, sondern miteinander verschränkt auftreten“59.

In einer selektiven Rückschau auf in der Geschichte vorfindbare Erziehungsziele expliziert

Zdarzil deren Unzulänglichkeit bezüglich der Erfüllung des Anspruchs auf Allgemeingül-

tigkeit.60 Unter Anerkennung der durch den kritischen Rückblick gewonnenen Erkenntnis,

daß alle materialen Erziehungsziele dem geschichtlichen Wandel unterworfen sind, ent-

wirft er auf der Grundlage seines Erziehungsbegriffs und seines in Anlehnung an Kants in

bezug auf die praktische Vernunft entwickelten Freiheitsbegriffs einen formalen ‚Auf-

gabenkatalog‘ für Erziehung. So ist die vordringlichste Aufgabe von Erziehung, dem

Zögling zur „Mündigkeit“ 61 zu verhelfen. Für Zdarzil ist der Begriff Mündigkeit gleichbe-

deutend mit der Fähigkeit, sein Handeln nach sittlichen Prinzipien auszurichten. Insofern

ist Mündigkeit zunächst die Konkretisierung der beiden Momente der Freiheit als Fähig-

keit, sich mittels Reflexion eigene Verhaltensantriebe bewußt zu machen und dadurch mit

Gründen eine Entscheidung treffen zu können. Diese Begründung erfolgt unter Berück-

sichtigung eines der Motive übergeordneten Prinzips, welches die Entscheidung selbst

erst wieder möglich macht. „Sofern dieses Prinzip Notwendigkeit und – wie jedenfalls

immer wieder gefordert – Allgemeingültigkeit an sich hat, nennen wir es ein sittliches

Prinzip.“62 Dies bedeutet für Zdarzil, daß das einmal gewonnene Prinzip unbedingt ver-

pflichtend für den menschlichen Willen ist, der, wiederum mit Rückgriff auf Kant, verstan-

den wird als reiner Wille, d.h. er ist notwendig inhaltsleer, wodurch die Freiheit der

eigenen Setzung sittlicher Prinzipien möglich aber auch erforderlich wird. Sittliche

Prinzipien aber beanspruchen unbedingte Gültigkeit, „d.h. sie formulieren Forderungen,

welche vom Willen die Verwirklichung des in ihnen Geforderten nicht um anderer Zwecke

willen, sondern um des Geforderten selbst willen verlangen“63. Die Freiheit zeigt sich

58 Ebd. S. 120. 59 Ebd. 60 Vgl. ebd. S. 215 ff. 61 Vgl. ebd. S. 238 ff. 62 Ebd. S. 239. 63 Ebd.

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darin, daß Mensch, der sich zwar durch sein Eingebunden sein in einem gesellschaft-

lichen Zusammenhang Verhaltensanforderungen gegenüber sieht, jedoch zur Verpflich-

tung auf Prinzipien nicht gezwungen werden kann. Insofern handelt es sich hier um einen

Akt der Selbstverpflichtung des Willens, welcher in zweifacher Weise erfolgt: in Form

einer Bindung an bestimmte Personen, eine bestimmte Gemeinschaft, die einhergeht mit

einer Bindung unter ein bestimmtes Gesetz. Mit Bezug auf diese doppelte (Selbst-)Bin-

dung spricht Zdarzil von einer „doppelten Mündigkeit“64, die den Zögling befähigt „zur

Selbstbestimmung über das Gesetz seines Handelns und zur Selbstbestimmung unter

diesem Gesetz“65.

Bezüglich der Gestaltung des Erziehungsgeschehens finden sich bei Zdarzil zwei unter-

schiedliche Vorgehensweisen: unter Berücksichtigung des Freiheitsaspektes kann für ihn

Erziehung nur die Form eines „dialogischen Bezugs“ haben, da es gemäß der in der

Selbstbestimmungsfähigkeit begründeten Freiheit nicht möglich ist, die Erkenntnisse der

älteren Generation auf die jüngere zu ‚übertragen‘, denn „alles, was der Lehrer zu tun ver-

mag, ist, dem Schüler zum Verständnis einer Aussage [...], zum Nachvollzug einer Ein-

sicht zu verhelfen [...]; den Akt des Verstehens und den Vollzug der Einsicht kann er nur

provozieren, zu leisten hat sie in der lernenden Aneignung der Schüler selbst“66. Mit

Langeveld bezeichnet Zdarzil pädagogisches Tätigsein demnach als „eine Anregung zum

Selbstentdecken zur Selbstrealisierung des Kindes, als Mitarbeit an einem ‚selbstkrea-

tiven Prozeß‘“67.

Die praktische Durchführung des Auftrags Erziehung zur Mündigkeit muß jedoch zunächst

durch „handelndes Einüben des kindlichen Willens in eine bestimmte, vom Erzieher vor-

gesetzte Form der Sittlichkeit“68 statthaben. Aufgrund dieser heteronomen Bestimmung

über den Zögling wird er die von ihm abgeforderten Handlungen nicht aus einem Bewußt-

sein der Verpflichtung sich selbst gegenüber, d.h. als sittliche vollziehen. „Das Bewußt-

sein der Verpflichtung stellt sich erst dann ein, wenn das Kind an es herangetragene

Verhaltensnormen (in einem Prozeß der Identifikation) internalisiert und sie sich selbst

gegenüber geltend macht.“69 Diesem Prozeß muß das Einsichtig machen in die Gründe

für den abverlangten Gehorsam folgen. „Die Einübung des Zöglings in einsichtigen

Gehorsam leitet ihn zur Selbstbestimmung unter der gegebenen sittlichen Forderung an.

64 Ebd. S. 242. 65 Ebd. 66 Ebd. S. 61. 67 Ebd. S. 62. 68 Ebd. S. 243 – 244. 69 Ebd. S. 244.

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Sie vermittelt zugleich aber auch jene Motive, die für die geübte Form sittlicher Selbstver-

pflichtung bestimmend sind (wird darin zur sittlichen „Bildung“) und versetzt den Zögling in

die Lage (und veranlaßt ihn), sich an die vorgesetzte Form der Sittlichkeit aufgrund der

dargelegten Motive zu binden.“70 Der tatsächliche in Freiheit vollzogene Akt der Selbstver-

pflichtung kann jedoch erst dann erfolgen, wenn dem Zögling das Wissen um weitere

sittliche Prinzipien vermittelt wurde und er sich in einer „suspendierenden Reflexion“71

unter Infragestellung der angeeigneten Form der Sittlichkeit, dieses mit den anderen

vergleichend, sich aus der Auswahl mit Gründen für und unter ein bestimmtes sittliches

Prinzip selbstverpflichtet.

Mündigkeit als abstrakte „philosophisch-anthropologisch begründete Zielformel der

Erziehung“72 wird eingebettet in die Erziehung zur Lebenswelt73. Hier wird dem Umstand

Rechnung getragen, daß Erziehung immer in bestimmten gesellschaftlichen Lebensbe-

zügen statthat und den Auftrag hat, den Zögling für die Bewältigung der Lebenswelt und

für eine kritische Stellungnahme zu derselben tauglich zu machen. Mit dem dritten Auftrag

„Erziehung als Hilfe zur Identitätsbildung“74 berücksichtigt Zdarzil schließlich, daß Erzie-

hung dem Zögling die Möglichkeit bieten muß, das je individuelle Fähigkeits- und

Neigungspotential zu eruieren und zu fördern und die Entwicklung des darauf basieren-

den, sich im Umgang mit anderen stabilisierenden Persönlichkeitsprofils zu unterstützen.

Zdarzils anthropologische Untersuchungen erfolgen im Rahmen einer „kategorialen

Reflexion“75, die für ihn notwendig ist, um der Gefahr einer „beliebigen“ Deutung empi-

rischer Erkenntnisse anderer Humanwissenschaften entgegenzuwirken. Intendiert ist, die

den jeweiligen Untersuchungen zugrundeliegenden Kategorien aufzudecken, um in einem

zweiten Schritt, diese den jeweiligen Erkenntnisgegenständen unterliegenden, die empi-

rischen Untersuchungen wesentlich bestimmenden Kategorien kritisch vor dem Hinter-

grund einer philosophisch fundierten Wesenserkenntnis des Menschen zu reflektieren.

Zudem ist es im Rahmen einer pädagogischen Anthropologie nicht angemessen, ver-

schiedene Erkenntnisse einzelner Wissenschaftsbereiche auf ihre jeweilige pädagogische

Relevanz hin zu untersuchen, sondern Aufgabe ist es, einzelne Forschungserkenntnisse

zu einer übergreifenden Theorie, einer Theorie zweiter Stufe zusammenzufassen. In

70 Ebd. 71 Ebd. 72 Ebd. S. 249. 73 Vgl. ebd. S. 249 f. 74 Vgl. ebd. S. 251 ff. 75 Vgl. ebd., S. 26 ff.

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diesem Sinne bildet ihm der Rahmen seiner Reflexion das Verständnis des Menschen als

Geist-Wesen und die ihm dadurch mögliche Freiheit.

Die philosophisch fundierte Ausgangsüberlegung zur Wesenserkenntnis des Menschen

bildet die Reflexivität, verstanden als gedanklich vermittelter Bezug zur Wirklichkeit,

welche als Bedingung der Möglichkeit zur Freiheit gilt. Hier handelt es sich um einen

transzendentalen Freiheitsbegriff, um ‚Freiheit als Idee‘, die zurückgeführt wird auf die

dem Menschen eignende Art der Welterfassung. Nur die Reflexivität ermöglicht es, in

Distanz zu sich selbst zu treten und frei von determinierenden Einflußfaktoren wie

Wünschen, Trieben, Motivation einerseits und gesellschaftlichen Anforderungen anderer-

seits mit Gründen eigene Entscheidungen zu treffen, d.h. sich selbst zu bestimmen. Zwar

erörtert Zdarzil den notwendig prägenden Einfluß von stets in einen bestimmten

historischen und gesellschaftlichen Kontext eingebetteten Erziehungsprozessen auf die

Entwicklung des Menschen, besonders aber auf anstehende Entscheidungsprozesse,

betont jedoch, daß die Ausbildung der Persönlichkeit immer auch abhängig ist von der je

individuellen „Antwort“ auf die durch das Umfeld ermöglichten Lernprozesse. Die zentrale

Bedeutung des Freiheitsbegriffs zeigt sich in Zdarzils Verständnis von Mündigkeit als Akt

der selbstbestimmten Verpflichtung für und unter ein sittliches Prinzip.

Die der anthropologischen Untersuchung unterliegende und sie bestimmende Wesenser-

kenntnis des Menschen, die als Bedingungsverhältnis zwischen Reflexivität, Freiheit und

Selbstgestaltungsfähigkeit expliziert wurde, wird durch die Methode der kategorialen

Reflexion, welche zu weiteren philosophisch fundierten Wesensaussagen führt, erweitert

und bestätigt. Hierin liegt für Zdarzil der Beweis, daß eine einheitliche Gesamtdeutung

des Menschen möglich ist und die Wesensdeutung des Menschen nicht offengehalten

werden muß. „Die Wesensdeutung braucht also nicht unabgeschlossen oder bruchstück-

haft zu bleiben; sie muß allerdings offen für eine Korrektur bleiben, da sie, wie jede

andere menschliche Erkenntnis auch, nicht den Anspruch auf Endgültigkeit erheben

kann.“76

Daß bei Zdarzils anthropologischen Untersuchungen der Bereich der Gefühle nur

marginal Berücksichtigung findet, ergibt sich durch seine Konzentration auf das Wesens-

merkmal Reflexivität, welche er an Freiheit und Selbstgestaltung bindet. Aus diesem

Blickwinkel erscheinen Gefühle als heteronome Determination, von denen es sich kraft

Reflexivität zu distanzieren gilt, um die „Freiheit zur“ Selbstgestaltungsfähigkeit zu

76 Ebd. S. 259.

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erlangen. Hier liegt deutlich das Verständnis zugrunde, daß Gefühl und Geistigkeit zwei

Bereiche sind, die sich wohl gegenseitig beeinflussen können, wobei aber dem Mensch

durch die Reflexivität die Fähigkeit zugesprochen wird, in Distanz zu dem Gefühlsbereich,

d.h. in Ansehung der Gefühle, jedoch ohne durch sie affiziert zu sein, wirken zu können.

Die vorstehende Darstellung belegt, daß sich aus einem unterschiedlichen Zugang zur

Untersuchung der Frage nach dem Wesen des Menschen mit Blick auf seine Erziehbar-

keit und Bildsamkeit unterschiedliche Analysen und Gewichtungen gewinnen lassen.

Denn im Gegensatz zu Zdarzil ist es Roths Auffassung nach die Aufgabe einer pädago-

gischen Anthropologie, die Erkenntnisse anderer Humanwissenschaften für die speziell

pädagogische Fragestellung fruchtbar zu machen. Er spricht deshalb von einer „datenver-

arbeitenden Integrationswissenschaft“77. Unter dieser Prämisse erscheint seine zwei-

bändige pädagogische Anthropologie als umfassende Analyse der menschlichen Gesamt-

verfaßtheit unter der Zielsetzung der bestmöglichen Förderung der spezifisch mensch-

lichen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Der Vorteil, der sich durch Roths Vorgehensweise

abzeichnet, ist neben einer detaillierten Übersicht über die förderungsfähigen und

förderungsbedürftigen menschlichen Eigenschaften der Einblick in die Komplexität der

sich gegenseitig bedingenden Lern- und Entwicklungsprozesse. Aus dieser Verfahrens-

weise ergibt sich jedoch auch ganz deutlich, daß die menschliche Natur ihre Bestimmung

in Form von Lern- und Erziehungszielen nicht vorgibt78, womit die Bestimmung des

Menschen eine „offene Aufgabe“79 bleibt. Der diese Erkenntnis bergenden Gefahr, daß

die Auswahl der Erziehungsziele aufgrund eines fehlenden letztgültigen Parameters

beliebig sei, entgeht Roth, indem er sein Erziehungsziel ausrichtet nach der „Spitze“ der

Entfaltung menschlicher Kultur, die für ihn der mündige Mensch darstellt, der sich vor dem

gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrund als reif, mündig, kritisch, produktiv-kreativ

und verantwortlich-entscheidend präsentiert.80 Hierbei handelt es sich, wie schon oben

deutlich wurde, um eine formale Zielsetzung, deren Fokus die Beförderung der Hand-

lungsfähigkeit auf der Basis von moralischer Mündigkeit bildet. Wohl bindet er die

moralische Mündigkeit an die Beförderung der „großen Menschheitsideen Freiheit, Gleich-

heit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit“, doch auch hier handelt es sich um einen formalen

Orientierungsrahmen, der sich ausrichtet an dem jeweiligen historischen und kulturellen

Kontext. Damit beantwortet Roth in seiner pädagogischer Anthropologie die Frage nach

der Natur des Menschen in bezug auf die Anlage des Menschen mit dem Nachweis der

77 Roth, Heinrich: Band II S. 65. 78 Vgl. ebd. S. 38 ff. 79 Ebd S. 40. 80 Vgl. ebd. S. 41.

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unendlichen Lernfähigkeit, die Zielbestimmung jedoch muß ungeachtet des formalen

Orientierungsrahmens aufgrund der unendlichen Lernfähigkeit offen bleiben.

Hinsichtlich der Fragestellung dieser Arbeit ergibt sich aus Roths Grundthese, daß die

Entwicklung der menschlichen Gesamtverfaßtheit auf Lernprozessen beruht, der ent-

scheidende Hinweis darauf, daß auch das emotionale Befinden je von Lernprozessen ab-

hängig ist. In diesem Zusammenhang findet sich zum einen der Auftrag, in der Erziehung

dergestalt auf die Gefühle einzuwirken, daß sie rationale Zielsetzungen unterstützend

begleiten, zum anderen darauf hinzuwirken, daß emotionale Befindlichkeiten und die

daraus folgenden Motivationen aufgedeckt werden, um durch den rationalen Zugriff den

unbewußten emotionalen Einfluß auf Handlungsvollzüge zu verhindern. Deutlich wird

jedoch auch die Annahme einer grundsätzlichen Dichotomie zwischen Gefühl und

Intellekt, wobei dem Intellekt als Kontroll- und Steuerungsorgan der Gefühle die Vorrang-

stellung zukommt.

Die differenzierte Betrachtung der beiden unterschiedlichen Positionen untermauert

zunächst die oben aufgestellte These, daß der Fokus pädagogisch anthropologischer

Betrachtungen auf der Geistigkeit im Sinne der Fähigkeit zur kritischen Reflexion liegt.

Hiermit in Zusammenhang steht sowohl bei Roth als auch bei Zdarzil der Aspekt der

Freiheit, der dem Menschen aufgrund dieser speziellen geistigen Fähigkeit zukommt und

der in beiden Positionen eine Verbindung aus negativer Freiheit, als einem Freisein von

fremdbestimmenden Faktoren, und der positiven Freiheit, als ein Freisein zu selbstbe-

stimmter Entscheidung, zum Inhalt hat.

Wohl wird von unterschiedlichen Freiheitsbegriffen ausgegangen, so ist Freiheit bei Roth

eine wenn auch nur formale – weil jeweils abhängig vom kulturellen und historischen

Kontext zu sehende – Zielsetzung pädagogischen Handelns, damit aber formbar und

nachweisbar, während nach Zdarzils transzendentalem Verständnis Freiheit weder

formbar noch nachweisbar ist. Nicht formbar ist sie insofern, als daß sie als Bedingung

der menschlichen Verfaßtheit vorauszusetzen ist und nicht nachweisbar ist sie, da der Akt

der Selbstverpflichtung unter ein sittliches Prinzip, welches unbedingte Gültigkeit bean-

sprucht, für einen Außenstehenden nicht überprüfbar ist, denn der Nachvollzug der tat-

sächlichen Entscheidungskriterien und Handlungsmotive ist nur von dem Handelnden

selbst mit relativer Sicherheit möglich.

Die unterschiedliche Zugangsweise zur Themenstellung erklärt die unterschiedliche

Berücksichtigung des Bereichs der Gefühle: Roths Untersuchungen richten sich

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ausgehend von seinem empirisch gewonnenen Hauptwesensmerkmal des Menschen, der

unendlichen Lernfähigkeit, auf die Prozesse, die hinführen zu dem ebenfalls empirisch

aufweisbaren Erziehungsziel: dem durch ganz bestimmte Charaktereigenschaften

gekennzeichneten reifen und mündigen Menschen. Die Grundannahme, daß die Ent-

wicklung des Menschen primär abhängig ist von Lernprozessen und somit durch die

Gestaltung derselben auch steuerbar und ausrichtbar, führt zur Analyse der menschlichen

Anlagen in Verbindung mit der Überlegung, wie deren Förderung durch Lernprozesse mit

Blick auf die bestmögliche Realisierung des avisierten Erziehungszieles zu gestalten sei.

Diese auf der Basis von empirischen Forschungsergebnissen erfolgende Analyse der

verschiedenen menschlichen Fähigkeiten bringen zutage, daß der Charakter als das

Gesamt menschlicher Eigenschaften wesentlich mitgetragen wird vom Gefühlsbereich,

dessen Ausprägung sich vor allem auf die sozialen Lebensbezüge und damit auf die

moralische Verfaßtheit des einzelnen auswirkt.

Zdarzils Kategorialanalyse ist eingerahmt von dem transzendental gewonnenen Wesens-

merkmal des Menschen: der Reflexivität. Insofern als nach Zdarzils Interpretation des

Menschen als Geist-Wesen, welchem die Fähigkeit zukommt, sich zu sich selbst zu

verhalten, d.h. in Distanz zu sich selbst treten und aus dieser Distanz heraus nur auf der

Basis der Reflexivität, d.i. durch rein rationale Abwägung mit Gründen entscheiden zu

können, wäre das Einbeziehen des Gefühlsbereichs nicht nur nicht notwendig, sondern

vielmehr nicht statthaft. Die Stringenz seiner Argumentation zeigt sich darin, daß die

Realisierung jeglichen sozialen Miteinanders an die nur durch die Reflexivität mögliche

Verpflichtung unter bestimmte Gesetze gebunden wird und in den Ausführungen zur

Bewältigung des Auftrags „Erziehung zur Mündigkeit“. Wie bereits oben ausgeführt muß

hierzu eine Grundlage gebildet werden durch „ein handelndes Einüben des kindlichen

Willens in eine bestimmte, vom Erzieher vorgesetzte Form der Sittlichkeit“81. Dieser

Prozeß der durch Identifikation statthabenden Internalisierung der Verhaltensnormen,

welche im Nachgang begründet wird, dient zur „Einübung des Zöglings in einsichtigen

Gehorsam [und] leitet ihn zur Selbstbestimmung unter der gegebenen sittlichen Forde-

rung an“82. Die tatsächliche Selbstverpflichtung als Akt des sich seines Selbsts bewußten

Zöglings erfolgt jedoch erst durch Infragestellung der bisher angeeigneten Form der

Sittlichkeit unter abwägendem Vergleich mit anderen Gestalten der Sittlichkeit und der

daraus folgenden mit Gründen belegten Entscheidung für und unter ein bestimmtes

81 Zdarzil, Herbert: a.a.O., S. 243 f. 82 Ebd. S. 244.

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sittliches Gesetz.83 Hier wird die Unabhängigkeit und die Kraft, die der Reflexivität als

Fähigkeit des Menschen nach Zdarzil zukommt, deutlich.

Während bei Roth der emotionalen Erziehung für seine Fassung der moralischen Mündig-

keit Bedeutung zugemessen wird, insofern als daß durch sie nach seinem Dafürhalten

Werturteile und Handlungsmotivationen ihre Grundlage finden, muß sie in Zdarzils Auf-

fassung vom Menschen eine Randerscheinung, ein möglicherweise unterstützendes

(auch er rezipiert die Untersuchungen von Spitz und anderen Wissenschaftlern bezüglich

der Bedeutung der emotionalen Fürsorge für die gesunde körperliche und intellektuelle

Entwicklung des Säuglings)84 aber vor allem für die Realisierung seiner Fassung des

Erziehungsziels Mündigkeit nicht notwendig zu berücksichtigendes Moment sein.

Welches Bild ergibt sich aus den beiden pädagogisch anthropologischen Untersuchungen

hinsichtlich der Gefühle und ihres Stellenwerts für Mensch in seinen Handlungsbezügen:

Während bei Zdarzil die Gefühle nur marginal Berücksichtigung finden, bilden die Gefühle

bei Roth als Anlaß zu Werturteilen einen wesentlichen Anteil an der menschlichen

Gesamtverfaßtheit85. Dabei ist die Förderung der dem Menschen nach Roth zukommen-

den grundsätzlichen Gefühlsansprechbarkeit im wesentlichen abhängig von Lernpro-

zessen. Roth betont die Bedeutung der Emotionen für die Ausbildung des Wertesystems

mit dem Hinweis darauf, daß Handlungsentscheidungen auf Wertentscheidungen

basieren, die von Gefühlen wesentlich beeinflußt werden.

Signifikant ist das in beiden Positionen vertretene Verständnis einer Dichotomie von Geist

und Gefühl, wobei eine wechselseitige Beeinflußbarkeit eingeräumt wird, dabei der

Geistigkeit jedoch das Primat über die Gefühle zukommt. Freilich finden sich bei der

Zuschreibung der Wirkmächtigkeit graduelle Unterschiede. Während es nach Roth dem

Menschen kraft seiner Geistigkeit möglich ist, Gefühle zu eruieren, d.h. zu rationalisieren

und damit zu kontrollieren, ermächtigt die Reflexivität nach Zdarzils Auslegung den

Menschen, zu sich selbst in Distanz treten zu können, mithin sich dem Einfluß der

Gefühlsverfaßtheit zu entziehen. Die beiden Grundannahmen: die Dichotomie von Gefühl

und Geist einerseits, sowie die richtungweisende moralische Kraft des Geistes anderer-

seits, unterliegen beiden Positionen gleichermaßen.

83 Vgl. ebd. 84 Vgl. ebd. S. 100. 85 Roth, Heinrich: Band I, S. 374 ff. und besonders S. 394.

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Die Problematisierung dieser beiden Grundannahmen, welche einer in langer Tradition

stehenden Denkweise entsprechen, ist Hauptgegenstand dieser Arbeit. Ausgegangen

wird von der These, daß neben der geistigen Veranlagung, die Fähigkeit, Gefühle zu

entwickeln, entscheidende Voraussetzung für die Überlebensfähigkeit des Menschen ist,

daß der Mensch insofern nicht nur das geistvollste, sondern auch das gefühlvollste

Lebewesen86 ist.

Vor dem Hintergrund dieser These konzentriert sich die Untersuchung vor allem mit

Bezug auf die Realisierung pädagogischer Zielsetzungen auf die Klärung der Fragen, wie

sich Gefühle entwickeln und welchen Einfluß Gefühle auf die Verfaßtheit des Menschen

und seine Lebensbezüge haben und das heißt ganz konkret: wie das Verhältnis zwischen

den Gefühlen und dem Denken vorzustellen ist. In diesem Zusammenhang wird aus-

drücklich darauf hingewiesen, daß obgleich der Fokus dieser Arbeit auf der Untersuchung

des Gefühlsbereichs liegt, nicht das Ziel verfolgt wird, den Gefühlen eine Vorrangstellung

über die geistigen Fähigkeiten einzuräumen und damit die Vorstellung einer Dichotomie

von Geist und Gefühl zu nähren, vielmehr ist die Intention, die Unauflösbarkeit des

Zusammenwirkens dieser beiden grundlegenden menschlichen Wesensmerkmale

aufzudecken und nachzuweisen, daß es ebensowenig eine rein sachliche, rationale,

vernünftige Entscheidung gibt, wie eine rein gefühlsmäßige, emotionale.

86 Hans Goller spricht in diesem Zusammenhang vom Menschen „als das emotionalste und das rationalste

Lebewesen“. Goller, Hans: Emotionspsychologie und das Leib-Seele-Problem. Stuttgart, Berlin, Köln 1992, S. 12.

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3 Die Bedeutung der Gefühle für das Wesen des Menschen

3.1 Einführung in die Problematik des Untersuchungsgegenstandes

Unser Umgang mit Gefühlen im Alltagsleben erweist sich in den meisten Fällen als selbst-

verständlich und ist wohl auch aufgrund dessen gekennzeichnet durch eine gewisse

Undifferenziertheit. Der selbstverständliche Umgang mit Gefühlen gründet zum einen

darin, daß der größte Teil unserer Tätigkeiten von Gefühlszuständen begleitet wird, dieser

Umstand aber in den meisten Fällen keinerlei Beachtung findet. In das Zentrum der

Aufmerksamkeit rücken Gefühle zumeist erst dann, wenn sie sich außerhalb des gewohn-

ten Intensitätsbereiches bemerkbar machen, sei es in negativer Weise, wie beispielsweise

in einer Situation, in der ein erwartetes Gefühl (im subjektiven Erleben) ausbleibt oder von

anderen nicht in erwarteter Weise gezeigt wird, oder in positiver Weise z.B., durch den

Ausdruck von „überschwenglicher“ Freude oder „unbegründeter“ Angst.

Dies verweist auf einen ersten, den Umgang mit den Gefühlen im Alltagsleben kenn-

zeichnenden Aspekt: Es gibt einen situationsspezifischen Normbereich nicht nur hinsicht-

lich der Intensität des eigenen Gefühlserlebens, sondern auch – und das ist besonders

bedeutsam – für den Ausdruck der Gefühlsverfaßtheit. Die Bedeutsamkeit von letzterem

erklärt sich dadurch, daß die Darstellung der Gefühlsverfaßtheit nicht unbedingt mit dem

inneren Erleben übereinstimmen muß, was jedoch im sozialen Miteinander keine große

Rolle spielt, da vor allem der normgerechte Gefühlsausdruck Beachtung findet. Auf die

Beziehung zwischen Gefühlsempfinden und Gefühlsausdruck wird später noch genauer

eingegangen, zunächst wird die Darstellung von Gefühlen eingehender in den Blick

genommen.

Das Wissen um die überkulturelle Ähnlichkeit beim Gesichtsausdruck von ganz be-

stimmten Gefühlen gilt heute, im Zeitalter der vielfältigen Möglichkeiten für nahezu

jedermann, der die nötigen finanziellen Mittel aufbringen kann, ohne großen Zeitaufwand

in jeden Winkel dieser Welt zu reisen und die daheim Gebliebenen mittels Dokumen-

tationen von Reisen in Form von Bild- und Tonmaterial an diesen Erlebnissen teilhaben

zu lassen, als Gemeinplatz. Vor ca. 130 Jahren jedoch, als diese Möglichkeiten noch nicht

gegeben waren, war dies für Charles Darwin87 im Rahmen seiner Studien für eine Evo-

lutionstheorie eine ungeklärte Fragestellung, der er durch die Versendung von Frage

87 Darwin, Charles: Der Ausdruck der Gefühle bei Mensch und Tier. Düsseldorf 1964.

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bögen an Missionare in alle Teile der Welt nachgegangen ist und durch deren Auswertung

er die Erkenntnis gewann, daß die Gesichtsmimik als Ausdruck von Gefühlszuständen

wie Angst, Ärger, Trauer, Wut, Scham, Ekel und Freude überkulturelle Ähnlichkeiten

aufweist. Anlaß für diese Untersuchung war die Klärung der Frage, ob die Gesichtsmimik

für den Ausdruck unterschiedlicher Gefühle genetisch bedingt sei oder nicht. Zwar

genügte Darwins Untersuchungsmethode nicht den Anforderungen an eine gesicherte

Erkenntnis bezüglich der Ausgangsfragestellung, sie regte aber andere Forscher88 zu

differenzierten Studien in den unterschiedlichsten Kulturen an, die zur Verifikation der

Ausgangsthese führten: die kulturübergreifende Ähnlichkeit in der Gesichtsmimik ist

genetisch bedingt. Nicht Gegenstand dieser Untersuchungen waren jedoch die Intensität

der anhand von Beschreibungen (Darwin) bzw. Fotographien (Ekman) identifizierten

Gefühlszustände und (begreiflicherweise) deren mögliche Auslöser.

Wie aber verhält es sich mit den Ursachen oder Auslösern von Gefühlszuständen? Daß

die Zuordnung von typischen Situationen und Verhaltens- bzw. Handlungsweisen an ganz

bestimmte Gefühlszustände zumindest teilweise auf Lernvorgängen beruht, zeigt sich

bspw. an der Genese des Ekelempfindens: So fassen Kleinkinder nicht nur alle Dinge, die

ihr Interesse erregen – sei es Spielzeug, Steine und Holzstöckchen ungeachtet des Zu-

standes – an und nehmen sie in den Mund, sondern spielen auch im Alter von 2 – 3

Jahren recht unbefangen mit ihren Ausscheidungsprodukten und lernen erst allmählich,

daß sich dies „nicht gehört“, indem diese Tätigkeiten von den Bezugspersonen mit „Pfui“-

Rufen oder ähnlichem und dem dazugehörigen Gesichtsausdruck beantwortet werden,

wodurch das Kind zum Unterlassen dieser Aktivitäten bewegt werden soll. Unter-

schwelliges (weil nicht unbedingt bewußtes) Ziel dieser unverhohlenen Mißfallens-

äußerungen durch Worte, Mimik und Gestik ist, bei dem Kind ein Ekelempfinden diesen

Aktivitäten gegenüber hervorzurufen, was dann dazu führt, daß diese generell, d. h. auch

in unbeobachteten Momenten, unterlassen werden.

Kulturübergreifend lassen sich die Unterschiede im Ekelempfinden sehr gut an der

Präferenz oder der Ablehnung von Speisen verdeutlichen. Für den größten Teil der im

westlichen Kulturkreis sozialisierten Personen ist das Verspeisen von lebenden Maden

ekelerregend, während dies bei einigen Naturvölkern eine Köstlichkeit darstellt.

88 Ekman, Paul: Gesichtsausdruck und Gefühl. 20 Jahre Forschung von Paul Ekman. Paderborn 1988. Siehe

hierzu auch Eibl-Eibesfeld, Irenäus: Der vorprogrammierte Mensch. Das Ererbte als bestimmender Faktor im menschlichen Verhalten. Vollst. durchges., aktualisierte u. erw. Neuaufl. Kiel 1988.

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Auch die meisten Angstauslöser werden anerzogen, wobei hier, wie empirische Untersu-

chungen zutage brachten, genetische Dispositionen wohl bewirken, daß einige Situa-

tionen leichter mit Angst belegt werden können als andere, hier zu nennen sind bspw. die

Angst vor dunklen Räumen und auch die Angst vor weiten, offenen Plätzen. Daß darüber

hinaus Ängste aber nahezu beliebig, d.h. auch vor vollkommen ungefährlichen Objekten,

erlernbar sind, zeigte als erster der Konditionstheoretiker Watson an einem Versuch mit

dem kleinen Albert, dem er die Angst vor einer weißen Ratte ankonditionierte.89 Neuere

Ergebnisse neurophysiologischer Forschungen auf dem Gebiet der Angstforschung

bestätigen diesen Befund. Daß auch bezüglich der angstauslösenden Objekte oder

Situationen neben individuellen auch erhebliche kulturelle Unterschiede bestehen, ist

evident.

Deutliche kulturelle bzw. regionsspezifische Unterschiede finden sich auch hinsichtlich der

Intensität der Darstellung von Gefühlen. In der deutschen Kultur gilt im allgemeinen ein

gemäßigter Ausdruck des Gefühlserlebens als angemessen. Zu lautes Lachen oder

Jauchzen als Ausdruck für Freude, öffentliches Weinen oder lautes Schreien als offenkun-

diger Ausdruck von Trauer oder Ärger bzw. Wut, ebenso wie allzu deutlich gezeigte

Unsicherheit erzeugen in den meisten Fällen Irritation bzw. den Unwillen der Umgebung

(man denke nur an die oftmals gehörten Aufforderungen: „Nun reiß dich aber mal zusam-

men, oder: Lassen Sie sich nicht so gehen.“). Ein wohlbekanntes Beispiel für die Unter-

schiede der Umgangsformen in der Gefühlsdarstellung im interkulturellen Vergleich ist

das über Stunden andauernde öffentliche Beweinen von Toten als Zeichen der Trauer,

was in der deutschen Kultur nur in ganz besonderen Ausnahmefällen ohne Unwillen

geduldet würde.

Die innerhalb einer Kultur beobachtbaren individuellen Unterschiede im Ausdruck von

Gefühlszuständen in Form von offener oder verhaltener Äußerung des Gefühlserlebens

wird zumeist auf die individuelle Temperamentausstattung zurückgeführt. Im übergeord-

neten Sinne wird in diesem Zusammenhang auch häufig der Begriff „Mentalität“ ge-

braucht. Mentalitäten und die darunter gefaßte Temperamentausstattung dient häufig zur

Erklärung von regions- oder kulturspezifischen Gefühlsäußerungen, wobei die Unter-

schiede oftmals auch auf den Einfluß regionsspezifischer klimatischer Bedingungen

zurückgeführt werden: als Beispiele seien hier genannt der heißblütige oder tempera-

mentvolle Südländer oder der kühle Norddeutsche.

89 Vgl. hierzu die Darstellung von Meyer, Wulf-Uwe, Schützwohl, Achim; Reisenzein, Rainer: Einführung in

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Der letzte Punkt verweist auf die oben bereits angerissene Problematik: die Korrelation

zwischen Ausdruck und Intensität von Gefühlsempfindungen: Der in Verbindung mit der

Temperamentausstattung gebräuchliche Begriff Mentalität (der den lat. Begriff: mens,

mentis: der Geist beinhaltet) zur Umschreibung der Gesamtverfaßtheit einer Person,

nämlich deren „Geisteshaltung [und] Sinnesart“90 schließt die Disposition zur Intensität

von Gefühlserleben und den Umgang mit Gefühlszuständen ein. Das aber bedeutet zum

einen, daß von dem „zur Schau gestellten“ Gefühlsausdruck auf die Erlebensintensität

geschlossen wird und zum anderen läßt sich hieraus ersehen, daß eine Disposition für

Gefühlserleben als eine Art naturgegebenes (genetisch bedingtes) Phänomen angesehen

wird, das aus diesem Grund einer vollständigen Kontrolle entzogen ist. Diese selbstver-

ständlichen Annahmen müssen jedoch aus mehreren Gründen in Frage gestellt werden:

Erstens läßt sich – wie bspw. gute Schauspieler eindrucksvoll demonstrieren – der

Ausdruck von Gefühlszuständen in jeder Intensität auch „darstellen“91. Inwieweit zweitens

– und hier handelt es sich um eine der zentralen Problemstellungen im Gefühlsbereich –

diese Darstellungen tatsächliche Gefühlszustände widerspiegeln oder gar initiieren, läßt

sich nicht zweifelsfrei nachvollziehen. Dies bedeutet ganz konkret: die intuitiv angenom-

mene Korrelation zwischen Gefühlsdarstellung in Mimik, Gestik und Sprache und der

tatsächlich vom Gegenüber erlebten Gefühlsintensität entzieht sich der letztendlichen

objektiven Beweisbarkeit.

Fassen wir das bisher Gesagte kurz zusammen: die Gesichtsausdrücke für unterschied-

liche Gefühle weisen überkulturelle Ähnlichkeiten auf, jedoch finden sich gruppen- und

kulturspezifische Unterschiede in den Auslösern für bestimmte Gefühle sowie deren

Äußerungsintensität, wobei im alltäglichen Erleben, wie sich durch die Zuordnung von

unterschiedlichen Arten der Gefühlsäußerung zu bestimmten Temperamenten oder

regions- bzw. kulturspezifischen Mentalitäten zeigt, von der Ausdrucksintensität auf die

tatsächliche Intensität des erlebten Gefühlszustandes geschlossen wird. Dieses den

alltäglichen Umgang mit Gefühlen kennzeichnende Verständnis impliziert die Vorstellung,

daß die Disposition für die Art wie Gefühle erlebt werden, als Teil der individuellen

genetischen Ausstattung angesehen wird, womit begründet wird, daß Gefühle nur

begrenzt beeinflußbar, d.h. steuerbar und beherrschbar sind. Die Nachhaltigkeit dieser

wie oben gezeigt, aus mehreren Gründen wenn nicht fragwürdigen, so doch zumindest

nicht objektiv beweisfähigen Annahme, zeigt sich an deren Niederschlag in der Recht-

sprechung. Bei strafbaren Handlungen, die nachweislich aus einer intensiven Gefühls-

die Emotionspsychologie. Band 1, 1. Nachdruck. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle 1997, S. 56 ff. 90 Duden: Das Fremdwörterbuch. 5., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim 1990. 91 Siehe hierzu oben die Ausführungen zu Zdarzil in Kapitel 2, S. 16.

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verfaßtheit heraus begangen wurden, wirkt dieser Umstand strafmildernd92. Die Justiz

folgt dabei augenscheinlich der Annahme, daß der offenkundige Einfluß der Gefühle auf

die menschliche Verfaßtheit bei ausreichender Intensität über die Kraft der Vernunft siegt,

und somit die straffällige Handlungsweise überhaupt erst möglich macht.

Daß den Gefühlen darüber hinaus jedoch generell auch eine regelnde Funktion zuge-

sprochen wird, läßt sich ebenfalls an der Rechtsprechung verdeutlichen. Straftaten

nämlich, die aus niederen Beweggründen wie bspw. „kaltblütige“ Rache begangen

werden, werden als schlimmste Vergehen geahndet und demgemäß mit Höchststrafen

belegt93.

Die vorstehende Sammlung einiger wichtiger Merkmale der Gefühle dient bei genauerer

Betrachtung als Einstieg in die komplexe Problematik dieses Gegenstandes. Denn das

einzige, was relativ zweifelsfrei feststeht ist, daß die Gesichtsmimik beim Ausdruck von

bestimmten Gefühlszuständen deutliche überkulturelle Ähnlichkeiten aufweist. Ansonsten

jedoch zeigt schon die bisher vorgenommene fragmentarische Zusammenstellung, daß

nicht nur die Entwicklung einzelner Gefühlszustände von so vielen unterschiedlichen

Faktoren beeinflußt wird, daß deren Nachvollzug nahezu unmöglich scheint, sondern

auch die Verifikation eines individuell erlebten Gefühlserlebnisses aufgrund mangelnder

objektiver Meßkriterien begrenzt ist. Demgemäß scheint das den Gefühlen anhaftende

Attribut der „Irrationalität“, welches überhaupt erst die Forderung begründet, sie in

Entscheidungs- und Handlungssituationen möglichst unberücksichtigt zu lassen, nur allzu

berechtigt.

Bei genauerer Betrachtung erweist sich diese Forderung jedoch als Aporie, insofern als

daß die Möglichkeit, sich von etwas distanzieren zu können, notwendig voraussetzt, die

Umstände oder die Gegebenheiten zu kennen und damit auch benennen zu können, die

unberücksichtigt bleiben sollen. Folgt man nun der Annahme, daß die Zuschreibung

„Irrationalität“ in bezug auf Gefühle ihre Berechtigung hat, ist dieser Forderung de facto

nicht nachzukommen, da sie sich einem rationalen Zugang verschließen und somit nicht

erkennbar bzw. benennbar sind. Und davon einmal abgesehen: selbst dann, wenn ein

92 Vgl.: StGB § 20, § 33 – Strafgesetzbuch (StGB) vom 15. Mai 1871 (RGBl. S. 127) in der Fassung der

Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I, 3322) zuletzt geändert durch das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten (Prostitutionsgesetz-ProstG) vom 20.12.2001 (BGBl. I, 3983. Gesetzesstand 1.1.2002) www.bib.uni-mannheim.de/bib/jura/gesetze/stgb-at1.shtml#TAT-TIT1 06.09.2002 20.30 Uhr.

93 Ebd. § 211, www.bib.uni-mannheim.de/bib/jura/gesetze/stgb-bt3.shtml#LEBEN 06.09.2002 20.35 Uhr.

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Gefühlszustand vollkommen bewußt wahrgenommen wird, ist es fraglich, ob der Mensch

sich überhaupt und wenn ja, inwieweit von diesem Gefühlszustand distanzieren kann.

In welchem Zusammenhang aber stehen Gefühle mit unseren Lebensvollzügen? Kommt

ihnen durch ihre Wirkungsweise eine Funktion zu und welcher Gestalt ist diese Wirkungs-

weise? Unbestreitbar haben Gefühle Einschätzungscharakter, d.h. mittels bspw. Freude,

Angst, Ärger, Trauer und Scham werden Situationen bewertet und auf der Basis dieser

Bewertungen Entscheidungen getroffen und Verhaltens- sowie Handlungsvollzüge

motiviert. Problematisch ist, daß diese Art Bewertungen jedoch in den meisten Fällen

nicht genau nachvollziehbar sind, denn sie erfolgen zumeist auf der Basis der bislang

gesammelten je individuellen Lebenserfahrung. Verdeutlichen wir das an einem Beispiel:

Nehmen wir an, ein Arbeitswechsel steht an: Bewerbungsschreiben haben die Wahlmög-

lichkeit zwischen zwei ähnlich gelagerten neuen Arbeitsstellen eröffnet. Die wesentlichen

vordergründigen Unterschiede zwischen beiden sind Entfernung vom Wohnort und Ent-

lohnung: die Arbeitsstelle, die dem Wohnort sehr nahe ist, wird auch deutlich höher

entlohnt als die Alternative. Nun muß eine Entscheidung zwischen den beiden Wahlmög-

lichkeiten getroffen werden. Die Ratschläge von Familienangehörigen, Freunden und

Bekannten werden eingeholt, Für und Wider wird abgewogen – schließlich fällt die Ent-

scheidung entgegen des häufigsten Ratschlags für den weiter entfernt gelegenen und

geringer bezahlten Arbeitsplatz.

Oder ein anderes Beispiel: ein Arbeitsplatz wird ausgeschrieben, nach der Sichtung der

Bewerbungen bleiben zwei Bewerber übrig. Für einen der beiden sprechen die ausge-

zeichneten Qualifikationen sowie die Souveränität im persönlichen Vorstellungsgespräch.

Dem Mitbewerber dagegen fehlen sowohl die als Zeugnisse vorzeigbaren Qualifikationen

als auch Souveränität im persönlichen Gespräch. Trotzdem entscheidet die Geschäfts-

leitung für die Einstellung des letzteren.

Die Frage nach den Gründen für die erste Entscheidung könnte wie folgt beantwortet

werden: „ich habe den Eindruck, daß das Arbeitsklima bei der ausgewählten Arbeitsstelle

besser ist“, die Begründung für die Auswahl im zweiten Beispiel könnte lauten: „wir hatten

den Eindruck, daß der Mitarbeiter sich besser in das Team einfügen wird.“

Die Entscheidungen werden also auf Eindrücke zurückgeführt. Eine genauere Nachfrage,

worauf diese Eindrücke denn begründet seien, würde wahrscheinlich recht diffuse

Antworten, wie die Mitarbeiter/der Kandidat wirkte(n) aufgeschossener, flexibler, auf-

nahmefähiger, freundlicher, interessierter etc. nach sich ziehen. Fest steht, nicht die rein

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rational nachvollziehbaren Kriterien, die eine Präferenz begründen könnten, waren bei

den angeführten Beispielen ausschlaggebend, sondern der „Gesamteindruck“ einer von

und durch Menschen gestalteten Umgebung bzw. die „Ausstrahlung“ eines Mensch

wirkten auf die Entscheidung.

Daß diese Beispiele keineswegs der Realität entbehren, läßt sich aufzeigen an einem

Sachverhalt, der tagtäglich passieren kann: Wir begegnen einem Menschen, den wir nicht

kennen und er ist uns „auf Anhieb sympathisch (oder auch unsympathisch)“, d.h. wir

fühlen uns angezogen oder abgestoßen, ohne, daß wir für das eine oder das andere

genaue Gründe angeben könnten. Die Nachhaltigkeit eines ersten Eindrucks, der häufig

auch Bestätigung findet – und sei es durch die eigene ablehnende Haltung dem

Betreffenden gegenüber – ist bekannt. Oftmals kann sich ein erster Eindruck jedoch

ebenso gut als Vorurteil herausstellen, welches nach einem intensiveren Kontakt revidiert

werden muß.

Der Vorwurf der Irrationalität der Gefühle scheint also durchaus berechtigt, denn wie

bisher gezeigt wurde, erweist es sich als problematisch, Gefühle überhaupt zu realisieren,

dann zu identifizieren und danach noch ihre möglichen Ursachen zu eruieren. Und nicht

nur, daß es uns schwerfällt, die Ursachen für unsere je eigenen unterschiedlichen

Gefühlszustände präzise zu rekonstruieren, ohne dabei einem Irrtum zu unterlaufen,

darüber hinaus sind sie auch schwer zu vermitteln.

Die Schwierigkeit, einen Gefühlszustand präzise mitzuteilen oder ihn für Außenstehende

nachprüfbar zu machen, selbst dann, wenn er vollkommen bewußt wahrgenommen wird

und vollkommen klar identifiziert ist, scheint das Bild der Irrationalität der Gefühle zu

vervollständigen. Wie groß die Angst ist, die man vor bzw. in einer Prüfungssituation hat,

wie tief die Zuneigung zu einer Person ist, wie niederschmetternd und lähmend die Trauer

durch den Verlust eines geliebten Menschen – die subjektive Erlebnisqualität ist weder

direkt kommunizierbar noch verifizierbar.

All diese Charakteristika bestätigen die Unwägbarkeit der Gefühle – und dennoch, jeder

Mensch glaubt zu wissen, was Angst ist, was Freude, was Scham und Ärger, Wut. Wir

können subjektiv unterscheiden zwischen Furcht und Panik, zwischen Zuneigung und

Liebe und wir wissen subjektiv und situativ, daß Ärger nicht immer auch Wut ist. Und

trotzdem wir unsere Vorurteilslastigkeit in der Beurteilung von Personen und Situationen

kennen und daher wissen, daß wir kritisch mit einem ersten Eindruck umgehen sollten,

verlassen wir uns in der Regel darauf, „vertrauen wir unserem Gefühl“.

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Der sich aufgrund der bisher gesammelten Fakten möglichen Frage, wie denn ein Mensch

ohne Gefühle vorzustellen sei, kann – schon um der Gefahr eines naturalistischen Fehl-

schlusses zu entgehen – hier nicht nachgegangen werden, da sie auf der Basis der bis

heute zur Verfügung stehenden Fakten nicht beantwortet werden kann. Hier soll vielmehr

versucht werden, „Licht in das Dunkel“ des komplexen Zusammenhangs zwischen

Denken und Fühlen zu bringen mit dem Ziel, zur Beantwortung der Frage beizutragen:

welchen Anteil Gefühle an der Bewertung von Situationen und Sachverhalten und somit

nicht nur Einfluß auf Entscheidungs- und Handlungsvollzüge haben, sondern auch auf die

Strukturierung der je individuellen Wirklichkeitserfassung.

Daß die Grundlage für eine Gefühlsverfaßtheit bereits zu Beginn unseres Lebens

geschaffen wird, läßt sich aus diversen Studien zum Zusammenhang zwischen Mutter-

Kind-Beziehung und Säuglingsentwicklung schließen. Die Notwendigkeit einer grund-

legenden gefühlsmäßigen Bindung im Säuglingsalter wurde zunächst durch eine recht

spektakuläre Untersuchungsreihe in der Mitte des letzten Jahrhunderts von Renè Spitz94

und seinen Mitarbeitern unter Beweis gestellt. Die Untersuchungsreihe über den Zusam-

menhang zwischen der Entwicklung im ersten Lebensjahr und der Mutter-Kind-Beziehung

beschränkte sich der besseren Zugänglichkeit wegen auf die Beobachtung von Klein-

kindern, die in Säuglingsheimen und Findelhäusern untergebracht waren. Das er-

schreckende Ergebnis dieser Studie waren die erheblichen psychischen und somatischen

Störungen bis hin zum Tod, die sich bei den Säuglingen zeigten, die in einem Findelhaus

untergebracht waren, in dem sie zwar hinsichtlich Ernährung, Hygiene, sowie medizi-

nischer und medikamentöser Behandlung angemessen versorgt wurden, ihnen jedoch

aufgrund Personalmangels neben der Grundversorgung keinerlei weitergehender Kontakt

gewährt werden konnte. Je länger es den Kindern an „affektive Zufuhr“ mangelte, desto

erheblicher waren die Störungen und desto drastischer stieg die Letalitätsrate. „Das

Fehlen dieser mütterlichen Fürsorge kommt einem emotionellen Verhungern gleich. Wir

haben gesehen, daß dieses einen fortschreitenden Verfall herbeiführt, der sich auf die

ganze Person des Kindes erstreckt. Dieser Verfall manifestiert sich zuerst in einer

Stockung in der psychischen Entwicklung des Kindes; dann setzen psychische Funktions-

störungen ein, mit denen somatische Veränderungen einhergehen. Im nächsten Stadium

führt dies zu gesteigerter Infektionsanfälligkeit und schließlich, wenn der Mangel an

affektiver Zufuhr bis ins zweite Lebensjahr hinein andauert, zu einer auffallenden

94 Spitz, René A. unter Mitarbeit von Cobliner, Godfrey W.: Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte

der Mutter-Kind-Beziehungen im ersten Lebensjahr. Sonderausgabe. Stuttgart 1987.

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Erhöhung der Sterblichkeitsquote.“95 „Von den 91 anfänglich im Findelhaus beobachteten

Kindern waren bis zum Endes des zweiten Jahres 34 gestorben, 57 lebten noch.“96 Spitz

betont ausdrücklich, daß es sich hier um einen Mangel an „affektiver (emotionaler) Zufuhr“

handelt, nicht um eine „sensorische Zufuhr“ wobei er zugibt, daß diese beiden Kompo-

nenten schwer zu trennen sind.97 Jedoch führt er mit Bezug auf die bis dato bekannten

Untersuchungen „[...] mit einer Reihe von Tierarten, die auf dem Gebiet des Entzugs

sensorischer Zufuhr durchgeführt [...] [wurden], daß die Folgen desto schwerwiegender

sind, je höher die Evolutionsstufe ist, auf der die betreffende Spezies steht. [...] Dem-

entsprechend ist die Genesung nach länger andauerndem Entzug sensorischer Zufuhr bei

Vögeln, wie z. B. Enten, schnell und leicht. Schon bei Graugänsen sind die Wirkungen

schwer wieder rückgängig zu machen. Bei niederen Säugetieren ist das Bild ähnlich. Aber

wenn wir zu Harlows Rhesusaffen kommen, werden die Folgen des Entzugs affektiver

Zufuhr vollkommen irreversibel. Harlow stellt fest, diese Folgen äußerten sich vor allem

in einer Störung der seelischen Funktionen, der Reaktionen und der sozialen

Beziehungen des Tieres.“98

Diese Ergebnisse wurden in der folgenden Zeit durch diverse weitergehende Untersu-

chungen unterstützt und dahingehend erweitert, daß für eine gesunde körperliche und

seelische Entwicklung eine stabile emotionale Bindung, die durch eine möglichst

konstante Bezugsperson realisiert wird, in den ersten 3 Lebensjahren unerläßlich ist.99

Folgen wir diesen Untersuchungsergebnissen, ist am Beginn unseres Lebens also das

Eingebettet sein in einer stabilen gefühlsgetragenen Beziehung zumindest für unsere

gesunde körperliche und seelische Entwicklung – nach Spitz auch für unser Überleben –

ebenso wichtig, wie eine ausreichende Vorsorgung unserer rein körperlichen Bedürfnisse.

Doch wie entwickelt sich die Gefühlsvielfalt, die unseren Zugang zur Welt mitgestaltet und

damit auch am Umgang mit Welt beteiligt ist. In welcher Beziehung stehen Gefühle zu

unserem Denken? Entziehen sich Gefühle tatsächlich einem rationalen Zugriff? Der

Suche nach Antworten auf diese Fragestellungen sind die folgenden Kapitel gewidmet.

95 Ebd. S. 291-292. 96 Ebd. S. 293. 97 Vgl. ebd. 98 Ebd. S. 294-295. (2. Hervorheb. B.K.) 99 Vgl. hierzu: Bowlby, John: Bindung. Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung. München 1975 und ders.:

Trennung. Psychische Schäden als Folge der Trennung von Mutter und Kind. München 1976; Kagan, Jerome: Die Natur des Kindes. München, Zürich 1987. Mahler, Margaret S., Pine, Fred, Bergman, Anni: Die psychische Geburt des Menschen. Symbiose und Individuation. Frankfurt/Main 1978; Stern, Daniel: Mutter und Kind. Die erste Beziehung. 1. Auflage. Stuttgart 1979.

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36

Diesem Unternehmen voraus geht jedoch eine Diskussion um die Begriffsbestimmung

des Untersuchungsgegenstandes.

3.2 Die Problematik der Begriffsbestimmung

Eine Begriffsbestimmung des Untersuchungsgegenstandes vorzunehmen erscheint zwar

unerläßlich, ist dabei jedoch höchst problematisch, da mittels eines solchen Unter-

nehmens zum einen dem Gegenstand immer schon bestimmte Eigenschaften zuge-

schrieben werden, die als zwar notwendige Voraussetzungen gelten, diese jedoch oftmals

nicht bewiesen bzw. (bisher) nicht beweisfähig sind. Mit dieser Vorgehensweise wird zum

anderen das Ziel verfolgt, die Betrachtungsweise auf den Gegenstand auf eine bestimmte

Perspektive hin einzugrenzen – man nennt diesen Vorgang auch „Komplexitätsreduktion“

–, um ihn einer Untersuchung überhaupt zugänglich zu machen. Die Problematik eines

solchen Procedere gerade für den Bereich der Gefühle offenbart sich nicht nur in den

unterschiedlichen Herangehensweisen der Psychologen an diese Thematik und der

daraus bspw. resultierenden Kognitions-Emotionsdebatte, die im nächsten Kapitel noch

eingehend erläutert wird. Sie spiegelt sich auch in den philosophischen Untersuchungen

zum ontologischen Dualismus, der auch als das Leib-Seele-Problem diskutiert wird. Der

Einfluß philosophischer Paradigmen und deren Implikationen in den Grundvoraus-

setzungen auf Theorieentwicklungen läßt sich eindrucksvoll verdeutlichen an Peter Bieris

kritischen Überlegungen zur Theorie des ontologischen Dualismus100. Als Vertreter des

nichtreduktiven Materialismus entwickelt er drei Sätze, die seiner Ansicht nach aus der

intuitiven Trennung von mentalen und physischen Phänomenen resultieren und die

traditionelle Problematik der Leib-Seele-Trennung darstellen:

„(1) Mentale Phänomene sind nicht-physische Phänomene.

(2) Mentale Phänomene sind im Bereich physischer Phänomene kausal wirksam.

(3) Der Bereich physischer Phänomene ist kausal geschlossen.“101

Zu den mentalen102 Phänomenen zählt er „[...] Gedanken und Meinungen, Motive,

Wünsche, Erwartungen, Absichten und Interessen, Erinnerungen, Träume und

Vorstellungsbilder, Gefühle wie Angst, Freude und Zorn, Stimmungen wie Heiterkeit und

100 Bieri, Peter: Generelle Einführung. In: Ders. (Hrsg.): Analytische Philosophie des Geistes. 2., verb. Aufl.,

Bodenheim 1993, S. 1 - 28. 101 Ebd. S. 5. 102 Der Begriff „mental“ ist gleichbedeutend mit geistig, seelisch oder psychisch und ist gewählt weil „‚mental‘

von den vier Ausdrücken am wenigsten festgelegt zu sein scheint, weil er am wenigsten geläufig ist. „Das gibt die Möglichkeit, ihn als terminus technicus für alle Phänomene zu gebrauchen, die in einem onto-

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37

Melancholie, Empfindungen wie Schmerz, Lust, Ekel und Übelkeit usw.“103. Beispiele für

körperliche Phänomene sind: „Herz- und Lungentätigkeit, Muskeltonus, die zahllosen

Stoffwechselvorgänge im Körper, die Schwankungen im Aktionspotential des Gehirns

usw.“104. Bieri klassifiziert diese Unterscheidungen als „intuitiv“105 und genau diese

„intuitiv“ gewonnenen Unterscheidungen dienen ihm als Grundlage für die Auflösung106

der Problematik, die darin besteht, daß alle drei oben explizierten Sätze gleichzeitig

Geltung beanspruchen. Die genaue Untersuchung der Thesen macht deutlich, daß eine

gleichzeitige Geltung aller drei nicht möglich ist, womit das Problem nicht gelöst werden

kann, sondern aufgelöst werden muß. Auflösung aber bedeutet, daß einer der drei Sätze

aufgegeben werden muß.

Da es die Voraussetzungen des ontologischen Dualismus zu verbieten scheinen, den

ersten Satz aufzugeben, muß zunächst die Geltung des zweiten Satzes – die Annahme

der mentalen Verursachung physischer Phänomene – geprüft werden: Dies erfolgt im

Hinblick auf die kritische Reflexion zweier Theorien, des von Geulincx und Leibniz

vertretenen psychophysischen Parallelismus einerseits und des Epiphänomenalismus

andererseits. Der psychophysische Parallelismus ist dadurch gekennzeichnet, daß der

Zusammenhang zwischen dem Bereich des Mentalen und dem Bereich des Physischen

verglichen wird mit dem Bild zweier synchronisierter aber untereinander nicht verbun-

dener Uhren. Wichtig sind dabei die beiden, dieser Annahme zugrundeliegenden Thesen,

daß entsprechend des Uhrenbeispiels, erstens zwar innerhalb eines einzelnen Systems

kausale Beziehungen bestehen, zweitens zwischen den Organisationen jedoch keinerlei

Kausalwirkung auszumachen und jede Korrelation zwischen diesen beiden Systemen rein

zufällig ist, auch der Bereich des Mentalen ebenso wie der Bereich des Physischen in sich

kausal geschlossen sind und sich nicht gegenseitig bedingen. Die Unhaltbarkeit dieses

Gedankens expliziert Bieri mit dem Argument, daß nicht alle mentalen Phänomene durch

andere mentale Phänomene erklärt werden könnten und demnach der mentale Bereich

nicht kausal geschlossen sein könne. Als Belegbeispiel dient ihm ein auf einen

Schmerzzustand rückführbarer Gedanke, einen Arzt aufzusuchen, wobei der „Schmerz

seinerseits aber [...] sich nicht mehr vollständig durch andere mentale Phänomene

logischen Dualismus als nicht-physische gelten: von Körperempfindungen wie Schmerz über emotionale Zustände wie Zorn bis zu kognitiven Phänomenen wie Gedanken und Meinungen. [...]“ Ebd. S. 4.

103 Ebd. S. 2. 104 Ebd. 105 Ebd. 106 Ebd. S. 7.

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erklären [läßt]. Die Erklärung muß auf Phänomene in meinem Körper zurückgreifen. Zu

vieles, was nicht selbst mental ist, affiziert das Mentale.“107

Auch der epiphänomenalistische Standpunkt, der zwar eine Kausalwirkung innerhalb der

beiden Bereiche anerkennt, diese jedoch auf die einseitige Beeinflussung des Physischen

auf das Mentale beschränkt, wird außer Kraft gesetzt durch den Aufweis dessen „intuitiv

paradoxe[r] Konsequenz: Unser Leben würde auch ohne mentale Zustände und ohne

Bewußtsein genauso verlaufen, wie es faktisch verläuft. Und daß diese Konsequenz

paradox ist, heißt einfach, daß es uns intuitiv unmöglich scheint, die Annahme mentaler

Verursachung aufzugeben.“108

Demgemäß steht die Prüfung der Geltung des dritten Satzes - die kausale Geschlossen-

heit physischer Phänomene - an: Die Aufgabe dieses Satzes aber würde bedeuten, ein

„regulatives Prinzip der empirischen Forschung“109 aufzugeben, das besagt: „Ein

physisches Phänomen gilt erst dann als erklärt, wenn wir eine physische Ursache dafür

gefunden haben.“110 Dieses als methodologischer Physikalismus bezeichnete konserva-

tive Prinzip aufzugeben aber hieße „die Regel der Naturwissenschaften aufzugeben, daß

man zur Erklärung von Phänomenen der Natur nach physischen Ursachen suchen

muß.“111 Daß dieses Prinzip nicht generell aufzugeben ist, steht außer Diskussion, aber

auch dessen partielle Aufgabe für die Bereiche des Verhaltens und gewisser körperlicher

Zustände erscheint nicht gerechtfertigt, da auch sie ein Teil der Natur sind „und warum

sollten wir [nur aus Mangel an empirischem Wissen] mit der anderswo erfolgreichen

physikalistischen Maxime auf die Dauer nicht auch hier Erfolg haben?“112.

Die Auflösung der Problematik besteht also nach Bieri in der Aufgabe des ersten Satzes

hin zur Adaption des Gedankens, „daß mentale Phänomene in Wirklichkeit eine Art von

physischen Phänomenen sind. [...] [W]enn wir wirklich verstehen wollen, wie unsere

mentalen Zustände in der physischen Welt wirksam sein können, müssen wir den

ontologischen Dualismus aufgeben.“113

107 Ebd. 108 Ebd. S. 8. 109 Ebd. S. 6. 110 Ebd. 111 Ebd. S. 8 112 Ebd. 113 Ebd. S. 8 und 9.

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Daß die Aufgabe des ontologischen Dualismus keineswegs alle Probleme beseitigt,

sondern vielmehr neue schafft, verdeutlicht Bieri durch die Darstellung der Ansätze der

unterschiedlichsten Formen des Materialismus zur Klärung der Frage, inwiefern sich die

mentalen Phänomene in ihrer physiologischen Qualität begreifen lassen. Die Probleme

und Schwierigkeiten, die Bieri an diesen Ansätzen aufdeckt114, sind „zwar prinzipieller

Natur [...] und [können] nicht leicht behoben werden [...]. Das ändert nichts an der

materialistischen Einsicht, daß das Leib-Seele-Problem des ontologischen Dualismus

aufgelöst werden muß, und daß es nur aufgelöst werden kann, wenn es uns gelingt,

mentale Phänomene als eine Art von physischen Phänomenen zu verstehen.“115

Diese Kritik führt Bieri zu dem Votum für den „nicht-reduktiven Materialismus: einem

Materialismus, der nichts von dem eliminiert oder unterdrückt, was uns für mentale

Phänomene essentiell zu sein scheint, und der verständlich macht, was es heißt, daß

mentale Phänomene in ihrem vollen Gehalt ein Teil der Natur sind.“116 Die Chance, die

hierin gesehen wird, ist vor allem, die Philosophie für den wissenschaftlichen Realismus

zu öffnen, da das bisherige Programm der Philosophie des Geistes, die reine begriffliche

Analyse ohne die Berücksichtigung der Erkenntnisse empirischer Wissenschaften, sich

dem Vorwurf des begrifflichen Konservativismus stellen muß. Damit ist der Philosophie

neben einer diagnostischen Aufgabe, die darin besteht, eventuell sachfremde Motive, die

einer unverstellten Analyse des Mentalen entgegenstehen könnten, aufzudecken, zwar

weiterhin die begriffliche Analyse aufgegeben, jedoch mit deutlicher Bezugnahme auf die

„wissenschaftlichen Realisten“. In diesem Sinne ist „[d]ie Philosophie des Geistes [...] eine

Art Metatheorie der empirischen Wissenschaften vom Mentalen, ein fortlaufender

kritischer Kommentar zu den begrifflichen Problemen empirischer Theorien. Durch den

wissenschaftlichen Realismus wird die Philosophie des Geistes zur Philosophie der

empirischen Psychologie. Die Rolle, die der Philosophie hier zufällt, ist eine Art Vermittler-

rolle: Sie muß die Beziehungen sichtbar machen, die zwischen neuen empirischen

Theorien auf der einen Seite und unseren alten mentalistischen Beschreibungen und

Erklärungen von Personen auf der anderen Seite bestehen. Das Thema der Philosophie

ist, um eine Formel von Wilfrid Sellars zu gebrauchen, die Spannung zwischen unserem

Common-sense-Weltbild und dem Weltbild, das sich aus den fortschreitenden

empirischen Wissenschaften ergibt.“117

114 Der Darstellung und Kritik dieser verschiedenen Ansätze kann an dieser Stelle nicht nachgegangen

werden. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf Bieri, Peter: Erster Teil. Materialismus. Einleitung. a.a.O., S. 31 – 55.

115 Ebd. S. 51. 116 Ebd. S. 51 – 52. 117 Ebd. S. 25.

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Es ist nicht der Ort, um die weitreichende Debatte um die Präferenz von Monismus bzw.

ontologischem Dualismus nachzuzeichnen, Hans Goller hat hierzu eine Arbeit vorgelegt,

in der er nach der kritischen Sichtung unterschiedlicher Standpunkte für den „pragmatisch

interaktionistischen Dualismus“ argumentiert, der „eine kausale Interaktion zwischen Men-

talem und Physischem [postuliert]. Er bestreitet die Vollständigkeit der physikalischen

Kausalerklärungen bei neurophysiologischen Prozessen und überbrückt die Unzulänglich-

keiten physikalischer Kausalität bei der Erklärung von Erleben und Verhalten mit Hilfe

psychologischer Kausalgesetze.“118 Damit findet die Privatheit, die Subjektivität des

Mentalen gerade in bezug auf die Erlebnisqualität von aktuellen Gefühlen Berück-

sichtigung, die von jedem Individuum auf eine einmalige und unverwechselbare Weise

erfahren wird und nur in beschränktem Maße von Außenstehenden nachvollziehbar ist.119

Die Erfahrung, daß „[m]entale Zustände und Ereignisse [...] von einem funktionierenden

Gehirn abhängig [sind], [...] aber Eigenschaften (Subjektivität, Intentionalität, Bewußtsein)

[besitzen], die wir an der Materie nicht beobachten“120, verweist auf die beschränkte

Beweiskraft empirischer Meßverfahren hinsichtlich des physikalischen Nachvollzugs

mentaler Ereignisse. Gollers Untersuchung hat ergeben, daß es gerade der psycho-

logischen Emotionsforschung durch ihre besonderen Meßverfahren möglich ist,

Erklärungsmuster für emotionales Erleben und Verhalten zu entwickeln, welches durch

physikalische Untersuchungen (bisher) nicht erfaßbar ist. Das Festhalten an einem

Dualismus gründet also nicht auf dem Verständnis einer kausalen Geschlossenheit des

physischen und mentalen Bereichs – hier wird im Gegenteil betont, daß „Emotionen [...]

zumindest dem Augenschein nach unser Verhalten und Handeln [beeinflussen] und

unsere seelische Gestimmtheit [...] von neurophysiologischen und somatischen

Einwirkungen beeinflußt [wird]“121. Dieses dualistische Verständnis rekurriert vielmehr auf

die Notwendigkeit von Meßmethoden vollkommen unterschiedlicher Qualität zur

Erfassung der Emotionen, denn die in den rein physikalischen Erklärungsmustern nicht

erfaßten Aspekte je individuellen Emotionserlebens können mittels Meßverfahren einer

völlig anderen Qualität - nämlich den psychologischen - zumindest nach Gollers

Dafürhalten hinreichend erklärbar gemacht werden.122

118 Goller, Hans: a.a.O., S. 297. 119 Vgl. ebd. S. 289. 120 Ebd. S. 288. 121 Ebd. S. 298. 122 Einen umfassenden Überblick zum Diskussionsstand um das Leib-Seele-Problem bietet Henrik Walter

(Walter, Henrik: Neurophilosophie der Willensfreiheit. Paderborn, München, Wien, Zürich 1998) und arbeitet heraus, daß der Gollers Verständnis zugrundeliegende auf Descartes, Popper und Eccles zurückgehende interaktionistische Substanzdualismus „kaum mehr vertreten, sondern eher als anachronistisch betrachtet“ wird aufgrund der inneliegenden wissenschaftlichen Anomalie, die darin

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Die kurze Darstellung dieser beiden konträren Sichtweisen bezüglich des ontologischen

Dualismus zeigt, in welchem Umfang sich die begriffliche Fassung eines Gegenstandes

auf ein theoretisches Grundgerüst stützt, welches wiederum die Herangehensweise an

ein Forschungsvorhaben bestimmt. Zur Klassifizierung der Gefühle als mentales Phäno-

men – ein Begriff, den Bieri als terminus technicus einführt, weil er ihm am wenigsten

belastet erscheint123, führt er in einer Fußnote aus: „Einen Schmerz oder eine Empfindung

von Ekel etwa könnte man schlecht ‚geistige Phänomene‘ nennen, und sie ‚seelische‘

Phänomene zu nennen, wäre vielleicht auch nicht ganz passend. Umgekehrt wäre ein

geistiges Phänomen wie ein Gedanke mit ‚seelisch‘ nicht glücklich bezeichnet, da

‚seelisch‘ eher für Gefühle reserviert ist. Dasselbe scheint mir für ‚psychisch‘ zu gelten,

obwohl ‚psychisch‘ neben ‚mental‘ am neutralsten ist, was sich daran zeigt, daß wir

Beziehungen zwischen mentalen und physischen Phänomenen ‚psychophysische‘

Beziehungen nennen.“124 Die Fragen, die sich hier aufdrängen, sind einerseits: was ist

das Kennzeichnende des Mentalen, wenn es nicht ‚geistig‘ und nicht ‚seelisch‘ zu nennen

ist wie bei den Empfindungen und andererseits: was ist das Mentale der Gefühle, wenn

sie ‚seelisch‘, dahingegen aber nicht ‚geistig‘ zu nennen sind. Unterstellt, das Mentale sei

gleichbedeutend mit bewußter Wahrnehmung,125 wie verhält es sich dann mit der von

Bieri ebenfalls als mentales Phänomen bezeichneten Stimmungslage, die sich jedoch

nach DeBoni in Form „einer Gestimmtheit als den bleibenden Untergrund des gesammten

Seelenlebens [...] dem Bewußtsein meist entzieht [...]“?126

Die Gefahr, die sich ergibt durch die Einführung eines Oberbegriffes, unter den dann

„intuitiv“ bestimmte Phänomene subsumiert werden, ohne sie in ihrer Spezifität zu

besteht, daß Eccles behauptet, „daß der selbstbewußte Geist nicht den üblichen Naturgesetzen unter-worfen ist, andererseits [aber] erklärt [...], daß der selbstbewußte Geist in der Lage sei, mit der physika-lischen Welt, d.h. dem Gehirn, in Wechselwirkung zu treten.“ (Ebd. S. 123). Gollers Verständnis wird jedoch von dieser Annahme nicht berührt, da er eine physikalische Kausalität nicht grundsätzlich negiert, sondern mit Carrier & Mittelstraß auf die mangelnde empirische Beweisbarkeit physikalischer Kausalität abhebt. Der von ihm vertretene Dualismus beruht, wie oben bereits ausgeführt, auf dem Aufweis der Notwendigkeit anderer Meßmethoden – nämlich die der psychologischen Emotionsforschung -, um Erklärungsmuster für die Phänomene zu bieten, die mit physikalischen Meßmethoden (bisher) nicht erfaßbar sind. Damit beruht der hier vertretene dualistische Interaktionismus auf der Erkenntnis, daß eine Disziplin allein das komplexe Phänomen Emotion nicht zu erklären vermag, sondern daß in diesem Falle zwei vollkommen unterschiedliche Herangehensweisen für eine adäquate Erfassung aller Bereiche des Gegenstandes notwendig sind.

123 Bieri, Peter: a.a.O., S. 4 – siehe hierzu auch Fußnote 102. 124 Bieri, Peter: a.a.O. S. 25. 125 Daß diese Annahme nicht unbegründet ist, zeigt die Aufzählung derjenigen Phänomene, die Bieri als

mentale bezeichnet („Wünsche, Erwartungen, Absichten und Interessen, Erinnerungen, Träumen und Vorstellungsbilder...“ etc. Bieri, Peter: a.a.O. (1993), S. 2). Siehe hierzu die Ausführungen S. 36.

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würdigen und damit auch die vorgenommene Zuordnung zu rechtfertigen, liegt in der

unzulässigen, weil unbegründeten Verallgemeinerung, durch die ein Zugang zu einem

einzelnen Phänomen erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht wird. Worin beispiels-

weise unterscheiden sich Gedanken und Gefühle, wenn die „Intuition“ beide den mentalen

Phänomenen zuordnet? Sind Gefühle in diesem Sinne nicht auch Gedanken und warum

heißen sie dann Gefühle und nicht Gedanken? Was ist die Qualität, die Gefühle zu

Gefühlen macht, ihre Irrationalität begründet, und Kant zu der Aufforderung nötigt, beim

moralischen Handeln die Gefühle unberücksichtigt zu lassen127. Kann es eine Hierarchie

unter den genannten mentalen Phänomenen geben, die die Vernunft als mentales

Phänomen den Gefühlen vorordnet? Daneben sind es nicht umsonst die physischen

Qualitäten der Gefühle und Empfindungen, die Bieris Argumentation für das Votum des

Monismus stützen. Fraglich ist, ob diese Art der Argumentation, nämlich die Bestimmung

der Beziehung zwischen den körperlichen Komponenten von Gefühlen oder Empfindun-

gen und deren mentaler Phänomenologie als eine kausale, einen ontologischen Dualis-

mus nicht vielmehr stützt, als ihm entgegenzustehen. Denn Kausalität allein ist noch kein

stichhaltiges Argument für die Aufgabe eines dualistischen Verständnisses, zumindest

solange nicht, bis die Art und das Ausmaß der Kausalität eruiert ist.

Dieser bisher recht ungewöhnliche Weg, eine Begriffsbestimmung zu versuchen, ist mit

Bedacht gewählt, da die Beschäftigung mit der Natur der Gefühle nahezu unweigerlich zu

der Diskussion um die Leib-Seele-Problematik führt. Nichtsdestotrotz ist einer Bestim-

mung dessen, was Gefühle ausmacht, nicht näherzukommen, indem man sie von ihrer

physischen Komponente trennt. Um hier mit William James, einem der ersten Emotions-

psychologen, zu sprechen: „Welche Art Furcht übrigbleiben würde, wenn weder die

Empfindung eines schnelleren Herzschlags noch die eines flachen Atems, weder die

Empfindung zitternder Lippen noch die Gliederschwäche, weder die Empfindung der

Gänsehaut noch die der Aufruhr in den Eingeweiden vorhanden wäre, ist überhaupt nicht

vorzustellen.“128 Damit vertritt James die Ansicht: wenn wir in bezug auf die Wahr-

nehmung unseres Emotionserlebens „versuchen, alle charakteristischen körperlichen

Symptome abzuziehen, dann behalten wir nichts übrig, kein ‚psychisches Material‘ („mind-

stuff“), aus dem die Emotion gebildet werden kann, und alles, was übrig bleibt, ist ein

126 DeBoni, Michael: Gestimmtheit und Emotionalität. Eine Untersuchung zur anthropologischen Psychologie.

Zürich 1986, S. 3. (Orthographie des Originals) 127 Vgl. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Herausgegeben von Theodor Valentiner.

Ditzingen 1994, S. 96 ff. 128 James, William: What is an emotion? First published in Mind 9, 1884, S. 188 – 205 (hier S. 193 f.)

http://psychclassics.yorku.ca/James/emotion.htm (09.02.2002, 18.00 Uhr), S. 5 (Übersetzung B.K.).

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kalter und neutraler Zustand intellektueller Wahrnehmung.“129 Und „[e]ine reine körperlose

menschliche Emotion ist ein Unding (nonentity).“130

Eine ganz andere Perspektive bietet die phänomenologische Betrachtung der Gefühle, in

der die physiologische Komponente Berücksichtigung findet:

„Gefühle sind räumlich ortlos ergossene, leiblich ergreifende Atmosphären, vergleichbar dem

Wetter und der reißenden Schwere, wenn man ausgeglitten ist und entweder schon stürzt oder

sich gerade noch fängt: also solchen in den spürbaren Leib eingreifenden Mächten, die nicht selbst

leibliche Regungen sind, aber nur am eigenen Leib, wenn auch manchmal als Widersacher,

gespürt werden. Ebenso werden Gefühle nur im eigenleiblichen Spüren als ergreifende Mächte

wirksam, aber allerdings kann man sie als Atmosphären darüber hinaus oft auch in der Umgebung

wahrnehmen.“131

Diese Beschreibung dient Hermann Schmitz als Einführung für seine Kritik an der

herkömmlichen Herangehensweise der Naturwissenschaften an ihre Gegenstände, deren

Paradigmen sich ihm als psychologistisch, reduktionistisch und introjektionistisch dar-

stellen. Mit psychologistisch benennt er das in einer privaten Innenwelt abgeschlossene

Erleben eines Menschen, das in dieser Innenwelt einer zentralen Instanz – der Vernunft

oder dem freien Willen – unterworfen ist. Reduktionistisch bedeutet ihm der, um der

bequemen Identifizierbarkeit, Quantifizierbarkeit und Variierbarkeit willen auf wenige

Merkmale reduzierte, standardisierte Zugang zur empirisch erfaßbaren Welt. Intro-

jektionistisch meint die Verortung des nicht durch die standardisierten Schemata

Erfaßbaren in den Innenwelten, wodurch dieses „als ‚bloß subjektive‘ Privatsache, als

nicht ganz verläßlich bestimmbarer und unübersichtlicher Restposten der Vergegen-

ständlichung, behandelt“132 wird. Dieses Vorgehen führt nach Schmitz zu dem, „was der

aufgeklärte Europäer bisher mit völliger Selbstverständlichkeit vom Gefühl hält. Nach ihm

sind Gefühle private Seelenzustände, während der Raum die Domäne der Physik sein

soll, in der keine Gefühle vorkommen, wohl aber Gehirnzustände, auf die man neuer-

dings, um die Domäne der Physik total zu machen, Seelenzustände zurückführen will.“133

129 Ebd. S. 4. (im Original S. 193) (Übersetzung B.K.). 130 Ebd. S. 5 (im Original S. 194) (Übersetzung B.K.) 131 Schmitz, Hermann: Die Verwaltung der Gefühle in Theorie, Macht und Phantasie. In: Benthien, Claudia;

Fleig, Anne, Kasten, Ingrid (Hrsg.): Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Köln, Weimar, Wien 2000, S. 42 – 59, hier S. 42. Vgl. hierzu auch Schmitz, Hermann: Gefühle in philosophischer (neophänomeno-logischer) Sicht. In: Petzold, Hilarion G. (Hrsg.): Die Wiederentdeckung des Gefühls. Emotionen in der Psychotherapie und der menschlichen Entwicklung. Paderborn 1995, S. 47 – 81. Zu einer weiteren phänomenologischen Betrachtung siehe auch Sartre, Paul: Skizze einer Theorie der Emotionen. In: Die Transzendenz des Ego. 1. Auflage der erweiterten und neu übersetzten Ausgabe. Reinbek bei Hamburg 1982, S. 255 – 321.

132 Ebd. S. 44. 133 Ebd. S. 43.

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Wenn auch Schmitz herber Kritik an den Paradigmen der Wissenschaft vor allem im

Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit Berechtigung zugesprochen

wird, so ist seine Erfassung der Gefühle jedoch – wie er im übrigen selbst bekennt134 –

nicht frei von Vorannahmen, welche wiederum die Sicht auf das Phänomen Gefühl ein-

schränken. Insofern er Gefühle mit Atmosphären wie dem Wetter gleichsetzt, die zwar am

eigenen Leib gespürt werden, jedoch „nicht selbst leibliche Regungen sind“, findet vor

allem die Komponente des „passiven Erleiden müssens“ ihren Ausdruck. Atmosphären

wie das Wetter „kommen über uns“, bemächtigen sich unser, lassen sich weder abwen-

den noch beeinflussen. Hier werden die Gefühlsauslöser komplett außerhalb der mensch-

lichen Verfaßtheit verortet und damit eine Phänomenologie nicht als Wesensschau im

Husserlschen Sinne betrieben, vielmehr erweckt diese Beschreibung den Eindruck, es

handele sich um einen Erfahrungsbericht sehr subjektiver Qualität, dessen mytholo-

gischer Charakter nicht von der Hand zu weisen ist, was der Autor jedoch auch in

gewisser Weise einräumt135.

Die vorstehenden Betrachtungen haben zwar nicht zu einer umfassenden Begriffsbe-

stimmung geführt, beinhalten jedoch wichtige Komponenten, die den Gefühlen nach der

hier vertretenen Auffassung wesentlich sind: den geistigen oder seelischen Aspekt und

den physischen oder leiblichen Aspekt. Wie wir bisher gesehen haben, wird die Ansicht

einer möglichen wechselseitigen Abhängigkeit dieser beiden Komponenten bestimmt von

den Ausgangsprämissen, die die Herangehensweise an den Gegenstand bestimmen.

Dieser Befund bestätigt sich auch, wie oben bereits erwähnt, in den psychologischen

Untersuchungen des Themas. Um einer Eingrenzung des Gegenstandes zu entgehen,

wird an dieser Stelle auf eine genauere Bestimmung des Begriffes Gefühl verzichtet. Daß

dies für Untersuchungen, die den Bereich der Gefühle betreffen, keine ungewöhnliche

Vorgehensweise ist, zeigt sich wiederum, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, in

der Emotionspsychologie, aber auch Philosophen verzichten auf eine Begriffsdefinition.

Ein Beispiel ist Ronald de Sousa, der in seinen Untersuchungen zur Rationalität des

134 Vgl. ebd. S. 42. 135 Der Beschreibung der Gefühle (siehe Zitat S. 43) folgt im direkten Anschluß: „Wenn man das hört, möchte

man sich die Augen reiben: Der Mensch, der so etwas sagt, scheint in der heutigen Welt ein Monstrum zu sein, ein Spinner oder Mythologe, der von moderner Naturwissenschaft und Psychologie nichts wissen will. Aber das ist Phänomenologie. [...] Dagegen interessiert sich der Phänomenologe dafür, was er jeweils gelten lassen muß, wenn er ernst nimmt, was er vorfindet. d.h. welchen Sachverhalten er dann die Anerkennung, daß es sich um Tatsachen handelt, nicht im Ernst verweigern kann, egal ob er sie mag oder nicht. [...]“ Schmitz, Hermann: a.a.O. (2000), S. 42.

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Gefühls ausdrücklich sagt: „Ich gebe zu, daß ich unfähig bin, eine Definition von Gefühl zu

geben.“136

Bevor zur Klärung der Frage, wie der Zusammenhang zwischen Denken und Fühlen

vorzustellen sei, unterschiedliche emotionspsychologische Konzepte eingehender unter-

sucht werden, soll noch kurz auf einige Begriffe, die den Gefühlsbereich betreffen, einge-

gangen werden. Dazu bemerkt Zimmer: „[d]as Wortfeld ist groß: Gefühl, Emotion, Affekt,

Empfindung, Trieb, Leidenschaft, Instinkt, Stimmung, Laune, Temperament, Motivation –

viele Wörter besetzen das Feld, einige mögen mehr oder weniger das gleiche bedeuten,

niemand und nichts grenzt sie verbindlich gegeneinander ab. Auch die Wissenschaftler

sind sich völlig uneinig, und ein Teil ihrer Kontroversen war immer ein Streit um Wortbe-

deutungen [...]. Bei dieser Uneinigkeit ist jeder vollauf berechtigt, sich seine eigene

Nomenklatur zurechtzumachen.“137 Nun ist die Möglichkeit, sich eine „Nomenklatur

zurechtzumachen“, begrenzt, denn bezüglich dem Verständnis einiger Begriffe sind

Ähnlichkeiten auszumachen. Dies gilt zumindest für die Termini „Stimmung“ und „Affekt“.

Unter Stimmung wird gemeinhin eine über einen längeren Zeitraum anhaltende, ge-

mäßigte Gefühlsverfaßtheit im Sinne einer Prädisposition verstanden138, während unter

dem Terminus Affekt, „eine dem Ausdruck passio äquivalente Übersetzung des

griechischen pathos“139, mehr ein kurzer heftiger Erregungszustand begriffen wird, von

136 de Sousa, Ronald: Die Rationalität des Gefühls. 1. Auflage. Frankfurt am Main 1997, S. 47. de Sousa

widmet sich in seinem Buch der Untersuchung der Fragen, inwieweit den Gefühlen über das rein subjektive Empfinden hinaus ein objektive Qualität zugesprochen werden kann und welche Bedeutung den Gefühlen im menschlichen Leben zukommt. Dabei geht es speziell darum nachzuweisen, daß das verbreitete Vorurteil Vernunft und Gefühl keine natürlichen Gegner sind, sondern „daß die Berechnungen der Vernunft, wenn sie hinreichend komplex geworden sind, ohne die Leistung des Gefühls wirkungslos würden [...].“ Ebd. S. 12. Das oben zitierte Bekenntnis erfolgt im Zusammenhang mit der Eingrenzung des Forschungsvorhabens mit dem Hinweis darauf, daß er ihm nur möglich scheint, sich der Bestimmung des Gefühls über Abgrenzung von den hinreichend untersuchten Begriffen Wahrnehmung, Überzeugung und Wunsch zu nähern. Seiner Meinung nach spielen diese drei Begriffe bei der Erklärung von Verhalten und in der Theorie der Rationalität eine zentrale Rolle. „Tatsächlich herrschen sie in psychologischen und rationalen Erklärungen dermaßen vor, daß sich die Frage stellt, ob wir außer ihnen überhaupt noch etwas brauchen. Sollte das nicht der Fall sein, dann müßte sich das gesamte Feld des menschlichen Verhaltens und der Erfahrung mittels der Kategorien von Wahrnehmung, Wünschen und Überzeugung erklären und beschreiben lassen. Sie würden diesen begrifflichen Raum gänzlich ausfüllen, und was wir Gefühle nennen, wären lediglich zusammengesetzte Strukturen, die aus jenen bestehen. Wenn wir noch etwas anders benötigen, so könnten die erforderlichen zusätzlichen Begriffe sich als nicht homogen erweisen. Doch sie werden durch ihren Kontrast zu den Gliedern der besser untersuchten Triade ausreichend identifiziert. Wenn überhaupt von etwas, wird dieser negative Raum größtenteils von Gefühlen eingenommen.“ Ebd. S. 48.

137 Zimmer, Dieter E.: Die Vernunft der Gefühle. Ursprung, Natur und Sinn der menschlichen Emotion. 2. Aufl., München, Zürich 1984, S. 16.

138 Vgl. hierzu auch: de Boni, Michael: a.a.O, Heller, Agnes: Theorie der Gefühle. Hamburg 1981, S. 144 ff. 139 Lenz, J.: „Affekt“, in Hist.Wb.Philos. 1, Darmstadt 1971, Sp. 94. Zit. nach: Hübsch, Stefan: Vom Affekt zum

Gefühl. In: Hübsch, Stefan; Kaegi, Dominic (Hrsg.): Affekte. Philosophische Beiträge zur Theorie der Emotionen. Heidelberg 1999, S. 137 – 150, hier S. 138.

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46

dem Mensch im Sinne des „Gefühl erleidens“ in Besitz genommen wird und gegen den es

sich mittels Vernunft zu wehren gilt140.

Die Sichtung der Literatur zeigt: die Begriffe Gefühl und Emotion werden nahezu bedeu-

tungsäquivalent benutzt. Zwar findet man bei einigen Autoren die Unterscheidung, daß

einer der beiden Begriffe das Erregungsgeschehen umfassender beschreiben würde,

welcher der beiden dabei jeweils präferiert wird, ist jedoch völlig autorenabhängig und

unterliegt einer rein subjektiven Wahl. So entnimmt Zimmer bspw. dem „allgemeinen

Sprachgebrauch“, daß „Gefühl ein [...] Augenblickszustand [ist]: wie man sich gerade

fühlt. Eine Emotion oder ein Affekt [aber] ist ein zeitlicher Ablauf, dessen einzelne

Momente sich durchaus anders anfühlen können. [...] So werden notwendig nur heftigere

und längere Gefühle (richtiger Gefühlsprozesse) den Namen Emotion verdienen.“141

Dieses Begriffsverständnis entspricht eher der psychologischen Terminologie. Agnes

Heller dagegen rekurriert auf den Begriff „Fühlen“ und versteht in diesem Sinne Gefühl als

Oberbegriff für Erregungszustände aller Art.142

Aufgrund der Tatsache, daß das Zentrum dieser Arbeit die Untersuchung der emotions-

psychologischen Konzepte bildet, werden hier die Begriffe Gefühl und Emotion bedeu-

tungsgleich verwendet. Bei der Rezeption der unterschiedlichen Arbeiten werde ich mich

an die dort verwendete Terminologie halten.

3.3 Die Emotionsforschung in der Psychologie

3.3.1 Allgemeine Einführung

Ein Blick in die Geschichte der Emotionspsychologie zeigt, daß einer Phase der inten-

siven Beschäftigung mit der Thematik zu Beginn der institutionalisierten Psychologie in

der Zeit von 1870 – 1920 eine ebenso lange Periode folgte, in der die Emotionen als

Forschungsgegenstand in dieser Disziplin nahezu unberücksichtigt blieben. Das von den

Jahren 1920 – 1970 zu verzeichnende geringe Interesse der Psychologen an der Er-

forschung der Emotionen wird hauptsächlich auf die diese Zeitspanne dominierende

behavioristische Position zurückgeführt, deren traditionellem Paradigma gemäß aus-

140 Vgl hierzu auch: Hübsch, Stefan: a.a.O.: S. 139 und Schmitz, Lothar: a.a.O.: S. 44 f. 141 Zimmer, Dieter E.: a.a.O., S. 16 f. 142 Heller, Agnes: a.a.O.

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schließlich das beobachtbare Reiz-Reaktions-Geschehen als legitimer Forschungsgegen-

stand galt. Daß das rein subjektive Gefühlserleben dabei keine Berücksichtigung finden

durfte, versteht sich von selbst. Die Negation der subjektiven Aspekte des Erlebens führte

Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts sogar soweit, daß man der emotions-

psychologischen Forschung voraussagte, sie würde spätestens im Jahre 1950 als

kurioses Relikt der Vergangenheit belächelt.143

Diese Prognose bewahrheitete sich nicht, und wenn auch die emotionspsychologische

Forschung sehr lückenhaft war und eher sporadisch erfolgte, ganz aus dem Blickfeld vor

allem der europäischen Psychologie geriet sie nie, da sich hier die klassischen

„behavioristischen Positionen niemals durchsetzten“144. In das Zentrum des Forschungs-

interesses rückten die Emotionen jedoch erst über die Verdrängung des Behaviorismus

durch die „kognitive Revolution“, in deren Folge man „auch das subjektive Erleben wieder

als einen legitimen Forschungsgegenstand betrachtete“145.

Die Ergebnisse der dieser Renaissance folgenden intensiven aber auch divergierenden

Forschungstätigkeiten sind dokumentiert in einer mittlerweile eine Vielzahl von

Veröffentlichungen in Form von Aufsatzsammlungen, Monographien und Lehrbüchern,

wobei die letzteren den Zugang zu der aufgrund ihrer Vielfältigkeit kaum mehr zu

überblickenden Thematik erleichtern wollen. Für einen kleinen Einblick seien beispielhaft

einige Forschungsschwerpunkte genannt: Es gibt phylogenetische sowie ontogenetische

Forschungen, die sich u.a. mit der Erforschung möglicher Basisemotionen und/oder deren

Funktion sowie deren Ausdruckserscheinungen auseinandersetzen.146 Weiterhin

existieren Forschungszweige, die sich ganz auf die Untersuchungen der Entstehung und

Wirkungsweise einzelner Emotionen konzentrieren. Zu den diesbezüglich am intensivsten

erforschten Emotionen gehört die Angst.147 Weitere Fragestellungen sind, ob Kognitionen

143 Vgl. Meyer, Wulf-Uwe; Schützwohl, Achim; Reisenzein, Rainer: a.a.O. (1997), S. 14 f. 144 Vgl. ebd. S. 17. 145 Ebd. S. 16. 146 Beispielhaft seien hier genannt: Ekman, Paul: a.a.O. (1988) und ders.: Expression and the Nature of

Emotion. In: Scherer, Klaus R.; Ekman, Paul (Hrsg.): Approaches to Emotion. Hillsdale, London 1984, S. 319 – 343; Plutchik, Robert: Emotions: A General Pschoevolutinary Theory. In: Scherer, Klaus R.; Ekman, Paul (Hrsg.): Approaches to Emotion. Hillsdale, London 1984, S. 197 – 219; Tomkins, Silvan S.: Affect Theory. In: Scherer, Klaus R.; Ekman, Paul (Hrsg.): Approaches to Emotion. Hillsdale, London 1984, S. 163 – 195.

147 Beispielhaft seien hier genant: Birbaumer, Nils (Hrsg.): Neuropsychologie der Angst. München, Berlin, Wien 1973; Stöber, Joachim, Schwarzer, Ralf: Angst. In: Otto, Jürgen H.; Euler, Harald A.; Mandl, Heinz (Hrsg.): Emotionspsychologie. Ein Handbuch. Weinheim 2000, S. 189 – 198. Schwarzer, Ralf: Angst. In: Mandl, Heinz; Huber, Günter L.: Emotion und Kognition. München, Wien, Baltimore 1983. S. 123 – 147.

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48

Emotionen auslösen, oder ob es sich umgekehrt verhält.148 Zudem wird in den letzten

Jahren an Prozeßmodellen gearbeitet, in denen Aspekte der Genese und der Funktion

von Emotionen gleichermaßen Berücksichtigung finden.149

All die bisherigen Forschungsbemühungen haben jedoch noch nicht annähernd zu einer

einheitlichen Klärung des Untersuchungsgegenstandes Emotion geführt. Die Gründe

dafür sind nahezu ebenso vielfältig, wie die unterschiedlichen Forschungsbemühungen.

Als einer der Hauptursachen gilt zweifellos die grundsätzliche Problematik der Emotionen

als empirischer Forschungsgegenstand: bedingt durch das Fehlen eines allgemein

gültigen Meßkriteriums sind Gefühle schwer meßbar. Die überkulturelle Ähnlichkeit im

Ausdruck ebenso wie die spezifische somatische bzw. neurophysiologische Wirkungs-

weise bestimmter Gefühlszustände lassen keine zuverlässigen Rückschlüsse auf das

tatsächliche individuelle Erleben zu, wodurch in Feldforschungen die Problematik der

Validierbarkeit entsteht. Demgegenüber besteht in experimentellen Situationen, in denen

die Introspektion entsprechend berücksichtigt werden kann, die Schwierigkeit darin,

„echte Gefühle“ zu erzeugen150.

Klaus Scherer bestätigt in seinem Aufsatz „Theorien und aktuelle Probleme der Emotions-

psychologie“151, in dem „nur einige wenige Aspekte der modernen Emotionspsychologie

angedeutet werden“152, die oben beschriebene Problematik. Seiner Ansicht nach ist durch

die Lektüre seines Aufsatzes „[...] beim Leser wohl der – vom Autor durchaus angestrebte

– Eindruck entstanden, daß es sich hier um einen noch weitgehend unterentwickelten

[dennoch] aber durchaus entwicklungsfähigen Arbeitsbereich der Psychologie handelt“153.

Die Entwicklungsfähigkeit sieht er begründet in den Tendenzen, die sich im Bereich der

Emotionsforschung abzeichnen, hierzu zählt er, um nur einige zu nennen: Phänomen-

148 Literaturhinweise bezüglich der beiden Gegenpositionen: Lazarus, Robert S.: On the Primacy of Cognition.

American Pschologist. Vol. 39, Nr. 2, 1984, S. 124 – 129; Zajonc, Robert B.: On the Primacy of Affect. American Psychologist, Vol. 29, Nr. 2 1984a, S. 117 – 123.

149 Wie bspw. in: Leventhal, Howard; Scherer Klaus R.: The Relationship of Emotion of Cognition: A Functional Approach to a Semantic Controversy. Cogniton and Emotion. Vol. 1 (1), 1987, S. 3 – 28.

150 Erwin Roth zitiert hierzu Lersch: „Es ist nicht die experimentelle Situation des Laboratoriums, sondern die existentielle Situation des Lebens, durch die ein Gefühl des Hasses und der Liebe, ein Akt unwiderruflicher Entscheidung, eine Haltung des Mutes oder der Tapferkeit, ... zum Vollzuge gebracht und damit der Beobachtung zugänglich gemacht werden.“ (Lersch, P.: Aufbau der Person. München 1951 (4. völlig umgearbeitete und erweiterte Auflage von „Der Aufbau des Charakters“) zit. nach Roth, Erwin: Kognition und Emotion: Der Problembereich. In: Ders. (Hrsg.) Denken und Fühlen. Aspekte kognitiv-emotionaler Wechselwirkung. Berlin, Heidelberg, New York, London, Paris, Tokyo, Hong Kong 1989, S. 14.

151 Scherer, Klaus: Theorien und aktuelle Probleme der Emotionspsychologie. In: Ders. (Hrsg.): Psychologie der Emotionen. Göttingen, Toronto, Zürich 1990, S. 1 - 38.

152 Ebd. S. 22. 153 Ebd.

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49

orientierung, Theoretischer Eklektizismus, Theoretische Querverbindungen und Metho-

denvielfalt.

Die Phänomenorientierung bezieht sich auf die Berücksichtigung der Erkenntnis der

reduzierten Sicht auf den Gegenstand. So wird nach Scherer die Untersuchung der

Gefühle und Affekte nicht mehr, wie früher oft geschehen, „in sehr abstrakter Form auf der

ausschließlichen Grundlage verbaler Begriffe abgehandelt“154, sondern den Ausgangs-

punkt der meisten Untersuchungen bilden heute konkrete Emotionsprozesse. Der theore-

tische Eklektizismus zeigt sich darin, daß die heutigen Emotionsforscher zu Theorien-

pluralismus fähig sind, der vor allem auf der Einsicht beruht, daß sowohl die biologischen

Ausgangsbedingungen als auch die Förderung und Formung der Umwelt zur Ausbildung

der je individuellen Persönlichkeit beitragen und somit auch die Emotionen „sowohl phylo-

genetisch kontinuierliche biologische Grundlagen haben [...] als auch phänomenologisch

auf der Grundlage der Lebensgeschichte eines individuellen Menschens von außerordent-

lich spezifischen und komplexen subjektiven Erlebniszuständen begleitet werden [...]155.

Theoretische Querverbindungen sind in der Emotionspsychologie unumgänglich, um den

Gegenstand überhaupt erfassen zu können. So lassen sich nach Scherer „Emotionspro-

zesse [...] ohne Berücksichtigung von Kognition und Motivation nicht einmal konzeptuali-

sieren, geschweige denn erforschen“156. Umgekehrt sind auch andere Arbeitsbereiche,

wie bspw. die Kognitionsforschung, die bislang eher eine Trennung praktizierte, dazu

angehalten, das Emotionsgeschehen mitzuberücksichtigen. Die Notwendigkeit einer

Methodenvielfalt zur Erfassung der Emotionen rekurriert darauf, daß „konkrete Emotions-

prozesse gleichzeitig im Hinblick auf die hormonale Ausschüttung, die autonomen

Erregungsprozesse, den Ausdruck in Gesicht, Körper, und Stimme sowie das subjektive

Erleben und die Handlungstendenzen untersucht werden müßten“157. Da kein einzelner

Forscher alle notwendigen Apparaturen bzw. Methoden zur Verfügung hat, wird daher die

Entwicklung von Modellen zur Zusammenarbeit notwendig, „die es erlauben, das gleiche

Phänomen mit unterschiedlichen Meßverfahren zu untersuchen“158.

154 Ebd. S. 23. 155 Ebd. S. 24. 156 Ebd. 157 Ebd. S. 25. 158 Ebd. S. 26.

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An dieser Stelle sei noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es sich bei

Scherers Beobachtungen um sich abzeichnende Tendenzen handelt. Die tatsächliche

flächendeckende Realisierung der hier angesprochenen Aspekte, die nur einen Auszug

der vom Autor explizierten darstellen, steht jedoch noch aus. Bemerkenswert ist jedoch

die mit diesen Tendenzen verbundene Änderung der Forschungspraxis. War man früher

möglichst bestrebt, die oben genannten Aspekte wie Theorieneklektizismus oder theore-

tische Querverbindungen zu vermeiden, um vor allem dem Vorwurf der Unwissenschaft-

lichkeit zu entgehen, oder Methodenvielfalt zu umgehen, um nicht auf eine Zusammen-

arbeit angewiesen zu sein, scheint die Komplexität der Emotionsphänomene eine

Hinwendung nicht nur zu verstärkter Zusammenarbeit innerhalb einer Forschungs-

disziplin, sondern auch fächerübergreifend unumgänglich zu machen.

Daß vor der Realisierung einer kooperierenden Erforschung der Emotionsprozesse noch

einige Hürden zu überwinden sind, dokumentiert die nun folgende Auseinandersetzung

mit den unterschiedlichen Begriffsdefinitionen zum Phänomen Emotion.

3.3.2 Psychologische Begriffsbestimmungen

Die Variationsbreite im Zugang zur Erforschung der Emotionen wird eindrucksvoll doku-

mentiert durch die von Kleinginna & Kleinginna im Jahre 1981 entwickelten 11 Kategorien

zur Klassifizierung dieses Forschungsgegenstandes, die sie aus ca. 100 Definitionen und

Aussagen aus einschlägigen Spezialwerken, Wörterbüchern und Einführungstexten

herausgearbeitet haben. Daß selbst innerhalb einer Disziplin unterschiedliche Aspekte

des Emotionserlebens hervorgehoben werden, zeigt sich an der von Mandl und Huber159

in Anlehnung an Kleinginna & Kleinginna vorgenommenen Zuordnung der Kategorien zu

Forschungsdisziplinen. Es werden folgende Gruppen unterschieden:

1. Affektive Definitionen, die Gefühle der Erregung und/oder Lust/Unlust betonen;

(Psychophysiologische und psychoanalytische Ansätze)

2. Kognitive Definitionen, die sich auf den Wahrnehmungs- und den Denkaspekt

konzentrieren. Dabei werden vor allem die Bewertungs- und Klassifikationsaspekte

untersucht in Form von Ursachenzuschreibung von wahrgenommenen

Erregungszuständen.

159 Euler, Harald A. und Mandl, Heinz (Hrsg.): Begriffsbestimmungen. In: Dies. (Hrsg.) Emotionspsychologie.

Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen. München, Wien, Baltimore 1983, S. 5 – 11.

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(Kognitionstheoretische und attributionstheoretische Ansätze)

3. Die situativen Definitionen, bei denen das Hauptaugenmerk auf den äußeren Auslösern

von Emotionen liegt. Untersucht werden hier bspw. Reize, die Erregungszustände

hervorrufen.

(Lerntheoretische Ansätze)

4. Die psychophysiologischen Definitionen, die die Abhängigkeit der Emotionen von

physiologischen Mechanismen betonen.

(Psychophysiologische Ansätze)

5. Expressive Definitionen, die die emotionalen Ausdrucksreaktionen in den Mittelpunkt

stellen.

(Ausdruckserscheinungen, psychobiologische und soziobiologische Ansätze)

6. Die disruptiven Definitionen zeigen die desorganisierende oder dysfunktionale Wirkung von

Emotionen auf.

7. Die adaptiven Definitionen, die abheben auf die bedürfnissichernde oder funktionale

Wirkung von Emotionen.

(Psychobiologische und soziobiologische Ansätze)

8. Die syndromischen Definitionen, in denen mehrere Komponenten der Emotionen

miteinander verknüpft werden, wie bspw. die physiologische, kognitive, behavioral-

expressive und subjektive Komponente. Die Betrachtung der Emotion als Syndrom ist am

häufigsten vertreten.

9. Restriktive Definitionen, die darauf abzielen, das Konzept Emotion von anderen

psychischen Prozessen oder Erscheinungsformen abzugrenzen.

10. Die motivationalen Definitionen, die sich auf die Beziehung zwischen Emotion und

Motivation konzentrieren.

11. Und schließlich die skeptischen Aussagen, die den Wert des Emotionskonzeptes

überhaupt in Frage stellen.160

Vor dem Hintergrund ihrer Analyse schlagen Kleinginna & Kleinginna folgende Definition

vor:

„Emotion ist ein komplexes Interaktionsgefüge subjektiver und objektiver Faktoren, das von

neuronal/hormonalen Systemen vermittelt wird, die (a) affektive Erfahrungen, wie Gefühle der

Erregung oder Lust/Unlust, bewirken können; (b) kognitive Prozesse, wie emotional relevante

Wahrnehmungseffekte, Bewertungen, Klassifikationsprozesse, hervorrufen können; (c) ausge-

dehnte physiologische Anpassungen an die erregungsauslösenden Bedingungen in Gang setzen

können; (d) zu Verhalten führen können, welches oft expressiv, zielgerichtet und adaptiv ist.“161

160 Vgl. ebd. S. 7. 161 Kleinginna, P.R. , & Kleinginna, A. M.: A categorized list of emotion definitions, with suggestions for a

consensual definition. Motivation and Emotion, 5, S. 345 – 379, hier S. 355 zit. nach: Otto, Jürgen H.,

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52

Diese Definition stellt sich dar als Zusammenfassung der wichtigsten Komponenten der

einzelnen Kategorien. Durch die Bindung des Auftretens der spezifischen Aspekte an die

Möglichkeitsform wird allen widersprüchlichen Aussagen und Untersuchungsergebnissen

Rechnung getragen. Insofern ist diese Definition im Sinne einer Ergebnissammlung

jederzeit erweiterbar, jedoch nicht widerlegbar. Der zweifelhafte Wert einer solchen

Definition als Forschungsgrundlage soll jedoch hier nicht diskutiert werden.162

In der heutigen Emotionsforschung wird das Zusammenwirken unterschiedlicher Kompo-

nenten beim Emotionsprozeß nicht mehr bestritten, jedoch werden ihre Aufgaben

kontrovers diskutiert.163 Dies bekräftigt Scherer durch seine Aussage: „Wohl aufgrund des

fehlenden Konsensus über ein verbindliches Emotionskonzept und des relativ mageren

Erkenntnisstandes über den Auslöser von Emotionsprozessen und der beteiligten

Reaktionsmuster ist in diesem Bereich ein regelrechter Wildwuchs von Theorievor-

schlägen entstanden. Da es in dieser Forschungstradition nur wenige kritische Experi-

mente gibt, die eine gewisse Selektionsfunktion bezüglich der Theorienvielfalt ausüben

könnten, ist wohl auch nicht zu erwarten, daß sich dieser Zustand ändert. Kaum eine der

Emotionstheorien kann den Anspruch erheben, eine umfassende Theorie emotionaler

Prozesse zu sein. Nahezu alle bisherigen Ansätze beschränken sich auf die Thema-

tisierung von Einzelkomponenten des Emotionsprozesses oder sogar von Einzelfrage-

stellungen [...] “164.

Angesichts dieses Mangels arbeitet Scherer165 an einem Modell, in dem alle von ihm

ausgemachten fünf Komponenten, die beim Emotionsprozeß wirksam sind, Berück-

sichtigung finden. Er benennt hier die kognitive, die neurophysiologische und die

motivationale Komponente, die Ausdruckskomponente und die Gefühlskomponente.

Diese Komponenten ordnet er den von ihm differenzierten fünf Subsystemen des

Organismus zu, dem Informationsverarbeitungssystem (kognitive Komponente), dem

Versorgungssystem (neurophysiologische Komponente), dem Steuerungssystem

(motivationale Komponente), dem Aktionssystem (Ausdruckskomponente) und dem

Monitoringsystem (Gefühlskomponente). Das Zentrum seiner Theorie bildet die kognitive

Komponente, die einerseits durch die Bewertung von internen und externen Reizen

emotionsauslösend wirkt, andererseits aber wesentlich ist für die kontinuierliche und

Euler, Harald A., Mandl, Heinz: Begriffsbestimmungen. In: Dies. (Hrsg.) Emotionspsychologie. Ein Handbuch. Weinheim 2000, S. 15.

162 Vgl. hierzu auch Goller, Hans: a.a.O. S. 18 163 Vgl. ebd. 164 Scherer, Klaus: a.a.O (1990), S. 8. 165 Vgl. ebd. S. 3 ff.

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53

rekursive Informationsverarbeitung der Emotion. Er geht von folgender Arbeitsdefinition

aus:

„Emotion ist eine Episode zeitlicher Synchronisation aller bedeutenden Subsysteme des

Organismus, die fünf Komponenten bilden (Kognition, physiologische Regulation, Motivation,

motorischer Ausdruck [motor expression] und Monitoring/Gefühl), und die eine Antwort auf die

Bewertung eines externalen oder internalen Reizereignisses als bedeutsam für die zentralen

Bedürfnisse und Ziele des Organismus darstellt.“166

Hier steht der Funktionsaspekt der Emotionen deutlich im Vordergrund. Eine völlig andere

Herangehensweise an eine Bestimmung des Emotionsbegriffs bietet Dieter Ulich167. In der

Kritik zu der von Kleinginna & Kleinginna vorgenommenen Begriffsdefinition macht er

zunächst deutlich, daß aus der Begriffsdiskussion in der Literatur nur zwei Punkte un-

strittig hervorgehen, daß nämlich erstens Emotionen leib-seelische Zuständlichkeiten

einer Person anzeigen und es zweitens möglich ist, „je nach Fragerichtung und Betrach-

tungsebene unterschiedliche Komponenten eines zweifellos komplexen Geschehens

hervor[zu]heben bzw. [zu] akzentuieren: eine subjektive Erlebniskomponente, eine neuro-

physiologische Erregungskomponente, eine kognitive Bewertungskomponente, eine

interpersonale Ausdrucks- und Mitteilungskomponente.“168

In Anbetracht der für ihn zentralen Stellung des subjektiven Emotionserlebens hebt Ulich

hervor, daß Emotionsforschung zunächst immer unter Bezugnahme auf die Alltagser-

fahrung entwickelt werden muß, und daß darüber hinaus Forschungsvorhaben einerseits

immer von dem konkreten Handeln eines jeweiligen Forschers mitbestimmt werden und

andererseits notwendig schon auf der Basis gewisser theoretischer Grundlagen konzipiert

werden. Vor dem Hintergrund dieser Voraussetzung gilt es ebenso zu berücksichtigen,

daß aufgrund der Komplexität der Forschungsgegenstand Emotion nur über die Unter-

suchung von Teilaspekten erfolgen kann. Im Hinblick darauf ist es für Ulich ein ange-

messener Weg, „aus verschiedenen Ansätzen der Emotionsforschung und aus der

Alltagserfahrung jene Bestimmungsstücke emotionalen Erlebens heraus[zu]filtern und [zu]

rekonstruieren, die zum einen in einem nicht-widersprüchlichen Ergänzungsverhältnis

zueinander stehen, und die zum anderen möglichst viele ‚Stimmen’ der Forscher auf sich

vereinigen, also in möglichst hohem Grade konsensfähig sind.“169 Zwar räumt er ein, daß

166 Scherer, Klaus: Neuroscience projections to current debates in emotion psychology. cognition and

Emotion, 7, 1993, S. 4. Zit. nach: Otto, Jürgen H., Euler, Harald A., Mandl, Heinz: a.a.O., S. 15. Vgl. hierzu auch Scherer, Klaus: a.a.O. (1990) S. 7.

167 Ulich, Dieter: Das Gefühl. Eine Einführung in die Emotionspsychologie. 2., durchges. u. erg. Aufl. München 1989.

168 Ebd. S. 32. 169 Ebd. S. 33.

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auf diesem Wege nur eine Sammlung von Beispielen bzw. Anwendungsfällen erhalten

wird, die die Emotionen im groben charakterisieren, ebenso wie nicht jedes der gesam-

melten Merkmale bei jeder Emotion auftreten muß. Der Wert dieser Merkmalssammlung

liegt für Ulich darin, einen „‚Idealtypus Emotion’ [...], also einen lediglich gedachten ‚reinen

Fall’ [zu entwerfen], der zwar in der Wirklichkeit nicht vorkommt, aber die Zuordnung

realer Einzelfälle ermöglichen soll“170.

In diesem Sinne betont er den terminologischen, klassifikatorischen und heuristischen

Zweck seiner im Folgenden dargestellten „idealtypischen Zusammenstellung von

Merkmalen, die in ihrer Gesamtheit für Emotionen ‚typisch’ sein soll“171. Für ihn sind

Emotionen Bewußtheitszustände und damit für ihn wie auch für Scherer172 zu

unterscheiden von Stimmungen, Gefühlstönungen und extremen Affekten. Ulich

entwickelt insgesamt 10 Bestimmungsmerkmale für Emotionen, die er wie folgt

zusammenfaßt:

„Gefühlsregungen sind

- einzigartige

- auf der Grundlage von Selbstbetroffenheit und

- meist über nicht-verbale Kanäle vermittelte

- innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen erworbene und

- bevorzugt über nicht-verbale Kanäle vermittelte

- seelische Zustände (Inhalte eines zuständlichen, auf den eigenen Zustand bezogenen

Bewußtseins), die

- meist mit einem erhöhten Grad von Erregung erlebt werden

- in denen die Person sich als eher passiv erfährt

- die dem Bewußtsein Kontinuität und ‚Identität’ verleihen

- die keine primäre Funktion außerhalb ihrer selbst haben“173

Nach Ulichs eigener Aussage finden die Merkmale der Einzigartigkeit, sowie der erhöhte

Grad der Erregung als Erlebensmerkmal der Emotion und die bevorzugte Vermittlung

über nicht-verbale Kanäle kritische Resonanz. Darüber hinaus wird auch seine These,

daß Emotionen keine primäre Funktion außerhalb ihrer selbst haben, kritisiert. Seine

Explikation zur Begründung dieser These ist besonders erwähnenswert: Mit Bezug auf

Mandler und Zajonc bezeichnet Ulich Emotionen als „’selbstgenügsam’, sie bedürfen

170 Ebd. 171 Ebd. 172 Vgl. Scherer, Klaus: a.a.O. (1990), S. 6. 173 Ulich, Dieter: a.a.O. S. 40.

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keiner Zwecke außerhalb ihrer selbst“174. Und weiter heißt es dort: „Warum springen wir

vor Freude in die Luft? Weil wir uns freuen! Wenn also Warum-Fragen gelegentlich schon

problematisch sind, so sind bei Emotionen ‚Wozu’-Fragen geradezu absurd: ‚Wozu’

springen wir in die Luft? Um uns zu freuen? Nicht nur bezogen auf das Ausdrücken von

Gefühlen, sondern auch bezogen auf das Erleben von Gefühlen sind Wozu-Fragen

unzulässig, weil unsinnig.“175 Mit dieser Kritik bezieht sich Ulich auf die Vorgehensweise

der Evolutionsforscher, Emotionen nur auf ihre Funktionen zu reduzieren, was dazu führe,

daß bestimmte empirische Forschungsrichtungen im vorhinein ausgeschlossen wären,

wodurch wiederum eine umfassende Untersuchung des Gegenstandes verhindert

würde.176 Fraglich ist jedoch, ob der rigide Ausschluß eines Funktionsaspektes der

Emotionen nicht auch negative Auswirkung zeitigen kann. Hier kommt es auf das

Verständnis des Begriffes Funktion an. Wenn man Emotionen als notwendige Bestand-

teile eines Organismus betrachtet, so kommt ihnen notgedrungen eine „Funktion“ wie

bspw. im Sinne der Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung dessen homöostatischen

Gleichgewichtes zu. Ulich unterstellt in seiner Kritik an dem funktionalistischen Denkens in

der Biologie dagegen den in der Evolutionsforschung notwendigen Untersuchungen

bezüglich Funktion und Zweckmäßigkeit eines bestimmten Phänomens zur Erreichung

eines Zieles einen positiv zu bewertenden Aspekt177. Dabei wird jedoch einmal mehr

davon ausgegangen, daß einerseits die Evolutions- bzw. biologischen Verhaltensforscher

postulieren, eine genetische Disposition allein bestimme programmatisch Verhaltens- und

Handlungsweisen, was von Norbert Bischof178 energisch kritisiert wird. Zum anderen wird

damit den Evolutionsforschern die Annahme unterstellt, die Evolution werde „alles zum

besten richten“. Diese Unterstellung ist insofern nicht richtig, als in dieser Forschungs-

disziplin vor allem untersucht wird, warum sich nach den Gesetzen der Evolution nämlich

dem Zusammenwirken von Selektion und Mutation Emotionen und deren Ausdruck

entwickelt haben mit dem Ziel, den Überlebensvorteil eines bestimmten Phänomens in

einer bestimmten vorgegebenen Konstellation zu eruieren179. Daß eine Klärung dieser

Sachverhalte durchaus von Vorteil sein kann, bestätigen einschlägige Untersuchungs-

ergebnisse. Das Wissen um eine genetische Disposition des Menschen, die das

Zustandekommen bestimmter Ängste begünstigt, kann helfen, als irrational empfundene

174 Ebd. S. 38 175 Ebd. 176 Vgl. ebd. S. 125 ff. 177 Vgl. ebd. S. 132 ff. 178 Bischof, Norbert: Emotionale Verwirrungen. Oder: Von den Schwierigkeiten im Umgang mit der Biologie.

Psychologische Rundschau 40, 1989, S. 188 – 205. 179 Lorenz, Konrad: Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression. 20. Auflage. München 1995,

S. 20 f.

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Ängste zu mäßigen. Alles in allem werden auch mit Ulichs Sicht auf die Emotionen

wiederum entscheidende Aspekte ausgeklammert.

Die vorstehenden Beispiele zeigen, wie problematisch und umstritten die Stellung der

Emotionen im Bereich der psychologischen Disziplin sind. „Die Ursache der Definitions-

probleme wird darin gesehen, daß Emotionen keine dinghaften Gegebenheiten darstellen,

die sich voneinander eindeutig unterscheiden ließen und die für alle Menschen in der

gleichen Situation identisch wären. Emotionen sind nicht eigentlich vorhanden, zu

besichtigen oder zu begutachten.“180 Emotionen sind ein ganz privater, persönlicher

Zustand, der zwar im Ausdruckverhalten nach außen hin sichtbar ist, die Erstellung von

objektiv gültigen Meßkriterien zur Erfassung eines emotionalen Zustandes aber gestaltet

sich aufgrund der Bedeutung der individuellen persönlich bedeutsamen

Erlebniskomponente außerordentlich schwierig.

Außer Frage steht, wie wir oben bereits gesehen haben, daß das Emotionsgeschehen

mehrere Komponenten beinhaltet, wobei hier jedoch Uneinigkeit in der Aufteilung und

Zuordnung herrscht. So unterscheidet Scherer fünf Komponenten, Ulich und Goller

jeweils nur vier. Der besseren Übersicht halber werden sie in einer Tabelle gegen-

übergestellt:

Scherer181

Ulich182

Goller183

��kognitive Komponente

��neurophysiologische

Komponente

��Ausdruckskomponente

��Gefühlskomponente

��motivationale

Komponente

��kognitive Bewertungs-

komponente

��neuro-physiologische

Erregungskomponente

��interpersonale Ausdrucks-

und Mitteilungskom-

ponente

��subjektive Erlebnis-

komponente

��kognitive Komponente

��körperliche

Emotionskomponente

��motorisch-expressive

Emotionskomponente

��die Gefühlkomponente.

180 Goller, Hans: a.a.O. S. 15. 181 Vgl. Scherer, Klaus: a.a.O. (1990), S. 8 ff. 182 Vgl. Ulich, Dieter: a.a.O. S. 32. 183 Vgl. Goller, Hans: a.a.O. S. 18 ff.

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57

Gemeinsam haben alle drei Forscher die kognitive, die Ausdrucks- und die Gefühls- bzw.

– wie Ulich sie nennt – subjektive Erlebniskomponente. Während Scherer und Ulich die

physiologischen Aspekte der Emotionen auf die Neurologie beschränken, spricht Goller

allgemein von der körperlichen Emotionskomponente. Scherer benennt als einziger,

entsprechend seiner Emotionstheorie, noch die motivationale Komponente der Emo-

tionen, die bei Ulich in Konsequenz zu der Betonung, daß Gefühle keine Funktion außer-

halb ihrer selbst haben, keine Berücksichtigung findet. Goller klammert die motivationalen

Aspekte ebenfalls aus, da sie mehr als Folge des Emotionsgeschehens und unter diesem

Gesichtspunkt als nicht direkt zum Emotionsprozeß dazugehörig angesehen werden.184

Betont werden muß nochmals, daß die meisten Untersuchungen sich auf eine der

genannten Komponenten beschränken, bzw. in jedem Falle eine der Komponenten in den

Mittelpunkt stellen. Für unsere Beispiele sind es bei Ulich der subjektive Erlebensaspekt,

während Scherer der kognitiven Komponente die meiste Bedeutung zuweist.

Bevor im nächsten Kapitel auf einige für diese Arbeit relevante psychologische Emotions-

theorien eingegangen wird, soll noch kurz auf den in der Psychologie gebräuchlichen

Unterschied zwischen Stimmungen und Emotionen bzw. Gefühlsregungen im engeren

Sinne eingegangen werden.

Nach Otto Ewert185, der auf der Basis einer gründlichen Literaturrecherche in der psycho-

logischen Emotionsforschung eine Differenzierung der Begriffe versucht hat, werden

Stimmungen verstanden als „Gefühlserlebnisse von diffusem Charakter, in denen sich die

Gesamtbefindlichkeit eines Menschen ausdrückt“186. Sie gelten als vergleichsweise lang

anhaltende unterschwellige Gefühlsregung, die einen „selektiven Einfluß auf Erlebnisse

und Erfahrungen aus[üben], [...] indem sie als relativ überdauernder emotionaler Hinter-

grund den aktuellen Erfahrungen eine bestimmte Färbung geben, zum anderen, indem sie

eine Vorauswahl unter möglichen Verhaltensweisen nahelegen“187.

Emotionen bzw. Gefühlsregungen im engeren Sinne sind akute Gefühlserlebnisse, mit

einem deutlich abgrenzbaren zeitlichen Verlauf. Gefühlsempfindungen setzen ein und

184 Vgl. ebd. S. 22. 185 Ewert, Otto: Ergebnisse und Probleme der Emotionsforschung. In: Thomae, Hans (Hrsg.): Enzyklopädie

der Psychologie. Serie IV Band 1: Theorien und Formen der Motivation. Göttingen 1983, S. 397 – 451. 186 Ebd. S. 399. 187 Ebd.

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58

werden im Verlauf intensiver und klingen dann ab. Diese Gefühlszustände haben in der

Regel ein Objekt, bzw. einen Anlaß, wie bspw. Personen oder Situationen. Damit spiegeln

diese Erregungszustände den jeweiligen Person-Umwelt-Bezug und unterliegen nach

Ewert „sozialer Formung und Normung“188.

3.3.3 Emotionstheorien in der Psychologie

Wie bereits oben mehrfach deutlich geworden ist, gibt es von psychologischer Seite

unterschiedliche Herangehensweisen zur Untersuchung der Emotionen. Aufgrund der

außerordentlich zahlreichen Theorien ist es im Zusammenhang dieser Arbeit nicht

möglich, jedem einzelnen Ansatz im Detail nachzugehen. Angestrebt wird an dieser Stelle

ein Überblick über die wichtigsten Forschungsrichtungen und die Diskussion um deren

Ergebnisse. Diese Übersicht folgt der Struktur der ausgewiesen189 gründlichen Dar-

stellung der einzelnen Forschungsrichtungen von Hans Goller190, der der besseren

Übersicht wegen die Theorien ihrem Untersuchungsschwerpunkt gemäß drei groben

Kategorien, die beim Emotionsgeschehen zu unterscheiden sind, zuordnet: den

Körperprozessen, dem Verhalten und den kognitiven Prozessen191.

3.3.3.1 Emotionserleben und Körperprozesse

3.3.3.1.1 Periphere Prozesse

Die James-Lange-Theorie der Emotionen

Daß Emotionen mit körperlichen Veränderungen einhergehen, wird augenfällig an

stärkeren Gefühlsregungen. Die Kennzeichen großer Angst sind bspw. Herzrasen,

Schweißausbrüche, Zittern oder ein unbestimmtes Gefühl in der Magengegend. Starke

188 Ebd. S. 414. 189 Hendrik Walter verweist in einer Fußnote ausdrücklich auf Gollers „hervorragende Übersicht über

Emotionstheorien“ (a.a.O. S. 329). 190 Goller, Hans: a.a.O., S. 28 – 198. 191 Diese Übersichtsform scheint hier am besten geeignet. Daß andere Formen und auch andere Einteilungen

möglich sind dokumentieren: Geppert, Ulrich; Heckhausen, Heinz: Ontogenese der Emotionen. In: Scherer Klaus: a.a.O, S. 115 – 213. Meyer, Wulf-Uwe; Schützwohl, Achim; Reisenzein, Rainer: Einführung in die Emotionspsychologie. Band I. 1. Nachdruck, Bern 1997; Scherer, Klaus: a.a.O; Otto, Jürgen H; Euler, Harald A; Mandl, Heinz: a.a.O.; Ulich, Dieter; Mayring, Philipp: Psychologie der Emotionen. Stuttgart, Berlin, Köln 1992.

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Freude geht einher mit einem Erregungszustand, der auf erhöhte Herztätigkeit zurückzu-

führen ist. Wut ist ebenfalls begleitet von erhöhter Herztätigkeit, hinzu kommt Zittern der

Gliedmaßen und Muskelanspannung. Diese körperlichen Symptome haben William

James192, einen amerikanischen Philosophen und Psychologen, zu der revolutionären

These veranlaßt, daß Emotionen von unseren Körperempfindungen verursacht werden.

Er postulierte, daß Sinneswahrnehmungen zunächst körperliche Veränderungen hervor-

rufen und es erst in der Folge dieser Veränderung zur Wahrnehmung der der Körper-

empfindung entsprechenden Emotion kommt. Damit widersprach er dem Common-sense-

Verständnis, daß eine Wahrnehmung zunächst eine Emotion auslöst, welche dann zu

Körperempfindungen führt. Nach James ruft demgemäß die bloße Wahrnehmung einer

Gegebenheit, bspw. eines Bären, sofort viszerale Veränderungen hervor, die dann als

Emotion wahrgenommen werden. Die entscheidenden Grundlagen dieser These sind

einerseits, daß der Mensch ebenso wie das Tier über genetische Dispositionen verfügt,

durch die er gemäß eines Schlüssel-Schloß-Prinzips für alle Begegnungen in der Welt mit

bestimmten Reaktionsmustern ausgestattet ist und andererseits, daß jeder Emotion ganz

spezifische Körperprozesse zugrunde liegen. „Die Liebe eines Mannes für eine Frau oder

die einer menschlichen Mutter für ihr Baby, unser Unmut („wrath“) gegenüber Schlangen

oder unsere Furcht vor Abgründen, all dies sind Beispiele für die Art, wie speziell

angepaßte Teile der Weltausstattung unausweichlich spezielle mentale und körperliche

Reaktionen hervorrufen, die unserem bewußten Nachdenken über den betreffenden

Sachverhalt vorausgehen und oft auch in direktem Widerspruch zu diesem stehen.“193

Ganz konkret bedeutet das: wir sind traurig, weil wir weinen, wütend, weil wir zuschlagen

und ängstlich, weil wir zittern.194

James war mit seiner Annahme nicht allein, denn 1885, ein Jahr nach seiner Publikation,

veröffentliche der dänische Physiologe Carl Lange195 eine Emotionstheorie, die im

wesentlichen mit James´ Annahmen übereinstimmte. Jedoch machte der Däne nicht wie

James die gesamten körperlichen Reaktionen also Veränderungen der Eingeweide, also

Herz, Drüsen, Magen und Muskelbewegungen, sowie Hautreaktionen196 für das Ent-

stehen der Emotionen verantwortlich, sondern ausschließlich vasomotorische Reaktionen,

d.h. die durch die Erweiterung und Verengung der Blutgefäße einhergehende unter-

192 Vgl. James, William: a.a.O. S. 3 ff. im Original S. 191 ff. 193 Ebd. S. 3 (im Original S. 190) (Übersetzung B.K.). 194 Vgl. ebd. S. 2 (im Original S. 190) 195 Lange, Carl: The Mechanism of the Emotions (1885), hier in der Version von: The Classical Psychologists

1912, S. 672 – 684. http://psychclassics.yorku.ca/Lange/ 09.02.2002 19.00 Uhr. S. 1 – 9. 196 Vgl. James, William: a.a.O.

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60

schiedliche Versorgung des Gehirns und anderen Körperorganen mit Blut197. Wegen der

grundsätzlichen Ähnlichkeit ihrer Grundannahmen ist diese Theorie auch als James-

Lange-Theorie bekannt.

Als bekanntester Kritiker der James´schen Theorie gilt Walter Cannon198, der mit Hilfe von

Tierversuchen, die Hypothese, Emotionen seien die Folge von viszeralen Reaktionen

überprüfte. Seine Kritik bezog sich auf 5 Punkte:

1. Die vollständige Trennung der Viszera vom Zentralen Nervensystem (ZNS) führt nicht

zu einem totalen Ausfall von emotionalem Verhalten. In Anlehnung an von Sherrington mit

Hunden durchgeführte Versuche, denen Rückenmark und Vagus durchtrennt wurde,

nahm Cannon bei Katzen chirurgische Eingriffe zur Unterbrechung der Verbindung der

Nervenstränge von den Eingeweiden zum ZNS vor. Wie die Hunde, die nach der Opera-

tion noch auf entsprechende Reize mit emotionalen Reaktionen wie Bellen und

Schnappen regierten, konnte Cannon auch bei den Katzen nach den Eingriffen Reaktio-

nen wie Furcht und Zorn nachweisen. Wohl räumt Cannon ein, daß hier der Beweis

aussteht, daß die Tiere die gezeigten Gefühlsreaktionen auch tatsächlich empfinden, da

jedoch James das Gefühlsempfinden abhängig macht von der Rückmeldung viszeraler

Reaktionen an den Kortex, dürfte nach der Unterbrechung der Nervenstränge, die die

Rückmeldung ermöglichen, kaum mehr eine Gefühlsreaktion möglich sein. „In anderen

Worten, auch nach Operationen welche gemäß der Theorie [von James] emotionale

Reaktionen zum größten Teil oder gänzlich zerstören, zeigen die Tiere wie bisher

ärgerliches, freudiges oder ängstliches Verhalten.“199

Dieser Kritikpunkt Cannons steht jedoch nur bedingt im Widerspruch zu James Theorie,

da letzterer nicht eine Abhängigkeit zwischen Ausdrucksverhalten und der Rückmeldung

von viszeralen Reaktionen, sondern eine Abhängigkeit von viszeralen Veränderungen und

dem Gefühlserleben postulierte.200

Darüber hinaus widersprechen die am Menschen durchgeführten Untersuchungen zur

Überprüfung dieses Zusammenhangs dieser Annahme Cannons. Untersuchungen an 25

Patienten mit Rückenmarksverletzungen zeigten, daß die empfundene Emotionsqualität

und -intensität variierte mit der Lokalisation der Läsion. Je höher die Verletzung im Wirbel-

197 Vgl. Lange, Carl: a.a.O., S. 2 (i. Original S. 673). 198 Cannon Walter B.:The James-Lange Theory of Emotions: A Critical Examination and an Alternative

Theory. American Journal of Psychology 39, 1927, S. 106 – 127. 199 Ebd. S. 109. (Übersetzung B.K.) 200 Meyer, Wulf-Uwe; Schützwohl, Achim; Reisenzein, Rainer: a.a.O. (1997), S. 104.

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61

säulenbereich angesiedelt war, desto geringer waren die Emotionsempfindungen von

Ärger, Furcht, Kummer und sexueller Erregung.201

2. Problematisch ist der Nachweis, daß jede Emotion ein spezifisches viszerales

Reaktionsmuster hat. Cannon postulierte diesbezüglich, daß die gleichen peripheren

Prozesse bei unterschiedlichen emotionalen, wie auch nicht emotionalen Zuständen

aufträten, daß heißt, daß die viszeralen Reaktionsmuster allein nicht ausreichten, um die

vielen differenzierten Emotionserlebnisse zu klassifizieren.202

Tatsächlich ist es jedoch einerseits Cannon nicht gelungen, eindeutig nachzuweisen, daß

unterschiedlichen Emotionen gleiche physiologische Reaktionsmuster zugrunde liegen,

andererseits hat sich bisher nur für sehr wenige Emotionen, nämlich Furcht, Ärger,

Freude und Trauer der Nachweis erbringen lassen, daß ihr Erleben mit unterschiedlichen

physiologischen Zuständen einhergeht.203

3. Cannons dritter Kritikpunkt bezieht sich auf die relative Unempfindlichkeit der Viszera.

Die Rückmeldung von Zustandsveränderungen der Eingeweide an das ZNS sei zu diffus

und undeutlich, um eine spezifische differenzierte Emotionsvermittlung zu ermöglichen.204

Spätere Untersuchungen haben Cannons Annahme zwar zum Teil bestätigt, das

deutliche Körperempfinden bei stärkeren Emotionen jedoch zeigt, daß dieser Einwand

nicht ausreicht, um James´ Theorie zu widerlegen.205

4. Weiterhin wurde die Zeit der Reizübertragung angeführt, deren relativ geringe

Geschwindigkeit von 1 bis 2 Sekunden einer Emotionsverursachung entgegenstünde.206

Die Überprüfung der Reizweiterleitung bei „echten“ Gefühlserlebnissen, wie Angst oder

Ärger, stehen jedoch noch aus.207

5. In seinem letzten Kritikpunkt bezieht sich Cannon auf die Untersuchungen von

Maranon, der feststellte, daß mittels Adrenalininjektionen künstlich erzeugte viszerale

Erregungen, in den meisten Fällen keine „echten Emotionen“, sondern nur „als ob“

Emotionen hervorrufen. Nur die Probanden, mit denen vor der Adrenalininjektion ein

201 Vgl. Goller Hans: a.a.O. S. 31. 202 Vgl. Cannon, Walter B.: a.a.O. S. 109. 203 Vgl. Meyer, Wulf-Uwe; Schützwohl, Achim, Reisenzein, Rainer: a.a.O. (1997), S. 105 f. 204 Vgl. Cannon, Walter B.: a.a.O. S. 111. 205 Vgl. Meyer, Wulf-Uwe; Schützwohl, Achim; Reisenzein, Rainer: a.a.O. (1997), S. 106 f. 206 Vgl. Cannon, Walter B.: a.a.O. S. 112. 207 Vgl. Meyer, Wulf-Uwe; Schützwohl, Achim; Reisenzein, Rainer: a.a.O. (1997), S. 107.

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62

Gespräch über sie emotional sehr bewegende Tatbestände, wie ihre kranken Kinder oder

ihre verstorbenen Eltern geführt wurde, berichteten ein „echtes Emotionserleben“.208

Zusammengenommen sind Cannons Kritikpunkte zwar durchaus bedenkenswert, jedoch

reichen sie nicht aus, um James Theorie zu widerlegen, denn „James behauptet nur, daß

Emotionserlebnisse ein Erleben körperlicher Veränderung sind, nicht, daß jede körper-

liche Veränderung als Emotion erlebt werden muß“.209 Zur tatsächlichen Verifikation seiner

Theorie jedoch stünde die „Identifizierung differenzierbarer vegetativer und somato-

muskulärer Reaktionsmuster als ‚Begleiterscheinungen’ von Emotionen“210 an.

Die Zwei-Faktoren-Theorie von Schachter und Singer –

Emotion als Produkt von Aktivierung und Kognition

Während James und Lange davon ausgehen, daß das Emotionserleben die Folge der

Rückmeldung ganz spezifischer körperlicher Erregungsprozesse an das ZNS sind, ist für

Schachter und Singer211 die Entstehung der Emotionen abhängig von dem Zusammen-

wirken von Kognitionen und körperlicher Aktiviertheit. Wichtig ist hier das Verständnis der

Begriffe „Kognition“ und „körperliche Aktiviertheit bzw. physiologische Erregung“, die im

Zusammenhang der Theorie zwar nicht explizit bestimmt sind, deren Fassung jedoch aus

dem Kontext zu entnehmen ist. So ist den verwendeten Beispielen zu entnehmen, daß

Schachter unter physiologische Erregung die erhöhte Aktivität des sympathischen

Nervensystems versteht, die sich z. B. ausdrückt in einer höheren Herzrate, einer

intensiveren Atmung und der Erwärmung des Gesichts. Dem Begriff „Kognition“ kommt

eine zweifache Bedeutung zu: einmal als eine bestimmte subjektive Interpretation einer

Situation oder eines Ereignisses und zum zweiten Rückführung der wahrgenommenen

Erregung auf die Situationseinschätzung212.

Schachter und Singer unterscheiden zwei Arten der Emotionsentstehung: die normale,

alltägliche und die atypische, den Sonderfall. Normalerweise entstehen Emotionen durch

208 Vgl. Cannon, Walter B.: a.a.O. S. 113 f. 209 Goller, Hans: a.a.O. S. 33. 210 Ebd. S. 34. 211 Schachter, Stanley; Singer, Jerome: Cognitive, Social, and Physiological Determinants of Emotional State.

Psychological Review 69, 1962, S. 379 – 399. 212 Vgl. ebd. S. 380. Siehe hierzu auch Meyer, Wulf-Uwe; Schützwohl, Achim; Reisenzein, Rainer: a.a.O. S.

114 und Reisenzein, Rainer: Attributionstheoretische Beiträge zur Emotionsforschung und ihre Beziehung zu kognitiv-lerntheoretischen Formulierungen. In: Eckensberger, Lutz, H.; Lantermann, Ernst-D.: Emotion und Reflexivität. München, Wien, Baltimore 1985, S. 75 – 97.

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63

die Konfrontation einer Person mit einem speziellen Ereignis. Die durch die Begegnung

hervorgerufene physiologische Erregung erfährt aufgrund der bisher erworbenen

Erfahrung eine kognitive (emotionsrelevante) Einschätzung. Dementsprechend wird

physiologische Erregung von einem Mann, der bei einem nächtlichen Spaziergang in

einem Park einer Person begegnet, die ein Gewehr trägt, „aufgrund des Wissens um

dunkle Alleen und Gewehre als Angst interpretiert“213. Dagegen wird ein Student, der

gerade erfahren hat, daß er in den Kreis der hervorragenden Akademiker aufgenommen

wurde, die physiologische Erregung als Freude interpretieren. Der wahrgenommene

Erregungszustand wird also vollständig auf die erfahrene Situation zurückgeführt. Diese

Vorgänge laufen normalerweise sehr schnell und unbewußt ab.

Der zweite eher atypische Fall der Emotionsentstehung liegt dann vor, wenn eine Person

eine physiologische Erregung wahrnimmt, die sie nicht direkt auf eine Ursache zurück-

führen kann. Gemäß Schachters und Singers Theorie folgt auf die wahrgenommene

Erregung eine Ursachensuche, die sich ausrichtet an den direkten Situationsgegeben-

heiten. Die zur Verifizierung dieser These durchgeführten Untersuchungen fanden große

Aufmerksamkeit, führten jedoch auch fälschlicherweise zu der Annahme, die Umstände

dieser atypischen Emotionsprozesse stelle Schachters und Singers Modell des Emotions-

prozesses dar.214 Dieses atypische Modell und die dazu angestellte Versuchsreihe diente

jedoch vor allem der Überprüfung der grundlegende Hypothese zur Emotionsentstehung:

Die den unterschiedlichen Emotionen zugrundeliegenden physiologischen Erregungs-

muster unterscheiden sich nicht signifikant, die Klassifizierung von Emotionen muß

demgemäß über kognitive Einschätzungen bzw. Bewertungen erfolgen. Um es ganz

einfach auszudrücken: die Unterschiede zwischen bspw. dem körperlichen Erregungszu-

stand von Ärger und Freude sind so gering, daß die tatsächliche Emotionsempfindung

abhängig ist von der Situationseinschätzung.215

Zur Überprüfung dieser These entwickelten Schachter und Singer216 eine Versuchsreihe,

an der 185 Studenten teilnahmen. Durch eine Adrenalininjektion wurde ein Teil der

Versuchspersonen in einen Erregungszustand versetzt, den anderen wurde eine

Kochsalzlösung (Placebo) verabreicht. Keiner der Teilnehmer wurde über die tatsächliche

Mittelvergabe in Kenntnis gesetzt, allen wurde vermittelt, sie nähmen an einer Testreihe

für ein neues Vitaminpräparat teil. Von den Teilnehmern, die eine Wirkstoffinjektion

213 Schachter, Stanley; Singer, Jerome E.: a.a.O. S. 380. (Übersetzung B.K.) 214 Vgl. hierzu Meyer, Wulf-Uwe; Schützwohl, Achim; Reisenzein, Rainer: a.a.O. (1997), S. 115. 215 Vgl. Schachter, Stanley; Singer, Jerome E.: a.a.O. S. 381. 216 Vgl. ebd. S. 382 ff.

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erhalten hatten, wurden einige über deren tatsächliche Nebenwirkungen informiert, einige

erhielten diesbezüglich falsche Angaben, eine dritte Gruppe bekam dazu keinerlei

Angaben. Die Teilnehmer mit der Placeboinjektion erhielten ebenfalls keine Angaben zu

Nebenwirkungen.

Nach der Injektion wurden die Versuchspersonen in Gruppen entweder mit einer Person

konfrontiert, die sehr ärgerlich war und diesen lautstark kund tat, oder einer euphorischen

Person, die lustige Späße machte. Es galt nun herauszufinden, ob die Personen, die

keine oder falsche Angaben zu den Nebenwirkungen erhalten hatten und daher keine

Erklärung für ihre körperliche Erregung hatten, ihre emotionale Befindlichkeit eher an der

Situation, in der sie sich befanden, nämlich der ärgerlichen oder der euphorischen, aus-

richteten als die Personen, die keine Erregung empfanden bzw. über deren Ursachen

genau informiert waren.

Die Ergebnisse zeigten, daß der physiologische Aktivierungsgrad bei den meisten

Versuchspersonen mit der Adrenalininjektion deutlich höher war, als der der Placebo-

gruppe (diejenigen, bei denen die Adrenalininjektion keine oder nur geringe Wirkung

zeigte, wurden aus der Untersuchung ausgeschlossen). Für die Abhängigkeit von

physiologischer Erregung und situativer Bewertung fand sich jedoch nur ein signifikanter

Beleg: Die Fremdbeobachtung zeigte bei den Probanden, die über die Wirkung des

Adrenalins nicht informiert waren, einen höheren Ärgerindex als bei den Personen, die

informiert waren bzw. Placebo erhalten hatten. Die Auswertung der Selbstbeurteilungen

dagegen ergab diesbezüglich wiederum keine signifikanten Unterschiede zwischen den

einzelnen Gruppen, was von Schachter und Singer damit erklärt wurde, daß die Ver-

suchspersonen ihren Ärger vor den Versuchsleitern verheimlichen wollten. Dennoch

lieferten die Untersuchungsergebnisse keine zweifelsfreie Bestätigung der Ausgangs-

hypothese.

Das oben dargestellte Experiment hat eine Vielzahl von weitergehenden Untersuchungen

angeregt217, deren Ergebnisse insgesamt gesehen deutlich machen, daß die Beziehung

zwischen peripher-physiologischen Prozessen und Emotionserleben viel komplexer ist als

von Schachter und Singer angenommen wurde. Darüber hinaus konnte die von William

James angenommene Bedeutung der Selbstwahrnehmung als Grundbedingung für das

Emotionserleben in vielen Ergebnissen bestätigt werden.218

217 Vgl. Goller, Hans: a.a.O., S. 40 ff und Meyer, Wulf-Uwe; Schützwohl, Achim; Reisenzein, Rainer: a.a.O.

(1997), S. 127 ff. 218 Vgl. Goller, Hans: a.a.O. S. 57.

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65

3.3.3.1.2 Zentrale Prozesse

Da die neueren Untersuchungen der neurobiologischen Forschung erheblich zur

Erweiterung der Erkenntnisse in der Emotionsforschung beigetragen haben, werden im

folgenden einige der wichtigsten Aspekte der zentralen Prozesse, die am Emotions-

geschehen teilhaben, referiert.

Subkortikale Prozesse

Thalamus

Wie wir im vorhergehenden Kapiteln gesehen haben, herrschten Meinungsverschieden-

heiten bezüglich der Emotionsauslöser. Galten für James und Lange die rein somatischen

Reaktionen als Emotionsauslöser, argumentierten Cannon wie auch Schachter und

Singer, daß die körperlichen Erregungszustände viel zu unspezifisch seien, um eine

differenzierte Emotionsbestimmung zu ermöglichen. Cannons Kritik an James

konzentrierte sich auf die mangelhafte Differenziertheit der viszeralen Erregungszustände

und die Feststellung, daß auch dann ein Emotionsempfinden beobachtbar ist, wenn die

Nervenbahnen zwischen den Organen und dem Zentralen Nervensystem unterbrochen

sind. Diese Beobachtungen unterstützen Cannons These, die Emotionsentstehung im

Gehirn zu verorten, genauer im Thalamus. Die von Cannon219 entwickelte und von Philip

Bard weitergeführte Theorie basiert auf der Grundannahme, daß die im Zwischenhirn

„unter dem Sammelnamen Thalamus zusammengefaßten Nervenzellenanhäufungen“220

für die Emotionsentstehung verantwortlich sind, diese aber nur dann zum Tragen

kommen, wenn die Gehirnrinde (Kortex), die ihr in diesem Verständnis zugedachte

hemmende Kontrollfunktion nicht ausübt. Hier wird davon ausgegangen, daß bis auf zwei

Reizgruppen alle Reize, mit denen der menschliche Organismus konfrontiert wird, von der

Gehirnrinde verarbeitet werden. Nur intensive Reize und solche, die zu biologischen, d.h.

nicht konditionierten Reaktionen führten, könnten die Hemmwirkung des Kortex

überwinden und durch Reizweiterleitung die physiologischen Reaktionen erzeugen, die

als Emotionen wahrgenommen werden.221

219 Cannon, Walter B.: a.a.O. (1927) S. 119 ff. 220 Bösel, Rainer: Physiologische Psychologie. Einführung in die biologischen und physiologischen

Grundlagen der Psychologie. Berlin, New York 1981, S. 202. 221 Vgl. Bösel, Rainer: a.a.O. (1981) S. 203. Vgl. hierzu auch LeDoux, Joseph: Das Netz der Gefühle,

München, Wien, 2001, S. 87 ff.

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Bösel weist darauf hin, daß diese Theorie der dem damaligen Zeitgeist entsprechenden

Doktrin (der er im übrigen auch heute eine breite Anhängerschaft zuspricht) folgt, „daß die

übergeordnete, spezifisch menschliche Großhirnrinde, die „niederen“ [subhuman-

animalischen] Funktionen zu beherrschen hat, d.h. im Regelfall hemmt“222.

Die Fortschritte in der Hirnforschung machte die Unhaltbarkeit der Cannon-Bard-Theorie

deutlich, nichtsdestotrotz ist sie nach Guttmann von größter Bedeutung, weil in ihr zum

ersten Mal die Bedeutung der Emotionen für die Erhaltung des organismischen

Gleichgewichts (Homöostase) angesprochen wurde. Die gegenwärtigen neuropsycho-

logischen Konzepte des Emotionserlebens rekurrieren auf dem Homöostase-Begriff mit

der grundlegenden Annahme, daß die Emotionen nur in ihrer Rolle als Regelsystem

befriedigend gedeutet werden können.223

Das limbische System

Außer Zweifel ist heute, daß unterschiedliche Hirnregionen am Emotionsprozeß beteiligt

sind. Als Zentrum gilt das Zwischenhirn mit dem dort lokalisierten limbischen System „eine

Ansammlung älterer und funktionell eng verbundener Kerne und Rindenbezirke“224, zu

denen Hippocampus, Septumkerne, Gyrus cinguli, Corpus amygdaloideum (Mandelkern),

Corpus mamillare, sowie von vielen Autoren auch der Hypothalamus gezählt wird. Alle

genannten Regionen sind paarig vorhanden, dadurch umschließt das limbische System

das Zwischenhirn wie ein Saum oder eine Borte (lat. limbus) und grenzt Hirnstamm von

Neokortex ab.225

Für die einzelnen Bestandteile wurden unterschiedliche Funktionen analysiert. Danach gilt

der Hippocampus als eine Art Integrationsstelle für die gesamten körperinternen Informa-

tionen, und erhält seine wichtige Rolle durch die Informationsverarbeitung aller Prozesse,

die aus dem Kontakt zwischen Individuum und Umwelt entstehen. Hierzu zählen Wahr-

nehmungen der Hauptsinnesorgane und Handlungsimpulse. Darüber hinaus ist der

Hippocampus wesentlich beteiligt an dem Vergleich ankommender und gespeicherter

Informationen sowie an der Struktierung der Informationsübertragung vom Kurzzeit- in

222 Ebd. S. 202. 223 Vgl. Goller, Hans: a.a.O., S. 62. 224 Ebd. S. 65. 225 Vgl. ebd. und Bösel, Rainer: a.a.O. S. 150. Zur detaillierten Darstellung über die Genese der Theorie des

limbischen Systems siehe LeDoux, Joseph: a.a.O., S. 80 ff.

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das Langzeitgedächtnis. Personen mit Schädigungen bzw. Zerstörung des Hippocampus

sind nicht mehr in der Lage, neue Informationen in das Langzeitgedächtnis aufzunehmen.

Eine emotional-motivationale Funktion kommt den Mandelkernen durch ihre enge

Verbindung mit dem Hypothalamus und dem autonomen Nervensystem zu. Die

Mandelkerne sind nicht nur unerläßlich für Analyse, Wahrnehmung und Steuerung

viszeral-körperinterner Informationen, sondern wirken auch mit bei dem Erwerb und der

Aktivierung von Gedächtnisinhalten. Darüber hinaus erzeugt die Reizung der Amygdala je

nach Ausgangslage beim Menschen Wut und Angst oder Ruhe und Entspannung.226

Die Ausschaltung des Septums führt bei Ratten zu Hyperaktivität, Aggressivität, extremer

Erregbarkeit und Störung der Gedächtnisfunktionen. Bei Tieren mit Schädigungen des

Gyrus cinguli sind Lernprozesse für Vermeidungsreaktionen verlangsamt demgegenüber

deren Löschung beschleunigt, weiterhin zeigen sie veränderte Verhaltensweisen in

Furchtsituationen. Die mamillaren Kerne wirken mit bei Gedächtnisprozessen von

Menschen. Der Gedächtnisschwund chronischer Alkoholiker wird zurückgeführt auf die

durch den Alkoholmißbrauch verursachten Schädigungen der mamillaren Kerne und das

sie umgebende Gewebe.

Der Hypothalamus wird als oberstes Koordinationszentrum der vegetativ-efferenten

Steuerung angesehen, da in ihm alle dem autonomen Nervensystem übergeordneten

Zentren, die die wichtigsten Regulationsvorgänge des Organismus steuern, vereinigt sind.

Daß heißt, von hier aus werden, um beispielhaft nur einige zu nennen, Wasser- und

Elektrolythaushalt, Herzfunktion, Kreislauf, Atmung, Stoffwechsel, Wärmeregulation,

Wach- und Schlafrhythmus, Nahrungsaufnahme, Fortpflanzung und Sexualität geregelt.

Daneben konnten im Hypothalamus ergotrope (erregende) und trophotrope (beruhigende)

Zonen ausgemacht werden, die den beiden Anteilen des vegetativen Nervensystems

entsprechen, dem Sympathikus und dem Parasympathikus.227

226 Wie umfassend die Funktion der Amygdala bei der Emotionsgenese und der Speicherung von

Informationen ist, hat sich durch neueste neurobiologische Forschungsmethoden zeigen lassen. Dabei werden Signalstoffe, sogenannte Tracer in die zu untersuchende Hirnregion injiziert, die von den Neuronen aufgenommen und bei der Reizweiterleitungen mittransportiert werden. „Mit diesem Verfahren können die einzelnen Fasern der Neurone sichtbar gemacht werden. Da Informationen nur über Fasern von einem Teil des Gehirns zum anderen gelangen könne, läßt sich an den Faserverbindungen ablesen, wohin die in einem Teil verarbeitete Information anschließend wandert.“ LeDoux, Joseph: a.a.O., S. 167.

227 Vgl. Goller, Hans: a.a.O.: S. 66 ff. und Bösel, Rainer: a.a.O.: S. 147 ff.

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68

Zweifelsfrei handelt es sich bei den hier aufgeführten Aspekten nur um einen Bruchteil der

jeweiligen Funktionen der differenzierten Zwischenhirnregionen. Die Erforschung der

Funktionsbreite jeder einzelnen Region gestaltet sich jedoch schwierig, da die gleiche

elektrische Reizung definierter limibischer Areale situationsabhängig unterschiedliche

Reaktionen hervorruft. Zwar sind im groben die Verbindungen zwischen den einzelnen

Hirnregionen sowie deren Informationsweitergabe auszumachen, der letztendliche Nach-

vollzug eines genauen Schaltplanes sowie „die funktionelle Bedeutung der zahlreichen

Regelschleifen läßt sich aus den anatomischen Beziehungen wohl grundsätzlich nicht

ableiten. Sie entstehen sicherlich in der Evolution (und im mikroskopischen Bereich auch

ontogenetisch) zunächst ‚zufällig’ und bleiben erhalten, sofern sie sich bewähren oder

zumindest nicht stören“228.

Viele der bisherigen Erkenntnisse bezüglich der Teilhabe des limbischen Systems an dem

Emotionsprozeß wurden in Tierversuchen gewonnen durch Entfernung, (Teil-)Schädigung

oder durch Reizung differenzierter Hirnregionen. Die berechtigten Zweifel an der Über-

tragbarkeit tierpsychologischer Erkenntnisse auf den Menschen können insoweit ent-

kräftet werden, als daß die beim Menschen bei chirurgischen Eingriffen durchgeführten

Reizungen spezieller Regionen im Zwischenhirn Emotionen wie Ärger, Furcht oder

sexuelle Lust auslösen. Reizungen der Hirnoberfläche dagegen erzeugen wohl Wahr-

nehmungen, aber keine emotionalen Empfindungen.

Welche Bedeutung kommt dem limbischen System zu: Als Hauptmerkmal wird ihm eine

Mittlerrolle zwischen innerem und äußerem Erleben zugesprochen, denn hier treffen

sowohl Informationen aus dem internen sensorischen Erleben wie die der äußeren

Wahrnehmung ein und werden dort verarbeitet. Die Vermittlerrolle kommt dadurch

zustande, daß die von außen kommenden Informationen auf der Folie des inneren

Erlebens be- und verarbeitet werden.

Deutlich wird durch die Erkenntnisse neuerer Hirnforschung, daß die Vorstellung der

Vorherrschaft kortikaler über subkortikale Strukturen nicht haltbar ist. Vielmehr entfalten

„die subkortikalen Strukturen (Formatio reticularis, Thalamus und Hypothalamus und das

limbische System) eine Eigendynamik [...], die den Kortex in seiner Funktionsweise bis zu

einem gewissen Grad festlegt und in seiner „Handlungsfreiheit“ einschränkt. Subkortikale

Strukturen bestimmen die Bewußtseinslage und die emotional-motivationale Färbung von

Erleben und Verhalten. Der über die Sinneskanäle in das Zwischenhirn geleitete Informa-

228 Bösel, Rainer: Biopsychologie der Emotionen. Studien zur Aktiviertheit und Emotionalität. Berlin 1986, S.

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69

tionsfluß wird beim Transfer in den Kortex enorm vermindert. Die „höhere“ kortikale

Informationsverarbeitung ist auf dem Hintergrund der dem Kortex zur Verfügung

stehenden Informationen zu sehen.“229

Kortikale Prozesse230

Die Untersuchung der Rolle des Kortex am Emotionsgeschehen zeigte zunächst, daß den

beiden Hemisphären des Gehirns diesbezüglich unterschiedliche Funktionen zukommen.

Für dieses Phänomen finden sich in der Literatur die Bezeichnungen „Cerebrale

Asymmetrie“ oder „Lateralität“. Der Blick in die Geschichte der Hirnforschung macht

deutlich, daß schon im 19. Jahrhundert erste Hinweise für eine differentielle Funktionalität

beider Hirnhälften auftraten. Im Jahre 1861 veröffentliche Paul Broca seine Untersuchung

an 20 Patienten mit Sprachstörungen. Die Autopsie dieser Personen hat in jedem Fall

eine Schädigung in der linken frontalen Hirnregion erbracht. Untersuchungen an Patien-

ten, deren Corpus callosum (Balken), die Verbindung zwischen den beiden Hirnhälften,

vollständig durchtrennt war, die sogenannten Split-brain-Versuche, ergaben ausnahmslos

eine Spezialisierung der linken (dominanten) Hemisphäre für sprachliche und analytische

Verarbeitung. Die Verarbeitung visueller und räumlicher Beziehungen erfolgt dahingegen

in der rechten (nonverbalen) Hemisphäre.

Bezüglich der Verortung der Emotionsverarbeitung in den beiden Großhirnhälften werden

zwei Theorieansätze verfolgt: die Hypothese der funktionalen Spezialisierung und die

Hypothese der differentiellen Valenz. Die Hypothese der funktionalen Spezialisierung

propagiert für die rechte Hemisphäre eine stärkere Beteiligung am Emotionsgeschehen,

während der linken Hemisphäre eine emotionshemmende und -steuernde Funktion

zugesprochen wird. Nach der Hypothese der differentiellen Valenz sind beide Hemi-

sphären am Emotionsentstehungsprozeß beteiligt, dabei wird die linke Hirnhälfte als

funktional für die positiven Emotionen angesehen, die rechte Hirnhälfte für die negativen

Emotionen.231

17. Zit. nach Goller, Hans: a.a.O. S. 68. 229 Goller, Hans: a.a.O.: S. 75. Vgl. hierzu ausführlich: Ciompi, Luc: Die emotionalen Grundlagen des

Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik. 2., durchgesehene Auflage. Göttingen 1999, S. 45 ff. und besonders S. 93 ff.

230 Die nachstehende Darstellung erfolgt in Anlehnung an Goller, Hans: a.a.O. S. 76 ff. Vgl hierzu auch Davidson, Richard J.: Hemispheric Asymmetry and Emotion. In: Scherer, Klaus R.; Ekman, Paul: Approaches to Emotion. Hillsdale, London 1984, S. 39 – 57.

231 Zu einer kritischen Sicht bezüglich der funktionalen Spezialisierung siehe auch: Wolf, Gerald: Das Gehirn. Wege zum Begreifen. München 1992, S. 165.

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70

Diverse unterschiedliche Untersuchungen an Kranken, wie auch an gesunden Menschen

haben eher die Hypothese der differentiellen Valenz bestätigt. Hier haben sich besonders

die frontalen Bereiche der beiden Hemisphären als (durch EEG-Aktivierung) emotional

ansprechbar herausgestellt. Dieses Ergebnis wird durch die weitreichenden anatomischen

Verbindungen zwischen Frontalkortex und limbischem System unterstützt. Besonders

erwähnenswert ist die aus den Untersuchungen hervorgegangene Erkenntnis, daß die

Aktivierung jeweiliger Hemisphären nicht direkt die Wahrnehmung emotionaler Reize

und/oder den Emotionsausdruck widerspiegelt, sondern das Emotionserleben, d.h. in

diesen Hirnbereichen ist die kognitive Verarbeitung des Emotionsprozesses zu verorten.

Die bisherige Darstellung macht den engen Zusammenhang zwischen Körperprozessen

und Emotionserleben deutlich. Hier wird jedoch auch deutlich, daß die Trennung der

peripheren und zentralen Prozesse bei der Emotionsauslösung fragwürdig ist. Vor dem

Hintergrund der nach den neurobiologischen Forschungsergebnissen berechtigten

Annahme, daß dem limbischen System eine Mittlerrolle bei der Wahrnehmungsver-

arbeitung zukommt, lassen sich die von James bzw. Lange postulierten viszeralen

Erscheinungen beim Emotionserleben erklären. Durch seine Funktion der Informations-

aufnahme, -abgleichs und -speicherung und seine enge Verbindung mit dem autonomen

Nervensystem, welches die Körperprozesse steuert, erscheint die Annahme berechtigt,

daß einerseits vom limbischen System ausgehend als Reaktion einer Wahrnehmungs-

information Körperprozesse initiiert werden, die dem Bewußtsein erst quasi in Form einer

Rückmeldung zugänglich sind und dann als Gefühl interpretiert werden. Problematisch ist

jedoch gerade vor dem Hintergrund neurobiologischer Befunde zur Emotionsgenese die

von James und Lange gleichermaßen vertretene Ansicht, daß alle emotionalen

Reaktionen auf bestimmte Reize genetisch vorbestimmt seien, vielmehr konnte hier

deutlich gemacht werden, daß emotionale Reaktionen auf bestimmte Umweltgegeben-

heiten gelernt werden.232

Daß die situationsabhängig unterschiedlichen Körperprozesse eine Erklärungsmöglichkeit

für die Entstehung von Gefühlen sind, ist nicht von der Hand zu weisen, jedoch kann es

nicht die einzige sein. Wie steht es bspw. mit Prüfungsängsten, die vor einer Prüfungs-

situation entstehen, oder dem Schamgefühl, das auftritt, nachdem der peinliche Fehler

bewußt wurde, oder die Vorfreude auf ein in der Zukunft stattfindendes Ereignis. Hier

sorgen nicht Reaktionen auf Wahrnehmungen von tatsächlichen Gegebenheiten, sondern

232 Vgl. LeDoux, Joseph: a.a.O. (2001), S. 152 ff.

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71

allein bewußte Denkprozesse für die Auslösung eines Gefühlszustandes. Bei den

vorstehend dargestellten Theorien aber handelt es sich in allen Fällen um Gefühlszu-

stände, die aus empirischen Gegebenheiten erwachsen, d.h. ein großer Bereich der

möglichen Auslöser für Gefühlszustände wird nicht erfaßt. In wieweit in der Psychologie

diese Teilbereiche Berücksichtigung finden, wird noch zu klären sein. Zunächst finden

jedoch die psychologischen Theorieansätze, die sich mit den durch Gefühle ausgelösten

Verhaltensweisen auseinandersetzen, nähere Betrachtung.

3.3.3.2 Die Verhaltenskomponente des Emotionserlebens

3.3.3.2.1 Evolutionstheoretische Ansätze

Gefühle initiieren, beeinflussen oder steuern Verhaltensweisen und finden ihren Ausdruck

vor allem in Mimik und Gestik und Körperhaltung. Diese Evidenzen haben die Frage

aufgeworfen, welche Rolle Gefühle in der alltäglichen Lebensbewältigung spielen, ob sie

möglicherweise sogar überlebensnotwendig sind. Mit der Untersuchung der genetischen

Bedingtheit der emotionalen Ausdruckserscheinungen gilt Charles Darwin233 als Begrün-

der der evolutionsbiologischen Ansätze, die die Klärung der Funktionalität von Emotionen

bzw. deren Anpassungswert focussieren.

Die evolutionsbiologischen Forschungsansätze variieren in ihren Grundannahmen und

daher in ihrem Erklärungswert, was nicht nur zu Differenzen innerhalb dieser Disziplin

führt, von manchen Autoren werden die Ausgangsvoraussetzungen grundsätzlich in

Frage gestellt. Diese Kritik fußt auf der Tatsache, daß die Rekonstruktion der Emotions-

entwicklung und damit deren Funktionalität nur anhand von Veränderungen der Hirn-

strukturen und/oder Verhaltensweisen möglich wäre, archäologische Funde darüber aber

kaum Aufschluß geben. Daher ist man zum Nachvollzug einzelner Entwicklungsschritte

nahezu ausschließlich auf den Tier-Mensch-Vergleich angewiesen. Daß diesem Vergleich

aufgrund spezieller intellektueller Fähigkeiten des Menschen Grenzen gesetzt sind, wurde

oben schon ausführlich erläutert.

Eine häufig gewählte Methode, die biologischen Wurzeln der Emotionen zu eruieren, ist

die Annahme von Basisemotionen. Anstelle einer ausführlichen Darstellung der einzelnen

233 Darwin, Charles: a.a.O.

Page 72: Erziehung und die „Vernunft der Gefühle“ · und Scherers integratives Prozeßmodell der Emotionen 124 3.4 Grundlegende Untersuchungen zu dem Verhältnis von Denken und den Gefühlen

72

Ansätze, welche im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich ist, wird die Diskussion um die

unterschiedlichen Erklärungsansätze und deren Problematisierung nachgezeichnet.234

Alle Ansätze postulieren eine genetische Ausstattung mit einer bestimmten Anzahl von

Basisemotionen, auch „primäre Emotionen“ genannt, die die Grundlage bilden für die

Entwicklung aller beim Menschen vorfindbaren Emotionsvariationen. Daß darüber hinaus

die Annahmen erheblich differieren, zeigt die Gegenüberstellung in der folgenden Tabelle.

„Die von McDougall, Plutchik, Tomkins, Izard und Ekman postulierten primären Emotionen

McDougall

Plutchik

Tomkins

Izard

Ekman

Furcht

+ + + + +

Ärger

+

+

+

+

+

Ekel1

+

+

+

+

+

Kummer/Traurigkeit2

[+]

+

+

+

+

Freude

-

+

+

+

+

Überraschung

-

+

+

+

+

Verachtung1

-

-

+

+

(+)3

Interesse

-

-

+

+

(+)

Scham

-

-

+

+

(+)

Schuld

-

-

-

+

(+)

Schüchternheit

-

-

-

+

-

Akzeptieren

-

+

-

-

-

Erwartung

-

+

-

-

-

Unterwürfigkeit

+

-

-

-

-

Zärtlichkeit

+

-

-

-

-

Staunen

+

-

-

-

-

Hochgefühl

+

-

-

-

-

(1) Für Tomkins [Tomkins, S.S.: Affect, imagery, consciousness. Volume II. The negative affects. New York 1963; Tomkins S.S. & McCarter R.: What and where are the primary affects? Some evidence for a theory. Perceptual and Motor Skills, 18, 1964, S. 119 – 158] stellten Verachtung und Ekel ursprünglich nur Intensitätsvariante einer einzigen primären Emotion dar. Später hat Tomkins [Tomkins, S.S.: Affect as amplification: Some modifications in theory. In: Plutchik, R. & Kellermann H. (Eds.): Emotion: Theory, research,and experience. Vol. 1, New York 1980, pp. 141 – 164] beide als voneinander verschiedenen primäre Emotionen beschrieben.

(2) Für Plutchik [Plutchik, R.: Emotions and their vicissitudes: Emotions an psychopathology. In: Lewis, M. & Haviland, J.M. (Eds.): Handbook of emotions New York 1993, pp. 53 – 66, hier S. 59 ] sind Kummer und Traurigkeit nur verschiedenen Bezeichnungen für dieselbe primäre Emotion. Izard [Izard, C.E.: The psychologiy of emotions. New York 1991] und Ekman [Ekman, P.: Are there basic emotions? Psychological

234 Bei der folgenden Erörterung wird Bezug genommen auf: Meyer, Wulf-Uwe, Schützwohl, Achim,

Reisenzein, Rainer: Einführung in die Emotionspsychologie. Evolutionspsychologische Emotionstheorien. Band II. 2., korrigierte Auflage. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle. 1999, S. 157 – 176.

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73

Review, 99, 1992, S. 550 – 553] führen nur Traurigkeit als primäre Emotion auf, Tomkins (a.a.O. 1963) nur Kummer. Izard (a.a.O., 1991, S. 193) meint allerdings, daß die Beschreibung der primären Emotion Kummer bei Tomkins seiner Beschreibung der primären Emotion Traurigkeit ähnelt. McDougall führt in seiner Social Psychology (1908/1960) Kummer noch nicht als primäre Emotion auf, wohl aber in späteren Werken (diese Emotion ist nach McDougall mit dem Instinkt des Hilfesuchenden [appeal] verknüpft).

(3) Bei den rund eingeklammerten Emotionen handelt es sich um solche, bei denen für Ekman (a.a.O. 1992) noch nicht hinreichend gesichert ist, ob es sich tatsächlich um primäre Emotionen handelt. Er bezeichnet sie daher als „mögliche“ (S. 193) primäre Emotionen. Drei weiter potentielle primäre Emotionen sind nach Ekman Ehrfucht (awe), Verlegenheit (embarassment) und Erregtheit (excitement). Bei Tomkins [Tomkins, S.S.: Affect, imagery, consciousness. Volume I. The positive affects. New York 1962 und am a.a.O. 1980] und Izard (a.a.O. 1991) ist Erregtheit keine eigenständige primäre Emotion, sondern nur eine besonders starke Form der primären Emotion Interesse. Bei Izard ist Verlegenheit keine eigenständige primäre Emotion, sondern eine Variante der primären Emotion Scham.“235

Diese Tabelle veranschaulicht eindrucksvoll die Unterschiede in der Bestimmung der

Basisemotionen. Zwar zählen alle fünf Autoren Furcht, Ärger, Ekel, Kummer/Traurigkeit

zu den primären Emotionen, die darüber hinaus bei Tomkins, Izard und Ekman

bestehenden Gemeinsamkeiten werden darauf zurückgeführt, daß Izard und Ekman

Schüler von Tomkins waren und daher stark von ihm (bzw. Darwin) beeinflußt wurden.

Doch auch die vorfindbaren Übereinstimmungen können nicht über die Unterschiede

hinwegtäuschen, die einerseits darauf zurückzuführen sind, daß Uneinigkeit in der

Begriffswahl für die gleiche Emotion herrscht, zum anderen, daß „verschiedene Autoren

unterschiedliche Kriterien zur Klassifikation einer Emotion als biologisch grundlegend

heranziehen“236. So sind es bspw. bei Tomkins, Izard und Ekman die emotionsspezi-

fischen Gesichtsausdrücke, die für die Basisemotionen maßgeblich sind, während

McDougall und Plutchik eine Basisemotion daran festmachen, daß dieser Gefühlszustand

mit einer spezifischen instinktiven Handlungstendenz verbunden ist. Daher stellt für

McDougall Zärtlichkeit eine Basisemotion dar, während aufgrund des fehlenden

spezifischen Gesichtsausdruckes für Tomkins, Izard und Ekman Zärtlichkeit nicht zu den

Basisemotionen zu zählen ist.

Für Meyer, Schützwohl und Reisenzein ist der Beweis der biologischen Grundlegung

einer Emotion notwendig gebunden an den zweifelsfreien Nachweis der für diese

Emotionen jeweils postulierten typischen Merkmale oder Kriterien. Die Autoren überprüfen

an fünf spezifischen Merkmalen, inwieweit diese sichere Befunde für Basisemotionen

liefern. Untersucht werden mimischer Ausdruck, peripher-physiologische Veränderungen,

Handlungstendenzen, Gefühlserleben und kognitive Einschätzungen.

235 Die Tabelle ist zusammen mit den Fußnoten entnommen aus: Meyer, Wulf-Uwe, Schützwohl, Achim,

Reisenzein, Rainer: a.a.O. (1999), S. 159. Die Literaturhinweise in den eckigen Klammern sind zur Sicherung der Quellenangaben vervollständigt worden.

236 Ebd. S. 161.

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74

Die umfassendsten Belege liegen zu der sehr intensiv erforschten Komponente des

Emotionserlebens, dem mimischen Ausdruck vor. Überkulturelle Ähnlichkeiten konnten für

den Ausdruck von Glück/Freude, Trauer, Ärger/Wut, Furcht, Ekel und Überraschung237

gefunden werden. Der aus diesen Untersuchungen geschlossene enge Zusammenhang

zwischen Gesichtsausdruck und Emotionserleben ist jedoch aus mehreren Gründen

kritisiert worden. Zum einen wird vom verhaltensökologischen Gesichtspunkt aus die

Frage gestellt, ob denn der Kommunikationsaspekt, der durch den Gesichtsausdruck

dargestellten jeweiligen emotionalen Befindlichkeit, in jedem Falle positiv zu bewerten sei.

Fridlund äußert diesbezüglich Zweifel, die er verdeutlicht an dem Beispiel, daß ein in einer

Kampfsituation gezeigtes ängstliches Verhalten den Gegner, welcher dadurch einen

leichten Sieg antizipiert, in seiner Angriffslust eher bestärken könne.238 Zum anderen

finden sich in neueren Untersuchungen sowohl Belege für Emotionserleben ohne den

dazugehörigen Gesichtsausdruck, wie Belege dafür, daß „’emotionale’ Gesichtsaus-

drücke, oder Komponenten davon, in Abwesenheit der jeweiligen Emotion auftreten

können“239. Darüber hinaus könnten auch Emotionen zu den Basisemotionen gezählt

werden, die nicht durch einen speziellen Gesichtsausdruck gekennzeichnet sind, wie

Mitleid oder Eifersucht.

Wie oben bereits dargelegt, ist auch die Klassifizierung von Emotionen durch peripher-

physiologische Veränderungen noch nicht ausreichend gelungen. Zwar haben Umfrage-

ergebnisse zu den körperlichen Symptomen von Emotionen ergeben, daß einige der

Basisemotionen mit ganz spezifischen Körperreaktionen verbunden werden, jedoch steht

der Nachweis noch aus, ob es sich hierbei um tatsächlich empfundene Körperreaktionen

handelt, oder ob die Berichte mehr die gelernten Emotionsempfindungsmuster spiegeln.

Wenn sich auch durch die Ergebnisse von zum Teil auch überkulturell angelegten Studien

für einige Emotionen bestimmte Handlungstendenzen nachweisen lassen, Furcht ist

danach bspw. häufig begleitet von einem Fluchtimpuls, während Ärger häufig mit der

Tendenz verbunden ist, den Gegner zu schädigen, so belegen nicht nur empirische

Studien, sondern vor allem auch die Alltagserfahrung, daß der hier von McDougall und

Plutchik postulierte enge Zusammenhang fragwürdig ist. Die Emotion Furcht könnte

ebensogut auch den Handlungsimpuls des „sich verstecken wollens“ auslösen oder je

nach Situationseinschätzung möglicherweise zum Angriff führen. Nachweislich sind

237 Vgl. ebd. S. 78 und die Ausführungen zu Ekman in dieser Arbeit S. 84 ff. 238 Vgl. Meyer, Schützwohl, Reisenzein: a.a.O. (1999), S. 81. 239 Ebd. S. 163.

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75

bestimmte Handlungsimpulse mehreren Emotion zuzuordnen, ebenso wie spezifische

Emotionen situationsabhängig unterschiedliche Reaktionen nach sich ziehen. Damit ist

der Versuch, Basisemotionen mit der Zuordnung von ganz spezifischen Handlungsten-

denzen zu fundieren, nicht haltbar.

Wie oben bereits angesprochen, lassen sich in bezug auf die körperlichen Veränderun-

gen, die mit dem Emotionsprozeß verbunden sind, keine konkreten Aussagen über das

tatsächliche Gefühlserleben machen, d.h. weder peripher-physiologische noch zentrale

Prozesse sind deutlich spezifischen Emotionen zuzuordnen.

Der Zusammenhang zwischen kognitiver Einschätzung und Basisemotionen wurde schon

von Descartes postuliert. Seiner Auffassung nach ist Furcht z.B. mit der Überzeugung

verbunden, daß ein unerwünschtes Ereignis eintritt, während Freude an die Überzeugung

gebunden ist, ein erwünschtes Ereignis träte ein. Die Berechtigung dieser Annahmen

konnte durch zahlreiche Studien bestätigt werden, da es jedoch für alle Emotionen

kognitive Einschätzungsmuster gibt, ist dies kein Beweis für Basisemotionen.

Im Hinblick auf die angeführten Kriterien muß - zumindest vom heutigen Stand der

Wissenschaft aus gesehen – die Bestimmung einer gewissen Anzahl von Emotionen als

primäre oder Basisemotionen als nicht hinreichend nachweisbar gelten. Weiterhin gilt es

zu bedenken, daß einer Emotion dann das Prädikat „primär“ zukommt, wenn sie auf keine

andere Emotion zurückzuführen ist, d.h. nicht weiter analysierbar sei. Berücksichtigt man

nun die in vielen Versuchen bestätigte Erkenntnis, daß die meisten Emotionen entweder

als lustvoll (Freude, Zärtlichkeit) oder unlustvoll (Ärger, Furcht, Wut) empfunden werden,

so liegt der Schluß nahe, „die genannten Basisemotionen als Varianten der grundlegen-

deren Gefühle Lust und Unlust aufzufassen“240. Dies muß als weiteres Indiz gewertet

werden für die mangelnde Beweislage bezüglich „primärer“ Emotionen.

An dieser Stelle sei ganz deutlich darauf hingewiesen, daß es sich um die kritische

Betrachtung der Ausgangsbedingungen der evolutionären Emotionstheorien handelt, die

über die Differenzierung von Basisemotionen die genetische Verankerung der

Emotionen nachzuweisen versuchen, die Schwierigkeiten einer solchen Beweisführung

sollte oben deutlich geworden sein.

240 Ebd. S. 169.

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76

Einen anderen Zugang zu dieser Thematik wählt Norbert Bischof241 ausgehend von einer

Kritik an dem der Psychologie zugrundeliegenden Biologieverständnis, welches insbeson-

dere Auswirkungen auf die emotionspsychologischen Theorien habe. Bezüglich der

Debatte um die primären Emotionen bemängelt er, daß von Voraussetzungen ausgegan-

gen würde, die er als „Grundsatz der Präformation“ bezeichnet und mit folgenden Worten

charakterisiert: „Biologische Merkmale sind ausschließlich genetisch bedingt und daher

angeboren. Wenn ein Merkmal nicht schon bei Geburt vorhanden oder später auch noch

durch Umwelteinflüsse modifizierbar ist, dann ist es nicht mehr (rein) biologischer

Herkunft.“242 Hier wird die mangelnde Berücksichtigung des individuellen Entwicklungs-

prozesses kritisiert, mit dem Hinweis darauf, daß dieser gekennzeichnet sei durch ein

Zusammenwirken von genetischer Ausstattung und Umweltbedingungen, wovon die

letzteren in Form von Stimulation und Alimentation (als Gesamt des durch die Umwelt

bereitstehenden Versorgungssystems) auf den Organismus einwirken und so mit der

genetischen Ausstattung interagieren. Unter diesen Umständen ist für Bischof die Klassifi-

kation einer bestimmten Anzahl von Emotionen als primäre nicht zulässig, da nicht von

einem ersten Erscheinungsbild auf die tatsächliche genetische Ausstattung geschlossen

werden könne. Bischof expliziert noch zwei weitere der Psychologie nach seinem Dafür-

halten fälschlicherweise zugrundeliegende Biologieverständnisse, den emergenistischen

Grundsatz und den energetischen Grundsatz. Der emergenistische Grundsatz bezeichnet

die Vorstellung, daß psychische Phänomene nur insoweit biologisch erklärbar sind, als sie

ihren Ausdruck in (peripher) physiologischen Erscheinungen finden. Bei einem Fehlen

dieses Nachweises sind außerbiologische Erklärungsmuster heranzuziehen.243 Der

energetische Grundsatz, der direkt zurückgeführt wird auf die galileische Denkweise,

bezeichnet das Verständnis der Biologie als eine Teildisziplin der Physik, was zur Folge

habe, daß qualitative Unterschiede als Epiphänomene von Energietransformationen

verstanden würden, wobei „Form“ nicht von Belang sei, denn die Erklärungsprinzipien

aller Naturwissenschaften seien „Kraft und Stoff“.244 Während die in dem emerge-

nistischen Grundsatz verbundene Kritik abzielt auf die aus diesem Verständnis

resultierende Leib-Seele-Debatte, bezieht sich die Kritik hinsichtlich des energetischen

Biologieverständnisses auf die u.a. von Schachter und Singer vertretene Ansicht,

Emotionen seien allein als „unspezifische Allgemeinerregung“ zu betrachten.

241 Bischof, Norbert: a.a.O 242 Ebd. S. 189. 243 Vgl. Bischof, Norbert: a.a.O. S. 190, 191. 244 Vgl. ebd. S. 192.

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Unter Zurückweisung der von ihm eruierten falschen Biologieverständnisse skizziert

Bischof seine Vorstellung von einer biologischen Strukturlehre der Emotionen. Für ihn

sind Emotionen schon recht früh in der Stammesgeschichte entstanden. Es werden drei

phylogenetische Stufen unterschieden. In der untersten Stufe sind die Emotionen eine

Begleiterscheinung des Antriebsgeschehens, zu verstehen als eine Art Zustandsmelde-

system, die dem Organismus „die Thematik anstehender, aber vorerst eben noch nicht

umsetzbarer Antriebe qualitativ erfahrbar“245 macht. Dieses Zustandsmeldesystem steht in

engem Bezug zu einem niedrigen Fitneßpotential des Organismus, welches hier als Streß

bezeichnet wird, und auf ganz spezifische Gründe wie bspw. Nahrungsmangel,

Rivalendruck etc. zurückzuführen ist. Die hiermit in Verbindung stehenden Ausdrucks-

bewegungen sind noch von keinerlei Nutzen. Bedeutung im kommunikativen Sinne

erhalten diese erst in der zweiten phylogenetischen Stufe, in der das Sozialverhalten

überlebensnotwendig ist. Hier gilt es über die Wahrnehmung der motivationalen Befind-

lichkeit der Gruppenmitglieder eine Art Verhaltenssynchronisation zu erlangen, denn

„[u]nkoordinierte Antriebshandlungen der Individuen würden ja schnell die Gruppe

sprengen“246. Aufgrund dieser Notwendigkeit unterliegt die Ausdruckswahrnehmung bei

sozialen Tieren einem eigenen Selektionsdruck. Die phylogenetische Selektion von

Ausdrucksbewegungen, die als „Ritualisierung“ bezeichnet wird, erfolgt jedoch in Form

einer Anpassung der Ausdrucksdetektoren des Senders an die Eindrucksdetektoren des

Empfängers. Nach Bischof ist die menschliche Ausdrucksform der Emotionen zu einem

beträchtlichen Anteil ritualisiert und vor allem deshalb für grundlagentheoretische und

diagnostische Zwecke eher ungeeignet, weil die von der Natur kommunikativ angelegten

Ausdrucksfelder keineswegs den menschlichen Emotionsreichtum gleich gut abdecken.

Erst auf der dritten Stufe der phylogenetischen Entwicklung, dem Anthropoidenniveau,

erreichen die Emotionen eine umfassende Bedeutung. Der diese Stufe kennzeichnende

immense Zuwachs an kognitivem Vermögen beinhaltet auch die Phantasiefähigkeit, hier

verstanden als grundlegende Potenz, Reiz-Reaktions-Verhalten abzulösen. Diese Potenz

ermöglicht, Handlungsalternativen auszudenken, zu durchdenken und gegeneinander

abzuwägen. Die Rolle, die der Emotionalität dabei zukommt, ist die Entkräftung

anstehender Antriebe zugunsten der Antizipation künftiger, jetzt noch gar nicht aktueller

eigener Antriebslagen. Durch die mit Rückgriff auf Freud als „sekundärprozeßhaft“

bezeichnete „Entmächtigung aktueller Antriebslagen zugunsten vorweggenommener

Möglichkeiten wird der Mensch dann endgültig und gleichsam konstitutionell emotio-

245 Bischof, Norbert: a.a.O. S. 199. 246 Ebd. S. 200.

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nalisiert, die imperative Macht der Triebhaftigkeit transformiert sich bei ihm endgültig in

die Unverbindlichkeit eines emotionalen Appells“247.

Bischof wendet sich gegen die weitverbreitete Ansicht, bei Menschen sei ein „Instinkt-

verlust“ zu verzeichnen, vielmehr sei in der Evolutionsreihe Neues hinzugekommen. Die

Attraktivität des Konzepts der „sekundären“ Emotionen erklärt sich für ihn daraus, daß der

emotionale Bereich des Menschen sich gegenüber den Vorformen der Tiere signifikant

erweitert hat. Tatsächlich scheint ihm die Annahme plausibel, „daß dem Menschen in

Abstimmung mit seinen kognitiven Neuerwerben auch neue artspezifische Motive

zugewachsen sind, die sich phylogenetisch aus einfacherem Ausgangsmaterial heraus-

differenziert und verselbständigt haben. ‚Sekundär’ kann man diese dann insofern

nennen, als sie – in Anbetracht der eben diskutierten Möglichkeiten zu freier Handlungs-

gestaltung – von vorn herein gar nicht mehr mit antriebsspezifischen, voll funktions-

tüchtigen Erbkoordinationen ausgestattet wurden. Nur noch die Ausdrucksmuster ihrer

phylogenetischen Stammformen haben sie als funktionsloses Relikt beibehalten.“248

Diese Hypothese erläutert Bischof an den Emotionen, die mit der Phantasietätigkeit im

Sinne einer Problembewältigungsinstanz im Zusammenhang stehen: die mit einem

Lächeln verbundene Freude nach der Lösung eines Problems, der Ärger beim Mißlingen

eines Handlungsvorsatzes und andererseits der Triumph bei der Bewältigung einer in

Angriff genommenen Schwierigkeit und weiterhin die Traurigkeit beim Versagen - nach

Bischof wurden all diese „phantasiesteuernden Emotionen durch Transformation aus dem

Repertoire des sozialen Verhaltens gewonnen“249. Ebenfalls aus dem sozialen Kontext

entstanden und daher als sekundäre Emotionen zu klassifizieren sind Hoffnung und

Befürchtung. Während Hoffnung mit Vertrauen in Verbindung steht und somit im Zusam-

menhang mit der Sicherheitsthematik steht, rekurriert Befürchtung auf die Furcht, die

Fremden entgegengebracht wird. Bischof betont, daß die Rückführung der sekundären

Emotionen auf ihren ursprünglich sozialen Bezug dadurch erschwert wird, daß „in allen

genannten Neuerwerben das aus älteren Quellen Erborgte gewissen Transformationen

unterworfen wird und dabei auch seinen erkennbaren Sozialbezug verliert“250.

Zusammenfassend richtet sich Bischof gegen die Differenzierung von „primären“ und

„sekundären“ Emotionen in dem Verständnis, daß nur die ersteren genetisch verankert

247 Ebd. S. 202. 248 Ebd. 249 Ebd. 250 Ebd. S. 202, 203.

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seien und auf einer phylogenetischen Entwicklung beruhten. Nach seinem Dafürhalten

sind alle Emotionen im genetischen Bauplan angelegt, nicht nur Wohlbefinden und

Unbehagen, Ekel und Frucht, auch Scham und Stolz, ja sogar religiöse Ergriffenheit.

Darüber hinaus wendet sich Bischof gegen die Ansicht, Emotionen seien zu verstehen als

unspezifische Allgemeinerregung, dadurch daß er ihnen eine semantische Bedeutung

zuweist. Durch sein Verständnis von Kognition als „jeden Prozeß, der potentiell ‚wahre

Abbildungen’ von Umweltmerkmalen liefert [...]“, ist jede „[...] Wahrnehmung eine kognitive

Aktivität, und Emotionen eben auch“251. An dem Beispiel, daß das Verspüren von Angst

auf eine Wahrnehmung eines Phänomens als potentiell gefährlich hinweist, expliziert

Bischof: „Die Gefühle sind weder prä- noch postkognitiv, sie sind selbst kognitiv.“252

Bischofs Ausführungen hinsichtlich des Zugangs der Emotionspsychologien zur bio-

logischen Grundlegung der Emotionen, sowie seine eigene Skizze diesbezüglich wurden

psychologischerseits253 intensiv diskutiert. Wohl fand die Kritik an dem in der eigenen

Disziplin herrschenden Biologieverständnis in weiten Teilen Anerkennung, jedoch wurde

die rigide Verallgemeinerung sowie die auf dieser Folie erfolgte Beurteilung der einzelnen

emotionspsychologischen Konzepte aufgrund der Verengungen bei den Rezeptionen der

jeweiligen Positionen berechtigterweise abgelehnt254. Beanstandet wurden vor allem die

Bischofs eigener strukturbiologischen Skizze zugrundeliegenden Begriffsdefinitionen von

Kognition und Motivation. Nach Dörner255 spiegelt die in dem kritisierten Ansatz verwen-

dete Definition von Kognition nicht nur das allgemeine Begriffswirrwarr in den unterschied-

lichen Konzepten, vielmehr gelinge Bischof diesbezüglich durch die von ihm gewählte

Bestimmung der Kognition als jeden Prozeß, der potentiell wahre Abbildungen von Um-

weltmerkmalen liefert, noch eine Steigerung. In Dörners Verständnis ist diese Bestim-

mung einerseits zu eng und andererseits zu weit. Zu eng ist sie insofern, als daß

Kognition allein mit Abbildungen von Umweltmerkmalen in Verbindung gebracht werden

und damit die intrapersonalen Zuständlichkeiten256 keine Berücksichtigung finden, zu weit

251 Ebd. S. 195. 252 Ebd. 253 Zur Kritik siehe: Dörner, Dietrich: Emotion, Kognition und Begriffsverwirrungen: Zwei Anmerkungen zur

Köhler-Vorlesung von Norbert Bischof. Psychologische Rundschau 40, 1989, S. 206 – 209; Scherer, Klaus: Von den Schwierigkeiten im Umgang mit den Emotionen oder Terminologische Verwirrungen. Psychologische Rundschau 40, 1989, S. 209 – 216; Schneider, Klaus: Norbert Bischof zur Lage der Emotionsforschung oder der Kampf gegen Strohpuppen. Psychologische Rundschau 40, 1989, S. 216 – 218; Zajonc, R.B.: Bischofs gefühlsvolle Verwirrungen über die Gefühle. Psychologische Rundschau, 40, S. 218 – 225.

254 Siehe hierzu besonders: Scherer, Klaus: a.a.O. 1989, S. 209 – 221. 255 Dörner, Dietrich: a.a.O. (1989), S. 206 – 209. 256 Diese Kritik Dörners ist insofern unberechtigt, als daß Bischof von der Abbildung der Umweltmerkmale im

Organismus spricht, was sie damit als intrapersonale Zuständlichkeit ausweist. Wäre dem nicht so, könnte überhaupt kein emotionaler Zustand wahrgenommen werden.

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erscheint sie dadurch, daß prinzipiell jede Tätigkeit zum „kognitiven Akt“ würde. Die Aus-

wirkungen des unterschiedlichen und teilweise auch inflationären Gebrauchs des

Kognitionsbegriffs, der jeden Wahrnehmungsakt zur Kognition macht, lasse sich bei

Bischof besonders deutlich machen. Für ihn sei (wie oben ausgeführt) die Angst natürlich

eine Kognition. Im Hinblick darauf stellt Dörner berechtigt die Frage: „was aber wäre

gemäß der Bischof’schen Definition keine?“257. Was Dörner damit andeutet, aber nicht

explizit ausführt, ist die „Ungenauigkeit“ in dieser Definition, denn einerseits sind

Kognitionen der Prozeß, der „’wahre’ Abbildungen von Umweltmerkmalen liefert“ und

andererseits ist „auch bereits jeder [...] Prozeß bis hinunter zur Wahrnehmung eine

kognitive Aktivität, und die Emotionen eben auch“258. Damit setzt Bischof Emotionen mit

Kognition gleich, was deutlich wird mit der oben bereits zitierten Feststellung: „Die

Gefühle sind weder prä- noch postkognitiv, sie sind selbst kognitiv.“259

Problematisch ist ebenfalls Bischofs Gleichsetzung der Begriffe Motivation und Emotion.

Dörners berechtigter Einwand lautet, daß man durch eine Gleichsetzung aus zwei

Begriffen einen macht, was jedoch erst dann erfolgen sollte, wenn man tatsächlich sicher

sei, daß die beiden auch den gleichen Sachverhalt bezeichnen.260 Hierzu gilt weiterhin

festzustellen, daß im Hinblick auf Bischofs Gleichsetzung der Begriffe Kognition und

Emotion, die konstatierte Identifikation der Begriffe Emotion und Motivation logisch

bedeutet, daß Kognition gleich Motivation sei. Es liegt auf der Hand, daß eine solche

Simplifizierung eine genauere Untersuchung der Emotionen eher erschwert.261

Ungeachtet der Kritikpunkte sind Bischofs Überlegungen jedoch durchaus bedenkens-

wert. Bezüglich der erwähnten Ungenauigkeiten und Vereinfachungen gilt zu berück-

sichtigen, daß die Skizze Teil eines Vortrages ist, ein Rahmen also, in dem detaillierte

Ausführungen eher unzuträglich sind. Demgegenüber liegt die Hauptproblematik m.E. in

dem von Bischof vertretenen Biologieverständnis. An den von ihm eruierten Unzuläng-

lichkeiten bezüglich der biologischen Grundverständnisse in der Psychologie wird

deutlich, daß er davon ausgeht, alle in der Natur vorkommenden Phänomene seien

biologisch erklärbar. Es kann und soll hier nicht bestritten werden, daß diese Möglichkeit

besteht, jedoch liegt die Beweislast dafür bei den Biologen. Fraglich erscheint jedoch,

257 Dörner, Dietrich: a.a.O. (1989), S. 207. 258 Bischof, Norbert: a.a.O., S. 195. 259 Ebd. 260 Vgl. Dörner, Dietrich: a.a.O. (1989), S. 208. 261 Nicht berücksichtigt wird in diesem Zusammenhang, daß Bischof zwischen Rationalität und Kognition

unterscheidet (Bischof, Norbert: a.a.O. S. 195), jedoch bringt auch diese Unterscheidung keine Klarheit, da nicht näher auf die Differenzierung zwischen Kognition, Rationalität und Emotion eingegangen wird.

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inwieweit es im Hinblick auf die einer Disziplin notwendig zugrundeliegenden

Forschungsparadigmata, die immer eine gewisse Perspektive vorgeben und somit

eingrenzend wirken, überhaupt möglich ist, Erklärungsmuster für alle „natürlichen“

Phänomene zu finden.262 Die Schwierigkeit zeigt sich in den für eine solche Vorgehens-

weise nahezu unerläßlichen Verallgemeinerungen und Simplifizierungen bzw.

„Verwischungen“ in den Begriffsverständnissen, die oben schon diskutiert wurde.263

Grundsätzliche Kritik übt Dieter Ulich264, ausgehend von der Überprüfung der Zulässigkeit

der Ausgangsfragestellung phylogenetischer Emotionstheorien, an Forschungstätigkeiten

unter funktionalem Interesse. Aufgrund des hier zugrundeliegenden biologischen Dogma-

tismus sieht er kaum die Möglichkeit gegeben für empirische Untersuchungen der „Ent-

wicklungen und Erscheinungsformen von Emotionen als historisch und sozio-kulturell mit-

bedingte Erlebnis-Formen und individuell-einzigartige Erlebnis-Qualitäten“265. Mit Bezug

auf Robert Plutchiks266 Evolutionstheorie kritisiert er die Vorgehensweise, wie die

Überlebensfunktionalität der Emotionen nachgewiesen wird. Ulich zeigt an einer von

Plutchik aufgestellten Tabelle zur Darstellung der evolutionsbiologischen Entwicklung von

Emotionen, daß dieser von der behaupteten „prototypischen“ Funktion auf die „Natur“ der

Emotion schließt. Beispielhaft ist hier eine solche Prozeßkette wiedergegeben267:

Reiz-Ereignis

Erschlossene

Kognition

Gefühl

Verhalten

Wirkung

....

2. Hindernis

......

„Feind“

Ärger, Wut

Beißen, Schlagen

(Angriff)

Zerstören

Der Tabellenausschnitt verdeutlich, mit welchen Konstruktionen gearbeitet wird. Ulich

weist darauf hin, daß die Annahmen Plutchiks kaum empirisch belegt sind, bzw. in vielen

262 Vgl. hierzu: Vollmer, Gerd: Die Wissenschaft vom Leben. Das Bild der Biologie in der Öffentlichkeit. In:

Ders.: Biophilosophie. 1995, S. 3 – 32 und ders.: Die Grenzen der Biologie. Eine Übersicht. In: Ders. a.a.O. S. 33 – 58.

263 Vgl. hierzu auch die Ausführungen in „3.2 Die Problematik der Begriffsbestimmung“, S. 36. 264 Ulich, Dieter: a.a.O., S, 125. Siehe hierzu auch oben S. 54 f. 265 Ulich, Dieter: a.a.O., S. 43. 266 Vgl. hierzu: Plutchik, Robert: A general psychoevolutionay theory of emotion. In: Plutchik, R. u. Kellerman,

N. (Hrsg): Theories of emotion. New York 1980 , S. 3 – 33. 267 Plutchik, Robert: a.a.O. S 16. zit nach Ulich, Dieter: a.a.O. S. 131.

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Fällen überhaupt nicht belegbar seien. So behaupte dieser, daß ebenso wie die

hierarchische Ordnung niederer Tiere, die in menschlichen Gesellschaften vorfindbaren

hierarchischen Ordnungen zwischen bspw. Alters-Beziehungen, Beziehungen zwischen

den Geschlechtern und sozialen und ökonomischen Schichten naturgegebene Phäno-

mene seien. Postulate dieser Art führten nach Ulich dazu, daß „Menschen in höheren

Positionen der Hierarchie (also z.B. Männer und Angehörige höherer Schichten ) [...] zu

Dominanz [neigen] und z. B. zur Emotion Ärger, während Menschen in der unteren

Gegend der Hierarchie (also z. B. Frauen und Leute aus unteren Schichten) eher Unter-

würfigkeit und Angst zeigen“268.

Wenn auch Ulichs Kritik in diesem Zusammenhang volle Berechtigung zugesprochen

wird, so ist doch sein Vorgehen, von der „eigenwilligen“ Arbeitsweise des Vertreters einer

Disziplin auf die Methoden und damit die Sinnhaftigkeit der gesamten Forschungsrichtung

zu schließen269, zweifelhaft. So lautet sein Hauptkritikpunkt diesbezüglich, daß die

erbbiologischen Evolutionstheorien der Emotion häufig auf einem „teleologischen Irrtum“

beruhen, indem von „der (plausiblen) Notwendigkeit zum Überleben bzw. zur Lebens-

erhaltung [...] auf die Existenz ganz bestimmter lebenserhaltender Prozesse geschlossen

[wird], oder kürzer: Von der Denknotwendigkeit wird auf die Existenznotwendigkeit

geschlossen“ 270. Als Konsequenz daraus sieht Ulich, daß durch die Vorannahme, Emo-

tionen stünden in einem Zweck-Mittel-Zusammenhang, die Bedeutung der individuell-

lebensgeschichtlichen Emotionsentwicklung ausgeblendet würde. Dieses Monitum ist

sicherlich nicht von der Hand zu weisen, jedoch sollte bedacht werden, daß es sich um

einen Teilbereich einer Forschungsdisziplin handelt, in dem einer speziellen Fragestellung

nachgegangen wird. Um bezüglich des evolutionären Forschungsinteresses einen

Erkenntnisgewinn zu erlangen, ist es unerläßlich, den subjektiven Erlebensaspekt

zunächst auszuklammern und den Fokus auf überindividuell vorfindbare Phänomene der

Emotionen zu richten.271 Natürlich ist es dann wichtig, die so gewonnenen Erkenntnisse in

einen weiteren Kontext zu stellen. Die hohe Bedeutung einer innerdisziplinären und inter-

268 Ulich, Dieter: a.a.O. S. 132. 269 Vgl. ebd. S. 132 ff. 270 Ebd. S. 134. 271 Zu evolutionstheoretischen Überlegungen bezüglich der Funktion der Emotionen im Zusammenhang mit

der Moralentwicklung siehe auch: Frank, Robert H.: Die Strategie der Emotionen. (Passion within Reason), München 1992. Zu den Möglichkeiten und Grenzen des Erkenntniswertes evolutionstheoretischer Forschung siehe auch: Spaemann, Robert: Sein und Gewordensein. Was erklärt die Evolutionstheorie? In: Spaemann, Robert, Koslowski, Peter; Löw, Reinhard: Evolutionstheorie und menschliches Selbstverständnis. Zur philosophischen Kritik eines Paradigmas moderner Wissenschaft. CIVITAS Resultate Band 6. Weinheim 1984, S. 73 – 91.

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disziplinären Zusammenarbeit gerade in Bezug auf die Emotionsforschung hat ja bereits

Scherer hervorgehoben272.

Darüber hinaus zeigen nach Goller273 die Ergebnisse der evolutionären Emotions-

forschung die Tragweite dieses Erkenntnisinteresses. Im Vordergrund steht die positive

adaptive Funktion der Emotionen, die darauf gründet, daß Emotionen durch die Entkop-

pelung von starren Reiz-Reaktions-Folgen eine Verhaltenflexibilität ermöglichen, wodurch

die Reaktionsanpassung in wechselnden Umwelten optimiert wird.274 Goller konstatiert in

seinem Resümee zu den evolutionsbiologischen Ansätzen eine Übereinstimmung mit den

neurophysiologischen Grundlagen der Emotionen, denn in beiden werden

Extrempositionen bezüglich einer Dichotomie von Emotion und Kognition vermieden.

3.3.3.2.2 Ausdrucksgeschehen als Komponente des Emotionserlebens

Dem das Emotionserleben begleitende Ausdrucksgeschehen kommt ungeachtet der im

Zusammenhang mit den Basisemotionen diskutierten Kritikpunkte im sozialen Kontext

eine wichtige kommunikative Funktion zu. Nicht nur Mimik und Gestik, auch Körper-

haltungen spiegeln emotionale Befindlichkeiten, dennoch konzentrieren sich die meisten

Forschungen in diesem Bereich auf das Ausdrucksgeschehen im Gesicht. Dieser

Umstand ist einerseits darauf zurückzuführen, daß sich aus den wenigen Studien, bei

denen das gesamte Körpergeschehen mit in die Bewertung des emotionalen Zustandes

einbezogen wurde, zeigen lies, daß die höchste Urteilsgenauigkeit erreicht wird, wenn das

Gesicht zu erkennen ist. Andererseits können im Gesicht aufgrund der hochkomplexen

und differenzierten Muskulatur eine Vielzahl von unterschiedlichen Emotionen dargestellt

werden.275 Wie oben bereits erwähnt, konzentrierten sich Paul Ekman und Carrol Izard

besonders auf die Untersuchung des gesichtsmimischen Ausdrucks von Emotionen.276 Die

Ergebnisse werden im folgenden zusammenfassend dargestellt.

272 Vgl. oben S. 49. 273 Vgl. hierzu Goller, Hans: a.a.O. S. 123. 274 Vgl. hierzu auch: Schneider, Klaus; Dittrich, Winand: Evolution und Funktion von Emotionen. In: Scherer,

Klaus R. (Hrsg.): Enzyklopädie der Psychologie. Themenbereich C: Theorie und Forschung, Serie IV: Motivation und Emotion, Band 3: Psychologie der Emotion. Göttingen, Toronto, Zürich 1990, S. 41 – 114.

275 Vgl. Goller, Hans: a.a.O. S. 124. 276 Zum Ausdruck der Emotionen auch in Stimme und Körpermotorik siehe Scherer Klaus R., Wallbott, Harald

G.: Ausdruck von Emotionen. In: Scherer, Klaus R. (Hrsg.): Enzyklopädie der Psychologie. Themenbereich C: Theorie und Forschung, Serie IV: Motivation und Emotion, Band 3: Psychologie der Emotion. Göttingen, Toronto, Zürich 1990, S. 345 – 422.

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Paul Ekmans Theorie der Emotionen277

Nach Ekmans eigenen Angaben stellt seine „neurokulturelle“ Theorie der Emotionen eine

Antwortmöglichkeit dar für die Fragen, was Emotionen sind, und wodurch wir ihr Auftreten

erkennen können. Die Bezeichnung „neurokulturell“ wurde gewählt, um den dieser

Theorie zugrundeliegenden Zusammenhang zwischen der biologischen und der sozialen

Komponente der Emotionen zu erfassen.278

In der Bestimmung der Emotionen als kurzlebige, komplexe Reaktionen, die oft schnell

ausgelöst werden und schwer zu kontrollieren sind, werden diese abgegrenzt von

Stimmungen als länger andauernde Gefühlszustände (z.B. Niedergeschlagenheit,

Euphorie), Persönlichkeitsmerkmale (Melancholie, Feindseligkeit) und emotionale Störun-

gen (Depression, Angstpsychose).279 Die Komplexität ergibt sich daraus, daß Gefühle auf

unterschiedliche Reaktionssysteme des Organismus einwirken, wie bspw. Skelettmusku-

latur, Gesichtsmimik, Gefäßmuskulatur, Muskelspannung oder die Stimmmodulation,

jedoch nur einige dieser Wirkungskomponenten sind direkt beobachtbar.

Für Ekman280 sind verschiedene Mechanismen am Emotionsprozeß beteiligt: ein Affekt-

programm, ein Bewertungssystem, Auslöser, Darbietungsregeln und das Bewältigungs-

handeln (Coping). Die Komplexität und Organisation der verschiedenen am Emotions-

geschehen beteiligten Reaktionssysteme setzt notwendig ein Affektprogramm voraus,

welches einerseits eine genetische Grundlage hat, andererseits jedoch von der Erfahrung

beeinflußt wird. Angenommen wird, daß die direkt nach der Geburt in Erscheinung

tretenden körperlichen Reaktionen zum größten Teil genetisch bedingt sind. Dieses

angeborene Affektprogramm unterliegt im Laufe des Lebens aufgrund von Lernprozessen

bezüglich der Bewältigung von Gefühlszuständen und den Darbietungsregeln Verände-

rungen. Das Bewertungssystem ist die Ausgangsbedingung für die Auslösung des

Affektprogramms. Hier wird unterschieden zwischen automatischen, unbewußten Bewer-

tungen und solchen, die bewußt und absichtlich erfolgen. Die Vorgänge des automa-

tischen Bewertungssystems entsprechen einem Reiz-Reaktions-Mechanismus in dem

Sinne, als ein wahrgenommener Reiz in sehr kurzer Zeit das entsprechende Affektpro-

gramm aktiviert, gleichzeitig aber die Prozesse einleitet, „die die mit dem Gefühl ver-

277 Ekman, Paul: a.a.O. 1988. Vgl. hierzu auch: Ekman, Paul: Expression and the Nature of Emotion. In:

Scherer, Klaus R.; Ekman, Paul (Hrsg.): Approaches to Emotion. Hillsdale, London 1984, S. 319 – 343. 278 Vgl. Ekman, Paul: a.a.O. (1988) S. 20, 21. 279 Vgl. ebd. S. 163.

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knüpften Erinnerungen, Bilder, Erwartungen, Coping-Verhaltensweisen und Darbietungs-

regeln hervorrufen“281. Die bewußten Einschätzungen dagegen erfolgen langsam, können

aber müssen nicht unbedingt ein spezielles Affektprogramm aktivieren.

Die Auslöser für die Aktivierung von Gefühlszuständen sind in gewisser Weise variabel,

haben jedoch auch gemeinsame Merkmale: d.h. die Bezeichnung „Auslöser“ kommt nur in

Anwendung für solche Reize, die über das automatische Bewertungssystem je einem

spezifischen Gefühl zugeordnet werden. Wichtig ist, daß die Auslöser von Gefühlszu-

ständen in jedem Falle gelernt werden, daß heißt es gibt keine angeborene Veranlagung,

durch die ein bestimmter Reiz eine bestimmte Gefühlsreaktion hervorruft. Ekmans Ansicht

nach gibt es „[w]ahrscheinlich [...] kein Gefühl, für das ein universaler Auslöser existiert,

der auch in seinen Einzelheiten einheitlich ist und immer das gleiche und nicht zu unter-

brechende Muster emotionaler Reaktionen hervorruft“282.

Wie oben bereits angesprochen, sind bei unterschiedlichen Auslösern gemeinsame Merk-

male auszumachen: Ekel bspw. tritt zumeist in Verbindung mit Geschmacksreizen auf, die

eher als giftig, denn als schmerzlich empfunden werden. Überraschung ist gekenn-

zeichnet durch die Merkmale eines unerwarteten, eher plötzlich auftretenden Reizes,

Angstauslöser sind alle mit dem Merkmal des potentiell Schädlichen oder Schmerzlichen

verbunden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß die genannten Merkmale nicht

jeden Auslöser für jedes Gefühl begleiten, sondern nur die Ähnlichkeit von Reizen und

Gefühlszuständen andeuten. Durch wiederholende Erfahrung erfolgt durch das automa-

tische Bewertungssystem die Einordnung bestimmter Auslöser als bedeutsam für

bestimmte Gefühlszustände.283

Ekman geht es um die äußeren - also die beobachtbaren Erscheinungsmerkmale der

Emotionen.

„Die Einschätzung, daß ein Gefühl vorhanden ist, ist unter folgenden Umständen mit größerer

Wahrscheinlichkeit richtig:

�� Wenn die Veränderungen in den Reaktionssystemen komplex sind, sich nicht allein auf

das Gesicht, die Skelettmuskulatur, die Stimme, das autonome Nervensystem oder das

Bewältigungshandeln beziehen, sondern eine Kombination von mehreren bilden.

�� Wenn die Veränderungen wohlorganisiert sind in dem Sinne, daß sie miteinander

verknüpft und charakteristisch für ein Gefühl oder eine Gefühlskombination sind.

280 Vgl. für die folgende Darstellung besonders ebd. S. 20 – 36. 281 Ebd. S. 25. 282 Ebd. S. 26. 283 Vgl. ebd. S. 28.

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�� Wenn die Veränderungen schnell vor sich gehen.

�� Wenn einige der Veränderungen in den Reaktionssystemen von der Art sind, die alle

Menschen gemeinsam haben.

�� Wenn einige der Reaktionen nicht nur für die Gattung Mensch gelten.“284

Von besonderer Bedeutung für das mimische Ausdrucksgeschehen sind die Darbietungs-

regeln einerseits und das Coping-Verhalten andererseits, da diese beiden Aspekte nach

Ekman zusammen sowohl auf die genetisch bedingte äußere Erscheinungsform der

Emotionszustände einwirken als auch das Emotionserleben beeinflussen.

Die Bezeichnung „Darbietungsregel“285 umfaßt die Tatsache, daß nicht nur der Ausdruck

von Emotionen, sondern das ganze Gefühlsempfinden reguliert wird. Das bedeutet, daß

das durch eine automatische Bewertung eines Reizes ausgelöste Affektprogramm

modifizierbar ist, dergestalt, daß die emotionalen Reaktionen unterbrochen, verstärkt,

vermindert oder durch ein anderes Gefühl maskiert werden können. Diesbezüglich wird

angenommen, daß manche Reaktionssysteme wie bspw. die Herzfrequenz schwerer zu

beeinflussen sind als andere, z. B. die Gesichtsmimik. Unterschieden wird zwischen den

von außen vorgegebenen Darbietungsregeln, die gesellschaftlich bedingt von Normen

und Konventionen geprägt sind und den persönlichen Darbietungsregeln, die individuellen

Steuerungsmechanismen des Gefühlsausdrucks, die die je subjektiven lebensgeschicht-

lichen Erfahrungen widerspiegeln. Durch den sehr früh einsetzenden Lernprozeß

bezüglich der Steuerung des Ausdrucks von Emotionen, verläuft dieser Prozeß

automatisch, kann aber auch bewußt und absichtlich angestrebt werden, wobei der

willentliche Vorgang mit hoher Wahrscheinlichkeit relativ langsam vollzogen wird und nur

unvollkommen gelingt.

Sowohl bei der automatischen als auch bei der willentlichen Steuerung von Gefühlsaus-

drücken kann es passieren, daß Gefühlsreaktionen „durchsickern“ (Leakage), daß heißt,

die Kontrollbemühungen nicht vollständig gelingen. Bei einer willentlichen Steuerung sind

Momente des Erscheinens des ursprünglichen Affektprogramms durchaus bemerkbar,

während sie bei der automatischen gut gelernten sehr kurz und kaum zu beobachten sind.

Das Bewältigungshandeln (Coping)286 bezeichnet die Anstrengungen, mit Gefühlen und

deren Ursachen umgehen zu können. Zum Coping zählen eine Vielzahl von kognitions-

284 Ebd. S. 30. 285 Vgl. ebd. S. 30 f. 286 Vgl. ebd. S. 32 ff.

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bedingten Aktivitäten, wie bspw. Flucht oder Angriff. Da diese Vorgänge von Lernpro-

zessen abhängig sind, wird das Coping-System als das differenzierteste emotionale

Reaktionssystem angesehen. Die Komplexität läßt sich an einem Beispiel verdeutlichen:

wenn infolge einer automatischen Bewertung das Affektprogramm für Wutauslöser

aktiviert wird, welches mit einer unmittelbaren Skelettmuskelreaktion in Form einer

Bewegung nach vorn verbunden ist, so gibt es eine Vielzahl von Bewältigungsmöglich-

keiten, die erfahrungs- und situationsabhängig zur Anwendung kommen können. So wird

gelernt, ob Wut durch Angriff, Flucht, Verleugnung oder möglicherweise Besänftigung

bewältigt wird. Wichtig ist, daß gut erlernte, also „eingeschliffene“ Bewältigungstechniken,

die automatisch abgerufen werden, wenn das entsprechende Affektprogramm ausgelöst

wird, schwer veränderbar sind. Auch bewußte Einschätzungen führen zur Aktivierung

eines Affektprogrammes, jedoch stehen in diesen Fällen möglicherweise mehrere

Bewältigungsoptionen zur Verfügung.

Die vorstehenden Ausführungen zeigen deutlich, wie intensiv genetische Ausstattung und

Umweltfaktoren bei der Entwicklung des Emotionsempfindens miteinander interagieren.

Ekman weist ausdrücklich darauf hin, daß diese Interaktion bei der kulturübergreifenden

Untersuchung zu dem Gefühlsausdrucksgeschehen Berücksichtigung finden muß.

Nachfolgend werden die wichtigsten Ergebnisse der von Ekman und seinen Mitarbeitern

angestellten Untersuchungen zur genetischen Ausstattung mit bestimmten Gesichtsaus-

drucksmustern zusammengefaßt.

��Wiedererkennen des spontanen Gesichtsausdrucks in zwei Schriftkulturen287

Dieses Experiment erfolgte unter der Fragestellung, inwieweit die Mitglieder zweier

unterschiedlicher Kulturen Gefühlszustände der jeweilig anderen Kultur erkennen

können. Zur Durchführung wurden amerikanische und japanische Studenten als

Versuchspersonen rekrutiert. Feststellbar war, daß von beiden Kulturen die

Gesichtsausdrücke der jeweils anderen mit hoher Sicherheit zugeordnet werden

konnten. Jedoch ging es nur um das Erkennen von positiven und negativen

Emotionsausdrücken der jeweils anderen Kultur.

Gegen die Interpretation dieser Ergebnisse als Hinweis für universelle Gesichtsmimik

wurde der Einwand vorgebracht, daß die beiden Kulturen durch den visuellen Kontakt

miteinander gelernt hätten, die Gesichtsausdrücke der jeweils anderen richtig zu

interpretieren. Um die Berechtigung dieses Einwands zu prüfen, wurden Messungen

an den spontanen Gesichtsbewegungen vorgenommen

287 Vgl. ebd. S. 41 f.

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��Messung spontaner Gesichtsbewegungen in zwei schriftkundigen Kulturen288

Mit Hilfe der Facial Affect Scoring Technique (FAST), eines von Ekman, Friesen und

Tomkins entwickelten höchst komplexen Verfahrens zur Kodierung der Gesichts-

mimik, konnte eine große Ähnlichkeit des Gesichtsausdrucksgeschehens von Ameri-

kanern und Japanern bei der Betrachtung eines streßauslösenden und eines neutra-

len Films beobachtet werden. Diese auf die eher allgemeine Emotionsbefindlichkeit

zutreffenden Befunde galt es nun zu differenzieren, d.h. zu untersuchen, inwieweit

unterschiedliche Gefühlszustände tatsächlich ganz bestimmten Gesichtsausdrücken

zugeordnet werden können.

��Erkennen gefühlsbezogener mimischer Ausdruckformen in fünf Schriftkulturen289

Die Ergebnisse der in fünf Kulturen (Argentinen, Brasilien, Chile, Japan, USA) durch-

geführten Untersuchung stellen nach Ekman „den klaren Beweis dafür dar, daß der

Gesichtsausdruck universell mit den gleichen Einzelgefühlen verknüpft ist. Abge-

sehen von zwei Ausnahmen wurden die gleichen Formen des Gesichtsausdrucks als

Ausdruck des Glücks, der Angst, des Ekels, des Ärgers/der Wut, der Überraschung

und der Trauer gedeutet – unabhängig von Sprache oder Kultur des Beobachters.“290

In diesen Ergebnissen, die von Izard in anderen Untersuchungen bestätigt wurden,

sieht Ekman den Beweis für sein Postulat, daß das Zustandekommen des mimischen

Ausdrucks von Gefühlen auf einem nervengesteuerten Affektprogramm beruht, durch

das bestimmte Gefühlszustände mit bestimmten Ausdrücken verbunden sind. Um

den Einwand zu entkräften, das Erkennen von Gefühlszuständen anderer Kulturen

beruhe auf einem durch visuellen Kontakt bspw. über Massenmedien bedingten

Lernprozeß, wurde ein weiteres Experiment durchgeführt in zwei schriftlosen, visuell

isolierten Kulturen.

��Erkennen und Ausdruck von Gefühlen in zwei schriftlosen Kulturen291

Durch diese mit den „Fore“, einem Volksstamm aus dem südöstlichen Hochland von

Neuguinea, und den „Dani“, einem Volk, das im zentralen Hochland von Neuguinea

angesiedelt ist, durchgeführten Untersuchungen, fand Ekman sein Postulat einer

genetischen Ausstattung für den Ausdruck bestimmter emotionaler Zustände zum

großen Teil bestätigt. Mitglieder dieser beiden Volksstämme, die bis zu dem Unter-

suchungszeitpunkt nachweislich kaum Kontakt mit Angehörigen weißer Kulturen

hatten, wurden angewiesen, anhand von Fotographien, die Emotionsausdrücke

kulturfremder Personen zu identifizieren. Klar identifiziert wurden in beiden Kulturen

288 Vgl. ebd. S. 47 f. 289 Vgl. ebd. S. 61 f. 290 Ebd. S. 68. 291 Vgl. ebd. S. 69 f.

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die Gefühle Glück, Trauer, Ekel und Überraschung. Schwierigkeiten hatten die dem

Forestamm Angehörigen bei der Unterscheidung zwischen Angst und Überraschung,

während Mitglieder des Danistammes Ärger und Ekel nicht sicher differenzieren

konnten. Ob diese Ergebnisse auf mögliche Fehler der Untersuchungsmodalitäten

zurückzuführen sind, oder ob es sich um tatsächliche kulturelle Spezifika handelt, ist

noch zu klären. Bedeutend ist, daß diese Spezifika sich auch in der Darstellung der

Gesichtsausdrücke der einzelnen Stämme zeigten. Die Versuchspersonen beider

Stämme wurden aufgefordert, bestimmte gefühlsspezifische Gesichtsausdrücke

einzunehmen, die dann auf Video aufgenommen wurden. Die Aufnahmen der Fore

wurden amerikanischen Studenten zur Auswertung vorgelegt. Hier konnten vier von

sechs Emotionen sicher zugeordnet werden. Schwierigkeiten bestanden bei der

Zuordnung der Emotionen Überraschung und Furcht, also genau den Gefühlsaus-

drücken, die von diesen Stammesangehörigen nicht klar unterscheidbar waren.

Mit dem Resultat der letzten Untersuchung wird Ekmans Ausgangshypothese erneut

bestätigt: Insgesamt sieht er in den Ergebnissen aller vier genannten Studien den

Nachweis dafür gegeben, daß einer grundlegenden Gruppe universeller Formen des

Gesichtsausdrucks ganz bestimmte Gefühle zuzuordnen sind.

Neben diesen grundsätzlichen Untersuchungen bezüglich der Universalität bestimmter

emotionaler Gesichtsausdrucksmuster hat Ekman sich um die Identifizierbarkeit feiner

Unterschiede im Ausdrucksgeschehen bemüht. Er berichtet von drei Studien292 zur Frage

nach der Differenzierbarkeit von willkürlicher und unwillkürlicher emotionaler Mimik. Die

Ergebnisse dieser Forschungsbemühungen bestätigen, daß zwischen willkürlichen und

unwillkürlichen Ausdrucksbewegungen deutlich identifizierbare Unterschiede bestehen:

Zum einen sind bei den willkürlichen Emotionsausdrücken entweder Bewegungen

beobachtbar, die das tatsächliche Gefühlsempfinden normalerweise nicht begleiten, oder

es verhält sich gerade umgekehrt. Zum anderen ist beim willentlichen Gefühlsausdruck

das Timing nicht richtig, daß heißt entweder dauert es zu lange, bis der Ausdruck auftritt

(bei gespielter Überraschung) oder Gesichtsausdrücke werden zu lange oder eben nicht

lange genug beibehalten. Ekman betont, daß diese Ergebnisse erst ein Ausschnitt dessen

sind, was bezüglich der willensgelenkten und unwillkürlichen Ausdrucksbewegungen

erforscht werden müßte. Noch offene Fragen sind bspw., ob und in wieweit die willentliche

Beeinflussung von Ausdrucksgeschehen das Emotionsempfinden beeinflußt, oder ob es

individuelle Unterschiede in der Fähigkeit gibt, Gefühlsausdrücke zu verbergen.

292 Vgl. ebd. S. 149 ff.

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90

Ekmans Untersuchungen beziehen sich vor allem auf die Universalität des mimischen

Ausdrucksgeschehens, wiewohl er der subjektiven Erlebniskomponente der Gefühle

durchaus Bedeutung beimißt. Mit der Beziehung zwischen Ausdruckserscheinungen und

Emotionserleben hat sich Carrol Izard in seiner differentiellen Emotionstheorie ausein-

andergesetzt, die in Grundzügen im nächsten Abschnitt behandelt wird.

Ausdruckserscheinungen und Emotionserleben: Carrol Izards differentielle

Emotionstheorie293

Izard geht in seiner differentiellen Emotionstheorie, die nach seiner eigenen Aussage eine

Fortführung der Arbeiten von Darwin, dem frühen James, F.H. Allport, Tomkins und

Gellhorn darstellt, von fünf Hauptannahmen aus: „(1) Zehn fundamentale Emotionen

bilden das Hauptmotivationssystem des Menschen. (2) Jede fundamentale Emotion hat

einzigartige motivationale und phänomenologische Eigenschaften. (3) Fundamentale

Emotionen wie Freude, Traurigkeit, Zorn und Scham führen zu unterschiedlichen inneren

Erlebnissen und unterschiedlichen Konsequenzen auf der Verhaltensebene. (4) Emo-

tionen interagieren miteinander – eine Emotion kann eine andere auslösen, verstärken

oder abschwächen. (5) Emotionsprozesse interagieren mit homöostatischen, Trieb-,

perzeptiven, kognitiven und motorischen Prozessen und üben Einfluß auf sie aus.“294 Die

Annahme, daß die fundamentalen Emotionen das Hauptmotivationssystem bilden,

impliziert, daß es keinen Zustand des Menschen gibt, der nicht von einer Emotion

begleitet wird.295 Weiterhin sind die Entstehungsprozesse der fundamentalen Emotionen

evolutionsgenetisch entstanden und bieten aus diesem Grunde universale Ausdrucks-

muster.

Gemäß der differentiellen Emotionstheorie bestehen Emotionen aus dem Zusammen-

wirken dreier Komponenten, „dem animalen Nervensystem, aus Ausdruck durch die

quergestreiften Muskeln oder Gesicht und Körperhaltung und Gesicht-Gehirn-Feedback

und aus subjektiven Erleben“296. Zwar sind alle drei Komponenten insofern autonom, als

293 Izard, Carrol E.: Die Emotionen des Menschen. Eine Einführung in die Grundlagen der

Emotionspsychologie. Weinheim, Basel 1981. 294 Ebd. S. 63. 295 Vgl. ebd. S. 79. 296 Ebd. S. 84.

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91

daß sie in Ausnahmefällen auch von den anderen unabhängig wirken können, gewöhnlich

ist der Emotionsprozeß jedoch geprägt von deren Zusammenwirken.

Das Procedere bei der Entstehung einer neuen Emotion (neu deshalb, weil das Bewußt-

sein grundsätzlich immer von Emotionen begleitet ist) erfolgt durch eine selektive

Verarbeitung eines internen oder externen Reizes im limbischen System. Von dort aus

wird im Falle einer fundamentalen Emotion über Gesichtnerv und Schädelnerv eine

spezielle Gesichtsmimik aktiviert. Die Rückmeldung dieses emotionsspezifischen

Gesichtsausdrucks (Feedback) an den Kortex bewirkt dann das subjektive Emotions-

erleben. Izard räumt ein, daß das Emotionserleben zumeist auch mit viszeralen

Veränderungen (wie Herzklopfen, schweißigen Händen etc.) einhergeht, diese

Reaktionen werden jedoch erst durch das Feedback des Gesichtsausdrucks an den

Kortex aktiviert. Izard definiert Emotion dementsprechend als „ein komplexes Phänomen

mit neurophysiologischen, motorisch-expressiven und Erlebniskomponenten. Der

intraindividuelle Prozeß, durch den diese Komponenten interagieren, um die Emotion

hervorzubringen, ist ein evolutionär-biogenetisches Phänomen.“297

Als fundamentale Emotionen werden genannt:

„1. Interesse - Erregung

2. Vergnügen – Freude

3. Überraschung – Schreck

4. Kummer – Schmerz

5. Zorn – Wut

6. Ekel – Abscheu

7. Geringschätzung – Verachtung

8. Furcht – Entsetzen

9. Scham/Schüchternheit – Erniedrigung

10. Schuldgefühl – Reue“298

Die für jede Emotion genannten zwei Bezeichnungen weisen darauf hin, daß jede

Emotion in verschiedenen Intensitätsstufen auftreten kann, wobei die erste Bezeichnung

für die niedrige Intensitätsstufe, die zweite für die höhere Intensitätsstufe steht. Alle

weiteren Emotionen kommen durch die Mischung verschiedener Emotionen zustande.

297 Ebd. S. 85. 298 Ebd. S. 66.

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92

Besondere Bedeutung kommt nach der differentiellen Emotionstheorie dem Zusammen-

hang zwischen dem mimischen Gesichtsausdruck und dem subjektiven Erleben zu, denn

nach Izard „hängt die Differenzierung spezifischer Emotionen im Bewußtsein (subjektiven

Erleben) ab von dem raschen und spezifischen sensorischen Feedback von der Tätigkeit

der fein differenzierten (animalen) Muskeln des Gesichts bei der Bildung voneinander

unterschiedener mimischer Äußerungen oder entsprechender verdeckter Muster. Die

kortikale Integration des Gesichtsfeedbacks führt zu dem spezifischen Emotionserleben.

Kurzum liefert das Gesicht die Daten für die Auslösung qualitativ unterschiedlicher

Emotionen, aber es spielt vielleicht eine weniger entscheidende Rolle bei der Aufrecht-

erhaltung von Emotionen.“299

Für die beiden durchaus bekannten Erscheinungen: ein Emotionserleben ohne mimischen

Ausdruck und ein mimischer Ausdruck ohne Emotionserleben werden folgende Erklärun-

gen geboten. Für den Fall, wie es trotz fehlender Ausdruckserscheinungen zum

Emotionserleben kommen kann, werden drei Möglichkeiten diskutiert. Erstens können

trotz des erlernten und verinnerlichten Normverhaltens, wie bspw. deutliche Zorn-

äußerungen zu vermeiden, mikromomentane Muskelbewegungen im Gesicht auftreten,

die jedoch aufgrund ihrer äußerst geringen Dauer von einem Beobachter normalerweise

nicht wahrnehmbar sind. Das zweite Beispiel, eine Emotionsempfindung trotz des tatsäch-

lichen Fehlens eines Gesichtsausdrucks, wird dadurch erklärt, daß eine vollständige

Blockade der motorischen Botschaft von den subkortikalen Zentren auf der Bahn zum

Gesicht nur die Bewegung der Zielmuskel gänzlich verhindert, diese Hemmungsbotschaft

aber wiederum über den Prozeß der inneren Rückmeldung (Reafferenz) allein schon das

spezifische Emotionserleben auslöst. Die dritte Möglichkeit basiert auf dem Prinzip der

klassischen Konditionierung. Hier wird argumentiert, daß praktisch durch die „Erinnerung“

daran, wie sich der „Ausdruck“ der Emotion Zorn anfühlt, das Emotionsempfinden

ausgelöst wird. Betont wird, daß alle Formen der mimischen Emotionsunterdrückung

größere Anforderungen an das Nervensystem stellt, als ein „natürlicher“ Emotionsaus-

druck, was bei „chronischem Gebrauch“300 psychosomatische Störungen nach sich ziehen

könnte.

Mimischer Ausdruck ohne Emotionsempfinden kann zwei Ursachen haben: zum einen

kann eine schon vorherrschende starke Emotion verhindern, daß das Feedback eines

299 Ebd. S. 80, 81. 300 Vgl. ebd. S. 82.

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93

durch eine andere Emotion ausgelösten Gesichtsausdruckes weitergeleitet wird. Eine

zweite Möglichkeit wird darin gesehen, daß ein gerade wirkender hochintensiver Trieb das

Emotionsempfinden hemmt, wie bspw. außerordentlich starker Hunger ein Ekel-

empfinden.

Izard vertritt die Ansicht, daß mit der Kontrolle des mimischen Ausdrucks auch eine

Emotionsregulierung stattfindet, worin er mit Darwin und James und anderen Wissen-

schaftler übereinstimmt. Nach Darwin hat der ungehemmte Ausdruck einer Emotion ein

intensiveres Emotionserleben zur Folge, während die Unterdrückung der motorischen

Expression dämpfende Wirkung auf das Empfinden habe. James postulierte, daß durch

die Ausführung der Bewegungen von erwünschten Emotionen die Tendenzen einer

unerwünschten Emotion bezwungen werden könnten.301

Im Hinblick auf die Beziehung zwischen Emotion und Kognition wird den Emotionen eine

relative Unabhängigkeit von der Kognition zugeschrieben. Wohl kommt der Kognition in

bezug auf die Emotion-Kognition-Interaktion eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu,

jedoch hauptsächlich nachdem der Emotionsprozeß in Gang gesetzt ist.

Um die in der differentiellen Emotionstheorie entscheidende Komponente, die Gesichts-

Feedback-Hypothese, zu überprüfen sind eine Reihe von Untersuchungen durchgeführt

worden. Dabei kamen zwei Methoden zur Anwendung: die direkte Manipulation des

Gesichtsausdrucks und die indirekte Manipulation der Gesichtsmimik durch die

Anweisung zur Simulation oder Dissimulation emotionalen Verhaltens.302 Bezüglich der

direkten Manipulation berichtet Goller von zwei verschiedenen Versuchsanordnungen, die

sich auch in den Ergebnissen unterscheiden. In einer Studie wurden die Versuchs-

personen gebeten, 15 Sekunden lang zu lächeln bzw. einen finsteren Blick einzunehmen.

Während dieses Zeitraums wurden ihnen entweder ein Foto mit spielenden Kindern oder

eines von Ku-Klux-Klan-Mitgliedern vorgelegt. Die Auswertung der Selbstbeurteilungen

ergab, daß der Ärgerausdruck zu erhöhten Aggressionsgefühlen, der Ausdruck des

Lächeln zu einem erhöhten Freudegefühl führte. In einem zweiten Versuch, in dem Bilder

von lustigen Karikaturen verwendet wurde, konnte dieses Ergebnis bestätigt werden.

In der anderen Versuchsanordnung wurden die Probanden während der Betrachtung

eines je zwei minütigen neutralen, Angst bzw. Trauer auslösenden Filmes angewiesen,

301 Vgl. ebd. S. 132 f. 302 Vgl. für die folgende Darstellung Goller, Hans: a.a.O. S. 142 ff und Leventhal, Howard: A perceptual-motor

theory of emotion. Advances in Experimatal Social Psychology, Vol. 17, New York 1984, S. 148 ff.

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94

einen neutralen, ängstlichen oder traurigen Gesichtsausdruck einzunehmen, während in

einer vierten Versuchsbedingung keinerlei Anweisungen gegeben wurden. Diese

Versuchspersonen berichteten von keinerlei Änderung im Emotionsempfinden. Die

widersprüchlichen Ergebnisse der beiden Studien wurden darauf zurückgeführt, daß die

Zeitspanne für die Präsentation des Gesichtsausdruck in dem zuletzt genannten

Experiment zu lange gewesen sei, wodurch es zu einer Unterbrechung des Emotions-

erlebens gekommen sei. Zudem hätten die Versuchspersonen in der ersten Testreihe aus

der Versuchsanordnung auf die Bedeutung des Gesichtsausdruckes schließen können,

was die Selbsteinschätzung beeinflußt haben könnte. Dieser Umstand sei in dem zweiten

Experiment auszuschließen. Darüber hinaus könnte eine Divergenz zwischen der

Intensität des eingenommenen Gesichtsausdrucks und der mit den Filmen assoziierten

Emotionsintensität zu einer Mißachtung des Gesichtsfeedbacks geführt haben, also in

den Fällen, in denen der von den Filmen ausgehende Gefühlsreiz stärker oder schwächer

war als der eingenommene Gesichtsausdruck.

Bei der Methode der indirekten Manipulation der Gefühle, also der Simulation bzw.

Dissimulation wird ebenfalls von zwei unterschiedlichen Testverfahren berichtet. In der

ersten Testreihe wurden Volksschüler avisiert, bei dem Anschauen eines komischen

Filmes entweder mit der Begründung, Lachen würde stören, das Lachen zu unterdrücken,

oder mit der Vorgabe, man wolle eine Aufnahme von Gelächter machen, besonders viel

zu lachen. Die Mädchen berichteten, daß sie den Film besonders lustig fanden, als sie

aufgefordert wurden, viel zu lachen, bei den Jungen war es genau umgekehrt: Sie fanden

den Film lustiger bei der Aufforderung, das Lachen zu unterdrücken. In einer anderen

Versuchsreihe wurden Versuchspersonen Elektroschocks unterschiedlicher Stärke

verabreicht mit den Anweisungen, die Gefühle so auszudrücken, daß ein Beobachter der

Videoaufnahme die Schockintensität erraten kann, bzw. die Gefühle zu verbergen, so daß

die Schockintensität nicht zu erraten ist. Unter den experimentellen Bedingungen „Übung“

und „Videoaufnahme“ wurden die Gesichtsaktivitäten, die autonomen Reaktionen und die

subjektive Einschätzung der Schmerzhaftigkeit des Schocks aufgezeichnet. Die Ergeb-

nisse aus fünf Testreihen waren, daß die Probanden, die aufgefordert wurden, ihre

Gefühle auszudrücken, differenziertere und deutlichere Gesichtsausdrücke sowie

intensivere autonome Reaktionen zeigten, als diejenigen, die ihre Gefühle verbergen

sollten. Diese Unterschiede waren bei der Versuchsbedingung „Übung“ sehr gering, bei

der Bedingung „Videoaufnahme“ jedoch sehr stark. Die Einstufung der Schmerzhaftigkeit

des Schockes war nicht eng mit den Ausdrucksänderungen verbunden. Zwar konnte bei

zwei Untersuchungen ein schwacher aber signifikanter Unterschied konstatiert werden,

jedoch differierten die Reaktionen. So zeigten sich unterschiedliche Wahrnehmung der

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95

Schmerzhaftigkeit in dem einen Versuch bei niedriger und in dem anderen bei hoher

Stromstärke. Zwar wurden die Untersuchungsergebnisse dahingehend bewertet, daß sich

die Manipulation des Gesichtsausdrucks auf die Gefühlsempfindung auswirkt. Dennoch

belegen die Befunde nicht eindeutig, wie die Ausdrucksintensität sich auf die Erlebnis-

intensität auswirkt, was jedoch auf die Problematik der schwierigen Testbarkeit dieser

Hypothese zurückgeführt wird. Nach Goller unterstützen die „vorhandenen Befunde die

Gesichts-Feedback-Hypothese nicht mehr als alternative zentrale Modelle, die

Emotionserleben und Ausdrucksbewegungen als Produkt eines zentralen motorischen

Mechanismus betrachten“303.

Die Darstellung der Untersuchungen und Theorien, die sich mit der Frage nach der

„Nützlichkeit“ der Emotionen beschäftigen, hat die Problematik dieses Forschungsbe-

reiches deutlich gemacht, die zum einen darin besteht, daß selbst bei ähnlichen

Ausgangsprämissen die Erkenntnisgegenstände erheblich voneinander abweichen. Dies

ist der Fall bei den Evolutionstheorien, die eine bestimmte Anzahl von primären

Emotionen postulieren. Hier divergieren die Erklärungsmuster, die zur Rechtfertigung

dieser Annahmen herangezogen werden, was wiederum dazu führt, daß keine Überein-

stimmung darüber herrscht, wie vielen und welchen Emotionen das Prädikat „primär“

zurecht zukommt. Zum anderen ergeben sich Defizite in den Erklärungsmustern innerhalb

der Theorien. So ergibt sich bspw. bei der Annahme jeder Art von Basisemotionen die

Frage, wie sich andere Emotionen entwickeln? Durch welche Art von Mischungsverhältnis

welcher Emotionen entsteht eine „sekundäre“ Emotion? Diese Problematik läßt sich am

Beispiel der Gesichtsfeedback-Hypothese verdeutlichen: Wie gestaltet sich das subjektive

Erleben bei einer nicht zu den von Izard als fundamental klassifizierten Emotionen wie

z.B. Mitleid. Wie und welche Gesichtsausdrücke müssen hier zusammenwirken, um das

subjektive Erleben dieser Emotion zu erreichen?

Abgesehen von den Unzulänglichkeiten innerhalb der Erklärungsmuster der Theorien, die

von Basisemotionen ausgehen, gibt es eine grundsätzliche Problematik zwischen den

Annahmen von McDougall / Plutchik und Bischof: Während McDougall und Plutchik davon

ausgehen, daß der evolutionäre Selektionsvorteil der Basisemotionen in der Kopplung an

ganz bestimmte Handlungsvollzüge zu sehen sei, postuliert Bischof, daß Emotionen sich

im Laufe des Evolutionsprozesses ebenso wie kognitive Fähigkeiten differenziert und

damit starre Reiz-Reaktions-Ketten abgelöst hätten. Der evolutionäre Vorteil der Differen-

zierung der Emotionen sei nur in Verbindung mit den ebenso differenzierten kognitiven

303 Ebd. S. 144.

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96

Fähigkeiten zu sehen, durch deren Zusammenwirken erst Wahlmöglichkeiten zwischen

unterschiedlichen Handlungsoptionen kreiert würden. Angenommen, den Emotionen

käme die Aufgabe zu, starre Reiz-Reaktions-Muster abzulösen, um den in der Ent-

wicklung höher stehenden Lebewesen mehr Handlungsfreiheit zur optimalen Umwelt-

anpassung zu ermöglichen, so würde die Identifizierung der „Basisemotionen“ mit ganz

bestimmten Handlungsmustern jedoch eine Einschränkung genau dieser Wahlfreiheit

bedeuten.

Die Frage ist nun, ob die erkennbaren Widersprüchlichkeiten und Unzulänglichkeiten in

den Erklärungsansätzen den Vorschlag von Dieter Ulich rechtfertigen, Forschungstätig-

keiten unter dieser Fragestellung grundsätzlich aufzugeben. Betrachten wir im Hinblick

auf diese Fragestellung die Theorie, die auf relativ gesicherten empirischen Daten

aufbaut: die „neurokulturelle“ Emotionstheorie von Paul Ekman. Auf der Basis des von

ihm und seinen Mitarbeitern gesammelten Datenmaterials postuliert er ein Affektpro-

gramm, das in seinen Grundstrukturen genetisch bedingt ist. Aber sowohl das Affektpro-

gramm wie auch alle weiteren zu einem Emotionserleben dazugehörigen Komponenten,

wie das Bewertungssystem, die Auslöser, die Darbietungsregeln und das Bewältigungs-

handeln sind abhängig von einem Lernprozeß, welcher bestimmt wird durch soziale,

kulturelle und ökologische Umweltgegebenheiten. Lernprozesse aber setzen notwendig

gewisse kognitive Fähigkeiten und eine relative Freiheit von Reiz-Reaktions-

Mechanismen voraus. Durch die Zusammenstellung der Komponenten und das ihnen

zugewiesene Potential der Modifikationsfähigkeit durch Interaktion mit Umweltge-

gebenheiten entspricht dieser Erklärungsansatz in jeder Hinsicht dem von Norbert Bischof

geforderten Biologieverständnis. Wessen sich Ekman enthält, ist den Emotionen explizit

eine Funktion zuzuweisen, um ihre Selektion im Evolutionsprozeß zu rechtfertigen. Wohl

postuliert er die Notwendigkeit eines Bewertungssystems zur Etablierung einer Emotion,

dieses jedoch ist in enger Verbindung mit den Auslösern der Gefühlszustände zu sehen,

für die es keine angeborene Veranlagung gibt, sondern die in jedem Falle gelernt werden.

Damit sind für die neurokulturelle Theorie Ekmans einmal Bischofs Kritikpunkte

hinsichtlich eines inadäquaten Biologieverständnisses zurückzuweisen. Darüber hinaus

steht Ekmans Theorie in Einklang mit den Erkenntnissen der neurobiologischen

Emotionsforschung, nach denen für die subkortikalen und kortikalen Hirnregionen eine

unterschiedliche Beteiligung an der Emotionsgenese postuliert wird: demgemäß erfolgt

durch die subkortikale Reizbewertung eine außerordentlich schnelle körperliche Reaktion,

was Ekmans Initiation des Affektprogramms durch das automatische Bewertungssystem

entspricht, während die bewußten Bewertungsprozesse das Affektprogramm entweder

verzögert oder gar nicht auslösen, was wiederum der Annahme der Neurobiologen

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97

entspricht, daß der Kortex an der Emotionsentwicklung nur bedingt beteiligt ist. Die

Bedeutsamkeit von Ekmans Theorie liegt darin, daß das Emotionsgeschehen als ein

Prozeß des Zusammenwirkens von genetischer Ausstattung und Lernprozessen durch

Umwelteinflüsse gesehen wird. Durch diese Kombination aber kommt einerseits der

subjektiven Komponente des Gefühlserlebens eine immense Bedeutung zu. Andererseits

ist es durch die Annahme eines Zusammenwirkens von genetischer Ausstattung und

Umweltfaktoren nicht möglich, den Emotionen eine eindeutige Funktion zuzuweisen,

wodurch der von Ulich kritisierte „teleologische Irrtum“ verhindert wird. Insofern als daß

Ulichs Monita hier in keinem Falle greifen, ist der auf seiner Kritik basierenden pauschalen

Forderung, Forschungstätigkeiten unter evolutionärem Interesse besonders in bezug auf

Emotionen aufzugeben, zurückzuweisen.

Sowohl bei Ulich als auch bei Bischof kommen den kognitiven Prozessen im Emotions-

geschehen besondere Bedeutung zu. Die Untersuchung des Verhältnisses von Emotion

und Kognition ist wiederum ein eigener Bereich der Emotionsforschung. Speziell geht

man der Frage nach, ob Kognitionen Emotionen auslösen, oder ob es sich umgekehrt

verhält, daß Emotionen Kognitionen bedingen. Die wichtigsten Theorien werden hier

vorgestellt und im Anschluß diskutiert.

3.3.3.3 Das Verhältnis von Kognition und Emotion

Im Zuge der „kognitiven Wende“ in der Psychologie gerieten die Emotionen vor allem als

postkognitive Phänomene im Sinne von „Bewertungsmechanismen“ interner und externer

Reizverarbeitungen in das Zentrum des Interesses. Diese Kausalrichtung entspricht der

traditionellen Ansicht, daß Kognitionen den Emotionen vorzuordnen seien. Zu den

prominentesten Vertretern der Auffassung, Emotionen seien eine Folge kognitiver

Prozesse gehören Magda Arnold und Richard S. Lazarus. Deutliche Zweifel an dieser

Auffassung äußert Robert B. Zajonc, der davon ausgeht, daß das Emotionserleben auch

ohne vorherige Kognition möglich ist. Diese kontroversen Ansichten haben zu einer

intensiven Diskussion zwischen Lazarus und Zajonc geführt. Um aufzuzeigen, daß es sich

hierbei einerseits um einen Unterschied in dem Verständnis des Begriffes Kognition

handelt und andererseits von den beiden Vertretern je unterschiedliche emotionale

Phänomene untersucht wurden, sollen beide Positionen kurz dargestellt werden, um sie

im Anschluß daran diskutieren zu können.

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98

3.3.3.3.1 Richard S. Lazarus Theorie der Emotionen

Die Analyse der Emotionen von Lazarus und seinen Mitarbeitern erfolgt aus einer

kognitiv-phänomenologischen Perspektive304. In ihrer Theorie gehen sie davon aus, daß

Emotionen als komplexe organisierte Zustände ein Resultat aus der kognitiven Bewertung

der Interaktion von Person und Umwelt (Transaktionen) darstellen, welche durch drei

miteinander verbundene Komponenten gekennzeichnet sind: kognitive Bewertungs-

muster, Handlungsimpulse und körperliche Reaktionen. Wichtig ist, daß alle drei

Komponenten zusammen auftreten und auch wahrgenommen werden. Fehlt also eine der

Komponenten, oder wird ihr Auftreten nicht wahrgenommen, bleibt das eigentliche

Emotionserleben aus.

Eine zentrale Bedeutung kommt der kognitiven Bewertung zu, die als eine Erweiterung

der von Magda Arnold vertretenen These verstanden wird. Als integraler Bestandteil der

Emotion ist die kognitive Bewertung einerseits Auslöser für bestimmte Erregungsmuster

und die daraus hervorgehenden Handlungsimpulse und dient andererseits auch der

Beurteilung der zur Situationsbewältigung zur Verfügung stehenden Handlungsmöglich-

keiten. Lazarus betont, daß „jede emotionale Reaktion, ohne Rücksicht auf ihren

konkreten Inhalt eine Funktion einer bestimmten Kognition oder Einschätzung“305 ist, die

resultiert aus der Beurteilung der Situation und der dieser entsprechenden je individuellen

Bewältigungsressourcen. Emotionen sind mithin anzusehen als Reaktionen der kognitiven

Bewertungen von Organismus-Umwelt-Wechselwirkungen (Transaktionen).

Es wird unterschieden zwischen drei kognitiven Bewertungsformen, der primären und der

sekundären Bewertung sowie der Neubewertung.306 Der primäre Bewertungsprozeß

kennzeichnet die Einschätzung einer jeden Interaktion oder Begegnung eines Organis-

mus mit der Umwelt im Hinblick auf deren Bedeutung für den Organismus. Dabei wird

zwischen drei fundamentalen Bewertungskategorien unterschieden: der irrelevanten, der

angenehm-positiven und der streßauslösenden Kategorie. Die Einschätzungen erfolgen

auf der Basis bisheriger Erfahrungswerte bezüglich der situativen Gegebenheiten und der

persönlichen Verfassung.

304 Lazarus, Richard, S., Kanner, Allen D., Folkman, Susan: Emotions: A cognitive-phenomenological

analysis. In Plutchik, Robert, Kellermann, Henry: Emotion: Theory, Research, and Experience. Vol. 1. London 1980, S. 189 – 217.

305 Lazarus, Richard S., Averill, James R., Opton jr., Edward M.: Ansatz zu einer kognitiven Gefühlstheorie. In: Birbaumer, Niels: Neuropsychologie der Angst. München, Berlin, Wien 1973, S. 169.

306 Vgl. Lazarus et al. 1980, S. 193 f.

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99

Die sekundäre Bewertung ist die Einschätzung der eigenen Ressourcen zur Bewältigung

von streßauslösenden Situationen. Lazarus mißt der sekundären Einschätzung eine

größere Bedeutung zu als der Streßsituation selbst, denn erst die Einschätzung der

eigenen Fähigkeiten bestimmt zum Großteil, ob eine Streßsituation angstauslösend,

herausfordernd möglicherweise sogar harmlos wirkt.

Durch den Prozeß der Neubewertung ändert sich die ursprüngliche Einschätzung der

Person-Umweltbeziehung. Über die Realisierung der wechselseitigen Beeinflußbarkeit

zwischen Person und Umwelt erfolgt eine Änderung der primären und sekundären

Bewertungsmuster. Diese Bewertungsprozesse erfolgen kontinuierlich, können, müssen

aber nicht notwendigerweise bewußt ablaufen. Bei den Neubewertungen sind zwei

Formen zu unterscheiden: Einmal kann sie daraus resultieren, daß die Person ihre

veränderte Beziehung zur Umwelt wahrnimmt, woraus eine Änderung der Einschätzungs-

muster folgt. Die zweite Möglichkeit, von Lazarus als defensive Neubewertung bezeich-

net, ist ein intrapsychischer Prozeß, der unabhängig von Umweltinformationen erfolgt.

Hierbei wird bspw. eine Gefahr negiert oder die gedankliche Beschäftigung mit der

Gegebenheit vermieden. Durch diesen Prozeß kann eine ursprünglich als gefährlich

eingeschätzte Situation als neutral oder sogar angenehm gewertet werden.

Die defensive Neubewertung gehört mit zu den Bewältigungsmechnismen, dem

sogenannten Coping. Ziel des Coping ist, die aus der Situationsbewertung resultierenden

somatischen und subjektiven Komponenten der Emotion zu regulieren und kontrollieren.

Dies kann erfolgen über die oben benannte Methode der gedanklichen Verleugnung oder

Verharmlosung der Umweltgegebenheiten, aber auch die Einnahme von Psycho-

pharmaka kann diese Funktion übernehmen. Die aktuelle Person-Umwelt-Situation wird

dadurch jedoch nicht verändert. Eine andere Methode des Coping ist das direkte Handeln,

welches darauf abzielt, die situativen Gegebenheiten zu verändern. Eine Änderung des

Emotionserlebens ist davon abhängig, wie erfolgreich diese Methoden angewandt werden

können. Für Lazarus ist die Berücksichtigung von Copingprozessen in einer Emotions-

theorie unabdingbar. Er sieht das Coping nicht nur als Folge, sondern vielmehr als

essentiellen Bestandteil von Emotionen, da die Bewältigung von emotionalen Zuständen

mittels Bewertungsänderungen oder direkten Handlungsvollzügen Veränderungen der

Einschätzung von Person-Umwelt-Bezügen nach sich zieht. Dies gilt nicht nur für

gegenwärtige oder zukünftige, sondern auch für vergangene Transaktionen.

Lazarus folgt einer klassischen Unterscheidung zwischen Emotionen, Stimmungen und

Erlebnistönungen. Danach sind Emotionen im Unterschied zu Stimmungen und Erlebnis-

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100

tönungen von relativ kurzer Dauer und die Wahrnehmung der Emotionsqualität verändert

sich während des Entfaltungsprozesses. Stimmungen und Erlebnistönungen werden

darüber hinaus weniger intensiv erlebt. Jedes Emotionserlebnis ist nach Lazarus „in a

sense, a little world of its own, a little drama with a particular background of beliefs,

sentiments, and goals, thoughts infused with feelings, behavioral impulses and acts, and

physiological reactions”307. Emotionales Erleben ist fließend und gekennzeichnet durch

einen ständigen Wandel. Im Laufe eines Person-Umwelt-Bezuges können einige Emotio-

nen gleichzeitig auftreten, dabei werden möglicherweise einige umgewandelt in andere,

manche intensivieren sich, während andere schwächer werden. All das gründet in der

kognitiven Bewertung der kognitiven Situationseinschätzung.

Trotz der Veränderbarkeit und Wandelbarkeit von Emotionsreaktionen, die auf der

Interaktion von Person und Umwelt rekurrieren, können auch stabile Emotionsreaktionen

beobachtet werden. Dies kann einerseits dann auftreten, wenn sich die Umweltbe-

dingungen, in denen sich eine Person bewegt, im wesentlichen gleichen. Zum anderen

machen Persönlichkeitsfaktoren einige emotionale Reaktionen wahrscheinlicher als

andere. Diese durch die je individuelle Biographie bestimmten Persönlichkeitsfaktoren

manifestieren sich bspw. in festen Wertesystemen und Überzeugungen oder können das

Resultat von ungelösten Kindheitskonflikten sein. Lazarus betont, daß individuelle

emotionale Reaktionsmuster nur unter Berücksichtigung der jeweiligen lebensgeschicht-

lichen Entwicklung verstanden werden können.

In Lazarus Verständnis ist Emotion ein komplexes Syndrom, verursacht durch die

kognitive Bewertung einer Person-Umwelt-Transaktion, die zu Handlungsimpulsen führt,

welche wiederum ganz bestimmte körperliche Erregungszustände nach sich ziehen. Wie

oben bereits angedeutet, hat sich Zajonc energisch gegen diese Auffassung ausge-

sprochen. Seine Argumentation wird im folgenden dargestellt.

307 Ebd. S. 196: (Übersetzung von B.K.:“....in einem gewissen Sinne eine eigene Welt, ein kleines Drama auf

einem speziellen Hintergrund, der sich zusammensetzt aus Überzeugungen, Gefühlen und Zielen, mit Gefühlen verwobene Gedanken, Verhaltensimpulsen und Handlungen sowie körperliche Reaktionen.“)

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101

3.3.3.3.2 Robert B. Zajoncs Theorie der Emotionen als präkognitives

Phänomen

Zajonc308 kritisiert die seiner Ansicht nach in der Emotionspsychologie vorherrschende

Auffassung, Emotionen seien abhängig von Kognitionen. Mit Wundt argumentiert er, daß

Emotionen auch unabhängig von kognitiven Bewertungsprozessen auftreten können. Eine

Wahrnehmung von einem Bruchteil einer Sekunde genüge, um Vorlieben oder Abneigun-

gen gegenüber Objekten zu entwickeln, was sich deutlich zeige in unserem täglichen

Erleben. Innerhalb kürzester Zeit nach einem sinnlichen Eindruck sind wir in der Lage

einzuschätzen, ob wir einen Menschen mögen oder nicht, einen Gegenstand anziehend

oder abstoßend finden. Zajonc konzentriert sich in seinen Ausführungen ganz auf die

emotionale Reaktion, die entweder in Annäherungs- oder Vermeidungsverhalten mündet.

Weitere Qualitäten spezifischer Emotionen wie Interesse, Zorn, Schuldgefühl oder Scham

werden nicht behandelt.

In Anbetracht der Beobachtung, daß einem Emotionsprozeß nur eine minimale Kognition

vorausgehen muß, plädiert Zajonc für eine Unterscheidung zwischen Kognition und

Emotion. Aufgrund der für ihr Zustandekommen unterscheidbaren Voraussetzungen,

seien sie als unabhängige Prozesse anzusehen. Zwar bräuchten beide sowohl Energie

als auch Information, während Gefühle jedoch vor allem Energie benötigten, wären für

Gedanken mehr Informationen nötig. Weiterhin wird die These vertreten, daß Gedanken

immer von Emotionen begleitet seien, Emotionen jedoch auch ohne Kognitionen auftreten

könnten. Die erste Reaktion eines Organismus auf einen Reiz kann durchaus emotionaler

Natur sein, ebenso wie die erste Stufe an eine Erinnerung. Es ist möglich, daß man den

Inhalt eines Musikstückes oder eines Buches vergessen hat, die emotionale Komponente

jedoch noch erinnert, ebenso ist es möglich, etwas zu mögen oder zu verabscheuen,

ohne genau zu wissen, was es ist.

Folgende Argumente werden angeführt, um die These zu bekräftigen, daß Emotionen und

Kognitionen nicht von einander abhängen309.

��Emotionale Reaktionen gehen den Kognitionen voran

Mit Bezug auf diverse empirische Studien bezüglich des Wahrnehmungsprozesses

konstatiert Zajonc, daß grundsätzlich alle Begegnungen mit unserer Umwelt zuallererst

308 Zajonc, Robert B.: Feeling and Thinking. Preferences Need No Inferences. American Psychologist. Vol.

35, No. 2, 1980, S. 151 – 175 und Zajonc, Robert B.: On Primacy of Affect. In: Scherer, Klaus R.; Ekman Paul: Approaches to Emotion. London 1984, S. 259 – 270.

309 Vgl. Zajonc, Robert B:. a.a.O. (1980), S. 155 ff und Zajonc, Robert B.: a.a.O. (1984), S. 262 ff.

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102

emotionale Reaktionen hervorrufen. Diese unmittelbaren Reaktionen bestimmen grob

die Motivation und den mit der Situation verbundenen Erwartungshorizont. Darüber

hinaus wird angenommen, daß alle Entscheidungen nicht nur eine kognitive, sondern

auch eine emotionale Komponente beinhalten. Hier wird postuliert, daß der emotionale

Aspekt eine wesentlich größere Rolle spielt als der kognitive Prozeß. Die rationalen

Begründungen, die für eine Entscheidung angeführt werden, dienten nicht der Ent-

scheidungsfindung, sondern der Rechtfertigung für die bereits getroffene Entschei-

dung. Nach Zajonc bedeutet, sich für X entschieden zu haben zumeist nichts mehr als

an X Gefallen gefunden zu haben.

��Emotionen haben aus phylogenetischer und ontogenetischer Perspektive eine

Vorrangstellung gegenüber den Kognitionen

Die phylogenetische Entwicklung der Emotionen gilt Zajonc als erstes Unterschei-

dungsmerkmal zwischen Pflanzen und Tieren mit dem Ziel die Umweltanpassung zu

optimieren. Nicht Sprache und Kognition, sondern die emotionale Ansprechbarkeit

ermöglicht Tieren auf Umweltgegebenheiten schnellstens zu reagieren. So muß ein

Kaninchen vor einer Schlange fliehen, bevor es deren einzelne Attribute genauer

untersucht hat und bewertet hat. Das heißt, die Reaktion auf die Wahrnehmung erfolgt

unter minimaler kognitiver Beteiligung. Die emotionale Entwicklung liegt evolutorisch

weit vor der mit der Kognition verbundenen sprachlichen Entwicklung, denn das

limbische System, welches nachgewiesen die emotionalen Reaktionen koordiniert, ist

schon bei niederen Säugetieren vorhanden. Nach Zajoncs Überlegungen müßten,

wenn es denn zuträfe, daß die Emotionen tatsächlich abhängig seien von vorher-

gehenden kognitiven Prozessen, die Emotionen im Laufe der Evolution ihre Autonomie

verloren haben und unter die Vermittlung der Kognition geraten sein, was er jedoch als

äußerst unwahrscheinlich ansieht. Er nimmt dagegen an, daß die phylogenetisch

älteren Emotionen im Laufe der Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten die alleinige

Kontrolle über Verhaltensprozesse verloren hätten, zugunsten einer durch das Zusam-

menwirken beider Systeme verbesserten Anpassungsfunktion. Gegen die These der

kognitionsabhängigen Emotionsreaktionen spräche ebenfalls, daß das kognitive

System wesentlich verzweigter, vielfältiger und flexibler ist, während es nur eine

begrenzte Zahl an Emotionen gibt, die sich nur auf begrenzte Weise empfinden lassen.

Auch in der Ontogenese zeigen sich emotionale Reaktionen vor den Kognitionen. Der

erste Kontakt, den Säuglinge mit der Umwelt aufnehmen, erfolgt über emotionale

Ausdruckserscheinungen.

��Emotionale Reaktionen sind unvermeidlich

Emotionen als Reaktionen auf Wahrnehmungen treten im Gegensatz zu deren

kognitiver Beurteilung unwillkürlich und mühelos auf und können leicht erinnert werden.

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103

Aufgrund ihres unwillkürlichen Auftretens sind Emotionen weniger leicht bewußt zu

machen und demgemäß auch weniger bewußt kontrollierbar als Kognitionen. Zwar

können Gefühlsausdrücke unterdrückt werden, das hat aber wenig Einfluß auf das

emotionale Erleben, welches stärker als Kognitionen von der Umgebung beeinflußt ist

und stets ganzheitlichen Charakter hat.

��Emotionale Urteile sind nahezu korrekturresistent

Vorlieben oder Abneigungen gegenüber situativen Gegebenheiten, Objekten oder

Personen sind nahezu unumstößlich, weil sie sich „richtig“ anfühlen. Mit rationalen

Argumenten ist es nicht möglich, bspw. das Gefühl, ein Musikstück zu mögen, zu

verändern, da diese Wahrnehmung einem inneren Empfinden entspricht.

��Gefühlsurteile implizieren das Selbst

Während kognitive Urteile, wie bspw. „dieses Haus ist groß“ nur Aussagen über

bestimmte Eigenschaften eines Objektes sind, beinhalten emotionale Urteile wie bspw.

„ich mag dieses große Haus“ immer eine gewisse Zuständlichkeit des Beurteilers

gegenüber dem Objekt, d.h. Gefühlsurteile offenbaren Aspekte der Persönlichkeit.

��Emotionen lassen sich nur schwer verbalisieren

Zum einen lassen sich Vorlieben oder Abneigungen nur schwer begründen, zum

anderen ist die nonverbale Vermittlung von Emotionen präziser als die verbale. Zajonc

vermutet, daß die Emotionsvermittlung bei den prälinguistischen Menschen so effektiv

war, daß eine Entwicklung sprachlicher Mitteilung nicht notwendig war. Darüber hinaus

wird den Emotionen oft keine semantische Bedeutung zugemessen, sondern sie

manifestieren sich häufig in viszeralen oder muskulären Reaktionsmustern. Aufgrund

dieser Gegebenheit nimmt Zajonc an, daß die Informationen, die in den Emotionen

enthalten sind, auf eine andere Art erworben, organisiert, kategorisiert, repräsentiert

und abgerufen werden, als die Informationen, die über Sprache vermittelt werden. Mit

Bezug auf Untersuchungsergebnisse, aus denen zu entnehmen war, daß beim

Erinnern, Vorstellen und Produzieren von Gefühlszuständen Muskelaktivitäten beteiligt

sind, postulierten Zajonc und Markus, daß körperliche Gefühlsausdrücke ohne

kognitive Vermittlung die Funktion der Repräsentation übernehmen können und

erinnert werden. Lachen, Weinen oder Schreien sind in diesem Sinne zu verstehen als

Repräsentationen emotionaler Zustände. Zwar führen Emotionen zu bestimmten

mentalen Repräsentationen, jedoch werden sie am schnellsten durch bestimmte

körperliche Zustände identifiziert. Somit wird dem motorischen System eine extensive

Beteiligung an emotionalen Prozessen zugesprochen. Aber auch Kognitionen sind

durch motorische Reaktionen repräsentiert, denn das Kratzen am Kopf oder das

Reiben des Kinns beim Lösen eines schwierigen Problems ist ebenfalls überkulturell zu

beobachten. Diese Erscheinungen sind jedoch bisher zu wenig erforscht. Bemängelt

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104

wird, daß die kognitiven Emotionstheorien die motorische Komponente vernach-

lässigen aufgrund der Annahme, Interaktionen von Kognition und Emotion fänden

vornehmlich auf der Ebene interner mentaler Repräsentationen statt.

��Emotionale Reaktionen sind nicht notwendig abhängig von Kognitionen

Daß Emotionen von Kognitionen unabhängig sind, zeigt sich, wie oben bereits

angedeutet, darin, daß man bereits bei der ersten Begegnung mit einer fremden

Person, noch bevor nähere Fakten zu dieser Person bekannt sind, mit Sympathie oder

Antipathie reagiert. Hierzu führt Zajonc weiter aus, daß im Falle es möglich wäre, durch

kognitive Einsicht, Vorlieben oder Abneigungen zu verändern, das Problem von

Einstellungsänderungen lange gelöst wäre. Gemäß einer Untersuchung von Petty &

Cacioppo erwies sich gerade die Methode der rationalen Argumentation als am

wenigsten effektiv, um Einstellungsänderungen hervorzurufen. Erfahrungsgemäß führt

die rational gewonnene Einsicht über die gesundheitsfördernde Wirkung des Genusses

von Bananen bei einem Menschen, der Bananen nicht mag, keineswegs dazu, eine

Vorliebe für diese Frucht zu entwickeln.

��Emotionale Zustände können sich von ihrem ursprünglichen Inhalt loslösen

Mit dieser These wird darauf Bezug genommen, daß es nicht immer möglich ist, sich

präzise an manche Gegebenheiten zu erinnern, man dagegen durchaus eine

Vorstellung von den die Situationen begleitenden emotionalen Zuständen haben kann.

Ein bekanntes Beispiel dafür sind Streitigkeiten oder Meinungsverschiedenheiten.

Häufig ist es nicht mehr möglich, den Grund für eine Streitigkeit zu erinnern, dagegen

ist der in dieser speziellen Diskussion vorherrschende Gefühlszustand noch präsent.

��An emotionalen und kognitiven Prozessen sind unterschiedliche neuroanatomische

Strukturen beteiligt

Zajonc stützt sich auf die oben bereits ausgeführten Ergebnisse der Hirnforschung:

angeführt wird zunächst der Zusammenhang zwischen dem limbischen System und

den emotionalen Prozessen. Weiterhin wird bezüglich der Erkenntnisse zur

Hemisphärendominanz darauf verwiesen, daß die emotionalen Aspekte der Sprache

von der rechten Hirnhälfte kontrolliert werden, die semantischen Aspekte dagegen von

der linken. Als weiteres Indiz für die Möglichkeit einer kognitionsunabhängigen

emotionalen Reaktion wertet Zajonc die direkte neuronale Verbindung zwischen der

Retina und dem Hypothalamus, mittels derer im Organismus Reaktionen hervorgerufen

werden können, ohne die vorgängige Vermittlung höherer mentaler Prozesse.

Demgemäß können allein sensorische Inputs auch ohne kognitive Transformation

emotionale Reaktionen hervorrufen.

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105

��Ergebnisse aus empirischen Untersuchungen zum Zusammenhang von Kognition und

Emotion

Personen, denen über die Nahrung Valium verabreicht wurde, veränderten ihre

Stimmung, unabhängig davon, ob sie von der Drogenvergabe wußten oder nicht. Für

die veränderte Stimmungslage mögen alle Arten von Erklärungen gefunden werden,

einige Qualitäten der Stimmungsveränderungen sind durch körperliche Wirkung des

Valiums verursacht.

Zajonc verweist auch auf die oben bereits erwähnte Möglichkeit, durch direkte

elektrische Reizung der Areale des limbischen Systems emotionale Reaktionen

induzieren zu können.

Diverse Laboruntersuchungen haben den Nachweis für emotionale Reaktionen unab-

hängig von einer bewußten Wahrnehmung oder Wiedererkennen erbracht. In Experi-

menten zur unterschwelligen Wahrnehmung wurden Versuchspersonen 1 – 5 msec.

z.B. drohende Gesichter dargeboten. Trotzdem die Reize weder erkannt noch

wiedererkannt wurden, löste die unterschwellige Darbietung dieser Reize starke

emotionale Reaktionen aus.

Durch die von Kunst-Wilson und Zajonc entwickelte Versuchsanordnung, in denen

Probanden unregelmäßige Vielecke für die Dauer von 1 Millisekunde dargeboten

wurden, konnten die Ergebnisse aus vielfachen Studien mit anderen Designs bestätigt

werden: Unabhängig der Wiedererkennungsrate wurden bei der Präsentation der

Vielecke zusammen mit anderen Vielecken zu 60 % gegenüber 40 % diejenigen

bevorzugt, die vorher kurz präsentiert worden waren. Von den 24 Versuchspersonen

bevorzugten 16 die bereits präsentierten Reize, aber nur von 5 der 24 Personen

wurden sie als solche erkannt. Eine Unterscheidung zwischen neuen und alten Reizen

wird mit Hilfe von „Gefallen“ getroffen.

Zajonc, der es selbst bemerkenswert findet, daß bei einer solch kurzen Darbietungszeit

überhaupt Unterschiede festzustellen sind, sieht diese Ergebnisse aber als weitere

Bestätigung für seine These, daß emotionale Reaktionen unabhängig von

differenzierten kognitiven Bewertungsprozessen stattfinden können.

Für Zajonc bildet die Sammlung vorstehender Argumente die Grundlage für seine These,

daß kognitive und emotionale Prozesse von zwei von einander getrennten Systemen

hervorgebracht werden, die miteinander interagieren und sieht sich damit im völligen

Widerspruch zu Lazarus, der für die Emotionen eine Abhängigkeit von kognitiven

Bewertungsprozessen postuliert.

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106

Diese beiden widersprüchlichen Ansichten führten, wie bereits erwähnt, zu einer inten-

siven Debatte, an der sich auch andere Emotionstheoretiker beteiligt haben. Einigkeit

herrscht zumindest bei den Außenstehenden darin, daß es sich hierbei um eine Frage der

Bestimmung des Begriffes Kognition handelt310. Diese Meinung wird von den beiden

Kontrahenten jedoch nur im beschränkten Maße geteilt. Gemäß Zajoncs311 Ansicht, ist die

Kontroverse nicht auf definitorischem Wege, sondern nur über empirische Studien zu

klären, wobei er allerdings einräumt, daß eine endgültige Klärung abhängig sei von einem

umfassenderen Verständnis unseres Bewußtseins. Dagegen bestreitet Lazarus312 mit

Blick auf den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft die Möglichkeit, daß diese Debatte

auf empirischem Wege zu klären sei, da es einerseits Zajonc nicht möglich wäre nachzu-

weisen, daß Emotionen ohne vorherige kognitive Bewertung aufträten, andererseits

könne er (Lazarus) ebensowenig den gegenteiligen Beweis liefern. Im übrigen gründe die

Kontroverse auf Unterschiede in den philosophischen Grundprämissen. Während Zajoncs

Sichtweise dem Neopositivismus entspräche, vertrete er eher die konstruktivistische

Perspektive.

Entgegen den Ausführungen der beiden Kontrahenten zeigt Goller vor allem bei Zajonc

einen undifferenzierten Umgang mit dem Begriff Kognition auf, der sich in weiten Teilen

von Lazarus Begriffsverständnis unterscheide. Einmal definiere Zajonc Kognition als reine

Informationsverarbeitung, also als „diejenigen internen Prozesse, die am Erwerb, an der

Transformation und Speicherung von Informationen beteiligt sind“313 und bezeichne auch

die Ergebnisse der Informationsverarbeitung als Kognitionen. An anderer Stelle lasse sich

dagegen eine Einschränkung der Begriffsverwendung aufzeigen: „My definition of

cogniton (Zajonc, 1980, p. 154) required some form of transformation of a present or past

sensory input. ’Pure’ sensory input, untransformend according to a more or less fixed

code, is not cognition. It is just ‘pure’ sensation. Cognition need not be deliberate, rational,

or conscious, but it must involve some minimum “mental work’. This mental work may

consist of operations on sensory input that transform that input into a form that may

become subjectively available, or it may consist of the activation of items from memory.”314

Goller folgt in seiner Interpretation Dörner und Stäudel, dem zufolge bezeichne Zajonc als

eine Minimalform der Kognition den Transformationsprozeß eines sensorischen Inputs,

310 Vgl. Bischof, Norbert (1989): a.a.O.; Dörner, Dietrich: (1989): a.a.O.; Scherer, Klaus (1989), a.a.O 311 Vgl. Zajonc, Robert, B.: On the Primacy of Affect. American Psychologist, Vol. 29, Nr. 2, 1984a, S. 117 –

123, besonders S. 121 f. 312 Vgl. Lazarus, Richard S.: On the Primacy of Cognition. American Psychologist. Vol. 39, Nr. 2 1984, S. 124

– 129, siehe hierzu besonders S. 126. 313 Vgl. Goller, Hans: S. 173. 314 Zajonc, Robert B. (1984a) : a.a.O., S. 118.

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107

der dem Subjekt bewußt gemacht werden kann, d.h. dem Erleben zugänglich sei.

Widersprüchlich sei, wie Goller feststellt, die von Zajonc im Zusammenhang mit der

letzten Definition aufgestellte Behauptung, mit Lazarus einer Meinung zu sein, daß zur

Emotionsentstehung kein willentlicher, bewußter und rationaler kognitiver Prozeß

notwendig sei, da diese Aussage seiner Kognitionsdefinition als bewußtem Prozeß

entgegenstünde.315

Gollers Ansicht nach liegt der Unterschied zwischen den Definitionen des Begriffes

Kognition von Lazarus und Zajonc also darin, daß nach Lazarus kognitive Bewertung

nicht willentlich, rational oder bewußt sein muß. Darüber hinaus verwende letzterer den

Begriff Kognition sehr breit, indem er jede primitivste wertende Wahrnehmung als

kognitiven Prozeß bezeichne, und damit auch Tiere zu den wertenden und einschätzen-

den Organismen zählten. Dadurch, daß nach Lazarus Kognitionsprozesse auf unter-

schiedlichen Komplexitätsstufen ablaufen, wäre jede Form der Informationsverarbeitung

Kognition und notwendigerweise Voraussetzung für das Auftreten einer Emotion.

Worauf Goller in diesem Zusammenhang nicht eingeht, sind die in Zajoncs Definition

verwendeten ungeklärten Begriffe und die sich daraus ergebenden weiteren

Interpretationsmöglichkeiten: Nach Zajonc können aus reinen sensorischen Inputs, die

nicht durch einen bestimmten „Filter“ encodiert werden, reine Empfindungen entstehen.

Nicht geklärt ist jedoch, durch welchen Prozeß diese Empfindungen entstehen. Die aus

dieser Unklarheit resultierenden Fragen sind erstens, ob reine Empfindungen im Sinne

eines Reiz-Reaktions-Mechanismus gleichzusetzen sind mit Emotionen und zum

anderen, ob nicht auch ‚reine sensorische Inputs’ einer gewissen und jedoch nicht

bewußten ‚mentalen Verarbeitung’ bedürfen, um körperliche Empfindungen hervorzu-

rufen, denn auch die direkte Weiterleitung eines Reizes von der Retina über die Nerven-

bahn zum limbischen System ist dann als mentaler Prozeß im Sinne einer Informations-

transformation zu bezeichnen, wenn die mentale Arbeit einer Kognition eine Informations-

transformation nicht notwendig willentlicher, rationaler oder bewußter Art ist. In diesem

Zusammenhang ist vor allem der letzte Satz des Zitats von Zajonc unklar, in welchem die

mentale Arbeit bezeichnet wird als Transformation eines Reizes in eine Form, die

subjektiv verfügbar ist. Vorausgesetzt auch die Umsetzung sensorischer Inputs in

Empfindungen erfolge über mentale Arbeit, dann wären die Empfindungen das

„subjektiv verfügbare“ (subjective abvailable) Resultat dieser Verarbeitung.316 Mit dieser

315 Vgl. Goller, Hans: S. 173. 316 Daß diese Interpretation durchaus eine Berechtigung hat, wird deutlich an den Ausführungen von Zajonc

und Martin in dem Punkt: „Emotionen lassen sich nur schwer verbalisieren“. Hier wird angenommen, daß

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108

Interpretation würde nicht nur der von Goller aufgezeigte Widerspruch in Zajoncs

Aussagen und der Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Kognitionsdefinition

nahezu aufgehoben, auch der propagierte Unterschied zwischen der von Lazarus und

Zajonc vorgenommenen Begriffsdefinition würde sich auflösen.

Hier soll darauf hingewiesen werden, daß solcherart Interpretationsspekulationen dadurch

Raum gegeben wird, daß keiner der in der Definition verwendeten Begriffe genauer

geklärt ist, weder „Empfindung“, noch „mentale Arbeit“ noch das, was unter „subjektiv

verfügbar“ verstanden wird, woraus notwendigerweise die Unklarheit der Bestimmung

dessen, was Kognition ausmacht, resultieren muß.

Wie bereits deutlich wurde, haben sich auch andere Emotionspsychologen an der

Kognitions-Emotions-Debatte beteiligt, was vor allem zu einer Reflexion über die

Rezeption des Kognitionsbegriffes in der Psychologie geführt hat.317 Nach Dörner und

Stäudel318 hat mit der kognitiven Wende in der Psychologie auch der Begriff Kognition

einen Bedeutungswandel erfahren. Bezog er sich vorher auf Erkenntnis und Erkenntnis-

tätigkeit, genauer „auf die Gedächtnismodelle, die sich Menschen von der Welt machen,

und auf die Prozesse, mit denen Menschen solche Modelle erstellen und modifizieren,

also auf Denken und Lernen [...], [hat er bis heute] eine fast unerträgliche Ausweitung

seiner Bedeutung erfahren: für viele bedeutet er einfach ’Informationsverarbeitung’“319.

Problematisch ist diese Bedeutungserweiterung für die Autoren insofern, als man unter

Vernachlässigung von qualitativen und energetischen Aspekten und alleiniger Berück-

sichtung abstrakter Wirkzusammenhänge nahezu jeden Prozeß auf dieser Welt als

Informationsverarbeitung bezeichnen könne. Anhand des Beispiels, daß auch der Lauf

eines Automotors, aufgrund der Tatsache, daß dessen einzelne Prozesse mit dem

Computer simuliert werden können, als Informationsverarbeitungsprozeß betrachtet

werden kann, wird expliziert, daß es eine Sache des Standpunktes sei, einen Prozeß als

Informationsverarbeitungsprozeß anzusehen, denn es sei „nicht der eine Prozeß

‚Informationsverarbeitung’, der andere nicht“. Mit dem Hinweis darauf, daß der Lauf eines

Motors wohl als Informationsverarbeitung, aber sicherlich nicht als kognitiver Prozeß zu

bezeichnen sei, empfehlen Dörner und Stäudel, kognitive Prozesse von Informations-

Lachen, Weinen oder Schreien als Repräsentationen emotionaler Zustände zu verstehen seien. Siehe oben S. 104.

317 Vgl. hierzu auch oben die Diskussion um Norbert Bischofs Kognitionsverständnis, S. 79 ff. 318 Vgl. Dörner, Dietrich; Stäudel Thea: Emotion und Kognition. In: Scherer, Klaus R.: Enzyklopädie der

Psychologie. Themenbereich C: Theorie und Forschung, Serie IV: Motivation und Emotion, Band 3: Psychologie der Emotion. Göttingen, Toronto, Zürich 1990, S. 293 – 344, siehe hierzu besonders S. 294 ff.

319 Ebd. S. 294.

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109

verarbeitungsprozessen scharf abzugrenzen. Wohl könne es von Vorteil sein, psychische

Prozesse insgesamt als Informationsverarbeitungsprozesse zu bezeichnen, dabei würde

jedoch deutlich, daß dieser Begriff ein Oberbegriff sei, unter den kognitive Prozesse zu

subsumieren seien. „Aber nicht jede Informationsverarbeitung ist ein kognitiver Prozeß.“320

An anderer Stelle schlägt Dörner321 vor, sich zur Klärung des strittigen Verständnisses des

Begriffs zu besinnen auf die Wortbedeutung der etymologischen Wurzel von Kognition:

„cognoscere“, was er frei übersetzt als „zusammen wissen“. In Dörners Interpretation muß

dieses „Zusammen wissen“ sich beziehen auf die Erkenntnis eines „allgemeine[n] (also

raum-zeitlich übergreifende[n]) Zusammenhang[es] zwischen Sachverhalten [...], der

zunächst nicht sinnfällig war und daher auch nicht bekannt. Es wird im Wissen etwas

zusammengebracht, was vorher nicht zusammen war.“322 Demgemäß will Dörner Kogni-

tion verstanden wissen als „Einsicht“, was sich deutlich abhebe von der bloßen Fest-

stellung oder Wahrnehmung einer Gegebenheit. Den Unterschied illustriert er an dem

Beispiel, daß man schlecht sagen könne, man habe eingesehen, daß auf einem Tisch ein

Kugelschreiber läge, wohl aber, man habe eingesehen, daß die Prüfungsangst in Zusam-

menhang zu sehen sei mit der Person des Prüfers. Nur im letzten Falle handele es sich

um einen „neu hergestellten, übergreifenden Zusammenhang“323, und allein für solche

Fälle sollte der Begriff Kognition zur Anwendung kommen. Bezüglich seiner Ausführungen

betont er zwar deren Notwendigkeit, um Vereinfachungen durch Verallgemeinerungen

vorzubeugen, räumt jedoch gleichzeitig ein, daß solche Erörterungen müßig seien, „denn

[...] der Begriff ‚Kognition’ lasse sich sowieso nicht mehr retten“324.

Die geringe Fruchtbarkeit von Debatten über Begriffsbestimmungen betonen auch

Leventhal und Scherer325 vor allem im Zusammenhang mit der Kognitions-Emotions-

Debatte. Für sie konzentriert sich die Auseinandersetzung auf zwei miteinander verbun-

dene zentrale Fragestellungen: strittig sei zum einen, ob Emotionen und Kognitionen von

voneinander unabhängigen Mechanismen erzeugt werden und zum anderen, ob

Emotionen vor Kognitionen auftreten können. Um die zweite Frage beantworten zu

können, sei es zunächst notwendig, die erste Frage zu klären, denn wenn die Erzeugung

von Kognitionen und Emotionen nicht zumindest zu einem gewissen Teil voneinander

320 Ebd. S. 295. 321 Vgl. Dörner, Dietrich: a.a.O. (1989) S. 207. 322 Ebd. 323 Ebd. 324 Ebd. 325 Leventhal, Howard, Scherer Klaus R.: The Relationship of Emotion ot Cognition: A Functional Approach to

a Semantic Controversy. Cognition and Emotion Vol. 1 (1), 1987, S. 3 – 28.

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unabhängig erfolge, wäre es nach Leventhal und Scherer kaum möglich, daß Emotionen

vor Kognitionen auftreten, wodurch sich die zweite Frage erübrige. Um die erste Frage

klären zu können, müssen also zunächst spezielle Mechanismen differenziert werden. Die

Autoren betonen jedoch, daß selbst wenn unabhängige Prozeßmechanismen für Kognitio-

nen und Emotionen gefunden würden, es wahrscheinlich sei, daß diese beiden Mechanis-

men ausschließlich in wechselseitiger Abhängigkeit miteinander operierten, was eine

adäquate Erklärung für die Beobachtung sei, daß sie niemals unabhängig voneinander

aufträten.

In diesem Zusammenhang wird bemängelt, daß weder Lazarus noch Zajonc zwischen

Verhalten und Mechanismen unterscheiden, noch daß sie die Möglichkeit erwägen, es

könne sich bei Emotions- und Kognitionsprozessen um zwei in wechselseitiger

Abhängigkeit operierende Systeme handeln. Dagegen konzentriere sich der Streit allein

auf das Verständnis des Begriffes Kognition, der bei Lazarus jeden sensorischen oder

Wahrnehmungsprozeß umgreift, für Zajonc aber auf die Prozesse beschränkt ist, die nach

der Wahrnehmung erfolgen, d.h. beide gehen in ihrem Begriffsverständnis von ver-

schiedenen Ebenen der Reizverarbeitung aus. Nach Leventhal und Scherer ist diese

Streitfrage nicht lösbar, da sie sich allein darauf beschränke, welcher dieser Prozesse der

Reizverarbeitung schon als Kognition zu bezeichnen sei.

Unter Berücksichtigung dieses Tatbestandes entwickeln Leventhal und Scherer in

Auseinandersetzung mit den von Zajonc und Lazarus vertretenen Grundprämissen ein

integratives Modell der Emotionen. Hierbei arbeiten sie unter mehreren Zielsetzungen:

zum einen geht es ihnen darum, die zentralen Fragestellungen, die nach ihrer Meinung

die Kognitions-Emotions-Debatte bestimmen, zu beantworten, zum anderen wollen sie

zeigen, daß Kognitions- und Emotionsprozesse in wechselseitiger Abhängigkeit miteinan-

der operieren. Die diesen Untersuchungen zugrundeliegende Absicht ist es, die bisher

mehr semantisch geführte Kognitions-Emotions-Debatte abzulösen durch konkretere und

operationalisierbare Fragen, die zur Untersuchung der am Emotionsprozeß beteiligten

Komponenten und der Art ihres Zusammenwirkens führen.

Das integrative Emotionsmodell ist eine Zusammenführung der beiden von den Autoren

unter unterschiedlichen Fragestellungen unabhängig voneinander entwickelten Emotions-

modellen: Leventhals mehrstufiges Prozeßmodell (multilevel process model), das sich auf

die Ontogenese der Emotionen konzentriert und Scherers Komponentenprozeßmodell

(component process model of emotions), welches die Funktion der Emotionen fokussiert.

Bei ihrem Projekt gehen die Autoren wie folgt vor: zunächst werden auf der Folie der

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111

Prämissen von Leventhals Entwicklungstheorie die zentralen Gegenstände der

Kognitions-Emotions-Debatte diskutiert. Dieser Erörterung folgt die Darstellung des

Modells von Scherer, das darauf abzielt, die Komponente der Reizprüfung, die ein

wesentlicher Bestandteil von Leventhals Modell und auch der meisten anderen Emotions-

theorien ist, zu differenzieren und präzisieren. In einem dritten Schritt erfolgt die Integra-

tion der beiden Modelle in Form einer Tabelle, die es möglich macht, die Interdependenz

zwischen Emotionsgenerierung und Reizprüfung zu konkretisieren.

Im folgenden wird die Argumentationslinie zur Entwicklung des integrativen Modells

nachgezeichnet. Zur Vorstellung der zugrundeliegenden Emotionstheorien werden frühere

ausführlichere Veröffentlichungen der beiden Autoren herangezogen, um die jeweiligen

Grundprämissen präziser darstellen zu können.

3.3.3.3.3 Howard Leventhals mehrstufiges Prozeßmodell der Emotionen

Leventhal326 sieht sein Modell als eine Weiterentwicklung der Theorien von Ekman,

Friesen und Tomkins, und betrachtet Emotionen im Sinne eines Wahrnehmungs-

erlebnisses, die wie andere Wahrnehmungen subjektiver Natur sind und aufgrund dessen

nur mittels Indikatoren wie sprachliche Äußerungen, körperliche Ausdruckserscheinungen

und autonome Reaktionen untersucht werden können. Leventhals Theorie zielt darauf ab,

die Mechanismen aufzudecken, die aktiv an der Konstruktion von emotionalem Erleben

beteiligt sind.

Einige wichtige Ausgangsprämissen sind:

1. Emotionsausdrücke weisen überkulturelle Ähnlichkeiten auf.

2. Unterschiedliche Emotionen entwickeln und differenzieren sich im Laufe der Onto-

genese, beginnend mit der Geburt. Lernprozesse sind die wichtigsten Komponenten

für diese Differenzierung, denn Lernen bedingt die situationsübergreifende

emotionale Einschätzung ebenso wie das eigentliche Emotionserleben. Darüber

hinaus verändern Lernprozesse nicht nur die Organisation oder die Beziehung der

einzelnen Indikatoren der Emotionen, sondern verändern auch den emotionalen

326 Die Darstellung erfolgt nach Leventhal, Howard: A Perceptual-Motor Theory of Emotion. In Advances in

Experimental Social Psychology. Vol. 17, 1984, S. 117 – 182; Leventhal, Howard: A Perceptual Motor Theory of Emotion. In: Scherer, Klaus R. und Ekman, Paul: Approaches to Emotion. Hillsdale, London 1984a, S. 271 – 291 und Leventhal, Howard, Scherer Klaus R. (1987): a.a.O., S. 8 – 13.

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Ausdruck. Aufgrund der entwicklungsbedingten Lernprozesse entstehen neue

Mischungen und neue Arten von Emotionen.

3. Emotionen scheinen Verhaltensmuster insgesamt zu verändern. Sie strukturieren

oder fokussieren alle Komponenten des Verarbeitungssystems auf ein allgemeines

Ziel.327

Leventhal328 geht davon aus, daß es zwei parallel arbeitende Subsysteme gibt, die einem

allgemeinen Informationsverarbeitungssystem zur Vermittlung adaptiven Verhaltens

angehören: ein emotionales Verarbeitungssystem und ein objektives – problemorien-

tiertes Verarbeitungssystem. Beide parallel und interaktiv arbeitenden Systeme sind durch

eine Reihe von Schritten und Stufen hierarchisch organisiert. Leventhal postuliert für

beide Verarbeitungssysteme drei Stufen: auf der ersten erfolgt die Rezeption und

Interpretation einer Information, die sowohl zur emotionalen als auch zur problem-

bezogenen Repräsentation der Reizsituation führt. Auf der zweiten Stufe werden sowohl

je emotions- und problembezogene Handlungspläne zur Situationsbewältigung entwickelt

und ausgeführt. Auf der dritten Stufe erfolgt die Bewertung der Bewältigungsbemühungen.

Das System arbeitet rekursiv und schnell, d.h. es findet ein schneller Austausch zwischen

Repräsentation, Bewältigung und Bewertung statt, wobei die beiden letzteren Stufen

sowohl den Emotions- als auch den Problemaspekt der Repräsentation beeinflussen.

Die Generierung des Emotionserlebens erfolgt in der ersten Stufe des emotionalen Ver-

arbeitungssystems. Auch zur Generierung wird wiederum ein hierarchisches Modell mit

drei verschiedenen Verarbeitungsebenen postuliert: 1. die senso-motorische Verarbei-

tung, 2. die schematische Verarbeitung und 3. die konzeptuelle Verarbeitung. Alle drei

Ebenen verbinden Stimulation mit emotionalem Erleben, wobei jeder Verarbeitungsweg

Emotionserleben generieren kann. Das senso-motorische System ist die „angeborene“

Möglichkeit zur Generierung „primitiver“ oder teilweise vorgeformter Emotionen. Das

schematische und das konzeptuelle System sind unterschiedliche Erinnerungssysteme,

die zum einen der Abstraktion und Speicherung der Bedingungen, die Emotionen hervor-

rufen, dienen und zum anderen Erinnerungen an Emotionen selbst speichern. Die drei

Verarbeitungssysteme sprechen auf unterschiedliche Emotionsstimuli an, die im

folgenden näher erläutert werden.

327 Vgl. Leventhal, Howard: a.a.O. (1984a), S. 273. 328 Vgl. ebd. S. 273 ff.

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Das senso-motorische Verarbeitungssystem329

Leventhal sieht das senso-motorische Verarbeitungssystem als Basis für die emotionale

Entwicklung an, da die Aktivität dieses „angeborenen“ motorischen Systems bei Neuge-

borenen zu beobachten ist, in der Form, daß bestimmte interpersonelle Reizmuster wie

die Stimmlage oder Gesichtsausdrücke ganz bestimmte Ausdrucksreaktionen hervor-

rufen. Als eine Referenz für diese These wird u.a. eine Untersuchung von Field et al.

genannt, die an 76 Neugeborenen nachweisen konnten, daß diese im Alter von 36 Stun-

den schon die Fähigkeit besitzen, die ihnen von einem Erwachsenen präsentierten

glücklichen, traurigen oder überraschten Gesichtsausdrücke zu imitieren. Diese Unter-

suchungsergebnisse lassen auf die vorprogrammierte Natur des Ausdrucks von

Emotionen und des damit verbundenen Emotionserleben schließen, wobei letzteres

bisher noch nicht nachgewiesen ist. Für Leventhal bilden diese motorischen Reaktionen

oder Kategorien eine Art Grundvokabular für emotionales Verhalten und Erleben. Diesen

frühen emotionalen Reaktionen kommen wie allen senso-motorischen Reaktionen

motorische Bedeutung zu. Hier fehlen noch klare Assoziationen zu bestimmten Objekten

oder Gegebenheiten, ebenso wie noch keine Bewältigungsmechanismen etabliert sind.

Aus diesem Grunde gleichen die in dem senso-motorischen Verarbeitungssystem

generierten Emotionen in vielem einfachen Reflexen, da ihnen sowohl die Verbindung zu

komplexen Umwelterlebnissen als auch die Bewältigungsmechanismen fehlen. Jedoch

unterscheiden sie sich nach Leventhal von einfachen Reflexen dadurch, daß sie abhängig

sind von differenzierten Reizmustern und für eine Reaktion das Zusammenwirken einiger

Muskelgruppen benötigt wird.

Verarbeitung der Emotionen durch Schemata330

Durch die wiederholte Auslösung bestimmter senso-motorischer Emotionen, in Verbin-

dung mit der Wahrnehmung und Reaktion auf bestimmte Umweltgegebenheiten, bilden

sich eine Reihe von nonverbalen perzeptiv-motorischen Gedächtnisstrukturen, die

zunächst an ganz bestimmte Situationen gebunden sind. Hier werden zunächst beson-

dere Details und spezielle Situationen erinnert, die starke Emotionen hervorrufen. Mit

diesen Erinnerungen ist die Speicherung des situationstypischen Emotionserlebens als

motorische und autonome Reaktion verknüpft. Diese emotionalen Schemata sind

vergleichbar mit konditionierten Reaktionen. Aus der Tatsache, daß die Verbindung

zwischen den einzelnen Komponenten der Schemata, d.h. dem Auslöser, dem Emotions-

329 Vgl. ebd. S. 274 f. 330 Vgl. ebd. S. 275 f.

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erleben, den Ausdruckserscheinungen sowie den autonomen Reaktionen viel fester ist

und besser integriert wird als die meisten anderen assoziativen Prozesse, vermutet

Leventhal, daß es sich bei diesen Erinnerungsstrukturen um kortikale „Säulen“ handelt,

d.h., die neuronalen Repräsentationen der einzelnen Komponenten sind in enger

räumlicher Beziehung zueinander angeordnet.

In der weiteren Entwicklung werden emotionale Schemata durch wiederholtes Erleben

spezifischer emotionsauslösender Situationen, wie bspw. wiederholte liebevolle oder

ärgerauslösende Erfahrungen mit einem Elternteil, verallgemeinert auf bestimmte

Durchschnittswerte der jeweiligen emotionalen Situation. Die Verarbeitung emotionaler

Schemata erfolgt automatisch und schnell und ähnelt dem Wiedererkennen und der

intuitiven Bewertung im Sinne von Mögen und Nichtmögen. Bewußte Denktätigkeit wird

hier nicht benötigt. Der Aktivierung einer Komponente eines emotionalen Schemas folgt

sofort die Aktivierung der anderen Komponenten.

Selbstverständlich verändern sich die Schemata im Laufe der Entwicklung. Die ursprüng-

lichen Schemata, die sehr nahe an der Wahrnehmung und an konkreten Situationen

orientiert sind, differenzieren sich im Laufe der Zeit, werden operationalisiert oder

wahrnehmungsunabhängig, ähnlich der Schemata der physikalischen Welt, die sich im

Laufe der Zeit von der voroperationalen zur operationalen Form entwickeln.

Leventhal differenziert 7 Funktionen der schematischen Verarbeitung:331

1. Automatische Verarbeitung: Die Hauptfunktion der emotionalen Schemata ist eine

außerordentlich schnelle emotionale Einschätzung von aktuellen Situationen parallel

zu willentlicher kognitiver Aktivität, die das subjektive Erleben von Objekten und

Ereignissen ohne speziellen Aufwand formen. Diese emotionalen Einschätzungen

organisieren das Wahrnehmungsfeld. Nach Leventhal spricht vieles dafür, daß die

emotionale Einschätzung einer Situation nicht mit deren bewußten Bewertung

übereinstimmen muß.

2. Erwartungsformung: Ähnlich anderen Schemata oder Kategorien arbeiten emotionale

Schemata wie eine Art Filter, die die Aufmerksamkeit auf bestimmte Reizgegeben-

heiten lenken. Zudem dienen sie als Erinnerungsfolie für spätere Erlebnisse.

3. Festigung von speziellen episodischen Erinnerungen: Typische emotionale

Reaktionen auf Objekte, Personen oder situative Gegebenheiten werden in einem

emotionalen Schema abgespeichert und spielen so eine Hauptrolle bei der Erinnerung

331 Vgl. Leventhal, Howard: a.a.O. (1984), S. 135 ff.

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an die jeweilige Personen oder Situationen. Diese spezifischen emotionalen Erinne-

rungsstrukturen wiederum beeinflussen die Ausdruckserscheinungen sowie die

autonomen und instrumentellen Reaktionen von Gefühlserlebnissen auf andere

situationsspezifische Reize und Vorstellungen.

4. Prototypische Formationen und Verallgemeinerungen: Ebenso wie Wahrnehmungs-

erinnerungen Prototypen oder Verallgemeinerungen bilden, tragen Schemata zur

Verallgemeinerung von emotionalen Erlebnissen bei. Diese Verallgemeinerungen

richten sich aus an bestimmten Merkmalen oder Dimensionen, die als besonders

wichtige Charakteristika eines Sets konkreter Episoden angesehen werden und

ursprünglich diese spezielle Klasse von Emotionen hervorgerufen haben. Wenn

beispielsweise Macht oder Status immer in Verbindung mit Körpergröße und Kleidung

erfahren wurde und diese Darstellung von Macht Ärger oder Angst ausgelöst hat,

kann daraus erfolgen, daß allein die Konfrontation mit ähnlicher Körpergröße oder

Kleidung Ärger oder Angst auslösen. Diese emotional fundierten Attribuierungen

erfolgen automatisch und „unbegründet“.

5. Formung neuer Emotionsarten: Emotionale Schemata sind wichtig für die Entwicklung

neuer Emotionen. Situationen können Kombinationen von Ausdruckserscheinungen

bestimmter grundlegender Gefühle (wie Angst, Freude, Ärger oder Trauer) hervor-

rufen und diese Kombinationen werden in Form von emotionalen Schemata abge-

speichert. Auf diese Weise können neue Gefühlserlebnisse generiert werden. Daher

kann man von automatisch hervorgerufenen Emotionen wie Intimität, Stolz und

Mißfallen reden.

6. Klassifizierung und Akkumulierung emotionaler Erlebnisse: Emotionale Schemata

dienen der Organisation von emotionalen Erlebnissen. Hier werden zwei Möglich-

keiten unterschieden: zum einen werden Objekte oder Erlebnisse durch die Verbin-

dung mit Gefühlen klassifiziert, d.h. emotionale Schemata bedingen die Anziehungs-

oder Vermeidungsreaktion gegenüber Objekten oder speziellen Gegebenheiten und

tauchen die Wahrnehmung der jeweiligen Sachverhalte in ein spezielles Gefühls-

erlebnis.

Der zweite Organisationseffekt ist die kumulative Wirkung der Emotionen. Die

Komponenten von Emotionen scheinen sich nicht anzugleichen, sondern zu addieren

oder zu multiplizieren. Nach Leventhal ist dieser kumulative Effekt eine Eigenart der

emotionalen Schemata, die sich darin zeigt, daß scheinbar unzusammenhängende

Ereignisse (z.B. Wahrnehmung von Objekten oder Ausdrucksverhalten) miteinander

kombiniert werden zu einem bestimmten Gefühl. Die Verstärkung einer der Elemente

(z.B. durch die Steigerung der Intensität von spontanem Ausdruck oder die Erhöhung

der autonomen Reaktionen) erhöht die Intensität des Emotionserlebens. Leventhal

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berichtet in diesem Zusammenhang über eine Untersuchungsreihe von Zillmann

bezüglich der Generalisierung von Erregung, die bestätigte, daß eine körperliche

Erregung aus einer vorherigen Aufgabe, hier war es das Betätigen der Pedale eines

Trainingsfahrrads, die nachfolgende aber damit nicht in Beziehung stehende

Gefühlsempfindung (in diesem Falle eine sexuelle Erregung) verstärkt.332

7. Stabilisierung der Objektbeziehung: Schließlich führen über emotionalen Schemata zu

stabilen Objektbeziehungen, die sich zeigen in positiven und negativen Einstellungen

sowie Vorlieben und Abneigungen. Stabile Objektbeziehungen sind wichtig für die

Aufrechterhaltung sicherer sozialer Beziehungen und für die Erinnerung an positive

und die Vermeidung von negativen Erfahrungen mit speziellen Objekten und

Ereignissen.

Ein konkretes Beispiel für die schematische Verarbeitung der Emotionen ist das

Phänomen des Phantomschmerzes. Phantomschmerzen sind die einem amputierten

Körperteil zugeordneten Empfindungen, die in vielen Fällen extrem schmerzhaft sind. Das

Auftreten von Empfindungen eines amputierten Gliedmaßes, die häufig in enger Verbin-

dung stehen mit dem zur Amputation geführten schmerzvollen Erlebnis, deutet darauf hin,

daß Emotion in Form von Schemata gespeichert ist. Die Beobachtung, daß mit dem

Aufkommen von negativen Gefühlen wie Angst oder Unwohlsein auch Phantom-

schmerzen aktiviert werden können, unterstützt weiterhin die These, daß emotionale

Schemata fest miteinander verbundene Strukturen sind, die sich zusammensetzen aus

emotionsauslösenden Situationen, subjektiven Gefühlen sowie Ausdruckserscheinungen

und autonomen Reaktionen.

Begriffliche Verarbeitung333

Die begriffliche Verarbeitung, die unerläßlich ist für die bewußte Auseinandersetzung mit

den Gefühlen, erfolgt unabhängig von dem senso-motorischen und dem schematischen

Prozeßsystem. Leventhal unterscheidet bei der begrifflichen Verarbeitung zwei

Komponenten: eine sprachliche Komponente für eine verbale Auseinandersetzung mit

emotionalen Erlebnissen (Verbal Conceptual Component) und die Darstellungskom-

ponente, die der willentlichen Gestaltung emotionaler Handlungen (Performance

Conceptualizations) dient. Während das Sprechen über Emotionen zwar für die meisten

Personen relativ einfach ist, scheint es doch oft von den eigentlichen Emotionen getrennt

332 Vgl. ebd. S. 137. 333 Vgl. ebd. S. 141 ff. und Leventhal, Howard: a.a.O. (1984a) S. 277 f.

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zu sein und nicht dazu geeignet, emotionale Prozesse zu kontrollieren. Leventhal führt

das darauf zurück, daß bei der sprachlichen Verarbeitung nur einzelne (in der Erinnerung)

als besonders wichtig angesehenen Aspekte einer emotionalen Episode abstrahiert

werden. Die Konzentration auf unerwartete oder ganz besonders herausragende Faktoren

führt dazu, daß diese als Emotionsauslöser angesehen und andere die Situation

begleitenden Umstände außer Acht gelassen werden. So kann man sich bspw. aufgrund

eines Geräusches in einem dunklen Haus erschrecken oder fürchten. Wird nun diese

Gefühlsempfindungen allein auf das Geräusch zurückgeführt, bleibt unberücksichtig, daß

die Dunkelheit eine entscheidende Rolle bei der Stimulierung von Angstreaktionen spielt.

Eine ähnlich wichtige Rolle spielt das Alleinsein als kontextueller Faktor für die Erregung

von Angst und die Formation von Phobien gegenüber einer Vielzahl von Reizen.334 Nach

Leventhal reagieren schematische und senso-motorische Systeme stark auf kontextuelle

Gegebenheiten, was zu einer Inkonsistenz zwischen ihnen und der post hoc

Einschätzung des Akteurs führen kann.

Die zweite Komponente der begrifflichen Verarbeitung, die Darstellungskonzeptualisierun-

gen sind abstrakte, sequentielle Repräsentationen von Wahrnehmungen und motorischen

Reaktionen. Darstellungscodes werden nur durch die aktive emotionale Situationsbewälti-

gung gebildet. Mit ihnen erfolgt die willentliche Gestaltung des Ausdrucks von bspw.

Trauer, Ärger, Freude und Angst.

Beide Verarbeitungskomponenten greifen auf ein propositionales Gedächtnisnetzwerk zu,

in welchem spezifische Elemente in logischer Beziehung stehen. Da propositionale

Erinnerungen abstrakter sind als schematische, können mit Hilfe der propositionalen

Speicherungen auch die emotionalen Situationen interpretiert werden, die einen sehr

starken Transformationsprozeß durchlaufen. Aufgrund der größeren Abstraktheit

verändern sich propositionale Speicherungen durch neue emotionale Erfahrungen kaum,

kleine oder größere Unterschiede im Kontext einer speziellen Emotionsepisode werden

ignoriert, da die Situation nur einige abstrakte emotionale Merkmale aufweisen muß, die

einer vorangegangenen Episode ähneln. Propositionale Speicherung erlaubt flexiblere

oder bedächtigere Reaktionen auf emotionale Erlebnisse und unterstützt die Kurzzeit- und

334 Leventhal weist in diesem Zusammenhang auf eine wichtige Untersuchung von Sroufe und Waters

bezüglich der bei ca. 9 Monate alten Kleinkindern auftretenden Fremdenangst hin. Sroufe und Waters stellten fest, daß diese Fremdenangst bei Kleinkindern vor allem in Laborsituationen auftritt, jedoch nicht in der bekannten häuslichen Umgebung wenn die Mutter präsent ist. In diesen Fällen nämlich führte der Kontakt mit Fremden zu positiven affektiven Reaktionen. Nach Leventhal dokumentiert dies, wie leicht es (auch im wissenschaftlichen Rahmen) zu Fehlinterpretation bezüglich der Auslöser von Emotionen kommen kann. Vgl. Leventhal, Howard: a.a.O. (1984) S. 142.

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Langzeitkontrolle einzelner Erlebnisse. Begriffliche Verarbeitung ist mühevoll, erfolgt

willentlich und bewußt.

Es wird angenommen, daß begriffliche Erinnerungen dadurch entstehen, daß ein

Individuum über seine emotionalen Erlebnisse reflektiert. Durch die selbstbewußte

Auseinandersetzung mit der emotionsauslösenden Situation sowie den eigenen

Gefühlserlebnissen werden abstrakte begriffliche Gedächtnisstrukturen über die

emotionale Episode gebildet. In ähnlicher Weise wirkt sich das bewußte Einüben von

emotionsbegleitenden motorischen Ausdruckserscheinungen entscheidend auf die

Bildung begrifflicher Codes für die Gestaltung und die Kontrolle von emotionalen

Reaktionen aus. In diesem Zusammenhang wird auf Untersuchungsergebnisse

hingewiesen, nach denen durch die Übung situationsangemessener emotionaler

Ausdruckserscheinungen die Kontrolle über die emotionale Reaktion verbessert werden

kann. Voraussetzung dafür ist der Wille und die Fähigkeit zur Selbstreflexion.

Leventhal betont, daß das Emotionssystem als Ganzes operiert. Typischerweise sind

sowohl alle Stufen, das Fühlen, das Bewältigen und das Bewerten sowie alle Ebenen, die

senso-motorische, die schematische und die begriffliche, an der Generierung von

Emotionen beteiligt. Alle Ebenen der Verarbeitungshierarchie können sich ungeachtet

ihrer hierarchischen Stellung gegenseitig beeinflussen, d.h. die senso-motorische Ebene

kann auf die begriffliche Ebene wirken, ebenso wie die begriffliche die schematische oder

senso-motorische Ebene beeinflussen kann. Andere nichtemotionale Verarbeitungspro-

zesse können in ähnlicher Weise parallel zu den emotionalen Verarbeitungsprozessen

operieren. Emotionen sind nicht einmalig, da viele, wenn nicht alle Bestandteile eines

Emotionsverarbeitungsprozesses auch in anderen Informationsverarbeitungsprozessen

zu beobachten sind.

Nach Leventhal und Scherer lassen sich durch Leventhals Entwicklungsmodell nicht nur

die oben gestellten Fragen beantworten, darüber hinaus erscheinen durch die hier ver-

tretenen Thesen die Hauptgegenstände der Lazarus-Zajonc-Debatte in einem anderen

Licht: Ausgehend von der Frage: „Do simple, reflex-like behaviours consitute emotions, or

does something need to be add to them to qualify for this status?”335 wird zunächst die von

den beiden Kontrahenten vertretene Auffassung, eine einfachste Vermeidungsreaktion sei

eine Emotion, problematisiert. Es wird gezeigt, daß sich mit der Betrachtung der Emotio-

335 Leventhal, Howard, Scherer Klaus R.: a.a.O. (1987), S. 6. („Werden Emotionen durch einfache reflex-

ähnliche Verhaltensweisen erzeugt, oder sind zur Erzeugung einer Emotion zusätzliche Komponenten notwendig?“)

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nen als ein Produkt eines Multikomponentenmechanismus (multicomponent mechanism)

eine grundlegende Unterscheidung zwischen Emotionen einerseits und Reflexen oder

anderen stereotypen Reaktionsmechanismen andererseits treffen läßt. Dabei liegt die

Annahme zugrunde, daß Emotionen einen phylogenetisch entwickelten komplexen

Adaptionsmechanismus repräsentieren, der einfache reflexartige Reaktionen ablöste, was

jedoch nicht bedeutet, daß Reflexe komplett durch Emotionen ersetzt wurden, bzw. für

diese irrelevant seien. Leventhal und Scherer weisen darauf hin, daß eine Diskussion

über das Verhältnis von Reflexen und Emotionen den gleichen fruchtlosen Charakter

hätte, wie die Diskussion über die Definition über Kognition. Für sie können Reflexe

einerseits als ein Element von Emotionen eine bedeutende Rolle spielen, andererseits

können Emotionen die Aktivierung von Reflexen stimulieren.336

Ausgehend von dieser Differenzierung lassen sich durch das Leventhalsche Modell vier

grundlegende Punkte klären337:

1. Durch das Postulat, daß eine gewisse Anzahl senso-motorischer Mechanismen für

die ersten emotionalen Verhaltensweisen verantwortlich sind, lassen sich emotionale

(Ausdruck von Annäherung und Vermeidung) von nicht-emotionalen Reaktionen von

einander abheben. Die hierdurch gegebene Möglichkeit, einige der Komponenten zu

unterscheiden, die zu kognitivem und emotionalem Verhalten führen, stützt die

Annahme der Autoren, daß es sich um zwei von einander verschiedene

Prozeßsysteme handelt. Aus diesem Grunde ziehen es die Autoren vor, die diese

unterschiedlichen Verhaltensweisen hervorrufenden Reize und Prozesse als

„sensory-perceptual“ (Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen) und nicht als

kognitiv zu bezeichnen, womit sie sich im Einklang mit der von Zajonc vertretenen

Position sehen.

2. Wie oben ausgeführt, werden die reflex-ähnlichen senso-motorischen Komponenten

schon sehr früh in der emotionalen Entwicklung, d.h. schon mit den frühesten emo-

tionalen Reaktionen verbunden zu immer komplexer werdenden Komponenten, die

zur schematischen und erinnerungsabhängigen Prozeßverarbeitung führen. Da die

Reizbewertung ein wesentlicher Bestandteil der schematischen emotionalen

Konstruktionen darstellt, kann man nach Leventhal und Scherer nicht nur wie Lazarus

argumentieren, daß Erfahrung und Verhalten von Emotion und Kognition

gleichermaßen bestimmt werden, sondern auch, daß in dem zugrundeliegenden

Prozeßsystem Emotion und Kognition zusammen wirken.

336 Vgl. ebd. S. 7. 337 Vgl. ebd. S. 11ff.

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3. Als Beleg für die Unabhängigkeit der emotionalen und kognitiven Prozeßsysteme

werten Leventhal und Scherer, daß eine emotionale Reaktion als verändert oder in

einer gewissen Art „merkwürdig“ erlebt wird, wenn eine oder mehrere der Komponen-

ten, die für eine Emotion eines Erwachsenen typisch sind, fehlen. Sie beziehen sich

hier auf eine Untersuchung von Hohman an erwachsenen doppelseitig gelähmten

Patienten, deren Verletzungen das Feedback autonomer Reaktionen verhinderten.

Diese Patienten berichteten, daß einige ihrer Emotionen (Angst und Furcht, aber

nicht Traurigkeit oder Sentimentalität) sich verändert hätten und den Charakter von

einer „als ob“ Emotion bekommen hätten. Nach Leventhals Modell treten solche

Effekte nur auf, wenn die emotionstypischen Schemata nicht mit dem tatsächlichen

Erleben übereinstimmen. D.h., wenn z.B. eine autonome Erregung nicht zu einem

Emotionsschema gehört, wird das Fehlen derselben auch nicht zu einer Störung der

Wahrnehmung führen. Daß auch andere Arten von Unstimmigkeiten zu der Erfahrung

einer „als ob“, einer merkwürdigen oder fremden Emotion führen können338, stützt die

Annahme daß Emotionen und Kognitionen auf voneinander unabhängige Prozeß-

systeme zurückgehen.

4. Wie in Leventhals Modell postuliert, kann ein einmal etabliertes Schema durch jede

einzelne seiner Komponenten aktiviert werden, d.h. ein bestimmtes emotionales

Schema kann erregt werden durch die Wahrnehmung eines speziellen Reizereig-

nisses, durch einen die subjektiven Gefühle generierenden Mechanismus des

Zentralen Nervensystems, durch Ausdrucksverhalten oder durch autonome

Reaktionen. Das bedeutet konkret, daß auch wenn durch einen Reiz wie bspw. eine

Schlange zuallererst autonome Reaktionen und Ausdrucksverhalten hervorgerufen

werden, nahezu zeitgleich die kognitiven Aspekte des Schemas mit aktiviert werden,

so daß Zajoncs Standpunkt, emotionale Mechanismen arbeiteten vor und unabhängig

von kognitiven Mechanismen, keinerlei Bedeutung hat.

5. Darüber hinaus wird in Leventhals Modell, wie auch in anderen Entwicklungs-

modellen, postuliert, daß das Emotionserleben und emotionales Verhalten

entscheidende Veränderungen erfährt durch Entwicklungen innerhalb der Prozeß-

level und den Beziehungen zwischen den Stufen durch die biographische Ent-

wicklung des Individuums. Das entspricht Lazarus’ Annahme, daß sich das

emotionale Leben in der Entwicklung des Individuums durch eine kontinuierliche

Interaktion von „kognitiven“ und „emotionalen“ Prozessen verändert.

338 Hierzu zählen bspw. die durch Adrenalininjektionen hervorgerufene “künstliche“ Erregungszustände und

die durch elektrische Reizung bestimmter Hirnregionen hervorgerufenen Emotionen.

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Diese Grundannahmen der Emotionsentwicklung und der situationsabhängigen

Emotionsgenerierung sind in hohem Maße abhängig von der Reizbewertung. Während

bisherige Emotionstheorien zwar die Bedeutung vom kognitivem Umgang mit Ereignissen

oder der Bedeutung von Ereignissen als Vorgeschichte zu emotionalen Reaktionen

Beachtung fand, wurde jedoch nicht eruiert, inwieweit kognitive Prozesse spezifische

Emotionen hervorrufen und wie diese kognitiven Prozesse wohl gestaltet seien. Abge-

sehen von dem Grad der Unabhängigkeit von kognitiven und emotionalen Mechanismen

bleiben nach Leventhal und Scherer Emotionstheorien „primitiv“, wenn sie nicht die Natur

des Prozesses und die kognitiven Inhalte benennen können, die eine bestimmte Emotion

hervorrufen.

Scherers Komponentenprozeßmodell der Emotionen beschreibt einen Mechanismus der

fortdauernden Bewertung der Ereignisse der Umweltgegebenheiten und präsentiert

Hypothesen bezüglich der Bedeutungsmuster, die spezielle emotionale Zustände

hervorrufen. Abgesehen davon, daß dieses Modell bestätigt, daß Emotionen aus

mehreren Komponenten zusammengesetzt sind, postuliert diese Theorie, daß ganz

bestimmte Emotionen durch die Operation einer Serie von Reizbewertungschecks

entstehen.

3.3.3.3.4 Klaus R. Scherers Komponentenprozessmodell der Emotionen

Scherer339 sieht wie Leventhal Emotionen nicht als Zustand, sondern als Prozeß. Im

Gegensatz zu Leventhal beschäftigt sich Scherer jedoch nicht mit der Ontogenese des

Emotionserlebens, sondern mit deren Funktion. In seinem Komponentenprozessmodell

postuliert er, daß spezifische Emotionen durch die Prüfung von externen und internen

Reizen hervorgerufen werden. In Folge dieser Prüfung werden wahrgenommene Reize

auf ihre Bedeutung für den Organismus und auf die erforderlichen Reaktionen hin

bewertet. Scherer unterscheidet fünf Prüfungsschritte, die die durch die ständige

Abtastung des Wahrnehmungsfeldes gewonnenen Informationen durchlaufen340:

1. Prüfung in bezug auf Neuartigkeit oder Unerwartetheit:

Hier wird bestimmt, ob bei den internen oder externen Wahrnehmungsmustern eine

Veränderung stattgefunden hat. Speziell wird überprüft, ob sich etwas Neues ereignet

339 Scherer, Klaus R.: Nature and Function of Emotion. A Component Process Approach. In: Scherer, Klaus

R. und Ekman, Paul: Approaches to Emotion. Hillsdale, London 1984, S. 293 – 317 und Leventhal, Howard, Scherer Klaus R. (1987): a.a.O., S. 13 - 16. Siehe für eine zusammenfassende Darstellung auch Goller, Hans: a.a.O. S. 187 – 189.

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hat oder ein neues Ereignis erwartet wird. Es wird angenommen, daß diese erste

Prüfungssequenz zumindest teilweise unabhängig von höheren kortikalen Funktionen

verläuft. Die erste Prüfungssequenz steht in Verbindung mit Langeweile oder Über-

raschung, wobei die hier auftretenden Gefühle durch spätere Prüfungssequenzen

beeinflußt werden können. Diese erste Prüfung muß sehr schnell erfolgen, da das

Überleben des Organismus von einer schnellen Reaktion auf ein unerwartetes

Ereignis abhängig sein kann. Es ist wahrscheinlich, daß die erste Prüfungssequenz

dazu führt, die weiteren Prüfungsschritte zu beschleunigen.

2. Prüfung in bezug auf die Angenehmheit oder Unangenehmheit für den Organismus

Die Bestimmung, ob ein Reiz für den Organismus als angenehm oder unangenehm

empfunden wird, bewirkt Annäherungs- bzw. Vermeidungsreaktionen. Diese Prüfung

kann auf der Basis von genetisch bedingten oder durch Lernvorgänge fest etablierten

Einschätzungsmustern erfolgen.

3. Prüfung in bezug auf die Relevanz für Ziele oder Pläne:

Für diese Sequenz unterscheidet Scherer vier Subchecks: a) die Einschätzung der

Bedeutung eines Reizes für die Erreichung wichtiger Ziele oder die Befriedigung

gerade anstehender Bedürfnisse des Organismus (relevance subcheck); b) die

Einschätzung, ob das Ergebnis mit dem aktuell erwarteten Status zur Erreichung des

Zieles übereinstimmt oder nicht (expectation subcheck); c) ob der Reiz zur Er-

reichung des anvisierten Ziels oder zur Befriedigung aktueller Bedürfnisse beiträgt

(conduciveness subcheck); d) ob eine Verhaltensreaktion dringend notwendig ist

(urgency subcheck). Diese Prüfungssequenz muß deutlich unterschieden werden

von der vorherigen Prüfungssequenz, da auch ein als angenehm empfundener Reiz

die Ausführung eines Planes unterbrechen kann, was im Sinne der Zielverfolgung zu

negativer Bewertung führt und Angst oder Ärger auslösen kann. Reize, die die

Zielverfolgung befördern und zur Erfüllung der Erwartungen des Organismus

beitragen, führen zu einem Gefühl der Befriedigung, Genugtuung oder Freude.

4. Prüfung bezüglich der Einschätzung der Fähigkeiten, die wahrgenommene

Gegebenheit zu bewältigen:

Diese Einschätzungssequenz bestimmt die Bewältigungsfähigkeit des Organismus

mit Blick auf vergangene oder zukünftige Situationen und deren Konsequenzen für

den Organismus. Auch hier werden vier Subchecks unterschieden: a) die Über-

prüfung der Ursache des Reizes (causation subcheck); b) darauf aufbauend die

Einschätzung, inwieweit der Organismus durch eigene Aktivitäten die Konsequenzen

beeinflussen kann (control subcheck); c) die Einschätzung der Kraft, die der Organis-

340 Vgl. zur folgenden Darstellung: Scherer, Klaus: a.a.O. (1984) S. 306 ff.

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mus zur Verfügung hat, um das Ergebnis zu kontrollieren oder zu vermeiden bspw.

durch Kampf oder Flucht (power subcheck) und d) die Einschätzung inwieweit der

Organismus fähig ist, sich auf die durch unkontrollierbare Situationen hervorge-

rufenen Veränderungen einzustellen (adjusting subcheck). Demgemäß postuliert

Scherer, als Folge der Einschätzung einer Situation als unkontrollierbar und negativ,

die Emotion Traurigkeit, während Ärger und Furcht aus der Einschätzung einer

Situation als nicht zu bewältigen resultieren.

5. Eine Prüfung inwiefern die Gegebenheit (einschließlich der Handlung) mit dem

Selbstkonzept und den sozialen Normen vereinbar ist.

Hier wird geprüft, ob die in einer Situation gezeigte Tätigkeit mit sozialen Normen,

kulturellen Konventionen oder Erwartungen wichtiger anderer äußerer Gegeben-

heiten übereinstimmt und ob sie mit internalisierten Normen und Standards als Teil

des Selbstkonzeptes vereinbar ist.

Alle Wahrnehmungen durchlaufen die unterschiedlichen Bewertungsmuster in der

angegebenen hierarchischen Ordnung, wobei Art und Intensität der Emotionen von den

Bewertungsergebnissen abhängig sind.

Scherer postuliert drei Entwicklungsaspekte für den Reizprüfungsprozeß341: 1. die regel-

mäßige Abfolge der Prüfungsschritte bei Bewertung spezifischer konkreter Ereignisse

(mikrogenetische Analyseebene), 2. eine mit der phylogenetischen Höherentwicklung

einhergehende wachsende Anzahl an Reizprüfungsschritten und deren wachsenden Grad

an Differenziertheit und Komplexität (phylogenetische Analyseebene) und 3. eine Zu-

nahme der Komplexität jeder einzelnen Prüfungssequenz im Laufe der individuellen

Entwicklung (ontogenetische Analyseebene). Die letzten beiden Analyseebenen impli-

zieren, daß sehr einfache Organismen und Neugeborene weniger Prüfungsschritte

absolvieren als höher entwickelte Lebewesen und erwachsene Menschen. Für den

menschlichen Bereich bedeutet das, daß Babys die Prüfschritte bezüglich der Normen

und des Selbstkonzeptes wohl nur unzureichend durchlaufen. Weiterhin wird für bio-

logisch und sozial höher entwickelte Lebewesen eine Abhängigkeit zwischen der

zunehmenden Komplexität der Prüfungsschritte und der Komplexität der durch die

Prüfung hervorgebrachten Emotionen postuliert. Beim Menschen ändern sich die

Verarbeitungsschritte am effektivsten durch die Differenzierung innerhalb jedes einzelnen

Reizverarbeitungsprozesses. Mit der Entwicklung erweitern sich die Zielvorgaben, neue

Überraschungsmöglichkeiten, neue Interessen und Werte sowie neue Bewältigungs-

341 Leventhal, Howard; Scherer, Klaus: a.a.O. (1987) S. 15.

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124

möglichkeiten und -fähigkeiten entstehen. Daß heißt, je komplexer die Reizvorgaben sind,

desto elaborierter wird das Reizprüfungssystem. Mit Hebb klassifiziert Scherer den

erwachsenen Menschen daher als das emotionalste aller Lebewesen.

Scherer möchte sich nicht mit der Frage auseinandersetzen, ob diese Bewertungspro-

zesse kognitiv zu nennen sind oder nicht, da sie nicht zu beantworten sei. Vielmehr

postuliert er, daß Emotionen auf all den unterschiedlichen Komplexitätsebenen auftreten

können, den Wahrnehmungsebenen ebenso wie den kognitiven, wobei er einräumt, daß

der Begriff „Einschätzung“ schon nach Kognition „rieche“, es sich jedoch schwierig

gestalte, dieses komplexe Modell mit neutralen Begriffen zu beschreiben. Mit seinem

Modell wolle er jedoch deutlich machen, daß manche der Prüfungsoperationen leicht als

Wahrnehmungsprozesse, andere dahingegen als kognitive Prozesse zu erkennen

seien.342

3.3.3.3.5 Verarbeitungsebenen und Reizprüfungsprozesse: Leventhals und

Scherers integratives Prozeßmodell der Emotionen

Wie oben bereits angesprochen haben Leventhal und Scherer343 ihre beiden Modelle

miteinander verbunden. Die Autoren betonen, daß es sich bei ihrem in Form einer Tabelle

dargestellten Modell um einen ersten groben Entwurf handelt. Die Anordnung der Reiz-

prüfungsschritte in der Horizontalen und die der Verarbeitungsebenen in der Vertikalen

verweisen darauf, daß jede der Reizprüfungen durch verschiedene Mechanismen auf

jeder der Verarbeitungsebenen ausgeführt werden kann. Dabei leisten das autonome und

das zentrale Nervensystem abhängig von der Verarbeitungsebene unterschiedliche

Beiträge zum Prüfungsprozeß.

342 Vgl. ebd. S. 14. 343 Leventhal, Howard, Scherer Klaus R.: a.a.O. (1987).

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Verarbeitungsebenen der Reizüberprüfung344

Neuartigkeit

Angenehmheit

Ziel/Bedürf-

nisent-

sprechung

Bewältig-

ungsfähig-

keit

Normen/Selbst

Vereinbarkeit

Begriffliche

Ebene

Erwartungen:

Ursache-Wir-

kungswahr-

scheinlich-

keitsbeurtei-

lungen

erinnerte,

vorweggenom-

mene oder

abgeleitete

positive-

negative

Bewertungen

bewußte Ziele,

Pläne

Problemlöse-

fähigkeit

Selbstideal,

moralische

Bewertungen

Ebene der

Schemata

Vertrautheit:

Schemata

Vergleich

gelernte

Vorlieben und

Abneigungen

erworbene

Bedürfnisse,

Motive

Körper-

schemata

Selbst- und

soziale

Schemata

Senso-

motorische

Ebene

plötzliche

intensive

Stimulierung

angeborene

Vorlieben/

Abneigungen

Grundbedürf-

nisse

vorhandene

Energie

(Empathie

Adaption?)

Auf der senso-motorischen Ebene erfolgt die Prüfung der Neuartigkeit mittels schnell

einsetzender Reize, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Orientierungs- und Verteidi-

gungsreaktionen führen. Für die Prüfung, ob ein Reiz vertraut erscheint oder nicht, sind

dahingegen, wie in der zweiten Ebene deutlich wird, bereits gespeicherte Schemata

notwendig, mit denen die wahrgenommenen Reize verglichen werden können. So kann

ein Kind Änderungen in der Stimmqualität der Mutter erst dann als neuartig identifizieren,

wenn es bereits die Stimme der Mutter in einem Schema gespeichert hat. Erst auf der

dritten, der begrifflichen Ebene ist eine Neuartigkeitsprüfung einer Ereignisfolge möglich,

denn hierfür müssen begriffliche Repräsentationen von Ursache-Wirkungs-Zusammen-

hängen eines beträchtlichen Zeitraumes gespeichert sein. Beispielsweise würde zu einem

Überraschungs- oder Neuartigkeitsgefühl führen, wenn man bei einem Restaurantbesuch

von einem die Speisekarte vorsingenden Ober empfangen würde, der erst dann die

Erlaubnis erteilen würde Platz zu nehmen, nachdem die Bestellung singend aufgegeben

wurde. Ein solches Procedere würde dem Schema widersprechen, das üblicherweise mit

einem Restaurantbesuch verbunden ist.

344 Ebd. S. 17 (Übersetzung: B.K.). Vgl. für die Erläuterung der Tabelle ebd. S. 17 ff.

Page 126: Erziehung und die „Vernunft der Gefühle“ · und Scherers integratives Prozeßmodell der Emotionen 124 3.4 Grundlegende Untersuchungen zu dem Verhältnis von Denken und den Gefühlen

126

Die Prüfung der Angenehmheit auf der senso-motorischen Ebene ist wahrscheinlich das

Produkt von angeborenen Merkmalsdetektoren, die entweder zu einer reflexartigen

Assimilation oder zur Abwehr des Reizes führen (bspw. sauerer oder süßer Geschmack).

Für die Prüfung der Angenehmheit auf der schematischen Ebene wird angenommen, daß

hier “Lust“-Schemata“ gespeichert sind, die durch die Konfrontation mit einem ent-

sprechenden Reiz aktiviert werden. Schwierigkeiten bereitet die Beschreibung der

Einschätzung der Angenehmheit auf der begrifflichen Ebene. Leventhal und Scherer

vermuten, daß es sich hier um komplexere Reize handelt wie bspw. Worte mit doppelter

Bedeutung. Hierzu zählen aber auch zukünftige freudige Ereignisse, die positive oder

negative Einschätzung von Personen oder Ereignissen oder auch die Vorliebe für Kunst.

Bezüglich der Einschätzung der Ziel/Bedürfnisrelevanz sind auf den drei Ebenen unter-

schiedliche Motivstrukturen auszumachen. Die Reizbewertung auf der senso-motorischen

Ebene ist ausgerichtet an der aktuellen Bedürfnislage. So führt die Wahrnehmung

bedürfnisrelevanter Reize zu entsprechenden reflexartigen Bewegungen, bspw. löst das

Bedürfnis nach Nahrung bei der Wahrnehmung des Fläschchens Saugbewegungen aus,

das Bedürfnis nach Kontakt bewirkt bei der Wahrnehmung eines Kontaktpartners Lächeln.

Die Prüfung, ob wahrgenommene Reize der Befriedigung erworbener Bedürfnisse und

Motive dient, bedarf eines Vergleiches des Reizes mit gespeicherten emotionalen

Schemata. Auf der begrifflichen Ebene werden symbolisch repräsentierte Ziele und Pläne

angenommen und die Einschätzung von Reizen und Ereignissen entsteht auf der Basis

komplexer Bewertungsschemata.

Die Grundlage für die Einschätzung der Bewältigungsfähigkeit bildet die dem Organismus

zur Verfügung stehende Energie und seine Fähigkeit, sich situationsadäquat zu verhalten.

Auf der senso-motorischen Ebene erfolgt die Reizprüfung durch einfache Feedback-

mechanismen mit Hilfe unwillkürlicher und willkürlicher motorischer Reaktion, die Signale

der Erschöpfung und Müdigkeit bei Mißlingen der Bewältigung aussenden, bei erfolg-

reicher Bewältigung dagegen Gefühle der Wachheit und Energie hervorrufen. Während

diese regulierenden Signale beim Säugling automatisch erfolgen und sofortige Aktivitäten

hervorrufen, können sie auch an komplexeren begrifflichen Entscheidungsprozessen

beteiligt sein. Komplexere Selbstschemata, die sowohl körperliche als auch soziale

Eigenschaften beinhalten, werden für die Prüfung der Bewältigungsfähigkeit auf der

Schemataebene postuliert. Auf der begrifflichen Ebene wird die Bewältigungsfähigkeit

durch die Einschätzung der eigenen Problemlösefähigkeit geprüft.

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127

Erwartungsgemäß ist es schwierig, die Prüfung der Vereinbarkeit des Selbstkonzeptes mit

sozialen und persönlichen Normen auf der senso-motorischen Ebene zu konzeptuali-

sieren. Es ist kaum möglich die phylogenetisch und ontogentisch frühen Entwicklungs-

schritte nachzuverfolgen, da sie durch die je individuelle komplexe Sozialisationsge-

schichte verdeckt sind, was zur Folge hat, daß sie nach Meinung der Autoren unange-

messen als hochintellektuelle Strukturen angesehen werden. Dagegen erwägen sie die

Möglichkeit, daß die Erlebnisse von Angenehmheit und Unangenehmheit, die kindlichen

Aktivitäten folgen, zur Bildung erster Schemata bezüglich dessen führen, was akzeptabel

bzw. normgerecht ist. Hierbei könnte es sich auch um einen grundlegenden Empathie-

prozeß handeln, bei dem der Organismus einer Art sozialen Konvention, Mimikry oder

Gefühlsansteckung folgt. Auf der Ebene der Schemata dienen Selbstschemata und

rudimentäre Normschemata als Folie für die Prüfung, ob Ereignisse oder Tätigkeiten mit

erwünschten Zuständen vereinbar sind. Für die Autoren ist es klar, daß 10-12 Monate alte

Kinder die Angemessenheit ihres Verhaltens an dem Gefühlsausdruck und dem Verhalten

der Mutter erkennen und so Verhaltensnormen für bestimmte Situationen entwickeln. Für

die Ebene der begrifflichen Verarbeitung werden hochbewußte und symbolische

Mechanismen, wie abstraktes moralisches Argumentieren und die Bewertung des

Selbstrealisierungspotentials postuliert.

Zur Frage, welche Emotionen auf welchen Ebenen der Reizverarbeitung entstehen, kann

keine klare Antwort gegeben werden.345 Die Autoren nehmen diesbezüglich an, daß die

emotionalen Zustände abhängig von der involvierten Verarbeitungsebene in all ihren

Komponenten (dem Ausdruck, den körperlichen Reaktionen und dem subjektiven

Gefühlserleben) variieren. Hinsichtlich der sich hieran anschließenden Frage, von welcher

Ebene aus die Reizverarbeitung erfolgt, wird vermutet, daß die meisten, wenn nicht alle

emotionalen Prozesse durch die mittlere, die schematische Ebene initiiert werden.

Spezifische Erfahrungen mit Personen, Objekten oder Ereignissen bringen Schemata

hervor, in denen die Geschichte von Wahrnehmungserinnerungen oder „Identitäten“

zusammengefaßt sind, welche dann die aktuelle emotionale Erfahrung organisieren.

Selbstverständlich beeinflußt die begriffliche Ebene die Schemata auf vielfältige Weise,

besonders in Form der Ausdifferenzierung von Schemataklassen, die auf eher abstraktere

Ereignisse bezogen sind. Aber auch die senso-motorische Verarbeitungsebene ist noch

mit am Emotionsprozeß beteiligt. Beispielsweise kann die Wahrnehmung eines unbe-

kannten Geräusches beim Eintreten in die eigene Wohnung Angst erzeugen. Wenn

345 Vgl. ebd. S. 21 f.

Page 128: Erziehung und die „Vernunft der Gefühle“ · und Scherers integratives Prozeßmodell der Emotionen 124 3.4 Grundlegende Untersuchungen zu dem Verhältnis von Denken und den Gefühlen

128

dieses Ereignis in der Nacht auftritt, können die durch die Dunkelheit initiierten senso-

motorischen Reaktionen die Angst verstärken.

Die Autoren betonen, daß der größte Teil der durch ihr Modell hervorgebrachten Hypo-

thesen noch nahezu unerforscht ist. Besonders die emotionalen Reaktionen auf den

unterschiedlichen Ebenen müssen näher untersucht werden. Grundsätzlich wird jedoch

davon ausgegangen, daß bei einem Erwachsenen alle Reizprüfungssequenzen und alle

Ebenen am Emotionsprozeß beteiligt sind.346

Leventhal und Scherer haben sich bei der Untersuchung der Emotionen auf den

hierarchisch organisierten Reizprüfungsprozeß konzentriert, da dieser in bezug auf die

Kognitions-Emotions-Debatte von besonderer Bedeutung ist. Mit dem Prüfungsaspekt

ergeben sich eine Reihe von neuen Möglichkeiten, das Zusammenwirken von speziellen

Wahrnehmungs- und Kognitionsrepräsentationen bei emotionalen Zuständen zu unter-

suchen. In diesem Zusammenhang betonen die Autoren nochmals ausdrücklich, daß ihre

Fokussierung auf den Reizbewertungsaspekt bei der Emotionsauslösung keineswegs

bedeute, daß die Emotionsgenerierung ausschließlich auf Bewertungsprozesse

zurückgehe, denn wie die Analyse der internen Prozesse deutlich mache, kann eine durch

Schwankungen des Hormon- oder Neurotransmitterniveaus hervorgerufene Änderung des

Körperempfindens profunde Auswirkungen auf alle drei Prozeßebenen haben. Die durch

chemische Prozesse im Körper hervorgerufenen unterschiedlichen Stimmungen beein-

flussen die an eine Situation gebundene Erwartungshaltung und dadurch den Reiz-

prüfungsprozeß. Veränderungen die durch die Jahreszeit, Tageszeit, körperliche Befind-

lichkeit und wiederholtes Emotionserleben hervorgerufen werden, können sich auf die

Stimmungslage auswirken und somit emotionale Zustände stärken, die die Art der

Informationsverarbeitung beeinflussen und die Emotions-Kognitions-Interaktionen

verändern.347

Für die Autoren wird anhand ihres integrativen Modells deutlich, daß in der Emotions-

Kognitions-Debatte zwei Sachverhalte miteinander vermischt wurden: Der erste betrifft die

Emotionsauslösung. Hier geht es um die zeitliche Abfolge und die durch vorangegangene

Ereignisse hervorgerufenen Reaktionsmodifikationen. Der zweite Sachverhalt bezieht sich

auf die Organisation oder die Beziehung zwischen den bei einer Reaktion in einem

346 Vgl. ebd. S. 22. 347 Vgl. ebd.

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129

Reaktionssystem involvierten Komponenten. In bezug auf die erste Frage stellen die

Autoren fest, daß es Gelegenheiten gibt, in denen Änderungen in einer Situationswahr-

nehmung sich auf die emotionale Befindlichkeit auswirken, ebenso wie sich umgekehrt

emotionale Befindlichkeiten, wie Ängste, Freude oder Ärger auf die Interpretation von

Situationen auswirken. Bei der Zajonc-Lazarus-Debatte geht es jedoch nicht um zeitliche

Abfolgen auf dieser molaren Ebene, sondern sie konzentriert sich auf die zeitlichen

Abfolgen auf der Mikroebene, d.h. auf den Bereich der Auslösemechanismen. Diese

Sachverhalte können nur durch physiologische Untersuchungen geklärt werden, aller-

dings sind sie wahrscheinlich für einen Großteil der Emotionstheorien nicht von Belang. In

bezug auf die zweite Frage, die Organisation der in einem Emotionsprozeß beteiligten

Komponenten, postulieren Leventhal und Scherer, daß beim Menschen nur höchst selten

emotionale Reaktionen unabhängig von Wahrnehmungen oder Kognitionen zu finden

seien. Tatsächlich scheint es für den Menschen extrem schwierig, wenn nicht gar unmög-

lich zu sein, eine „wirklich frei schwebende“ (truly free-floating) Emotion zu erleben, außer

in solch seltenen Momenten, in denen nur die senso-motorische Verarbeitungsebene

angesprochen wird und bei emotionsähnlichen Reflexen. Dieses Emotionserleben ist wohl

den Neugeborenen vorbehalten, da bei Erwachsenen immer die schematische und die

begriffliche Ebene im Emotionsprozeß mit involviert sind. Die Autoren betonen, daß im

emotionalen Verhalten und im Emotionserleben die beiden Aspekte „Emotion“ und

„Kognition“, wie sie von Zajonc und Lazarus verstanden werden, immer zusammenwirken.

Dieses Zusammenwirken wird auch deutlich in den von Zajonc angestellten Untersuchun-

gen bezüglich der durch Wiederholung entstandenen Vorlieben, die er als Beweis für die

Unabhängigkeit von Emotion und Kognition gewertet hat, denn die positiven Gefühle

entstanden durch die „Erinnerung“ an den gleichen Reiz nicht durch andere Reize.

Vor diesem Hintergrund betonen Leventhal und Scherer einmal mehr, daß die Klärung der

zeitlichen Abfolge, ob Kognitionen Emotionen oder Emotionen Kognition folgen, belanglos

sei, denn gleichgültig, ob ein Schema durch interne oder externe Reize oder eine Ver-

änderung des Hormonniveaus aktiviert wird, immer werden gleichzeitig entweder die

kognitiven oder die emotionalen Komponenten mit aktiviert. Damit wird offensichtlich, daß

die Beziehung zwischen Emotion und Kognition sehr viel komplexer ist, als es die Debatte

zwischen Zajonc und Lazarus vermuten lasse, denn die tatsächliche Bedeutung liegt in

dem notwendigen Zusammenwirken von Kognition und Emotion. Diese Interdependenz

wird verglichen mit der Wahrnehmung von Objekten, deren Oberfläche nur in Beziehung

zu den Konturen und die Konturen nur in Beziehung zu der Oberfläche wahrgenommen

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130

werden können. Ebenso können emotionale Oberflächen nur innerhalb Konturen

kognitiver und perzeptiver Art gefühlt werden.348

Gemäß der Einsicht, daß über eine semantische Debatte das Verständnis des Begriffes

Kognition nicht zu klären ist, geht es Leventhal und Scherer in ihrem integrativen

Emotionsmodell vor allem darum zu zeigen, daß sowohl Zajoncs Ausgangshypothese, der

von einer Emotionsgenerierung durch einfache Wahrnehmungsprozesse ausgeht, als

auch Lazarus’ Verständnis der Emotionen als komplexe organisierte Zustände, die aus

kognitiven Bewertungsprozessen resultieren, zu einem gewissen Teil Berechtigung

zukommt. Zajoncs Ausgangshypothese kommt insofern Berechtigung zu, als daß in der

hier vorgelegten Konzeption von einem Kognitionsverständnis als bewußten Verarbei-

tungsprozeß ausgegangen wird und demgemäß die von Leventhal postulierte, durch

unbewußte Verarbeitungsprozesse auf den ersten beiden Ebenen (die senso-motorische

und die schematische Ebene) erfolgende Emotionsgenerierung nicht als kognitive,

sondern als Wahrnehmungsprozesse bezeichnet werden. Lazarus wird darin gefolgt, daß

Emotionen als komplexe organisierte Zustände angesehen werden, die durch Reizbe-

wertungsprozesse (bewußter oder unbewußter Art) hervorgerufen werden. Möglich wird

die Zusammenführung der sich scheinbar gegenüberstehenden Positionen durch die auf

die Leventhalsche Theorie der Ontogenese rekurrieren Ausgangsprämissen. Demgemäß

werden für unbewußte und bewußte Verarbeitungsprozesse zwei getrennt operierende

Prozeßsysteme postuliert, die wie das integrative Emotionsmodell anschaulich

demonstriert bei der Emotionsgenerierung interagieren.

Der Überblick über einige zentrale Ansätze der psychologischen Emotionsforschung zeigt,

daß die Kognitions-Emotions-Debatte die Essenz der in diesem Forschungszweig auffind-

baren unterschiedlichen Positionen bildet und bestätigt in weiten Teilen die oben

aufgestellte Hypothese, daß ausgehend von der allen gemeinsamen Grundlage, daß

Emotionen im weitesten Sinne sowohl eine körperliche als auch eine geistige Kompo-

nente aufweisen, die Diskrepanzen in den Erkenntnissen zurückzuführen sind auf die

jeweiligen Ausgangsprämissen und dem daraus resultierenden Forschungsinteresse.

Hinsichtlich der Ausgangsprämissen lassen sich grob drei Gruppen unterscheiden: Einer

Gruppe sind die Untersuchungen zuzuordnen, die der physischen Komponente, wie

Ausdruck, Verhalten und/oder (autonome, viszerale oder motorische) Körperprozesse

besondere Bedeutung beimessen. Sehr allgemein gefaßt wird unter dieser Grund-

prämisse davon ausgegangen, daß Emotionen durch körperliche Veränderungen hervor-

348 Vgl. ebd. S. 24 f.

Page 131: Erziehung und die „Vernunft der Gefühle“ · und Scherers integratives Prozeßmodell der Emotionen 124 3.4 Grundlegende Untersuchungen zu dem Verhältnis von Denken und den Gefühlen

131

gerufen werden. Diese körperlichen Regungen werden zurückgeführt auf genetisch

bedingte Reaktionsmechanismen, die durch die Wahrnehmung ganz bestimmter innerer

oder äußerer Reizkonstellationen ähnlich des Reiz-Reaktions-Schemas ausgelöst

werden, mit dem Ziel, den Organismus für eine ganz bestimmte dem Reiz zugeordnete

Reaktion vorzubereiten. Die aufgrund einer genetischen Determination bewußtseins-

unabhängige Initiierung dieser Prozesse bietet eine Erklärung für die erfahrungsgemäße

Problematik einer willentlichen Kontrolle der Emotionen. Diesen Positionen unterliegt -

wenn auch nicht immer explizit benannt – das Verständnis des Begriffes Kognition als

bewußter Prozeß einerseits und andererseits die Annahme, daß die körperlichen

Reaktionsmuster den Kognitionen vorausgehen und diese in erheblichem Maße

bestimmen. Hier einzuordnen sind die Theorien von James und Lange, McDougall,

Plutchik, Izard und Zajonc, wobei letzterer als einziger Vertreter dieser Position davon

ausgeht, daß Emotionen und Kognitionen auf zwei verschiedene Prozeßsysteme

zurückgehen.

In einer zweiten Gruppe lassen sich diejenigen Forschungsbemühungen zusammen-

fassen, die sich auf die geistige Komponente im Sinne der Bewertung von Wahr-

nehmungen innerer und äußerer Veränderungen konzentrieren. Die Problematik hierbei

ist der für die Beschreibung der geistigen Komponente gewählte Begriff Kognition. Wie

oben ausführlich erörtert, gilt es diesbezüglich zu unterscheiden zwischen den Vertretern,

die Kognition allgemein als Informationsverarbeitungsprozeß betrachten und nicht

zwischen subkortikalen (unbewußten) und kortikalen (bewußten) Prozeßmechanismen

differenzieren und den Vertretern, für die kognitive Prozesse allein auf der kortikalen

Ebene ablaufen und die demgemäß den Begriff Kognition allein für bewußte

Denkvorgänge in Anwendung bringen. Für die Emotionstheoretiker, die unter Kognition

allgemein Informationsverarbeitung verstehen, ist die Emotionsentstehung allein abhängig

von kognitiven Prozessen, also gelten auch die oben angeführten körperlichen

Reaktionen als ein Produkt kognitiver Bewertung (Lazarus). Dagegen dienen denjenigen

Theoretikern, die Kognition allein auf die kortikalen Prozesse beziehen, die bewußten

Bewertungsprozesse von gewissen Reizwahrnehmungen zur Klassifikation der mit der

Reizwahrnehmung einhergehenden jedoch als unspezifisch angesehenen körperlichen

Reaktionen (Schachter und Singer).

Wie sich in der Kognitions-Emotions-Debatte gezeigt hat, liegt die Grundproblematik der

sich in diesen beiden Gruppen gegenüberstehenden Positionen in dem Verständnis des

Begriffes Kognition. Daß diese Problematik nicht grundsätzlich lösbar ist, haben Leventhal

und Scherer deutlich gemacht, die mit ihrem Verständnis der Emotion als Ergebnis eines

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132

Multikomponentenprozesses unter die dritte Gruppe der Emotionstheorien einzuordnen

sind. Wie oben erörtert, lassen sich durch Leventhals differenziertes Modell für die

Ontogenese der Emotionen einerseits und die in Leventhals und Scherers integrativem

Modell postulierte sowohl auf subkortikale als auch auf kortikale Reizbewertungsprozesse

zurückgeführte Generierung der Emotionen andererseits einige Teilaspekte sich schein-

bar ausschließender Positionen miteinander in Beziehung setzen. Darüber hinaus

verdeutlicht Leventhals Theorie der Ontogenese der Emotionen, da sie in ein Modell für

adaptives Verhalten eingebunden ist, zum einen den Einfluß der emotionalen Ein-

schätzung auf die Situationsbewältigung und zum anderen die Wechselwirkung zwischen

der Bewertung der emotionalen und der problemorientierten Situationsbewältigung.

Da Ekman zwar von einer genetischen Disposition zur Generierung des mimischen

Ausdrucksverhaltens bestimmter Emotionen ausgeht, darüber hinaus jedoch postuliert,

daß die Zuordnung bestimmter Reize zu einem spezifischen emotionalen Ausdrucks-

verhalten gelernt wird, ist seine „neurokulturelle Theorie der Emotionen“ eher der letzten

Gruppe zuzuordnen.

Im folgenden gilt es nun zu überprüfen, ob und welche Erkenntnisse der psychologischen

Emotionsforschung fruchtbar gemacht werden können für die dieser Arbeit zugrunde-

liegende Aufgabenstellung: die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Denken

und Gefühlen.

3.4 Grundlegende Untersuchungen zu dem Verhältnis von Denken

und Gefühlen

Die kritische Betrachtung der bisherigen Ausführungen zeigt, daß es durch die Rezeption

der psychologischen Emotionstheorien nicht gelungen ist, das dieser Arbeit zugrunde-

gelegte weite Verständnis von Gefühl näher einzugrenzen. In anderer Richtung jedoch

sind die Bemühungen durchaus von Nutzen, denn es lassen sich auf der Basis der

bisherigen Erkenntnisse einige Aspekte der Ausgangsfragestellung dieser Arbeit: wie das

Verhältnis zwischen Denken und den Gefühlen vorzustellen sei, differenzieren und

diskutieren.

Wie in dem Problemaufriß angeklungen ist, wird pädagogischerseits davon ausgegangen,

daß es sich bei den intellektuellen Fähigkeiten und den Gefühlen um zwei voneinander

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133

unabhängige Bereiche handelt und darüber hinaus, daß der Mensch durch die Ent-

wicklung seiner intellektuellen Fähigkeiten dazu instand gesetzt werden kann, kontrol-

lierend und regulierend auf die Gefühle einzuwirken (Roth), oder diese gänzlich unbe-

achtet zu lassen (Zdarzil), d.h. den intellektuellen Fähigkeiten wird eine Vormachtstellung

über die Gefühle eingeräumt. Völlig ungeklärt bleibt dabei die Frage, wie Gefühle ent-

stehen und in welcher Weise der Intellekt Kontrolle über sie gewinnen kann. Zwar erwähnt

Roth allgemein eine genetisch bedingte Gefühlsansprechbarkeit, die es so zu fördern gilt,

daß sie unterstützend für die Umsetzung der rationalen Zielsetzungen wirken könne, bei

seinen Überlegungen zu der Art und Weise wie diese Förderung gelingen könnte, konzen-

triert er sich jedoch vor allem auf das Bewußtmachen emotionaler Zustände. In Zdarzils

Erziehungskonzept finden die Gefühle nahezu keine Erwähnung.

Wie der Überblick über die psychologische Emotionsforschung zeigt, lassen sich durch

einen Teil des Spektrums, der durch unterschiedliche Herangehensweisen an den Unter-

suchungsgegenstand gewonnenen Erkenntnisse und Theorien, einmal Roths Aus-

gangsthese, es gäbe eine förderbare genetisch bedingte Gefühlsansprechbarkeit, die

impliziert, (1) die Gefühlsgenerierung sei (durch Lernprozesse) beeinflußbar und (2) die

körperlichen Reaktionsmuster unterschiedlicher Emotionen würden sich unterscheiden

und zudem die grundlegende pädagogische These: (3) es handele sich bei den

Intellektuellen Fähigkeiten und den Gefühlen um zwei von einander unabhängige

Bereiche problematisiert werden.

Ad (1): Die These, daß die Gefühlsgenerierung beim Menschen relativ unabhängig von

seiner Entwicklung und d.h. auch von Lernprozessen erfolgt, wurde von William James

und Carl Lange vertreten. Bei dieser Position werden Gefühle verstanden als genetisch

bedingte körperliche Reaktionsmuster (neurophysiologische, motorisch-expressive und

Erlebniskomponente), die ähnlich eines Reiz-Reaktions-Schemas generiert werden. Die

bewußte Einschätzung des Gefühls erfolgt erst nach der Wahrnehmung der

spezifischen Körperprozesse, deren Aktivierung auf genetische Dispositionen

zurückgeführt wird. Hierbei spielen Lernprozesse keine Rolle.

Die Problematik bei dieser Position besteht in der Unklarheit bezüglich der Ontogenese

der Emotionen, denn wie gestaltet sich die Zuordnung eines bestimmten Reizes zu einer

bestimmten körperlichen Reaktion, wenn Emotionen allein durch einen genetisch

bedingten Art Reiz-Reaktions-Mechanismus entstehen? Betrachten wir dazu das von

James genannte Beispiel: „...weil wir weinen, sind wir traurig...“. Dazu gilt es grundsätzlich

festzustellen: Tränen sind nicht nur ein Anzeichen von Traurigkeit, sondern sie können

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134

ebenso körperlichen Schmerz, Zorn, Wut, Enttäuschung und Freude begleiten. Aber

unterstellt, es gäbe diesbezüglich Differenzierungsmöglichkeiten, so ist immer noch

unklar, wodurch ein Reiz zu körperspezifischen Zorn, Wut, Enttäuschungs- oder Freude-

reaktionen führen kann, denn die Erfahrung zeigt, daß der gleiche Reiz nicht nur bei

unterschiedlichen Personen, sondern auch bei ein und derselben Person zu unterschied-

lichen Reaktionen führen kann, entsprechend den die Situation begleitenden Umstände,

die Vorgeschichte und/oder Zielsetzungen.

Ähnlich gelagert, jedoch vor allem auf die situationsspezifische Entstehung bezogen, ist

die Position Izards, der zwar den kognitiven Lernprozessen bei der Emotionsgenese

einen gewissen Stellenwert einräumt, jedoch postuliert, daß allein die körperlichen

Reaktionen, in diesem Falle die unterschiedlichen Gesichtsausdrücke die Emotionen

generieren. Wie vollzieht sich aber die Generierung der Gesichtsausdrücke für die

Gefühle Schuld bzw. Reue, Geringschätzung bzw. Verachtung oder Scham/Schüchtern-

heit bzw. Erniedrigung (drei der 8 von Izard bestimmten fundamentalen Emotionen), die

einerseits im hohen Maße abhängig sind von einem gewissen Normenbewußtsein und

dem je individuellen Selbstkonzept, d.h. also von kognitiven Lernprozessen und darüber

hinaus von der bewußten Bewertung einer Situation? Gerade hinsichtlich der offensicht-

lichen Abhängigkeit der Gefühlsgenerierung auch von bewußten Situationsbewertung

erscheint die in diesen Positionen enthaltene Annahme einer Gefühlsgenerierung allein

aufgrund von genetisch bedingten körperlichen Reaktionsmustern als nicht haltbar.

Ad (2): Die Annahme, Gefühle würden als undifferenzierte körperliche Erregungszustände

wahrgenommen, deren Klassifizierung allein über die bewußte kognitive Bewertung der

situativen Gegebenheiten erfolgt, die die Gegenposition zur James, Lange und Izard

darstellt, wird von Schachter und Singer vertreten. Die Zweifelhaftigkeit dieser Position

dokumentieren nicht nur die Ergebnisse der von Schachter und Singer zur Verifizierung

ihrer These durchgeführten Studie, sondern auch die Untersuchungen, in denen nachge-

wiesen wurde, daß für einige Emotionen unterschiedliche körperliche Erregungsmuster

auszumachen sind.349

Ad (3): Die Notwendigkeit der Problematisierung der pädagogischen Ausgangsthese, bei

den intellektuellen Fähigkeiten und den Gefühlen handele es sich um zwei voneinander

getrennte Bereiche, ergibt sich aus der von Lazarus entwickelten Emotionstheorie, mit der

er postuliert, daß Emotionen eine Folge von kognitiven Bewertungsprozessen sei. Hier

349 Vgl. hierzu oben S. 65.

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135

bezeichnet der zentrale Begriff „Kognition“ nicht mehr nur bewußte Denkprozesse,

sondern wird gleichbedeutend mit dem Begriff „Informationsverarbeitung“ verwendet.

Nach diesem Begriffsverständnis unterliegen sowohl die Gefühle als auch das Denken

Informationsverarbeitungsprozessen und sind daher nicht als zwei getrennte Bereiche

aufzufassen.

Daß eine solch breite Auffassung des Kognitionsbegriffs die Untersuchungsmöglichkeiten

der Emotionsentwicklung und -generierung eher erschwert und der Komplexität des

Emotionsgeschehens nur höchst unzureichend gerecht wird, zeigen Leventhal und

Scherer in ihrem Modell zur Ablösung der durch das breite Verständnis des Kognitions-

begriffs ausgelösten Kognitions-Emotions-Debatte. Die ihrem Modell unterliegende

Differenzierung zwischen Wahrnehmungsprozessen und kognitiven Prozessen, die von

zwei getrennt arbeitenden Prozeßsystemen organisiert werden, jedoch bei der

Emotionsgenese und -generierung eng miteinander interagieren, finden durch die

Erkenntnisse aus neueren neurobiologischen Forschungen Bestätigung.

Wie in Kapitel 3.3.3.1.2 erörtert, erfolgt die Emotionsgenerierung durch Reizverarbei-

tungsprozesse subkortikaler Hirnregionen, die unter dem Oberbegriff „limbisches System“

zusammengefaßt werden. Hier konnten unterschiedliche Hirnbezirke für die Entstehung,

Organisation und Steuerung spezifischer Emotionen ausgemacht werden. Der Emotions-

ausdruck in Form von körperlichen Reaktionen geht also auf die Aktivitäten des

limbischen Systems zurück. Die kognitive Verarbeitung der Emotionen, d.h. das bewußte

Erleben der Körperreaktionen konnte dagegen im frontalen Bereich des Kortex350

lokalisiert werden.

Der Neurobiologe LeDoux faßt weitere Ergebnisse seiner Forschungsdisziplin zusammen:

��„Bei einer Beschädigung einer bestimmen Hirnregion büßen Tiere und Menschen

die Fähigkeit ein, die emotionale Bedeutung bestimmter Reize zu bewerten,

können diese Reize aber weiterhin als Objekte wahrnehmen. Die perzeptuelle

Repräsentation eines bestimmten Objekts und die Bewertung der Bedeutung

eines Objekts werden vom Gehirn getrennt verarbeitet.

��Die Bewertung der emotionalen Bedeutung eines Objekts kann einsetzen, bevor

die Wahrnehmungssysteme den Reiz vollständig verarbeitet haben. Es kommt

sogar vor, daß Ihr Gehirn weiß, ob etwas gut oder schlecht ist, ehe es genau weiß,

was dieses Etwas ist.

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136

��Die Hirnmechanismen, mit deren Hilfe Erinnerungen an die emotionale Bedeutung

von Reizen registriert, gespeichert und wieder abgerufen werden, unterscheiden

sich von den Mechanismen, mit deren Hilfe kognitive Erinnerungen an dieselben

Reize verarbeitet werden. Werden erstere beschädigt, so vermag ein Reiz mit

einer gelernten emotionalen Bedeutung keine emotionale Reaktion mehr in uns

hervorzurufen, während die Beschädigung der letzteren unsere Fähigkeit

beeinträchtigt, uns zu erinnern, wo wir den Reiz gesehen haben, warum wir dort

waren und mit wem wir zusammen waren.

��Die Systeme, welche die emotionale Bewertung vornehmen, sind direkt mit den

Systemen verbunden, welche an der Steuerung der emotionalen Reaktionen

beteiligt sind. Sind diese Systeme zu einer Bewertung gelangt, treten die

Reaktionen automatisch ein. Dagegen sind die an der kognitiven Verarbeitung

beteiligten Systeme nicht so eng mit Systemen der Reaktionssteuerung

verkoppelt. Kennzeichen der kognitiven Verarbeitung ist eine Flexibilität der

Reaktionen auf der Basis der Verarbeitung. Die Kognition gibt uns

Entscheidungsspielraum. Die Aktivierung von Bewertungsmechanismen engt

dagegen die verfügbaren Reaktionsmöglichkeiten auf einige wenige Optionen ein,

bei denen die Evolution die Klugheit besaß, sie mit dem entsprechenden

Bewertungsmechanismus zu verknüpfen. Diese Verknüpfung zwischen

Bewertungsprozeß und Reaktionsmechanismen bildet den grundlegenden

Mechanismus bestimmter Emotionen.

��Die Verknüpfung zwischen Bewertungsmechanismen und Systemen der

Reaktionssteuerung bedeutet, daß es, wenn der Bewertungsmechanismus ein

signifikantes Ereignis entdeckt, zur Programmierung und oft auch zur Ausführung

von entsprechenden Reaktionen kommt. Im Endergebnis sind Bewertungen oft

von körperlichen Empfindungen begleitet, und wenn diese auftreten, sind sie

Bestandteil des bewußten Erlebens von Emotionen. Da die kognitive Verarbeitung

nicht auf diese obligatorische Weise mit Reaktionen verknüpft ist, ist es weniger

wahrscheinlich, daß intensive körperliche Empfindungen in Verbindung mit bloßen

Gedanken auftreten.“ 351

Diese Aspekte begründen nach LeDoux, daß Emotion und Kognition (hier verstanden als

bewußter Verarbeitungsprozeß) als zwei getrennte, aber miteinander wechselwirkende

mentale Funktionen zu verstehen sind, die durch getrennte, miteinander wechselwirkende

350 Vgl. hierzu auch Damasio, Antonio R.: Descartes’ Irrtum. Denken, Fühlen und das menschliche Gehirn. 6.

Auflage. München 2001. 351 LeDoux, Joseph: a.a.O., S. 75 ff.

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137

Hirnsysteme vermittelt werden.352 Damit stützen die neurobiologischen Forschungsergeb-

nisse nicht nur die von Leventhal postulierte und seiner Emotionstheorie

zugrundeliegende Hypothese, daß Emotion und problemlösendes Denken durch zwei von

einander getrennte Prozeßsysteme organisiert werden, sondern auch die pädagogischer-

seits vertretene Grundauffassung, es handele sich beim Denken und den Gefühlen um

voneinander getrennte Bereiche.

Im folgenden gilt es nun gezielt, die auf dieser Grundauffassung aufbauende pädago-

gische Hypothese, daß der Mensch Kraft seiner intellektuellen Fähigkeiten kontrollierend

und regulierend auf seine Gefühle einwirken, bzw. diese bei Handlungsentscheidungen

gänzlich unberücksichtigt lassen kann, zu untersuchen. Genauer betrachtet handelt es

sich hier um zwei Fragestellungen:

1. Sind Gefühle völlig irrelevant, da Handlungsentscheidungen durch ein rein rationales

Abwägen von Gründen getroffen werden können?

2. Ist es möglich, durch Denken Gefühle so zu beeinflussen, daß sie Handlungsent-

scheidungen unterstützen?

Ad 1: Die sowohl von der neurobiologischen Seite als auch von Leventhal und Scherer

aus der psychologischen Perspektive vertretene These, es handele sich beim Denken

und den Gefühlen um zwei getrennte Prozeßsysteme, ist verbunden mit der Option, daß

diese beiden Systeme in wechselseitiger Abhängigkeit miteinander operieren. Nach

LeDoux besteht die Wechselwirkung darin, daß kognitiven Verarbeitungsprozessen eine

emotionale Bedeutung zugewiesen wird, wobei der emotionalen Reizbewertung die

Funktion zukommt, die durch die kognitive Reizverarbeitung ermittelten Handlungs-

optionen einzuschränken. Demgemäß erfolgt das Abwägen der rational ermittelten

Handlungsoptionen immer auf der Basis der emotionalen Bedeutung, die das Individuum

den einzelnen Handlungsoptionen zumißt. Mithin ist aus dieser Sicht ohne eine gefühls-

mäßige Bewertung einer bestimmten Gegebenheit eine Entscheidung zwischen

verschiedenen Handlungsmöglichkeiten nicht möglich.

Ad 2: Die wechselseitige Abhängigkeit von Denken und Gefühlen läßt sich an Leventhals

mehrstufigem Prozeßmodell der Emotionen veranschaulichen. Von zentraler Bedeutung

sind die Lernprozesse, die zur Entwicklung der Emotionen notwendig sind. Nach

Leventhal wurzelt die Ontogenese der Emotionen in den unterschiedlichen genetisch

352 Vgl. ebd. S. 75.

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138

bedingten körperlichen Reaktionsmustern. Diese zunächst über das senso-motorische

Verarbeitungssystem generierten emotionalen Erlebnisse bilden die Grundlage zur

Entwicklung von Schemata, welche durch die Wahrnehmung einer speziellen emotionalen

Verfassung in Verbindung mit ganz bestimmten Situationskonstellationen gebildet

werden. Diese Schemata sind also zu verstehen als relativ stabile Gedächtnisstrukturen,

in denen die speziellen situationstypischen Komponenten, d.h. die emotionsauslösende

Situation, subjektive Gefühle, Ausdruckserscheinungen und autonome Reaktionen

miteinander verbunden sind. Für Leventhal sind emotionale Schemata vergleichbar mit

konditionierten Reaktionen, denn ein einmal etabliertes Schema kann durch die Konfron-

tation mit einer Komponente dieses speziellen Schemas aktiviert werden. Der Vergleich

der Schemata mit konditionierten Reaktionen, d.h. mit unbewußten Prozessen, die im

Laufe der Entwicklung Veränderungen durchlaufen, in der Form, daß sie gelöst werden

von der wahrnehmungsnahen Orientierung und von konkreten Situationen, ausdifferen-

ziert und operationalisiert werden, verweist auf ihre Resistenz gegenüber Beeinflussung

durch rationale Denkprozesse. Wie in dem integrativen Modellentwurf von Leventhal und

Scherer betont wird, sind die emotionalen Schemata für die situationsabhängige Genese

von Emotionen von zentraler Bedeutung, denn nach der Vermutung der Autoren werden

die meisten, wenn nicht alle emotionalen Prozesse bei einem Erwachsenen von der

Schemataebene aus initiiert, wobei ein Reiz, der auch auf der senso-motorischen Ebene

verarbeitet wird, die emotionale Reaktion verstärken kann. Die begriffliche Ebene ergänzt

die ontogenetische Entwicklung der Emotionen, denn ihr kommt neben der Erinnerung

und willentlichen Beeinflussung von emotionalen Reaktionen vor allem die Funktion zu,

die Schemataklassen auszudifferenzieren, die auf abstraktere Ereignisse bezogen sind.

Während die Prozesse auf der senso-motorischen Ebene und der Schemataebene

unbewußt ablaufen, erfolgt die begriffliche Verarbeitung bewußt und willentlich. Nach

Leventhal sind also bewußte Denkprozesse ein grundlegender Bestandteil für die

Entwicklung von Emotionen. Hierbei geht es jedoch zunächst allein um die bewußte

Verarbeitung und willentliche Gestaltung emotionaler Reaktionen.

Daß die begriffliche Verarbeitung emotionaler Reaktionen nicht die einzige Verbindung

zwischen Denken und Gefühlen darstellt, wird daran deutlich, daß Leventhal die

ontogenetische Entwicklung der Emotionen in ein Modell für adaptives Verhalten

einbindet. In diesem Modell ordnet er dem adaptiven Verhalten zwei hierarchisch

organisierte, parallel und interaktiv arbeitende Prozeßsysteme zu, das emotionale und

das problemorientierte.353 Die Repräsentation und Interpretation eines Reizes auf dem

353 Vgl. oben S. 112.

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139

emotionalen Prozeßverarbeitungsstrang erfolgt durch die Verarbeitung einer Information

auf einer oder mehrerer der emotionalen Reizverarbeitungsebenen. Ausgehend von der

jeweiligen Reizbewertung, die eine bestimmte Emotion erzeugt, erfolgt die Planung der

Handlungsstrategien für die emotionale Situationsbewältigung und als dritter Schritt die

Bewertung der Handlung. Der gleichzeitig auf dem problemorientierten Prozeßverar-

beitungsstrang repräsentierte Reiz durchläuft parallel zur emotionalen Verarbeitung die

gleichen Prozeßverarbeitungsschritte der Handlungsplanung zur Situationsbewältigung

und daran anschließend die Handlungsbewertung. Nach Leventhal arbeitet dieses

System außerordentlich schnell und rekursiv, demzufolge bauen einerseits die einzelnen

Prozeßverarbeitungsschritte aufeinander auf, zum anderen wirken die Bewertungen der

Handlungsabfolgen wiederum zurück auf die Interpretation und Repräsentation von

Reizsituationen. Dabei beeinflussen die einzelnen problemorientierten Verarbeitungs-

schritte die emotionalen, ebenso wie die emotionalen die problemorientierten. Von

besonderer Bedeutung ist die wechselseitige Rückwirkung der Bewertung der Situations-

bewältigung auf die jeweiligen Reizrepräsentationen und -interpretationen auf den beiden

Verarbeitungssträngen. D.h. die Bewertung der problemorientierten Handlung wirkt nicht

nur auf die problemorientierte, sondern auch auf die emotionale Reizrepräsentation,

ebenso wie die Bewertung der emotionalen Situationsbewältigung nicht nur die

emotionale, sondern auch die problemorientierte Reizrepräsentation beeinflußt. Ganz

konkret folgt daraus für die emotionale Reizverarbeitung: die oben explizierten emotio-

nalen Reizverarbeitungsebenen: die senso-motorische, die Schemataebene und die

begriffliche Ebene werden durch die auf beiden Verarbeitungssträngen für die Situations-

bewältigung als angemessen erachteten Tätigkeit und deren Bewertung beeinflußt.

Demgemäß führt diese Bewertung entweder zur Bestätigung des Ausgangsschemas,

wenn die Situationsbewältigungshandlungen zum erwarteten Ergebnis führen oder aber,

wenn die Bewertung nicht dem Ausgangsschema entspricht, zu Irritation und dadurch

möglicherweise zur Modifikation/Ausdifferenzierung des für die entsprechende

Situationskonstellationen gespeicherten emotionalen Schemas.

Nach Leventhals Modell des adaptiven Verhaltens ist die Bewältigung einer Situation also

einerseits abhängig von der emotionalen Bedeutungszuweisung und andererseits von den

kognitiven Fähigkeiten, verstanden als bewußte Denkprozesse. Und folgt man dem

Postulats der beiden rekursiv arbeitenden und interagierenden Prozeßverarbeitungs-

stränge, so ist die Differenzierung und Modifizierung der emotionalen Schemata abhängig

von der dem Individuum zur Verfügung stehenden Anzahl an Problemlösestrategien und

das heißt von einem Wissensreservoir, auf das zurückgegriffen werden kann, um

verschiedene Problemlösungsstrategien zu entwickeln. Weitere Konsequenzen sind, daß

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140

diese wechselseitige Beeinflussung einerseits vornehmlich in Handlungssituationen

stattfinden kann, zum anderen, daß die Bewältigung und Bewertung dieser Handlungs-

situationen Lernprozesse für beide Prozeßverarbeitungssysteme entscheidend beeinflußt.

Diese wechselseitige Interaktion und Beeinflußbarkeit läßt sich treffend an dem oft

rezipierten Beispiel der ‚Begegnung eines Menschen mit einem Bären’ von William James

verdeutlichen: Die Art und Weise, wie ein Mensch die Situation: Begegnung mit einem

Bären interpretiert und bewältigt, ist abhängig von der je individuellen Vorgeschichte und

der körperlichen Verfassung, der eigenen Wahrnehmung, dem Wissen um Handlungs-

strategien, der persönlichen Zielsetzung etc. So wird ein in der Jagd auf Bären erfahrener

Mensch, der mit den notwendigen Jagdgeräten ausgestattet ist und sich seiner dieser

Situation entsprechend erprobten Handlungsstrategien bewußt ist, dem Tier, falls er auf

Bärenjagd ist, höchstwahrscheinlich freudig erregt gegenübertreten. Unter veränderten

Umständen kann die gleiche Person jedoch, bspw. aufgrund einer schlechten körper-

lichen Verfassung oder des Fehlens einer wirksamen Waffe mit Verstecken reagieren.

Andere Menschen mögen dagegen gemäß ihres individuell gelernten emotionalen

Schemas und in Abhängigkeit ihrer je eigenen Situationsbewältigungsstrategien vor

Schreck erstarren, auf einen Baum klettern oder weglaufen. Ein kleines Kind jedoch, daß

bisher noch nicht gelernt hat, daß die Begegnung mit einem Bären mit einem gewissen

Gefahrenpotential verbunden ist, wird möglicherweise neugierig auf das Tier zugehen und

es streicheln wollen. Die Bedeutung, die dieser Situation zugewiesen wird, ebenso wie die

Handlungsplanung zur Bewältigung der Situation, erfolgt also auf der Basis einer Kombi-

nation von gelerntem Sachverhaltswissen, erworbener individueller Selbsteinschätzung

und erprobter Handlungserfahrung.

Die Hypothese von zwei unterschiedlichen Prozeßverarbeitungssystemen zur Situations-

bewältigung einerseits und die Abhängigkeit der emotionalen Repräsentation, d.h. der

Bedeutungszuweisung eines Reizes von gelernten Schemata, die dem Bewußtsein nur

schwer zugänglich sind, andererseits, bietet nicht nur eine Erklärung für die Resistenz

individueller emotionaler Reaktionen auf ganz bestimmte Reizkonstellationen gegenüber

reiner Wissensvermittlung, sondern macht darüber hinaus deutlich, in welch wechsel-

seitiger Abhängigkeit Denken und Gefühle Situationseinschätzungen, -bewältigungen und

Handlungsbewertungen organisieren. Mithin werden dadurch auch die Grenzen der

wechselseitigen Beeinflußbarkeit aufzeigbar. Danach ist es wohl möglich, durch willent-

liche Anstrengung den Ausdruck von Gefühlen bis zu einem gewissen Grade zu kontrol-

lieren, nicht möglich ist jedoch, allein durch das Denken, auch unter der Berücksichtigung,

daß es in hohem Maße von Sachverhaltswissen bestimmt wird, erstens die Initiierung von

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141

ganz bestimmten Gefühlszuständen zu verhindern und zweitens in der Form eines ein-

seitig kausalen Wirkgefüges, Gefühle so zu beeinflussen, daß sie Handlungsentschei-

dungen unterstützen.

3.5 Zusammenfassung und Diskussion der bisherigen Ergebnisse

mit Blick auf die Aufgabenstellung der Pädagogik

Im Problemaufriß dieser Arbeit wurde als die grundsätzliche Aufgabenstellung der

Pädagogik die Erforschung des Menschen mit dem Blick auf seine Erziehbarkeit und

Bildsamkeit ausgemacht und in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, daß die

Untersuchung dieser Fragestellung untrennbar verbunden ist mit der Klärung der Aspekte,

die den Menschen in seiner ihm eigenen Verfaßtheit ausmachen. Die vor dem Hinter-

grund der Fragestellung, was das Wesen des Menschen ausmache und was demzufolge

die Aufgabe der Pädagogik sei, an zwei beispielhaft ausgewählten pädagogischen

Anthropologien angestellten Untersuchungen haben ergeben, daß der Fokus der

Pädagogik auf der Förderung der intellektuellen Fähigkeiten des Menschen liegt. Beiden

Werken unterliegt das Ziel, den Menschen zu der ihm eigenen Freiheit zu verhelfen,

verstanden im Sinne einer doppelten Freiheit, als ein Freimachen von natur- und

sozialisationsbedingten Zwängen und daran gebunden das Freisein für ein Handeln unter

selbstgesetzten moralischen Prinzipien. Die Realisierung dieser Zielsetzung wurde bei

Zdarzil abhängig gemacht von dem Einüben des kindlichen Willens in eine vom Erzieher

vorgesetzte Form der Sittlichkeit, von der es sich nach gelungener Internalisierung mittels

der Reflektionsfähigkeit zu distanzieren gilt, während sie nach Roth abhängig ist von dem

sich unter Nutzung der Lernfähigkeit entwickelnden Wissenspotentials. Während Zdarzil

in diesem Zusammenhang aufgrund der nach ihm den Menschen auszeichnenden

Fähigkeit, zu sich selbst in Distanz treten zu können, den Gefühlen keinerlei Bedeutung

beimißt, kommt ihnen nach Roth bei Werturteilen und Handlungsmotivationen eine Rolle

zu. Beide Autoren gehen jedoch gleichermaßen von einer Dichotomie von Intellekt und

Gefühlen aus, wobei dem Intellekt die Vorherrschaft über die Gefühle zukommt.

Gemäß der oben angestellten kritischen Erörterung der psychologischen

Emotionstheorien, welche zu einem Votum für das integrative Emotionsmodell von

Leventhal und Scherer und insbesondere für das dem diesem Modell zugrundeliegende

Leventhalsche Modell der Ontogenese geführt hat, dessen Grundannahmen durch die

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142

neuesten neurobiologischen Forschungserkenntnisse Bestätigung finden, sind beide

Annahmen, die einer Dichotomie von Gefühlen und Intellekt ebenso wie die des Primates

des Geistes über die Gefühle nicht in der rigiden Form haltbar. Vielmehr wird hier

postuliert, daß die dem Menschen eigene Verfaßtheit durch das Zusammenwirken beider

Komponenten, den Gefühlen und dem Denken, bestimmt wird. Für die Pädagogik ist in

bezug auf die Gefühle die Erkenntnis von besonderer Bedeutung, daß nicht nur die

Ausbildung der intellektuellen Fähigkeiten, sondern auch die Gefühlsdifferenzierung

abhängig ist von Lernprozessen. Gemäß des Leventhalschen Modells kann davon

ausgegangen werden, daß die Lernprozesse für die Differenzierung unterschiedlicher

Gefühle auf einer genetisch bedingten, nahezu rein von der Befindlichkeit des

Organismus bestimmten Initiierung von Gefühlen aufbauen. Als Bestätigung für die

genetische Grundlage der Gefühlsdifferenzierung können einmal die von Paul Ekman

bisher eruierten überkulturellen Ähnlichkeiten in den mimischen Ausdruckserscheinungen

für Furcht, Ärger, Ekel, Kummer, Freude und Überraschung gewertet werden. Ekmans

Untersuchungen zu dem emotionalen Ausdrucksgeschehen haben ebenfalls ergeben,

daß es keine universalen Auslöser für die spezifischen Gefühle gibt, dagegen sind

Tendenzen bei den unterschiedlichen Auslösern auszumachen, wie bspw. Ekel meist in

Verbindung mit Geschmacksreizen auftritt, die eher giftig sind, oder Überraschung durch

das Auftreten eines unerwarteten, eher plötzlich auftretenden Reizes ausgelöst wird,

während Angstauslöser alle mit dem Merkmal des potentiell Schädlichen oder

Schmerzlichen verbunden sind354.

Die genetische Determination für die Entwicklung ganz bestimmter Gefühle zeigt sich zum

anderen auch daran, daß es nicht möglich ist, jemanden Angst zu lehren, oder Scham,

Interesse, Mitleid, Trauer, Glück etc. Wäre ein Mensch nicht dazu in der Lage, aus

eigenem Antrieb das typische Reaktionsspektrum für bspw. Angst, Ekel, Scham oder

Ärger zu entwickeln, es wäre nicht möglich, ihn zu lehren, diese Gefühle zu empfinden.

Zwar kann man versuchen zu vermitteln, welche Symptome die jeweiligen Gefühle

begleiten, jedoch ist es für einen Menschen nicht möglich, willentlich einen solchen

Zustand herzustellen, wenn er ihn noch nicht erlebt hat.

Die körperlichen Komponenten der Gefühle basieren also auf einem genetisch bedingten

Reaktionsmuster, welches im frühen Entwicklungsstadium relativ erinnerungsunabhängig

eng an die aktuelle organismische Befindlichkeit gebunden ist, wobei das Ausdrucksge-

schehen vornehmlich der Kommunikation der jeweiligen Empfindung dient und im

354 Vgl. oben die Ausführungen zu Ekman, Paul: S. 84 ff. besonders S. 85.

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143

Vordergrund steht. Dabei ist das emotionale Befinden, wie die bereits erwähnten Unter-

suchungen von Spitz belegen, nicht allein ein Parameter für grundlegende körperliche

Versorgungszustände, sondern steht auch in enger Wechselwirkung mit den Erlebnis-

möglichkeiten im sozialen Bezug. Die Tatsache, daß die genetische Grundlage für die

Initiierung von Gefühlen sowohl die rein biologische Versorgung als auch die soziale

Fürsorge des Organismus umfaßt, weist darauf hin, daß die soziale Fürsorge von

existentieller Bedeutung für die Entwicklung des Individuums ist, was ja auch durch Spitz’

Untersuchungen bestätigt wurde355.

Nach Leventhal bilden diese rein körperlichen (senso-motorischen) Reaktionen die

Grundlage für die Ausbildung emotionaler Schemata, d.h. mit dem Fortschreiten der

Entwicklung findet über Lernprozesse eine Verknüpfung von ganz spezifischen Kompo-

nenten, der emotionsauslösenden Situation, dem subjektiven Gefühlserleben, den Aus-

druckserscheinungen und den autonomen Reaktionen statt. Diese Verbindung der

einzelnen körperlichen Reaktionen mit ganz bestimmten situativen Gegebenheiten führt

dazu, daß nicht mehr allein die organismische Befindlichkeit, sondern die Begegnung mit

einer Komponente, die Teil einer Schemaerinnerung ist, gefühlsauslösend wirken kann.

Diese emotionale Auszeichnung einer Situation durch unbewußt etablierte, relativ stabile

Gedächtnisstrukturen bildet eine Grundlage für das eine Situationsbewältigung organi-

sierende adaptive Verhalten. Leventhal postuliert, daß das adaptive Verhalten durch zwei

von einander getrennt arbeitende Prozeßverarbeitungssysteme organisiert wird, dem

emotionalen und dem problemorientierten, die jedoch miteinander interagieren. Die

Situationseinschätzung durch emotionale Schemata einerseits und die getrennte

Organisation des Handlungsvollzuges und der Handlungsbewertung andererseits bieten

ein Erklärungsmuster für eine Reihe von in Verbindung mit den Gefühlen beobachtbaren

Eigentümlichkeiten:

1. Die emotionale Einschätzung einer Situation oder eines Reizes erfolgt außer-

ordentlich schnell, nach LeDoux manchmal schon bevor das Gehirn weiß, um was es

sich handelt.

2. Emotionale Einschätzungen vermitteln den Eindruck von Verläßlichkeit, Richtigkeit,

Authentizität – das sogenannte „Gefühl im Bauch“.

3. Emotionale Einschätzungen können täuschen.

4. Emotionale Einschätzungen sind nur mühevoll und höchstwahrscheinlich nicht in

Gänze rational nachvollziehbar.

355 Vgl. oben S. 35.

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144

5. Emotionale Einschätzungen sind relativ resistent gegenüber rationaler

Argumentation.

Ad 1: Wenn die Aktivierung eines emotionalen Schemas durch eine Wahrnehmung einer

seiner Komponenten erfolgt, so ist eine emotionale Einschätzung eines Reizes vor der

bewußten Wahrnehmung möglich. Angenommen man wacht in der Dunkelheit von einem

bisher nicht bekannten Geräusch auf, so wird man mit hoher Wahrscheinlichkeit zunächst

mit Erregung und/oder Furcht reagieren, ohne genau bestimmen zu können, was das

Geräusch initiiert hat.

Ad 2: Wenn man berücksichtigt, daß die emotionalen Schemata unbewußt durch das

mehrmalige Erleben der gleichen oder sehr ähnlichen Situationskonstellationen erzeugt

werden, kann der Eindruck von Verläßlichkeit oder Richtigkeit eines „Gefühles im Bauch“

dadurch Bestätigung finden, daß eine Situationsbewältigung und deren Bewertung der

durch ein emotionales Schema erfolgten emotionalen Repräsentation entspricht. Ein

gutes Beispiel für eine solche Gegebenheit sind Prüfungssituationen. Angenommen eine

Person hat mehrmals die Erfahrung gemacht, daß sie trotz erheblichen Lernaufwands und

nachweisbaren intellektuellen Fähigkeiten, sich den jeweiligen Prüfungsstoff erarbeiten zu

können, in mündlichen Prüfungssituationen nicht in der Lage ist, das erarbeitete Wissen

adäquat zu vermitteln. Gemäß der Theorie der Schemata wird aufgrund der Erfahrung die

emotionale Situationseinschätzung zu einem sehr hohen Aufregungszustand führen mit

der Konsequenz, daß sowohl die Konzentrationsfähigkeit als auch die sprachlichen

Fähigkeiten außerordentlich leiden. Wenn in der Prüfungssituation dieser

Aufregungszustand nicht aufgehoben werden kann, was in diesem Falle in hohem Maße

auch von dem Verhalten des Prüfers abhängig ist, wird die erneute durch den Auf-

regungszustand bedingte mangelnde Prüfungsleistung das bisherige emotionale Schema

bestätigen. Andererseits könnte eine wider Erwarten gute Prüfungsleistung dazu führen,

das bisherige Schema zumindest zu irritieren. Die letztere Möglichkeit führt zu Punkt 3:

emotionale Einschätzungen können täuschen.

Ad 3: Die Möglichkeit, daß ein aufgrund einer Komponente eines repräsentierten Reizes

aktiviertes emotionales Schema täuschen kann, ist zumindest bei nicht sehr ausdifferen-

zierten Schemata sehr hoch. Nehmen wir als Beispiel den Umgang eines kleineren

Kindes mit dem der Familie angehörigen Haustier bspw. einem Hund. Ein Kind, welches

mit einem Hund aufgewachsen ist und keinerlei schlechte Erfahrungen mit diesem Tier

gemacht hat, wird vollkommen unbefangen und freundlich auf jedes ähnlich aussehende

Tier zugehen, es streicheln wollen, mit ihm spielen wollen. Das emotionale Schema:

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145

vertrauensvoller spielerischer Umgang mit einem Hund wird erst dann gestört, wenn das

Kind einmal die Erfahrung gemacht hat, daß ein Hund schmerzhaft zubeißen kann. Dies

kann zu einer rigiden Änderung des Schemas führen, wenn es der Hund ist, mit dem das

Kind das ursprüngliche Schema erworben hat. Wenn es jedoch ein fremder Hund ist,

kann es zu einer Ausdifferenzierung des Schemas bezüglich des Umgangs mit Hunden

führen. Der dem eigenen Haushalt angehörige Hund ist lieb und gut, fremde Hunde böse

und gefährlich. D.h. eine Änderung bzw. Ausdifferenzierung eines emotionalen Schemas

erfolgt durch die nicht adäquate Situationsbewältigung und deren Bewertung.

Ad 4: Durch die Annahme, daß emotionale Schemata auf unbewußt gespeicherte

Erinnerungsstrukturen zurückgehen, läßt sich erklären, warum es schwierig ist, bewußt

nachzuvollziehen, warum bestimmte Situationen bestimmte Gefühle hervorrufen. Die

grundsätzliche Problematik läßt sich sehr gut verdeutlichen an dem oben bereits

erwähnten Beispiel des kleinen Albert.356 Bei diesem ca. 11 Monate alten Baby wurden mit

der Methode des klassischen Konditionierens Furcht vor einer weißen Ratte erzeugt,

gegenüber der er zu Beginn des Versuches keinerlei ängstliche Reaktionen zeigte. Wie

sich im weiteren Verlauf des Versuches herausstellte, übertrug Albert nicht nur seine

Furcht vor der Ratte auf ähnlich aussehende Reize wie einem Kaninchen, einem Hund,

einem Pelzmantel aus Seehundfell und einer Nikolausmaske (mit einem weißen Bart) (!),

darüber hinaus zeigte sich, daß die Furchtreaktionen über einen bestimmten Zeitraum

hinweg erhalten blieben, denn nach einem Monat, in dem keinerlei Versuche mit ihm

stattfanden, zeigte das Baby weiterhin die gleichen Furchtreaktionen nicht nur gegenüber

der Ratte, sondern auch gegenüber allen übrigen vorher genannten Objekten. Die

Überprüfung, ob diese Furchtreaktion sich experimentell beseitigen lasse, der letzte Teil

dieser Versuchsreihe, konnte nicht durchgeführt werden, da das Baby vorher aus dem

Heim, in dem das Experiment stattfand, entlassen wurde.357

Der Versuch mit dem kleinen Albert zeigt, daß es aufgrund des Transfers einzelner

Komponenten eines emotionalen Schemas auf andere Objekte außerordentlich schwierig

ist nachzuvollziehen, wo die Ursache für einzelne Gefühlsempfindungen liegen. Denn

selbst wenn möglicherweise einzelne Schlüsselsituationen eruiert werden könnten, würde

356 Vgl. hierzu Meyer, Wulf-Uwe; Schützwohl, Achim; Reisenzein, Rainer: a.a.O. (1997), S. 56 ff. und oben

S. 29. 357 In diesem Zusammenhang wird jedoch von einem weiteren Experiment mit einem fast drei jährigem

Jungen berichtet, der ähnlich wie Albert Furcht vor einer weißen Ratte, vor Kaninchen, Baumwolle etc. zeigte. Über einen Zeitraum von zwei Monaten gelang es der Versuchsleiterin durch wiederholtes Präsentieren der Ratte zeitgleich mit einem Reiz, der bei dem kleinen Jungen positive Reaktionen

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146

es sich schwierig gestalten, nachzuvollziehen, ob und welche Komponente des Schemas

auf andere Objekte übertragen werden. Darüber hinaus ist – und das leitet über zu dem

nächsten Punkt – durch die Aufklärung über die subjektspezifische Emotionsgenese

allein, die an gewisse Situationskonstellationen gebundene Entstehung einer Emotion

nicht wirkungsvoll zu verhindern.

Ad 5: Die Resistenz emotionaler Einschätzungen gegenüber rationaler Argumentation

wurde oben schon an mehreren Stellen angesprochen. Durch die von neurobiologischen

Forschungsergebnissen unterstützte Annahme Leventhals, daß es sich bei der emotio-

nalen und der rationalen Prozeßverarbeitung um zwei getrennt arbeitende Systeme

handelt, läßt sich dieses Phänomen erklären. Wenn die Reizbewertung auf dem emotio-

nalen und dem problemorientierten Prozeßverarbeitungsstrang unabhängig voneinander

erfolgt, wird eine rein rationale Bearbeitung einer emotionsauslösenden Situation nur

geringen Einfluß auf die Auslösung einer Emotion haben, die über ein emotionales

Schema gemäß eines Reiz-Reaktions-Mechanismus hervorgerufen wird.

Gerade für die geringe Beeinflußbarkeit von Gefühlen durch Argumente gibt es eine Fülle

von Beispielen. Am bekanntesten sind die Gegebenheiten, die Ängste hervorrufen: um

nur einige wenige zu nennen: die Angst vor Spinnen, Schlangen, Versagensängste bei

Prüfungen oder allgemein Panikattacken. Wenn die Ängste übermächtig werden, ist es

eine Aufgabe der Tiefenpsychologie, durch Gespräche dem Auslöser der jeweiligen

Gefühle nachzugehen, um sie auf diesem Wege zu mildern, jedoch wird hier eine lange

Behandlungsdauer benötigt, die häufig nicht das gewünschte Resultat zeigt. Mehr Erfolg

versprechen andere Behandlungsmethoden. Zu diesen gehört einmal die „systematische

Desensibilisierung“358, eine Technik bei der sich der Patient im Zustand der Entspannung

angstauslösende Situationen vorstellt. Durch den Entspannungszustand soll die Angst-

reaktion auf den vorgestellten Reiz beseitigt werden. Eine der wirkungsvollsten Methoden

ist das „Anti-Angsttraining“ 359 oder auch „konfrontative Therapie“360 genannt. Hier wird den

Personen zur Aufgabe gemacht, sich in kleinen Schritten tatsächlich ihrer speziellen

angstbesetzten Situation auszusetzen und diese auszuhalten mit dem Ziel, das Vertrauen

in die eigene Kraft, die angstbesetzte Situation bewältigen zu können, wiederherzustellen.

auslöste, die Angst vor dem Tier zu beseitigen. Nicht berichtet wird leider, ob die übrigen Objekte ebenfalls keine Furcht mehr auslösten. Vgl. Meyer, Schützwohl, Reisenzein: a.a.O. (1997), S. 64 f.

358 Vgl. ebd. S. 65 f. 359 Vgl. http://www.angst-auskunft.de - 02.07.02, 8.25 Uhr. 360 Vgl. http://www.hr-online.de/fs/servicenatur/archiv/061199.html - 02.07.02, 8.30 Uhr.

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Zusätzlich werden Informationen über die körperlichen Reaktionen und die ursprüngliche

Funktion der Angst geliefert. Der mit dieser Methode in relativ kurzer Zeit zu erzielende

Behandlungserfolg liefert ein weiteres Indiz für die Berechtigung der Annahme, daß

Situationseinschätzungen über emotionale Schemata erfolgen, welche in Verbindung mit

den problemlösenden Bewältigungsstrategien vor allem im Handlungsvollzug verändert

werden können.

Bei diesem Punkt ist das genaue Verständnis von rationaler Argumentation zu beachten.

Hier geht es um rationale Erklärungsmuster und Beschwichtigungsversuche, wie „Du

mußt keine Angst haben, die Spinne (der Hund, die Schlange) tut Dir nichts“, bzw. in

Verbindung mit Flugangst, die Vorlage von Statistiken, die beweisen, daß Fliegen im

Vergleich zum Straßenverkehr sehr viel weniger gefährlich ist. Dies berührt jedoch nicht

die fraglos gegebene Möglichkeit, durch die Assoziation von bestimmten Gegebenheiten,

Gefühle hervorrufen zu können, bzw. die Entwicklung einer durch die Reizbewertung

einer aktuellen Gegebenheit ausgelösten Emotion zu beeinflussen. In diesem Falle wird

jedoch das mit der realen Situation verbundene emotionale Schema durch das mittels der

Assoziation hervorgerufenen Situationskonstellation verbundene emotionale Schema

ersetzt. Gerade die Möglichkeit, durch die gedankliche Vorstellung von bestimmten

Gegebenheiten Emotionen hervorzurufen bzw. mittels der Assoziation anderer Situati-

onen eine aktuelle Gefühlsempfindung zu beeinflussen, ist eine weitere Bestätigung für

die Annahme der Emotionsgenerierung durch emotionale Schemata, da in diesem

Zusammenhang gilt, daß der Aktivierung einer Komponente (hier die Vorstellung einer

bestimmten Gegebenheit) die Aktivierung aller anderen Komponenten des emotionalen

Schemas auslöst.

Wie die Erörterung der vorstehenden Punkte zeigt, lassen sich mittels der Theorie der

Initiierung von Gefühlen durch emotionale Schemata und deren Einbindung in ein Modell,

in welchem die Organisation des adaptiven Verhaltens durch zwei von einander

getrennten aber interagierenden Prozeßverarbeitungssystemen erfolgt, einige der den

Gefühlen anhaftenden „Mysterien“ klären. Darüber hinaus wurde auch deutlich, daß die

emotionale Entwicklung vor allem in Zusammenhang mit Lernprozessen erfolgt, die an

Handlungen gebunden sind. Dabei kann grundlegend davon ausgegangen werden, daß

die Entwicklung der Gefühle rekurriert auf die Fähigkeit des Organismus, je individuelle

situationsabhängige körperliche Befindlichkeiten zu signalisieren. Diese Signalfunktion

basiert auf einer zur Lebenserhaltung notwendigen genetischen Ausstattung. Die

anfänglich spontane genetisch bedingte Gefühlsinitiierung über die rein körperlichen

Zustände wird nach Leventhal jedoch recht schnell erweitert durch die Verbindung von

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prägnanten Situationskomponenten zu festen Erinnerungsstrukturen. Hier sind bereits die

Handlung als Situationsbewältigung und daran anschließend die Bewertung der Hand-

lungsbewältigung mit eingebunden, denn sehr schnell lernt das Kleinkind, welche

Aktivitäten – und seien es zunächst nur stimmliche oder motorische Gefühlsäußerungen –

dazu beitragen, situative Gegebenheiten zu verändern, d.h. Entwicklung und Ausdifferen-

zierung der emotionalen Schemata erfolgt in Abhängigkeit von Handlungsvollzügen. Wie

oben expliziert bietet nach Leventhal erst die Verbindung der emotionalen Bedeutungs-

zuweisung mit den beiden das adaptive Verhalten kennzeichnenden rekursiv arbeitenden

Verarbeitungssträngen, der emotionalen und der problemlösenden Prozeßverarbeitung,

die Möglichkeit zur Entwicklung des emotionalen und des problemorientierten Bewälti-

gungshandelns einerseits und zur Veränderung der Reizrepräsentation auf beiden

Verarbeitungssträngen andererseits.

Daß bereits neben Nahrung und Pflege des Körpers im frühesten Lebensalter die aus-

reichende soziale Fürsorge mit in die grundlegende emotionale Bewertung der körper-

lichen Befindlichkeit einbezogen wird, wurde oben bereits angesprochen. Leventhal und

Scherer folgen dieser Annahme, indem sie postulieren, auch auf der senso-motorischen

Ebene würden alle Reizprüfungssequenzen durchlaufen, d.h. auch auf dieser Ebene wird

die Prüfung eines Reizes auf die Normen- und Selbstvereinbarkeit angenommen.361 Zwar

räumen sie ein, daß es schwer sei, auf dieser Ebene die Prüfung der Vereinbarkeit des

Selbstkonzeptes mit sozialen und persönlichen Normen zu konzeptualisieren, da diese

frühen Entwicklungsschritte durch die individuelle komplexe Sozialisationsgeschichte

verdeckt würde. Dennoch nehmen sie an, daß das Erlebnis von Angenehmheit bzw.

Unangenehmheit als Folge der kindlichen Aktivitäten zur Bildung dessen führt, was

akzeptabel bzw. normgerecht ist. Demgemäß wird in diesem frühen Entwicklungsstadium

durch die emotionale Einschätzung die Bildung des Selbstkonzeptes grundgelegt.

Leventhal hat in seinem Konzept zur emotionalen Entwicklung die prägende Kraft dieser

frühen Lernprozesse herausgestellt362, indem er ausführt, daß die Art wie die frühen

senso-motorischen emotionalen Äußerungen des Kindes von den Bezugspersonen

beantwortet werden, den späteren Ausdruck nachhaltig beeinflussen. So wird ein Kind,

dessen emotionale Äußerungen vornehmlich verhalten beantwortet werden, lernen, seine

Freude, seinen Ärger und seine Wut eher verhalten auszudrücken. Dagegen lernt ein

Kind seine Gefühle ausdrucksstärker zu zeigen, wenn es zu aktionsreichen

Verhaltensäußerungen motiviert wird, d.h. seinem Lachen und dem Ausdruck der Freude

durch heftige Bewegungen der Gliedmaßen wird mit Lachen und Bewegungsunter-

361 Vgl. Leventhal, Howard; Scherer, Klaus:: a.a.O. (1987) S. 19 f, siehe hierzu auch oben S. 127.

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stützung begegnet. Die bedeutende Rolle der Lernprozesse bei der Gestaltung des

Ausdrucksverhaltens bestätigen auch die Untersuchungen von Ekman. Wie einige

psychologische Untersuchungen deutlich gemacht haben, wirkt sich das Ausdrucks-

geschehen jedoch nicht einwandfrei nachweisbar auf die Gefühlsempfindung aus, d.h.

selbst wenn verhaltene Gefühlsäußerungen eingeübt werden, bedeutet das nicht

gleichzeitig, daß ein anderes Gefühlsempfinden vorherrscht, als bei sehr ausdrucks-

starken Gefühlsäußerungen.

Zusammenfassend sind für die Pädagogik die Ergebnisse der psychologischen Unter-

suchungen der Emotionen zwei Rubriken zuzuordnen: der Genese der Emotionen und

der Funktion der Emotionen. Bezüglich der Genese der Emotionen gibt es hinreichend

Beweise für die Annahmen, daß die Initiierung der Gefühle auf einer genetischen

Grundlage basiert, die Zuordnung von Gefühlen zu ganz bestimmten Auslösern gelernt

wird, wobei bei den Auslösern für ganz bestimmte Gefühle Tendenzen festzumachen sind

und die Ausdrucksstärke der Gefühlsverfaßtheit und der Umgang mit dem Gefühlserlebnis

gelernt wird. Die Funktion der Gefühle ist vor allem im Handlungszusammenhang zu

verstehen. Hier schaffen sie Bedeutungszuweisungen, wirken dadurch als notwendige

Orientierung für Handlungsbewältigung und -bewertung und bilden in dieser Funktion die

Grundlage für ein Selbstkonzept.

Wie oben bereits erwähnt sind unter dem Gesichtspunkt, daß Gefühle Situationen je

unterschiedliche Bedeutungen zuweisen und dadurch auch Überlegungen zu Handlungs-

bewältigungsstrategien und deren Bewertung lenken, als natürliche und sozialisations-

bedingte Gegebenheit nicht zu vernachlässigen. Berücksichtigt man weiterhin, daß die

emotionale Situationsbewertung durch unbewußte emotionale Schemata erfolgt, die

gelernt werden, birgt gerade die Vernachlässigung des Gefühlsbereichs, bzw. deren

Verortung unter das Primat der intellektuellen Fähigkeiten die Gefahr, jedweder

Erziehungsbemühung, die nicht auf die Entwicklung des Intellekts gerichtet sind, nur

einen geringen Wert beizumessen. Die Problematik dabei ist, daß eine solche Position

impliziert, ein Wissen um bestimmte Sachverhalte, Tatbestände, begründete normative

Forderungen führe dazu, daß die Werthaftigkeit der jeweils als erstrebenswert vermittelten

Gegenstände erkannt und damit gleichzeitig zur Richtschnur für Handlungsentscheidun-

gen gemacht würde. Wäre dem jedoch so, wäre das Erziehungsgeschäft ab einem

gewissen Alter sehr einfach und darüber hinaus der größte Teil des Strafvollzuges

überflüssig, da allein die Vermittlung von normativen Vorgaben, Pflichten und gesetz-

362 Vgl.: Leventhal, Howard: a.a.O. (1984), S. 283.

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150

lichen Vorschriften in Verbindung mit einer rationalen Begründung für ihre Berechtigung

zu ihrer Einhaltung führen würde. Die Erfahrung mit der Lebenswirklichkeit zeigt, daß dem

nicht so ist, und eine mögliche Erklärung dafür bietet das oben explizierte Konzept der

Situations- oder Reizbewertung durch emotionale Schemata.

Wenn aber die emotionale Bedeutungszuweisung an Lernprozesse gebunden ist, können

Gefühle nicht notwendig „von Natur aus“ signalisieren, was „richtiges und was falsches“

Handeln ist, womit einer genetisch bedingten Gefühlsethik jegliche Grundlage entzogen

wird.363 Demgemäß muß Roths Position der unendlichen Lernfähigkeit auch in Gänze auf

den emotionalen Bereich Anwendung finden.

Diese Position der von Lernprozessen abhängigen Entwicklung der Emotionen macht

deutlich, daß die Gefühle zwar auf einer genetischen Grundlage basieren, diese Grund-

lage jedoch nur die Bedingung der Möglichkeit zur Ausdifferenzierung unterschiedlichster

Gefühle darstellt. Die Zuweisung einzelner Gefühle zu den jeweiligen Auslösern wird

gelernt und nach Leventhal unbewußt in Form von festen Erinnerungsstrukturen

abgespeichert. Ausgehend davon, daß die Entwicklung der emotionalen Schemata

abhängig ist von den Lernprozessen zum adaptiven Verhalten, d.h. abhängig nicht nur

von der emotionalen Bewältigung einer Situation, sondern auch von den zur Verfügung

stehenden Problemlösestrategien, hat die Pädagogik dafür Sorge zu tragen, die

Grundlagen für die Entwicklung beider Verarbeitungsstränge zum adaptiven Verhalten,

dem emotionalen und dem problemorientierten, zu schaffen. Im Hinblick darauf, daß nicht

nur die Erziehungsbemühungen in der frühesten Kindheit, sondern die gesamte Art und

Weise wie der Umgang mit dem Kleinkind gestaltet wird zur Bildung von emotionalen

Schemata führen, die die Grundlage für die Ausdifferenzierung aller weiteren emotionalen

Schemata bilden, kommt der emotionalen Erziehung besondere Bedeutung zu. Insofern

allen Situationen im Lebensalltag durch emotionale Schemata eine je eigene von der

individuellen Lebensgeschichte bestimmte Bedeutung beigemessen wird, haben diese

Bewertungsgrundlagen einen erheblichen Einfluß auf die gesamte Lebensgestaltung,

nicht nur bezogen auf die Gestaltung des sozialen Miteinanders, sondern ebenso auf die

Herangehensweisen an jedwede Problemstellung. Durch die emotionalen Schemata wird

bestimmt, ob man bspw. ängstlich, verhalten, vertrauensvoll, mutig oder gelassen an die

Bewältigung ganz bestimmter auch intellektueller Herausforderungen herangeht, ebenso

363 Vgl. zur Diskussion: Vollmer, Gerd: Sein und Sollen. Möglichkeiten und Grenzen einer Evolutionären Ethik.

In: Ders.: Biophilosophie 1995, S. 162 – 192 und Neumann, Dieter; Schöppe, Arno, Treml, Alfred K. (Hrsg.): Zur Natur der Moral. Evolutionäre Ethik und Erziehung. Stuttgart Leipzig 1999.

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151

wie die emotionalen Einschätzungen bewirken, ob das soziale Miteinander z.B. liebevoll,

schüchtern, bestimmend, gewaltbereit, rücksichtsichtsvoll, tolerant etc. gestaltet wird.

Folgt man der Annahme, daß die Emotionen hauptsächlich über emotionale Schemata

generiert werden, bei denen es sich um unbewußte, relativ stabile Erinnerungsstrukturen

handelt, die nur höchst unzureichend rational nachvollziehbar sind und zudem durch

einzelne Komponenten des Erinnerungskomplexes aktiviert werden können, wird deutlich

daß die Emotionserziehung für die Pädagogik eine besondere Herausforderung darstellt.

Durch die geringe Beeinflußbarkeit durch rationale Argumentation sind Veränderungen

von emotionalen Schemata vornehmlich im Handlungsvollzug möglich. Wenn aber die

emotionale Einschätzung mit entscheidend ist dafür, wie an die Situationsbewältigung

herangegangen wird, d.h. also nicht nur beeinflußt wie die emotionale Bewältigung der

Situation gestaltet wird, sondern auch die Richtung vorgibt, welche problemorientierten

Handlungsstrategien angewandt werden, dann besteht die Gefahr, daß sich hierdurch ein

Procedere entwickelt, durch welches das für solche Situationstypen grundgelegte

emotionale Schema immer aufs Neue Bestätigung findet. Dieser Kreislauf kann an einem

Beispiel im sozialen Miteinander verdeutlicht werden: Ein schüchterner, ängstlicher

Mensch wird einer Gruppe fremder möglicherweise auch bekannter Menschen sehr

verunsichert gegenübertreten. Diese Verunsicherung kann dazu führen, daß er wenig

gesellig, wortkarg oder in einer anderen Art abweisend wirkt, wodurch der Kontakt mit ihm

schwierig bis unmöglich wird. Die immer wiederkehrende Erfahrung, daß sich ein Kontakt

mit anderen Menschen schwierig gestaltet, wird das grundlegende emotionale Schema

immer aufs Neue bestätigen. Erst ein Erlebnis, das die bisherige Erfahrung nicht bestätigt,

kann zumindest zunächst zur Irritation des für diese Situationsbewertung grundgelegten

Schemas führen. Jedoch ist es eher unwahrscheinlich, daß bereits eine einzelne

Erfahrung – es sei denn sie war außerordentlich gefahrvoll – zur Modifikation oder

Ausdifferenzierung einer relativ stabilen Erinnerungsstruktur führt. Vielmehr verweisen die

Ergebnisse der neurobiologischen Angstforschung auf die Nachhaltigkeit einmal fest

etablierter emotionaler Schemata gerade in bezug auf angstauslösende Situationen.364 Die

Problematik der emotionalen Schemata besteht also darin, daß sie, obwohl sie nur in sehr

geringem Maße rational nachvollziehbar und vor allem nicht durch Belehrung allein

modifizierbar sind, einen nachhaltigen Einfluß auf den Umgang mit Handlungssituationen

haben.

364 Vgl. LeDoux, Joseph: a.a.O. S. 273 ff.

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Betrachten wir vor diesem Hintergrund nun die von Roth und Zdarzil angegebenen

Erziehungsziele der moralischen Mündigkeit im Sinne einer Freiheit von sozialisations-

bedingten Einflußfaktoren hin zu einer Freiheit zu selbstgewählten Prinzipien. Unter dem

Gesichtspunkt, daß die emotionale Einschätzung einer Situation die Herangehensweise

zur Situationsbewältigung und -bewertung entscheidend mitbestimmt, ist ebenso die Wahl

wie auch die Einhaltung der handlungsweisenden Prinzipien in entscheidendem Maße

abhängig von der emotionalen Bewertung der Situationen, die prinzipiengemäßes

Handeln erfordern. Die bedeutende Rolle, die damit dem Gefühl bei der Moralentwicklung

zugewiesen wird, bestätigt Löwisch, indem er expliziert: „Das Subjekt kann zum eigenen

Vorteil lügen, es kann zum eigenen Vorteil Menschen gegeneinander ausspielen, es kann

zum eigenen Vorteil Gerüchte in die Welt setzen, die anderen schaden. Aber irgendwann

kommen Skrupel auf, irgendwann fühlt es sich nicht mehr wohl dabei: Es bekommt ein

existentielles „moralisch-schlechtes“ Gefühl.“365 Damit spricht Löwisch dem Gefühl die

Funktion zu, ein Nachdenken über die moralische Qualität der Handlungsweise zu

veranlassen, das aber heißt: es bildet eine Voraussetzung für moralische Entwicklung.

Natürlich ist die Entwicklung der moralischen Urteilskompetenz an die Vernunfttätigkeit

gebunden: Anlaß oder Auslöser für diese Vernunfttätigkeit ist jedoch das moralische

Gefühl: „Der zwanglose Zwang des vernunftgestifteten und mit einem moralischen Gefühl

einsetzenden und stückweise rational werdenden Verantwortungsbewußtseins läßt es

[das Subjekt, B.K.] nicht mehr los.“366

Damit wird die grundlegende Bedeutung, die dem moralischen Gefühl für die Förderung

der moralischen Entwicklung hin zur moralischen Mündigkeit zukommt, klar herausge-

stellt. Es veranlaßt das Nachdenken, das zu Handlungsentscheidungen unter selbst

gesetzten moralischen Prinzipien führt. Dieses moralische Gefühl, die emotionale

Bedeutungszuweisung aber wird gelernt und zwar wie oben ausführlich erläutert vor allem

in Handlungssituationen im sozialen Kontext. Während Roths und Zdarzils Forderung,

sich von sozialisationsbedingten Einflußfaktoren freizumachen, um selbst gesetzten

moralischen Prinzipien folgen zu können, impliziert, daß es vor allem mittels der intellek-

tuellen Fähigkeiten, also kraft der Vernunft möglich ist, Handlungsentscheidungen unter

selbstgesetzten moralischen Prinzipien zu treffen, wird unter Berücksichtigung des durch

die emotionale Bedeutungszuweisung veranlaßten moralischen Nachdenkens deutlich,

daß die Realisierung eines solchen Handelns abhängig ist von dem Zusammenwirken von

Gefühl und Vernunft.

365 Löwisch, Dieter-Jürgen: Einführung in pädagogische Ethik. Eine handlungsorientierte Anleitung für die

Durchführung von Verantwortungsdiskursen. Darmstadt 1995, S. 63. 366 Ebd.

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4 Gefühle und Moralerziehung

Die Fragestellung dieser Arbeit: die Bedeutung der Gefühle und ihre Wirkungsweise im

menschlichen Leben mit dem Fokus, zur Klärung des Verhältnisses von Gefühlen und

Denken beizutragen, wurde mit Blick auf die pädagogische Zielsetzung, die Förderung der

moralischen Mündigkeit, diskutiert. Die Realisierung des Erziehungsziels „moralische

Mündigkeit“, die sowohl bei Roth als auch bei Zdarzil als ein Freisein für ein Handeln

unter selbstgesetzten moralischen Prinzipien nur eine formale Richtschnur darstellt, muß

im Erziehungsalltag in Auseinandersetzung mit kulturellen und historischen Gegeben-

heiten material gefüllt werden.

Gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden Pluralisierung der Lebensformen und der

damit einhergehenden schnellen Änderungen der Einstellungen zu Werten im Sinne von

handlungsleitenden Prinzipien ist das Thema Moralerziehung mit der Kernfrage, welche

Werte den Jugendlichen in einer wertepluralistischen Gesellschaft als Orientierungshilfe

an die Hand gegeben werden dürfen, sollen und müssen, seit Anfang der 80er Jahre

zunehmend in das Zentrum des gesellschafts-politischen und pädagogischen Interesses

gerückt. Die Problematik liegt darin, daß in einem demokratischen Staat zwar im Hinblick

auf jedwede Art weltanschaulich gebundener Werthaltungen Neutralität gewahrt werden

muß, andererseits jedoch keine Gesellschaftsform ohne eine gewisse Übereinkunft

bezüglich der Normen und Regeln des sozialen Miteinanders existieren kann, welche

jedoch nicht allein aus dem im Grundgesetz und in den Landesverfassungen verankerten

Wertekatalog ableitbar sind.

In Anbetracht dieses Dilemmas konzentriert sich die Diskussion um die Werteerziehung

hauptsächlich auf die Wertevermittlung im schulischen Kontext und steht hier in enger

Verbindung mit einem Schulfach, welches als Ersatzunterricht für den Religionsunterricht

eingerichtet wurde. Wie ein Blick in die Geschichte des Ethikunterrichtes – die gängige

Bezeichnung für den Ersatzunterricht – zeigt, wurde dessen Einführung zunächst aus der

Perspektive der beiden christlichen Großkirchen und in der Folge auch aus staatlicher

Sicht aufgrund eines gravierenden Wandels der Werteinstellungen der Gesamtbevölke-

rung einerseits und erheblicher Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur andererseits

notwendig. Die Forderung der beiden christlichen Großkirchen nach einem Ersatzunter-

richt für den Religionsunterricht gründet in den Folgen der Studentenunruhen Ende der

60er Jahre, denn die harsche Kritik der Studenten an den die Gesellschaft tragenden

Institutionen: der Politik, Justiz, Polizei und Presse machte auch vor der Kirche nicht halt

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154

und initiierte nach Treml einen „allgemeinen Emanzipationsaufbruch, der für viele auch in

einer radikalen Kirchenkritik mündete“367. Die Folge waren sowohl Kirchenaustritte als

auch ein rapider Anstieg der Abmeldungen vom Religionsunterricht. Hintergrund der von

der katholischen und evangelischen Kirche geforderten Einführung eines Unterrichts-

faches für die Nichtteilnahme am konfessionell gebundenen Unterricht war zunächst die

banale Hoffung, zumindest die Schüler an der Abmeldung vom Religionsunterricht zu

hindern, die damit lediglich zwei Freistunden gewinnen wollten.368 Aufgrund der erheb-

lichen Veränderungen der Gesellschaftsstruktur durch die in den 60er und 70er Jahren

stetig wachsende Anzahl von Migranten, die nicht der christlichen Konfession angehörten,

erwachte jedoch auch das staatliche Interesse an der Einrichtung eines Unterrichtsfaches

zur Vermittlung der die Gesellschaft tragenden Werte. Und mit dem zunehmenden staat-

lichen Interesse wuchs der Stellenwert, der dem Ethikunterricht beigemessen wurde,

denn zentraler Wunsch war es nun, den „Verlust der gemeinwohlförderlichen Tugenden“,

der auf die „zunehmend multikulturelle und ‚multiweltanschauliche’ Zusammensetzung der

Gesellschaft“369 zurückgeführt wurde, aufzuhalten.

Wie sich gezeigt hat, wurde die Einrichtung dieses Ersatzfaches länderabhängig mit

unterschiedlichen Zielvorstellungen und divergierenden Methodenvorschlägen

realisiert.370 Trotz der erheblichen Unterschiede in den Formulierungen der Lerninhalte

und didaktischen Konzepte der einzelnen Länder unterliegt allen Ethikunterrichtskon-

zepten das gemeinsame Ziel, bei den Schülern ein Wertebewußtsein zu wecken, welches

sie zur moralischen Urteilsbildung befähigt und die Grundlage zu einem verantwortungs-

vollen Handeln bildet.371 Den Anstoß für die Wertediskussion gab, wie oben bereits

angedeutet, genau diese Zielformulierung für das Unterrichtsfach: denn zum einen

herrscht Uneinigkeit darüber, ob in einem Ethikunterricht eines Staatsgefüges, das

weltanschauliche Neutralität beansprucht, für ganz bestimmte Werte eingetreten werden

367 Treml, Alfred K.: Ethik als Unterrichtsfach in den verschiedenen Bundesländern – Eine Zwischenbilanz. In:

Ders. (Hrsg.) Ethik macht Schule! Moralische Kommunikation in Schule und Unterricht. In: Ethik & Unterricht. Frankfurt/Main 1994, S. 18 – 29, hier S. 18.

368 Vgl. Maier, Hans: Einleitung zur Diskussion. In: Zinser, Hartmut (Hrsg.): „Herausforderung Ethikunterricht“ Ethik, Werte und Normen als Ersatzfach in der Schule, Marburg 1991, S. 53 – 57, hier S. 53 (Hans Maier war während der Einführung des Ethikunterrichts in Bayern im Jahr 1973 amtierender Kultusminister) und Treml, Alfred K.: a.a.O.: S. 19.

369 Treml, Alfred K.: a.a.O. (1994). 370 Vgl. Treml, Alfred K. a.a.O. (1994) und für eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Thematik: Krimm,

Barbara: Aufgaben und Ziele eines Ethikunterrichts in einer wertepluralistischen Gesellschaft. Unveröffentlichte Diplomarbeit 1998.

371 Vgl. Franzen, Winfried: Ethikunterricht. In: Hastedt, H./ Martens, E. (Hrsg.): Ethik – Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg 1994, S. 301 – 312, hier S. 305

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darf, und wenn ja, welche Werte den in einer wertepluralistischen Gesellschaft lebenden

Schülern als Grundlage für ihre moralische Urteilsfähigkeit nahegebracht werden sollen.

Zum anderen ist unklar, ob und wie diese moralische Urteilsfähigkeit erzeugt werden

kann, sodaß ihr auch im Handeln entsprochen wird.

Bei der Durchsicht der Literatur372, die der Diskussion um Wertevermittlung gewidmet ist,

wird der enge Zusammenhang zwischen Zielvorstellung und Methode offensichtlich,

wobei die jeweilige Zielvorstellung sich auch deutlich auf die Ansicht bezüglich der

möglichen Vermittelbarkeit einer Werthaltung im schulischen Kontext niederschlägt.

Beispielhaft werden hierzu Beiträge von Wolfgang Brezinka373 und Otfried Höffe374

diskutiert, die sich im Rahmen der Diskussion um Notwendigkeit und Möglichkeiten einer

Wertevermittlung im Ethikunterricht intensiv mit der Thematik auseinandergesetzt haben.

Beide Autoren stehen der Möglichkeit, allein im schulischen Kontext eine Werthaltung

grundzulegen, kritisch gegenüber. Darüber hinaus sind bedingt durch die jeweils als

erstrebenswert angesehene Werthaltung jedoch erhebliche Unterschiede bezüglich

dessen, was Schule im Rahmen der Werteerziehung leisten kann und sollte, auszu-

machen.

Im folgenden werden die Vorschläge beider Autoren einzeln vorgestellt und diskutiert. Die

kritische Betrachtung der beiden konträren Zielvorstellungen und der jeweils dazu anemp-

fohlenen Methoden zur Realisierung erfolgt vor dem Hintergrund, daß in einer Demokratie

öffentlich (und das heißt auch in staatlichen Lehranstalten) für die Wahrung der Rechte

eingetreten werden sollte, die die demokratische Verfassung stützen. Dabei herrscht

Klarheit darüber, daß die von staatlicher Seite recht- und pflichtgemäß einforderbaren,

dem Grundgesetz entsprechenden Wertvorstellungen allein nicht ausreichen, um das

gesellschaftliche Miteinander sozial verträglich zu gestalten. Diese Sachverhalte finden

372 Hierzu seien beispielhaft genannt: Gensicke, Thomas: Wertewandel und Erziehungsleitbilder. In:

Pädagogik 46, Heft 7-8, 1994, S. 23 – 26; Hentig, Hartmut von: Ach, die Werte! Ein öffentliches Bewußtsein von zwiespältigen Aufgaben. Über eine Erziehung für das 21. Jahrhundert. München, Wien 1999; Huber, Herbert: Was ist Werterziehung? In: Ders. (Hrsg.): Sittliche Bildung. Ethik in Erziehung und Unterricht. Asendorf 1993, S. 77 – 104; Hurrelmann, Klaus: Mut zur demokratischen Erziehung. In: Pädagogik 46, Heft 7-8, S. 13 – 17. Spaemann, Robert: Zum Sinn des Ethikunterrichts. In: Huber, Herbert: Sittliche Bildung. Ethik in Erziehung und Unterricht. Asendorf 1993, S. 349 – 362; Zehetmair, Hans: Werteordnung und Wertewandel. Eine Herausforderung für den Ethikunterricht. In: Huber, Herbert: Sittliche Bildung. Ethik in Erziehung und Unterricht. Asendorf 1993, S. 363 – 372.

373 Brezinka, Wolfgang: „Werte-Erziehung“ in einer wertunsicheren Gesellschaft. In: Huber, Herbert (Hrsg.): Sittliche Bildung. Ethik in Erziehung und Unterricht. Asendorf 1993, S. 53 - 76.

374 Höffe, Otfried: Ethikunterricht in pluralistischer Gesellschaft. In: Ders.: Ethik und Politik. Grundmodelle und -probleme der praktischen Philosophie. Frankfurt/Main 1979, S. 453 – 481.

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auch in den beiden Positionen Berücksichtigung. Der Unterschied zwischen beiden liegt

dagegen, wie oben bereits angedeutet, in den Ansichten darüber, welche Werte neben

denen zur Wahrung der Grundrechte vermittelt werden sollen und mit welchen den

Zielvorstellungen entsprechenden Mitteln die Vermittlung am besten gelingen könnte. Mit

Bezug darauf sollen die in den beiden Beiträgen explizierten Gedanken zur Wertever-

mittlung einerseits auf die Kompatibilität mit der in einer Demokratie zu gewährenden

Freiheit in bezug auf die Wahl weltanschaulich gebundener Werthaltungen untersucht

werden. Andererseits werden die Mittel geprüft, die – unter Anerkennung der Wahlfreiheit

bezüglich weltanschaulicher Wertvorstellungen – zur Realisierung der jeweiligen Ziel-

setzung in den Blick genommen werden. Die darüber hinaus angestellte Untersuchung,

inwieweit die Mittel- und Methodenwahl zur Realisierung der jeweiligen Zielsetzungen

führen könnte, erfolgt auf der Basis des Leventhalschen Modells zum adaptiven

Verhalten.

Nach Brezinka ist Werteerziehung nur ein neuer Name für seit langem bekannte

Erziehungsaufgaben wie „religiöse Erziehung, weltanschauliche oder lebenskundliche

Erziehung; moralische oder sittliche Erziehung; Rechtserziehung; staatsbürgerliche,

politische und soziale Erziehung; ästhetische Erziehung“375, welche das gemeinsame Ziel

haben, bei den zu Erziehenden „Glaubensüberzeugungen, Gesinnungseinstellungen,

Grundhaltungen und persönliche[..] Wertrangordnungen [...] [zu erzeugen], die den

normativen Orientierungsgütern der eigenen Gesellschaft entsprechen. Zu diesen

Orientierungsgütern gehören moralische und rechtliche Normen, Persönlichkeitsideale

und Gesellschaftsideale, Institutionen als verpflichtende Elemente der gemeinsamen

Lebensordnung sowie klassische Werke der Dichtkunst und der anderen schönen

Künste.“376 Mit dem Verweis darauf, daß Kenntnisse und Fertigkeiten allein nicht

ausreichen, um ein Leben in Selbstverantwortung führen zu können, bekommt die

Werteerziehung als Gesinnungserziehung mit dem Ziel, die Herausbildung ganz

bestimmter Persönlichkeitsmerkmale zu befördern, einen ganz besonderen Stellenwert.

Unter Bezugnahme auf den in der Bayerischen Verfassung grundgelegten Erziehungs-

auftrag der Schule, nicht nur Wissen und Können zu vermitteln, sondern auch Herz und

Charakter zu bilden, interpretiert Brezinka Charakter als die sittliche Grundhaltung,

während Herz im Sinne von Liebesneigungen und Wertgefühlen auch für „außer-

moralische, insbesondere religiöse, soziale und ästhetische Einstellungen, Interessen und

375 Brezinka, Wolfgang: a.a.O. (1993), S. 60. 376 Ebd.

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Strebungen“377 steht. Damit stellt Werteerziehung als eine Erziehung zur Bindung, d.h.

der Förderung der Liebe zu bestimmten als wertvoll angesehenen Kulturgütern zum einen

eine Gegenbewegung zur emanzipatorischen Erziehung dar. Durch die Konzentration auf

die Förderung der „Gemütskräfte, [der] emotionalen Bindungen, [der] Glaubensbedürf-

nisse und Glaubensüberzeugungen“378 ist die Werteerziehung aber zum anderen auch ein

Gegenprogramm zur einseitig wissenschaftsorientierten Erziehung, die auf Kosten aller

anderen Kulturgüter und Denkweisen die kritisch-wissenschaftliche Denkweise überbe-

wertet. Demgemäß ist „[d]ie Parole ‚Werte-Erziehung’ [...] gegen diese rationalistischen

Irrtümer gerichtet. Sie ist Symbol einer Erneuerungsbewegung, die gegen Utopien für ein

realistisches Menschenbild eintritt. Ihr Ideal ist nicht das selbstherrliche Individuum, das

sich zu allen Bindungen und Pflichten kritisch verhält, sondern die ‚gemeinschaftsfähige

Persönlichkeit’, die weiß, daß Lebenssinn und innerer Halt von der Liebe zu gemein-

samen Orientierungsgütern abhängen.“379

Bei den Erziehungsaufgaben, die zur Realisierung der Herz- und Charakterbildung zu

leisten sind, trennt Brezinka streng zwischen dem schulischen Erziehungsauftrag und den

Aufgaben, die die Familie hierbei zu leisten hat. Mit Blick auf die zwar bezüglich religiös-

weltanschaulicher Fragen zur Neutralität verpflichtete Schule gewinnt gerade angesichts

der zunehmenden Pluralisierung der Lebensformen im Schulalltag die „Pflege der

kulturellen Einheit, insbesondere der moralischen Grundübereinstimmung, des ‚Grund-

konsenses’ der Nation“380 an Bedeutung. In diesem Sinne muß in der Schule für eine

Grundwerteerziehung gesorgt werden zur Förderung „der unverzichtbaren Bürger-

tugenden und der Grundpflichten gegen das Gemeinwesen. Dazu gehören Gemeinsinn,

Gehorsam gegen die Gesetze, Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols und

Friedenspflicht; Leistungswille und Dienstbereitschaft, demokratische Einstellung und

Toleranz; ein gesundes deutsches Nationalbewußtsein, das heißt ein aufgeklärter

Patriotismus und Sympathie für ein Vereintes Europa der Vaterländer.“381

Die für den schulischen Bereich anempfohlene Sorge für die Vermittlung der staatlichen

Grundwerte deckt jedoch nur einen Teilbereich der Wertorientierung der Person ab. Für

eine umfassende Werthaltung muß die Erziehung in den Familien, in den Religions-,

377 Ebd. S. 61. 378 Ebd. S. 63. 379 Ebd. 380 Ebd. S. 65. 381 Ebd. S. 66.

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Weltanschauungs- oder anderweitigen Gesinnungsgemeinschaften sorgen. Dabei können

die Glaubensquellen durchaus unterschiedlich sein, „[w]esentlich für das Wohl der Person

wie für das Gemeinwohl aber ist es, daß jedem Menschen eine solche Quelle für gute

Gedanken, wertvolle Strebungen und Trost im Leiden zugänglich ist.“382 Diese

moralischen Grundgesinnungen des Menschen aber werden am besten im familiären

Umfeld und in „staatsfreien familienergänzenden Gemeinschaften“383 gebildet, denn die

Voraussetzung für ihr Entstehen ist „Geborgenheit im gemeinsamen Leben eines kleinen

Kreises mit verläßlichen Gefühlsbindungen, übereinstimmender Wertordnung, guten

Beispielen, eindeutigen moralischen Forderungen und vielseitigen Handlungsmöglich-

keiten“384. Das Gelingen einer familialen Werteerziehung bindet Brezinka an drei

Voraussetzungen: erstens müssen sich die Eltern bezüglich ihrer Wertrangordnungen im

Klaren sein und eine übereinstimmende Wertbindung haben, zweitens muß ein Anschluß

an eine größere familiennahe Gruppe von Gleichgesinnten gegeben sein und drittens

müssen die in der Familie vertretenen Wertbindungen angemessen gepflegt werden.

Brezinka bezeichnet den Kern der Erziehungsaufgabe der Familie als „den Mut zu

Wertbindungen und einer wertgebundenen Erziehung“385.

Die Voraussetzungen, an die das Gelingen der familialen Werteerziehung gebunden wird,

geben bereits einen Hinweis auf die von Brezinka empfohlene Methode zur Vermittlung

einer Werthaltung: die indirekte Erziehung. Unter indirekter Erziehung will er verstanden

wissen eine günstige Gestaltung der Lebensumstände der Zöglinge, d.h. es sei für

Gelegenheiten zu sorgen, die Erfahrungen ermöglichen, aus denen die erwünschten

Werteinstellungen und -haltungen entstehen. Da nach Brezinka die Werteinstellungen vor

allem durch Nachahmungs- und Modell-Lernen entstehen, sind die Erzieher aufgefordert

„sich selbst und den gemeinsamen Lebensraum so [zu] ordnen, daß davon mehr gute

Einflüsse ausgehen als schlechte“386, was natürlich auch eine Übereinstimmung der

Erzieher hinsichtlich der zentralen Normen der jeweiligen Lebensgemeinschaft ein-

schließt. Um die in dem kleinen Familienumfeld grundgelegte Wertbindung an „nicht-

egoistische Ideale“387 gegen den in der werte-pluralistischen Gesellschaft vorfindbaren

„Haß der entwurzelten Spötter, der banalen Geister, der nihilistischen Verführer“388 zu

schützen, braucht die Familie die Einbindung in eine Gemeinschaft mit Gleichgesinnten,

382 Ebd. S. 68. 383 Ebd. S. 69. 384 Ebd. 385 Ebd. S. 70. 386 Ebd. S. 72. 387 Ebd. S. 73. 388 Ebd.

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in der durch „die Teilnahme am gemeinsamen Kult [...] die individuelle Wertsicherheit“389

gestärkt wird.

Die indirekte Erziehung muß durch direkte Erziehungsmaßnahmen in Form von

Sanktionen unterstützt werden, d.h. normgemäßes Verhalten ist zu belohnen, während

normwidriges Verhalten mit Strafe belegt werden muß. Brezinka betont ausdrücklich die

nachteilige Wirkung von Permissivität auf die Wertungssicherheit und die moralische

Anstrengungsbereitschaft der Zöglinge. In diesem Zusammenhang wird nochmals darauf

hingewiesen, daß die durch die indirekten und direkten Erziehungsmethoden in der

Familie grundgelegten Werthaltungen die Grundlage bilden für die in der Schule

stattfindende belehrende Werteerziehung, die dann anleitet zum „vernünftigen Werten,

Wählen und Entscheiden sowie zur sachlichen Begründung von Entscheidungen“390.

Schon eine erste oberflächliche Betrachtung der oben dargelegten Gedanken zur

Werteerziehung wirft Fragen auf, die sich aus Brezinkas selbstverständlicher Annahme

ergeben, die staatlichen Grundwerte, die die Basis für einen Teilbereich normengemäßen

Verhaltens bieten, würden durch diejenigen ergänzt, die in der Familie durch die dort zu

kultivierenden Glaubensgüter an die Hand gegeben werden. In bezug darauf betont er

ausdrücklich, daß „die Impulse für das gute Leben [...] aus ganz verschiedenen

Glaubensquellen [kommen]“391. Demgemäß sind die Kriterien, die ein „gutes Leben“

ausmachen, weder auf empirischem Wege objektiv nachweisbar noch letztbegründbar,

sondern werden ausschließlich bestimmt durch die zugrundeliegenden Glaubensquellen.

Das aber bedeutet konkret, daß die von Brezinka ausgemachten in den Glaubenquellen

grundgelegten „nicht-egoistischen Ideale“ unterschiedlich ausgelegt werden können. Die

Konsequenzen dieser unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten zeigen sich in den

Aktionen fundamentalistischer Vertreter einiger Glaubensrichtungen. Hier wird unter der

Vorgabe, „nicht-egoistische Ideale“ zu verfolgen, eigenes und fremdes menschliches

Leben geschädigt in einer Form, die den Grundwerten unseres demokratischen Staates

eindeutig entgegensteht. Betrachtet man die Art, wie dieser Glauben tradiert und gelebt

wird, findet man genau die Prämissen erfüllt, die Brezinka für das Gelingen seiner Werte-

Erziehung voraussetzt: klare Werterangordnungen und Übereinstimmung der Wertbin-

dung bei den Erziehern, Einbindung in eine größere Gruppe von Gleichgesinnten, die die

in der Familie grundgelegte Wertbindung stärkt und schützt sowie die Kultivierung der

389 Ebd. 390 Ebd. 391 Ebd. S. 68.

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Glaubensgüter innerhalb des Familienkreises. Daß solche Glaubensrichtungen auch in

unserem demokratischen Staat kultiviert werden, steht außer Zweifel.

In diesem Zusammenhang stellt sich weiterhin die Frage, wie die Menschen, die in einer

fundamental orientierten Glaubenstradition aufgewachsen sind, ihr Leben in unserer

Gesellschaft gestalten? Folgen sie den in der Familie tradierten Wertvorstellungen,

widersprechen sie den staatsrechtlichen Grundnormen. Halten sie dagegen die staats-

rechtlich vorgegebenen Grundnormen ein, geraten sie in Widerstreit mit den ihnen durch

die tradierten Glaubensvorstellungen anerzogenen Normen. Ein Beispiel sind die in der

islamischen Tradition aufgewachsenen Jugendlichen. Noch immer folgen einige Familien

der Tradition, für ihre Töchter schon im frühesten Kindesalter ein Eheversprechen mit

einem bestimmten Mann abzugeben. Ein Fehlverhalten der Tochter, d.h. die Weigerung,

diese Verbindung einzugehen oder eine Beziehung zu einem anderen als dem von der

Familie ausgewählten Mann aufzubauen, muß auf das Härteste bestraft werden. Als

Rächer gelten zumeist die engsten Familienmitglieder wie der Vater oder die Brüder. Wie

sollen sich die zum Strafvollzug auserkorenen Familienangehörigen aber verhalten:

Entsprechen sie den traditionellen Forderungen, handeln sie dem geltenden Recht

zuwider, verweigern sie den Gehorsam der Familie gegenüber, drohen ihnen von dieser

Seite Sanktionen.

Die Annahme also, eine jede familiale Werteerziehung würde zur Stützung der jeweils

staatlichen (in diesem Falle der demokratischen) Grundwerte beitragen, ist höchst

problematisch und, wie die obigen Beispiele verdeutlichen, keineswegs voraussetzbar.

Hinzukommt, daß die Fälle, in denen sich die Grundwerte von Familie bzw. dem

familiären Umfeld und Staat entgegenstehen, für das betroffene Subjekt außerordentlich

konfliktträchtig sind.

Betrachten wir nun die in diesem Zusammenhang vorgeschlagenen Erziehungsmethoden:

Brezinkas Plädoyer für die Vermittlung eines dem Grundgesetz entsprechenden klar

umrissenen Wertekatalogs, dessen Anerkennung durch die in der familiären Erziehung

geleistete Wertbindung vorbereitet werden soll, geht einher mit der Empfehlung, für die

Erzeugung von Wertbindungen indirekte Erziehungsmethoden in Anwendung zu bringen.

Ohne Zweifel gehört, wie Siegfried Uhl in seinen Studien bestätigte, unter bestimmten

Prämissen das Zusammenwirken aus indirekter und direkter Erziehung zu einem der

erfolgversprechendsten Mittel der Moralerziehung392.

392 Uhl, Siegfried: Mittel der Moralerziehung und ihre Wirksamkeit. Bad Heilbrunn 1996, S. 143 ff.

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161

Zur Klärung der Prämissen soll zunächst die von Brezinka vorgeschlagene indirekte

Erziehung in Verbindung mit dem oben explizierten Modell des adaptiven Verhaltens von

Leventhal näher untersucht werden. Das Hauptmerkmal der indirekten Erziehung ist es,

die Umwelt des Zöglings in der Form zu gestalten, daß möglichst viele Gegebenheiten die

Erziehungszielsetzung in der intendierten Weise unterstützen. Das bedeutet de facto, daß

zum einen die erziehenden Personen unter eindeutiger Wertordnung und -bindung eine

klare Vorbildfunktion einnehmen müssen, zum anderen, daß möglichst viele Verhaltens-

und Handlungsmöglichkeiten der Erziehungszielsetzung entsprechen müssen. Schlechte

Einflüsse durch Personen und Situationen sollen möglichst gering gehalten werden. Ziel

ist es, durch diese Vorkehrungen eine homogene Einübung von, mithin eine Gewöhnung

an eine Lebensweise unter festgelegten Wertvorstellungen zu ermöglichen. Die sich

hieran direkt anschließende Frage, von welchen Umständen die Realisierung einer solch

stringenten Umweltgestaltung abhängt, soll für den Moment hintan gestellt werden,

hierauf wird später noch näher eingegangen.

Zur Untersuchung, wie sich diese Möglichkeiten der Erfahrungsgestaltung auf die

Handlungsmöglichkeiten des Zöglings auswirken, sollen noch einmal kurz die

Hauptmerkmale des Leventhalschen Modells zum adaptiven Verhalten rekapituliert

werden: Der Kern von Leventhals Modell sind die beiden getrennt arbeitenden aber

miteinander interagierenden Prozeßverarbeitungsstränge, der emotionale und der

problemorientierte als Subsysteme des adaptiven Verhaltens. Nach Leventhals Modell ist

die Bewältigung einer Situation einerseits abhängig von der emotionalen Bedeutungs-

zuweisung, d.h. der Reizbewertung, die die emotionale Prozeßverarbeitung steuert,

andererseits aber auch von den kognitiven Fähigkeiten, die zur Reizbewertung und

Situationsbewältigung auf dem problemorientierten Prozeßverarbeitungsstrang führt. Für

den Zugang zur Bewältigung einer Situation ist, wie oben ausführlich expliziert, die

emotionale Reizrepräsentation entscheidend ausschlaggebend, die nach Leventhal und

Scherer in den allermeisten Fällen durch die Reizprüfung auf der Schemataebene erfolgt.

Zur Erinnerung: Schemata sind als unbewußte, relativ stabile Gedächtnisstrukturen vorzu-

stellen, in denen wiederholt erlebte ähnliche Situationskonstellationen (die emotions-

auslösende Situation, das subjektive Gefühlserleben, die Ausdruckserscheinungen und

die autonomen Reaktionen) gemeinsam abgespeichert werden, wobei die Wahrnehmung

einer Komponente, die Teil einer solchen Erinnerungsstruktur ist, zur Aktivierung eines

Schemas führt. Diese spezielle Eigenart der unbewußten Schemata in Verbindung mit der

Annahme, daß die problemorientierte und emotionale Situationsbewältigung getrennt

verlaufen, verweist auf die Stabilität der emotionalen Reizbewertung gegenüber rein

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rationaler Argumentation. Die Annahme einer rekursiven Interaktion zwischen den auf den

jeweiligen Prozeßverarbeitungssträngen erfolgenden situationsadäquaten Handlungs-

vollzügen und deren Bewertungen dagegen verweist darauf, daß Veränderungen und

Ausdifferenzierungen von Schemata vornehmlich im Handlungsvollzug vonstatten gehen.

Betrachtet man nun in bezug auf dieses Modell die Wirkungsweise der Methode, die

Brezinka für eine gelingende Moralerziehung empfiehlt, so wird deutlich, daß sie durch die

sich immer wiederholende Begegnung mit ähnlichen Situationskonstellationen haupt-

sächlich zur Stabilisierung der unbewußten emotionalen Erinnerungsstrukturen auf der

Schemataebene führt. Durch die Vermeidung von Erlebnismöglichkeiten, die der

gewünschten Erziehungsabsicht entgegenstehen, wird eine Ausdifferenzierung der

Schemata verhindert, denn wie oben ausführlich erörtert wurde, entsteht die Ausdifferen-

zierung emotionaler Schemata vor allem durch die Begegnung mit vielen unterschied-

lichen Situationen, wobei deren Bewältigung immer im Zusammenhang mit den zur

Verfügung stehenden Problemlösestrategien zu sehen ist. Wird jedoch eine Begegnung

mit unterschiedlichen Gegebenheiten verhindert, ist auch eine Ausweitung des Problem-

lösepotentials nicht notwendig. Die indirekte Erziehung zur Erzeugung normgemäßen

Verhaltens in Verbindung mit der Sanktionierung normwidrigen Verhaltens führt also zu

wenig ausdifferenzierten, dafür aber sehr festen Erinnerungsstrukturen, die ein stabiles

Verhaltensmuster für die Bewältigung der ermöglichten Situationskonstellationen erzeu-

gen, wobei die subjektiven Handlungsentscheidungen jedoch nicht auf der erkannten

Werthaftigkeit einer spezifischen Handlungsentscheidung beruhen, sondern vor allem mit

Blick auf die mit einer Handlung verbundenen Sanktionen gefällt werden. Im Hinblick auf

die Werteerziehung in einem bezüglich der Werteinstellung stringenten Lebensumfeld

wird diese Methode dennoch relativ sicher zu dem gewünschten Verhalten führen.

Hinsichtlich der Gegebenheiten einer wertepluralistischen Gesellschaft, das heißt einem

Lebensumfeld mit vielfältigen vor allem auch konkurrierenden Wertvorstellungen, erweist

sich dieses Vorgehen jedoch als problematisch, da es in einem durch pluralistische

Lebensformen und Werthaltungen gekennzeichneten Lebensumfeld nahezu unmöglich

ist, ein Lernumfeld zu schaffen, welches vornehmlich den Erfahrungshorizont bietet, der

dem intendierten Erziehungsziel entspricht. Aufgrund der Fülle von divergierenden

Vorbildern und Modellen ist daher die Vermittlung von stabilen Werthaltungen – nach

Brezinka auch Gesinnungshaltungen – durch einfaches Nachahmungslernen kaum mehr

möglich. Die besondere Problematik des Lernens am Modell ist aber, daß es nur durch

zusätzliche Motivationsfaktoren wie Sanktionen erfolgreich ist. Die Folge ist, daß ein den

vorgegebenen Werten entsprechendes Verhalten, welches allein motiviert durch äußere

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Einflußfaktoren in Form von negativen und positiven Sanktionen, beliebig über die

Veränderung der Sanktionsmaßnahmen manipulierbar ist.

Konkret stellt sich diese Situation für heutige Kinder und Jugendliche wie folgt dar: Wird

zu Hause ein bestimmtes normenkonformes Verhalten belohnt, kann genau dieses

normenkonforme Verhalten in außerfamiliären Kreisen zu negativen Sanktionen in Form

von Mißachtung oder Rügen führen. Oder umgekehrt kann das außerhalb des häuslichen

Umfeldes gezeigte Verhalten höchste Anerkennung erfahren, welches im familiären

Umfeld im höchsten Maße mißbilligt wird. Man mag einwenden, daß dieser Sachverhalt

zweifellos seit jeher ein wesentliches Element des Erziehungsgeschäftes ist und sowohl

für Erzieher wie auch für die Zöglinge die eigentliche Herausforderung darstellt. Für die

Erzieher besteht sie darin, die Zöglinge gesellschaftstauglich zu machen und das heißt

vordringlich, sie zu befähigen, ihr Verhalten und Handeln den Normen der Gesellschaft

anzupassen, wozu notwendigerweise gehört, sie dazu instand zu setzen, sich selbst zu

disziplinieren und gewissen Verlockungen zu widerstehen. Für die zu Erziehenden

dagegen besteht die Herausforderung darin, dem Reiz des Verbotenen zu folgen und

über unterschiedlichste Aktivitäten die Grenzen des Erlaubten auszutesten. Dieses

„natürliche“ Hineinfinden in auf der Basis von klaren Wertvorgaben normierte Verhaltens-

weisen wird in einer wertepluralistischen Gesellschaft jedoch dadurch erheblich

erschwert, daß es aufgrund der vielen unterschiedlichen Glaubensquellen keine „allge-

meingültige“ Moral und demnach auch keinen festumgrenzten allgemein anerkannten

Maßstab für die Beurteilung von normenkonformen bzw. normwidrigen Verhaltens- und

Handlungsweisen gibt. Jede Gruppe hat ihren eigenen Moralkodex und dementsprechend

eigene Handlungsnormen.

Diesen Umstand hat Brezinka durchaus erkannt und eben darauf ist sein Werte-

erziehungsprogramm zur Erzeugung von Wertbindung ausgerichtet. Für ihn ist das

vordringliche Ziel einer Werteerziehung, Bindungen zu schaffen, Bindungen zu ganz

bestimmten Werten, die durch das Leben in einer bezüglich der Werteinstellung

homogenen Glaubensgemeinschaft geschützt und gestützt werden. Unbeachtet bleibt

dabei jedoch einerseits, wie oben erörtert, daß die einer Wertbindung zugrundeliegenden

Glaubensquellen interpretationsbedürftig sind und die Normierung der Verhaltensweisen

in der jeweiligen Interpretation der Werte gründet. Problematisch ist zum anderen, daß er

davon ausgeht, daß eine Wertbindung allein über das Zusammenwirken von indirekter

Erziehung und Sanktionen zu erreichen ist. Wie durch Leventhals Modell deutlich wird,

liegt die Problematik darin, daß in den Fällen, in denen ein gutes Beispiel nur aufgrund

von Belohnung und Bestrafung befolgt wird, die dem Beispiel zugrundeliegende

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Werthaftigkeit zugunsten der Sanktionen in den Hintergrund tritt. Im Ergebnis wird zwar

ein den jeweiligen Anforderungen einer Situation angepaßtes Verhalten erzeugt, jedoch

keinesfalls eine stabile Werthaltung, die zu einer sicheren Entscheidung zwischen

miteinander konkurrierenden Werten befähigt.

In einer wertepluralistischen Gesellschaft aber ist die Entwicklung einer stabilen Wert-

haltung und das heißt einer Haltung, die Handlungsentscheidungen auf der Basis einer –

ohne Angst vor Strafen vollzogenen – freiwilligen Anerkennung von Werten ermöglicht,

wie auch in Leventhals Modell für adaptives Verhalten deutlich wird, abhängig von genau

den Bedingungen, die Brezinka in seinem Werteerziehungsprogramm ausdrücklich

ausschließt: die Begegnung mit konkurrierenden Werteinstellungen, die Beurteilung von

daraus resultierenden Handlungsvollzügen und eine kritische Auseinandersetzung mit

den jeweils zugrundeliegenden Ausgangsvoraussetzungen. Erst dies führt zu einer Wert-

haltung, die notwendig an die Eigenverantwortlichkeit des Subjektes gebunden sein muß,

ein Gesichtspunkt, der bei Brezinkas Erziehungsprogramm, dessen Ideal die „gemein-

schaftsfähige Persönlichkeit“ ist, welche durch „Gesinnungsbildung“ mittels der Stiftung

von Wertbindung an gemeinsame Orientierungsgüter erzeugt werden soll, vollkommen

aus dem Blick gerät. Die mit diesem Aspekt verbundene Problematik einer Gesinnungs-

haltung, die hinsichtlich der Anforderungen einer wertepluralistischen Gesellschaft noch

verschärft wird, verdeutlicht Löwisch durch die kritische Betrachtung der Charakteristika,

die eine gesinnungsethische und eine verantwortungsethische Lebensführung kenn-

zeichnen.393

Nach Löwisch ist das Spezifische einer Gesinnungsethik, daß sie „in Unabhängigkeit von

jeweiliger Realität allgemeine Prinzipien [formuliert], die für die Lebensführung der

Menschen im ganzen gelten. Gesinnungsethik kann so die Welt durch ein ihr entspre-

chendes eindeutiges Handeln rational, sicher und verläßlich machen, da sie keine

Irritationen duldet. Es gibt für sie als einer rigorosen Ethik nur Entweder-Oder-Entschei-

dungen: Entweder ist eine Handlung oder ist ein Mensch gemäß seiner Handlungsabsicht

anständig und gut, oder Handlung und Mensch sind schlecht. Gesinnungsethik ist nicht

abwägend, sie ist prinzipientreu und grundsatzverpflichtet, sie ist radikal in ihrem

Anspruch.“394 Kennzeichnend für die Gesinnungsethik sind demgemäß die in Unab-

hängigkeit von weltlichen Gegebenheiten bestehenden handlungsleitenden Prinzipien, die

absolute Gültigkeit beanspruchen. „Dem reinen Gesinnungsethiker [müssen] Pluralismus,

393 Löwisch, Dieter-Jürgen: a.a.O. (1995), S. 22 ff. 394 Ebd. S. 23.

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Toleranz und Aufklärung in hohem Maße verdächtig [sein]“395, denn bedingt durch den

absoluten Geltungsanspruch der Handlungsprinzipien ist eine kritische Auseinander-

setzung mit Wertfragen nicht statthaft. Die Konsequenz des apodiktischen Geltungsan-

spruchs der handlungsleitenden Prinzipien aber ist, daß Handlungen allein im Hinblick auf

die einer Aktivität zugrundeliegende Absicht beurteilt werden, die Handlungsfolgen aber

nicht bedacht werden müssen, woraus resultiert, daß die Schuld für das Fehlgehen einer

Handlung den mißlichen Begleitumständen zugeschrieben wird, der Gesinnungs-

handelnde selbst, mit Verweis auf seine gute Absicht und dem diesbezüglich reinen

Gewissen, sich nichts vorzuwerfen hat.396

Im Hinblick auf die Charakteristika der Gesinnungsethik, daß weder Wertinterpretationen

noch Handlungsfolgen kritisierbar sind, zeigt sich diese Form der Lebensführung als im

höchsten Maße „unkommunikativ“ und damit gleichzeitig als untauglich für ein den

Anforderungen der zeitgenössischen Realität angemessenes soziales Handeln, welches

die Voraussetzung bildet für eine gemeinsame Weltbewältigung. Zusammenfassend

erweist sich nach Löwisch die Problematik einer gesinnungsethischen Lebensführung

darin, daß sie Probleme und Konflikte nicht löst, sondern sie ignoriert. „Und Gesinnungs-

handeln ermöglicht keine gemeinsame Weltbewältigung, weil es unkommunikativ ist und

Gemeinsamkeit nur durch Kommunikation, d.h. auch durch ein kommunikatives Zusam-

menraufen und Zusammenfinden gestiftet werden kann.“397

Vor dem Hintergrund dessen soll nochmals Brezinkas Werteerziehungsprogramm unter-

sucht werden. Ihm geht es, wie oben erörtert wurde, bei der Werte-Erziehung ausdrück-

lich um gute Werteinstellungen oder Gesinnungen, mithin ist ihm „’Werte-Erziehung’ [...]

also Gesinnungserziehung“398. Unter Berücksichtigung der Gegebenheiten in einer

wertepluralistischen Gesellschaft wird ebenfalls ausdrücklich betont, daß es gleich sei,

welche Glaubensquelle die Wertinterpretationen für die Gesinnungseinstellung liefere,

wichtig sei nur, „daß jedem Menschen eine solche Quelle für gute Gedanken, wertvolle

Strebungen und Trost im Leiden zugänglich ist“399. Wie oben bereits in anderem Zusam-

menhang kritisch angemerkt wurde, birgt eben dieses „Zugeständnis“ insofern eine

Problematik, als die Werteinstellungen, welche aus den entsprechend der zugrunde-

liegenden Glaubensquellen differierenden Interpretationen bezüglich dessen, was ein

gutes Leben ausmacht, entstehen, erheblich von einander abweichen können. Die

395 Ebd. S. 26. 396 Vgl. ebd. S. 25. 397 Ebd. S. 27. 398 Brezinka, Wolfgang: a.a.O. (1993), S. 60.

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Betrachtung dieser Möglichkeit in Zusammenhang mit den Merkmalen, die nach Löwisch

gesinnungsgemäße Handlungsweisen wesentlich bestimmen: nämlich die unabhängig

von den Realitätsbedingungen geltenden Handlungsprinzipien, die zudem durch die

Konzentration auf die Handlungsabsichtsbewertung jeglicher Kritik entzogen werden und

sich dadurch als „unkommunikativ“ darstellen, macht deutlich, wie gering die Möglichkeit

ist, mit Mitgliedern zwar jeweils gesinnungsethisch fundierter jedoch unterschiedlicher

Werteeinstellungen ein sozialverträgliches „Miteinander“ zu gestalten.

In der Gesamtschau erweist sich das von Brezinka vorgeschlagene Konzept für die

Erzeugung von Werteinstellungen vor allem in Hinblick auf die Anforderungen einer

wertepluralistischen Gesellschaft als höchst problematisch. Zweifelhaft ist zum einen die

Methode der durch Sanktionen unterstützten indirekten Erziehung, die angesichts der

vielfältigen als Beispiele vorhandenen Lebensentwürfe einerseits und der aufgrund der

zunehmenden Technisierung nahezu unbegrenzt erscheinenden Erlebnismöglichkeiten

andererseits, eher zu einem den jeweiligen situativen Anforderungen entsprechenden

Normenverhalten führt, denn zu einer stabilen Werteeinstellung. Kritisierenswert ist

darüber hinaus – auch in Absehung von der Realisierungsproblematik – die Zielvor-

stellung: Für eine wertepluralistische Gesellschaft eine Werteerziehung in Form einer

Gesinnungseinstellung vorzuschlagen, ist allein aufgrund der Tatsache problematisch,

daß die Erzeugung einer Gesinnungseinstellung nur durch eine unkritische Übernahme

bestimmter Wertinterpretationen und die Akzeptanz der aus diesen erwachsenden

realitätsunabhängigen Handlungsprinzipien möglich ist. Mit dem in einer werteplura-

listischen Gesellschaft notwendigen Zugeständnis der freien Wahl weltanschaulicher

Werteeinstellungen, bekommt diese Zielsetzung eine besondere Brisanz: Nach den von

Löwisch explizierten Prämissen eines Gesinnungshandelns würde die konsequente

Realisierung von Brezinkas Konzept zur Etablierung einer Vielzahl kleiner Gruppen

führen, die unabhängig von einander ihre unterschiedlichen Gesinnungseinstellungen

kultivieren, wobei deren friedliche „Ko-Existenz“ allein durch die Androhung staatlicher

Gewalt gesichert werden könnte. Die Unzulänglichkeit einer solchen Art Friedens-

sicherung ist hinreichend bewiesen. Bedenklich erscheint in diesem Zusammenhang, daß

viele Beispiele im täglichen Leben zeigen, wie nahe wir bereits einer solchen Art der

Lebensgestaltung sind.

Die Berufung auf einen überzeitliche Geltung beanspruchenden Wertekatalog, durch die

das Subjekt die Legitimation gewinnt, für jeweilige Handlungsfolgen die Verantwortung

399 Ebd. S. 68.

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abzulehnen, stellt für Löwisch den entscheidenden Kritikpunkt an der gesinnungsethisch

ausgerichteten Lebensführung dar. Wie oben erörtert, führt dies zur Ignoranz gegenüber

Konflikten und verhindert eine gemeinsame Weltbewältigung. Mit Blick auf die Anforde-

rungen der lebensweltlichen Gegebenheiten, deren Bewältigung wesentlich abhängig ist

von dem Erfolg beabsichtigter Handlungsweisen einerseits und der Verantwortungsüber-

nahme für die Handlungsfolgen andererseits, plädiert Löwisch für eine nach verantwor-

tungsethischen Gesichtspunkten ausgerichtete Lebensführung und verweist darauf, daß

Verantwortungsethik nicht den Gegenpol, sondern die notwendige Ergänzung, d. h. eine

„kritische Fortführung der Gesinnungsethik“400 darstellt. Mit Karl Jaspers ist für Löwisch

„Verantwortungsethik [...] die wahre Gesinnungsethik, die ihren Weg in der Welt sucht,

weder am bloßen Maßstab des Erfolges noch an dem bloß rationalen Grundsatz einer

Gesinnung, sondern im offenen Raum der Möglichkeiten, gebunden an das Unbedingte,

das sich nur durch Form des Gedankens im Handeln, nicht durch einen materialen Inhalt

kundgibt“401.

Ausgehend von der dem Subjekt durch die Vernunft eignende Willensfreiheit als „Voraus-

setzung für Autonomie, für Mündigkeit, für Selbstbestimmung“ 402, verpflichtet die Verant-

wortungsethik zur kritischen Auseinandersetzung mit Wertvorstellungen und normativen

Ansprüchen und fordert vom Menschen „die Bereitschaft und die Fähigkeit zur

Rechenschaftsablegung [...] für sein Handeln und Verhalten [...]“403. Eine Verpflichtung

durch das Prinzip Verantwortung meint mithin „das personale Aufsichnehmen der

erkennbaren Folgen und der abschätzbaren Nebenfolgen des eigenen Handelns“404.

Eine sich solcher Art vollziehende Verantwortung ist an Voraussetzungen gebunden, die

notwendig erfüllt sein müssen, um situative Anforderungen angemessen bewältigen zu

können. Hierzu zählen Sach- und Methodenwissen, wie die Fähigkeit zur Abwägung der

Handlungsfolgen und „das Bedenken der Auswirkungen von Handlungen auf die direkt

und indirekt davon Betroffenen“405.

400 Löwisch, Dieter-Jürgen: a.a.O. (1995), S. 29. 401 Jaspers, Karl: Kant – Leben, Werk, Wirkung. München 1975, S. 105, zit. nach Löwisch, Dieter-Jürgen:

a.a.O. (1995), S. 29. 402 Löwisch, Dieter-Jürgen: a.a.O. (1995) S. 17. 403 Ebd. S. 19 f. 404 Ebd. S. 29. 405 Ebd. S. 20.

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Mithin ist Verantwortungswahrnehmung nach Löwisch abhängig von:

�� „[der] Fähigkeit zum Analysieren und Reflektieren,

�� [der] Fähigkeit, Urteile fällen zu können,

�� [der] Fähigkeit, Urteil und Gegenurteil kritisch abwägen zu können, also argumentieren zu

können, und

�� [der] Fähigkeit, mit sich selbst und mit anderen sich darüber auseinandersetzen zu können,

also Diskurse betreiben zu können.“406

Erst wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, dann ist von einer Zurechnungsfähigkeit

des Handelnden für sein Handeln zu sprechen, erst dann ist er für sein Handeln und

dessen Folgen haftbar zu machen. „Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, dann

sprechen wir von Unzurechnungsfähigkeit mit der Folge der moralischen Nichthaftbarkeit

des Handelnden für sein Handeln. Wir stehen dann in der Aufgabe, je nach Entwicklungs-

stand der Reflexivität des Handelnden für die Ausbildung der genannten reflexiven

Voraussetzungen zu sorgen.“407 Mit der Bindung der Verantwortung an Handlungs-

zurechenbarkeit, d.h. an Sach-, Methoden- und Reflexionskompetenz, die zur Situations-

bewältigung notwendig sind – mit Löwisch gesprochen, den Handelnden als handlungs-

mächtig ausweisen – wird eine notwendige Begrenzung vorgenommen, die eine

„Überdehnung des Verantwortungsbegriffes“ verhindert.408

Aus verantwortungsethischer Perspektive also wird die subjektgebundene Handlung in

ihrer Komplexität wahrgenommen, denn es findet sowohl die Handlungsabsicht, die

Handlungsmächtigkeit in Form von Sach-, Methoden- und Reflexionskompetenz

Berücksichtigung als auch die mit der Handlungsmächtigkeit verknüpfte Überprüfung der

Realisierung des Handlungszieles. Hier wird nicht, wie in der Gesinnungsethik, das

Subjekt allein, unabhängig von lebensweltlichen Gegebenheiten in seiner Verantwortung

für die Prämissen seiner Handlungswilligkeit, d.h. der Handlungsabsicht, in den Blick

genommen. Vielmehr wird hier der Mensch ernstgenommen als mittels seiner

Handlungen notwendig bezogen auf die Umwelt, mithin als durch seine Tätigkeit aktiver

Mitgestalter der Lebenswelt.

Die Einbindung der subjektiven Verantwortlichkeit in die Lebenswelt aber verweist einmal

mehr auf die methodische Grundvoraussetzung für verantwortungsethisches Handeln:

denn die Bestimmung sittlich richtigen Handelns ist abhängig von der Abwägung kon-

406 Ebd. 407 Ebd. S. 21. 408 Vgl. ebd. S. 30.

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kurrierender Werte, wobei die Wertentscheidungen im Diskurs intersubjektiv legitimiert

werden müssen. Nach Löwisch ist Verantwortungsethik insofern sie gebunden ist „an

Reflexivität, an Diskussion, an Dialog, an Diskurs [...] [eine] Diskursethik“409. Denn mit ihr

ist das Anliegen verbunden, Entscheidungen „in einen Prozeß der Kommunikation

einzubringen und dadurch zur Konstitution gemeinsam geteilter normativer Ansprüche

beizutragen, die auf ihre Richtigkeit befragt werden können. Und sie fragt nach den

Handlungsbedingungen und den Handlungsfolgen in der objektiven äußeren Welt, an

welche die Verwirklichung solcher normativer Ansprüche gebunden ist“410.

Wie die nachstehenden Ausführungen zeigen werden, basieren Höffes Vorschläge zu der

inhaltlichen Gestaltung für einen Ethikunterricht in einer pluralistischen Gesellschaft411 auf

den Grundlagen der von Löwisch explizierten Verantwortungsethik. Höffe entwickelt seine

Vorschläge in kritischer Auseinandersetzung mit der Zielsetzung und den Lehrinhalten für

den bayerischen Ethikunterricht.

In Anbetracht des hauptsächlich auf theoretische Wissensvermittlung angelegten Curricu-

lums untersucht er zunächst kritisch die Realisierbarkeit der an das Fach geknüpften

Lernziele: “Anleitung zum sittlichen Handeln, Bildung eines sittlichen Bewußtseins und

sittlicher Haltung sowie die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und sozialer Verantwor-

tung”412. Die Sichtung der Lehrinhalte zur Umsetzung dieser Zielsetzung zeigt nach

Höffe, daß der Lehrplan von einer dem „aufklärerischem Optimismus“ entsprechenden

These getragen ist, sittliche Kompetenz lasse sich vornehmlich in theoretisch orientierten

Lernprozessen vermitteln. „Nach einem mißverstandenen Muster ’Tugend durch Wissen’

wird zwischen den sittlichen und den theoretischen Fähigkeiten kein wesentlicher Abstand

gesehen, die sittliche Kompetenz intellektualistisch verkürzt“413. Die Annahme, daß

Wissen direkt in ein entsprechendes Handeln einmündet, mag für andere Unterrichts-

fächer wie bspw. dem Sprachen- oder dem Mathematikunterricht in beträchtlichem Maße

Geltung haben. Dagegen wird mit dem Lernen der Ethiklektionen jedoch nicht gleichzeitig

die Fähigkeit und Bereitschaft erzeugt, sittlich verantwortlich zu handeln, denn für Hand-

lungsentscheidungen sind kognitive Aspekte allein nicht ausschlaggebend, sondern diese

409 Ebd. S. 33. 410 Huber, Wolfgang: Konflikt und Konsens. Studien zur Ethik der Verantwortung. München 1990, S. 156, zit.

n. Löwisch, Dieter-Jürgen: a.a.O. (1995), S. 33. 411 Höffe, Otfried: a.a.O. (1979). 412 Vgl. KWMBl I So. Nr. 3/1990, hrsg. v. Bayerischen Staatsministerium für Unterricht, Kultus, Wissenschaft

und Kunst, S. 148. 413 Höffe, Otfried: a.a.O. (1979), S. 459.

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werden im wesentlichen mitbestimmt von der emotionalen und sozialen Befindlichkeit des

Subjekts. „Beispiele für die Machtlosigkeit des kognitiven Wissens sind Legion.“414

Höffe betont, daß sowohl ein Handeln in sozialer Verantwortung, also ein das Wohl und

die Rechte anderer mitberücksichtigendes Handeln, welches nicht ohne „Triebverzicht

und Sublimierung”415 möglich ist, als auch die sittliche Kompetenz verstanden als

Bereitschaft zur Selbstbestimmung, mit der Maßgabe, soziale Erwartungen nicht fraglos,

sondern unter Berücksichtigung eigener Wert- und Zielvorstellungen zu befolgen,

eingeübt werden muß. „Ohne die Fähigkeit und Bereitschaft, sich von seinen Neigungen

und den sozialen Erwartungen zu distanzieren und aus der doppelten Distanz heraus eine

Kritik, eine Kontrolle und gegebenenfalls eine Veränderung der gewohnten Verhaltens-

muster und spontanen Handlungsintentionen durchzuführen, ist sittliche Kompetenz nicht

möglich. Man bildet aber sittliche Kompetenz nicht schon durch Analyse und theoretische

Kritik von menschlichen Verhaltensformen, sondern erst durch ein Einüben in Selbst-

Distanz und Sozial-Kontrolle, durch eine kritische Aneignung von Kommunikations- und

Interaktionsmustern und durch die dabei immer wieder neu zu vollziehende Anerkennung

seiner selbst und seiner Mitmenschen im Sinne von Vernunftwesen.”416

Im Hinblick darauf, daß diese Gesichtspunkte im bayerischen Ethiklehrplan wenig

Berücksichtigung finden und auch die Möglichkeit einer vor allem handlungsorientierten

Unterrichtsgestaltung u.a. aufgrund der in diesem Falle erforderlichen stark normativen

Ausrichtung wenig Erfolg verspricht, stellt Höffe die grundsätzliche Frage, ob im

Ethikunterricht darauf verzichtet werden soll, sittliche Kompetenz zu vermitteln. Seiner

Ansicht nach läßt sich hierauf weder eine eindeutig positive noch eine eindeutig negative

Antwort geben. Während durch den Verzicht auf dieses Lernziel der Unterricht seinen

ursprünglichen Zweck verlieren würde, wäre es andererseits zu dessen strenger

Verfolgung erforderlich, „den Unterricht auf Aktion und Interaktion nach sittlichen

Prinzipien festzulegen; denn der Unterricht vermittelt nur so viel an sittlicher Kompetenz

als er in seiner Praxis sittliche Qualität hat und herausfordert”417. Die Lösung dieser

Problematik findet Höffe in der Eigenart des Ethikunterrichts. Für ihn liegt dessen

Hauptaufgabe in der kognitiven Aufarbeitung sittlichen Handelns. Hier geht es also vor

allem darum, die Schüler zu unterstützen, die in ihrem engeren und weiteren Lebensum-

feld auftretenden sittlichen Probleme wahrzunehmen, sie zu thematisieren und auf der

414 Ebd. S. 460. 415 Ebd. 416 Ebd. S. 461. 417 Ebd. S. 463.

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Grundlage von allgemein verbindlichen Normen und Werten zu beurteilen und zu

bewältigen. Mit dem „methodischen - und natürlich auch altersgemäßen - Einüben in die

Wahrnehmungs-, die Sprach- und die Argumentationskompetenz angesichts sittlich-

praktischer Gehalte”418 ist das Lernziel des Ethikunterrichts „sittliche Reflexion (mit

Information, Interpretation etc.), das heißt eine Reflexion, die nicht um des Wissens,

sondern um der Sittlichkeit von Praxis willen durchgeführt wird; Lernziel ist Reflexion als

Moment sittlicher Kompetenz”419.

In Verbindung mit dieser Zielsetzung eines Ethikunterrichts setzt sich Höffe weiterhin mit

der Frage auseinander, ob und welche sittlichen Grundwerte in einer pluralistischen

Gesellschaft vermittelt werden sollen. Während ein einseitig werteorientierter Unterricht im

Widerspruch zu dem Verfassungsauftrag steht, droht bei der Alternative, sich nur auf die

Vermittlung von Wissen über Normen und Wertvorstellungen zu beschränken und sich

jeder Stellungnahme zu enthalten, dagegen die Gefahr, dem ethischen Relativismus

Vorschub zu leisten. Der bayerische Lehrplan für den Ethikunterricht wie die Lehrplankon-

zepte anderer Länder zu diesem Fach weisen daher die im Grundgesetz und in den

Länderverfassungen festgeschriebenen sittlichen Grundsätze als Orientierungsgrundlage

ihrer Lehrplankonzepte aus. Diese Grundlegung würdigt Höffe zwar als „geschickt[e] und

pragmatisch auch nicht falsch[e]”420, letztendlich jedoch unzureichende Lösung. Pragma-

tisch ist die Zugrundelegung des gesetzlich festgeschriebenen Wertekanons insofern, als

es sich hier um „einen politisch geltenden Konsens über fundamentale Grund- und

Rahmennormen handelt”421. Dies betrifft jedoch nur ein Handeln, das entsprechend dieser

Vorgaben gesetzlich einklagbar und mit Hilfe von Strafandrohung durchsetzbar ist, also

das legale Handeln. Das sittliche Handeln meint aber gerade nicht das durch Sanktionen

erzwungene Tätigsein, sondern das Handeln, das aus Einsicht heraus Richtlinien aner-

kennt und befolgt, auch wenn keine Strafe droht. Dies begründet die Notwendigkeit, diese

gesetzlichen Rahmennormen auch zu analysieren und kritisch auf ihre Verbindlichkeit hin

zu hinterfragen.

Darüber hinaus sind für den Ethikunterricht Themenbereiche vorgesehen, die durch den

gesetzlich festgelegten Handlungsrahmen nicht oder nur unzureichend gefaßt werden.

Höffe nennt hier aus dem bayerischen Lehrplan unter anderem den Themenbereich:

418 Ebd. S. 464. 419 Ebd. 420 Ebd. S. 470. 421 Ebd.

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172

„Konflikte und ihre Bewältigung” (Jahrgangsstufe 7, Gymnasium)422. Hier seien als weitere

Beispiele genannt: die „Förderung von Hilfsbereitschaft gegenüber Notleidenden” (Jahr-

gangsstufe 7 Gymnasium)423, „Verantwortung für sich und andere” (Jahrgangsstufe 8

Gymnasium)424. Diese Unterrichtsinhalte gehen deutlich über die gesetzlich vorge-

gebenen Maßgaben für sittliches Handeln hinaus.

Doch dürfen in einer pluralistischen Gesellschaft über den gesetzlich vorgegebenen

Handlungsrahmen hinaus sittliche Normen zur Handlungsleitung grundgelegt werden?

Höffe macht deutlich, daß, unter dem Gesichtspunkt der Entfaltungs- und Gestaltungs-

freiheit des Lebens „der pluralistischen Qualität der Gesellschaft ein eigener sittlicher Wert

zu[kommt]”425, dieser zur Wahrung seiner sittlichen Qualität jedoch nur eingeschränkt

Gültigkeit haben darf426. Damit wird grundgelegt, daß zur Realisierung eines gleichbe-

rechtigten Nebeneinanders unterschiedlicher Sinn- und Wertinterpretationen und

Lebensgestaltungsmöglichkeiten im Sinne der Selbstbestimmung elementare allgemein

verbindliche Normen notwendig sind. Höffe unterscheidet hier zwischen „der im Prinzip

einen Ethik elementarer Verbindlichkeiten und der Pluralität von Ethiken eines optimalen

Lebens, den christlichen, marxistischen, buddhistischen und anderen Deutungen von

Humanität”427.

Nach Höffe lassen sich diese elementar verbindlichen Normen aus unserer ethischen

Tradition sowie den täglich realisierten Kommunikations- und Interaktionsbezügen

ableiten, die er in drei Gruppen aufgliedert:

1. Die „Grundnormen, die Kommunikation in jeder Form erst möglich machen”428 und

insofern „sowohl für Personen innerhalb von homogenen Gruppen als auch für das

Verhältnis heterogener Gruppen zueinander gültig [sind]. Hierzu zählt vor allem der

Schutz fremden Lebens im Sinne des Verbots von Tötung und Mord und von Verge-

waltigung, dann – wenn auch weniger elementar – des Verbots von Lüge und Betrug.”429

422 Ebd. 423 KWMBl a.a.O. 1990, S. 248. 424 Ebd. S. 268. 425 Höffe, Otfried: a.a.O. (1979), S. 471. 426 Vgl . hierzu auch Topitsch, Ernst: Pluralismus und Toleranz. In: Pluralismus: Legitimationsprobleme im

Interessenwandel, Veröffentlichung der Walter-Raymond-Stiftung, Band 21. Köln 1983, S. 9 - 28. 427 Höffe, Otfried: a.a.O. (1979), S. 472. 428 Ebd. S. 473. 429 Ebd.

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173

2. Die Rahmennormen, die das Verhältnis heterogener Gruppen untereinander regeln und

damit deren gleichberechtigtes Nebeneinander sichern. Toleranz gilt Höffe in diesem

Zusammenhang als zentrale Norm, da deren Einhaltung Konfliktsituationen gar nicht erst

aufkommen läßt. „Toleranz gründet in der Einsicht, daß kein Mensch schlechthin irrtums-

und vorurteilsfrei ist, besonders aber in der Anerkennung anderer als freier und

ebenbürtiger Personen, die das Recht haben, die eigenen Vorstellungen zu äußern und

nach ihnen zu handeln, soweit sie nicht dasselbe Recht anderer beeinträchtigen.”430 Hier

ist Toleranz nicht bloße Duldung sondern als Aufgabe zu betrachten, denn sie erfordert

die grundsätzliche Anerkennung der Interessen anderer als mit den eigenen gleichbe-

rechtigt, sowie die Bereitschaft, sich mit anderen Ansichten auseinanderzusetzen.

„Vollendet wird die Toleranz in der Bereitschaft und Fähigkeit, sich in die Anschauungen

und Lebensweisen des anderen einzufühlen.”431 Durch den Rückbezug auf die

Menschenrechte, findet Toleranz ihre Grenzen dort, wo Würde und Freiheit anderer

verletzt werden.

3. Die Normen, die eine humane sozial verträgliche Konfliktbewältigung beim

Zusammentreffen konkurrierender Interessensbereiche ermöglichen. Dies erfordert von

Vertretern unterschiedlicher Interessengruppen „die Bereitschaft, in die Situation des

Konfliktes nicht ausschließlich nach Maßgabe von Vorteil, Geschicklichkeit und Macht

einzutreten, vielmehr eigene Interessen partiell aufzugeben und eine gemeinsame

Handlungsbasis zu suchen”432. Grundlage ist auch hier Toleranz, die sich einerseits in

dem Bemühen zeigt, sich für andere verständlich auszudrücken, sowie andererseits in

dem Bestreben, andere Denkweisen und Sprachcodes zu verstehen und anzuerkennen.

Höffe betont, daß die von ihm vorgeschlagenen Haltungen und Normen eines gemeinsam

haben: „Sie betreffen die Voraussetzungen von Kommunikation bzw. die Basisbedingun-

gen einer vernünftigen Konfliktbewältigung“433, für die nicht allein im Ethikunterricht,

sondern auch in allen anderen Unterrichtsfächern eingetreten werden sollte, zumal der

Ethikunterricht nur den Teil der Schüler erreicht, die nicht am konfessionell gebundenen

Unterricht teilnehmen.

430 Ebd. 431 Höffe, Otfried: Ethikunterricht in einer pluralistischen Demokratie: In: Treml, Alfred K. (Hrsg.): a.a.O. 1994,

S. 30-35, hier S. 35. 432 Höffe, Otfried: a.a.O. (1979), S. 475. 433 Ebd.

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174

In seinen vor dem Hintergrund des bayerischen Lehrplans für den Ethikunterricht

angestellten Überlegungen geht Höffe nicht nur der Frage nach, welche Werte in einem

Staatsgefüge, welches bezüglich weltanschaulich gebundener Werthaltungen Neutralität

wahren muß, vermittelt werden sollten und dürfen, sondern setzt sich auch mit dem

methodischen Gesichtspunkt auseinander, indem er untersucht, ob mit den im Schul-

unterricht zur Verfügung stehenden Mitteln die anvisierte Zielsetzung realisierbar ist.

Hinsichtlich der Zielsetzung des Lehrplanes: „Hinführen zu sozialverantwortlichem

Handeln und Bildung einer sittlichen Haltung in Selbstbestimmung“, merkt er kritisch an,

daß mit einem allein auf theoretische Wissensvermittlung angelegten Unterricht diese

Zielsetzung nicht realisiert werden kann. Höffe stellt fest, daß der Annahme, mit den zur

Verfügung stehenden Mitteln, diese Zielsetzung realisieren zu können „eine Vorstellung

von menschlichem Handeln zugrunde liegt, in dem die fundamentale Differenz von

Einsicht und der Bereitschaft, der Einsicht zu folgen, unbeachtet bleibt“434 und weist in

diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hin, daß eine sittliche Haltung, als ein

selbstbestimmtes und selbstverantwortliches Tätigsein unter Anerkennung und Wahrung

der Rechte anderer, handelnd erworben wird. Im Hinblick auf die auf theoretische

Wissensvermittlung ausgelegte Unterrichtsgestaltung muß deshalb die Zielsetzung des

Faches eine Einschränkung erfahren auf einen wesentlichen Teilbereich der sittlichen

Kompetenz: die sittliche Reflexion. Ein Ethikunterricht, so die konkreten Vorschläge zur

Umsetzung der sittlichen Reflexion, sollte die Schüler dazu anleiten, die im schulischen

und außerschulischen Leben auftretenden sittlichen Probleme „zu erkennen, zu

artikulieren und nach allgemein verbindlichen Kriterien und Verfahren zu bewältigen. [...]

Die Aufgabe des Ethikunterrichts liegt im methodischen – und natürlich auch altersge-

mäßen Einüben – in die Wahrnehmungs-, die Sprach- und die Argumentationskompetenz

angesichts sittlich-praktischer Gehalte.“435

Mit der Begrenzung der Zielsetzung des Ethikunterrichts und der für diese Begrenzung

angeführten Begründung, Wissen und Einsicht allein würden nicht notwendig zu einem

der Einsicht gemäßen Handeln führen, sondern ein solches Handeln müsse – vor allem,

wenn es einer gewohnten Handlungsweise entgegensteht oder den Verzicht auf die

Verfolgung eigener Ziele und Wünsche bedeutet – eingeübt werden, entspricht Höffe dem

Leventhalschen Verhaltensmodell. Nach Leventhal dient die durch die Tätigkeit gewon-

nene Erfahrung zur Etablierung der emotionalen Erinnerungsstrukturen, die eine

434 Ebd. S. 460. 435 Ebd. S. 463 f.

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Situationsbewältigung entscheidend mitbestimmen. Praktische Erfahrung aber ist in

einem auf theoretische Wissensvermittlung ausgelegten Unterrichtsgeschehen nur ganz

bedingt und zwar, wie Höffe deutlich macht, nur im Rahmen der Unterrichtsgestaltung

möglich.

Wichtig ist, daß die von Höffe vorgenommene Begrenzung der Zielsetzung des

Ethikunterrichts keineswegs seinen Stellenwert mindert, sondern vielmehr durch die

Präzisierung der Aufgabenstellung: sittliche Probleme und deren Lösungsmöglichkeiten

zu erarbeiten und aufzuarbeiten, dessen Möglichkeiten und Notwendigkeit erst deutlich

hervortreten läßt. Denn die Änderung von Handlungsweisen setzt das Wissen um andere

als die gewohnten Bewältigungsstrategien voraus. Und erst die argumentativ gewonnene

Einsicht über die Notwendigkeit und den Nutzen einer anderen als der gewohnten

Handlungsweise wird zu einer Anwendung des Wissens führen. Die Voraussetzung für

die Anwendung gewaltloser Konfliktbewältigungsstrategien ist das Wissen darum, daß

und wie sich Konflikte auch gewaltfrei lösen lassen und die Einsicht in die Notwendigkeit

und den Nutzen einer gewaltfreien Konfliktlösung. Zur Bildung der sittlichen Haltung aber

muß, wie oben ausdrücklich betont wird, die Erprobung dieses Wissens in der Praxis

hinzukommen, denn ebenso wie erst die Erfahrung, daß das Zeigen von Unsicherheit und

Angst nicht notwendig zu Diffamierung und Ausgrenzung führt, sondern durch Verstän-

dnis und Hilfestellungen aufgefangen werden kann, Vertrauen stiftet, bietet die Erfahrung,

daß Konfliktsituationen nicht nur im schulischen, sondern auch im außerschulischen

Bereich tatsächlich argumentativ statt mit Gewalt zu lösen sind, die Möglichkeit zur

grundlegenden Akzeptanz einer gewaltfreien Konfliktlösestrategie.

Die Entwicklung einer sittlichen Haltung, mit Höffe gesprochen: die Bildung von sittlicher

Kompetenz, wird hier also abhängig gemacht von Wissen und Einsicht, der Erfahrung der

Anwendung des Wissens im Handlungsvollzug und der kritischen Reflexion über die

jeweiligen Handlungserfahrungen. Genau diese Komponenten: das Wissen, die

Handlungserfahrung und die eigene Bewertung der Handlungserfahrung sind auch

wesentlich in Leventhals Modell des adaptiven Verhaltens, in dem die Situations-

bewältigung, wie oben mehrfach ausführlich erläutert, abhängig ist von der emotionalen

Einschätzung, dem problemorientierten Wissen und der Bewertung der Situations-

bewältigung, die wiederum rückwirkt auf emotionale Einschätzungen und problemorien-

tierte Bewertungen von Situationen.

Mit der Bindung der sittlichen Kompetenz an das Wissen um sittliche Anforderungen, eine

durch bewußte rationale Auseinandersetzung mit divergierender Wertanforderungen

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gewonnene Werteinsicht, die Erprobung und Einübung dieser rational gewonnenen

Einsichten im Handeln und deren Bewertung, wird verhindert, daß wie bei der Methode

der indirekten Erziehung, die abzielt auf die Erzeugung normgerechten Verhaltens, das im

Sinne von Reiz-Reaktions-Schemata durch Sanktionen modifizierbar ist, eine Tätigkeit

allein über die von außen gesteuerten Sanktionen bewertet wird. Vielmehr wird durch die

Methode der rationalen Auseinandersetzung mit konkurrierenden Wertvorstellungen

verbunden mit der Forderung, selbstbestimmt Handlungsentscheidungen zu fällen, ein

Bewußtsein dafür geweckt, daß die Werthaftigkeit in der eigenverantwortlich getroffenen

Handlungsentscheidung liegt. Die Bedeutung, die darüber hinaus dem Handlungsvollzug

unter den eigenverantwortlich erworbenen Prinzipien für die Stabilisierung der sittlichen

Haltung zukommt, wurde oben mehrfach erwähnt. Angesichts der in einer werteplura-

listischen Gesellschaft vorfindbaren unterschiedlichen Wertangebote, mit denen Kinder

und Jugendliche tagtäglich konfrontiert werden, bietet eine in kritischer Auseinander-

setzung mit konkurrierenden Werten gewonnene Werthaltung in Verbindung mit dem

Wissen darum, daß die Konsequenzen für subjektive Wertentscheidungen eigenverant-

wortlich getragen werden müssen, eine sicherere Orientierung- und Entscheidungshilfe

bei Wertfragen als eine über Sanktionen erzeugte Wertbindung, denn letztere hilft wenig

bei Wertentscheidungen, in denen, wie das obige Beispiel zeigt, die Entscheidungsalter-

nativen jeweils mit ähnlichen Sanktionen, seien sie positiver oder negativer Natur (in dem

obigen Beispiel handelte es sich um negative Sanktionen) belegt sind.

In bezug auf die Frage, ob über den durch das Grundgesetz legitimierten Wertekatalog

hinaus in der Schule für allgemein verbindliche Normen einzutreten sei, verweist Höffe

darauf, daß gerade zur Wahrung der Pluralität der Wertvorstellungen elementare

Verbindlichkeiten gelten müßten. Da für ihn die Wahrung der Pluralität abhängig ist von

der Kommunikationsfähigkeit und der Möglichkeit einer gewaltlosen Konfliktbewältigung,

beziehen sich die von ihm vorgeschlagenen elementaren Verbindlichkeiten auf „die

Voraussetzungen von Kommunikation bzw. die Basisbedingungen einer vernünftigen

Konfliktbewältigung“436. Damit tritt Höffe für die Anerkennung elementarer Normen ein,

die in Brezinkas Werteerziehungskonzept, welches unter Anerkennung der Bedingungen

einer wertepluralistischen Gesellschaft die Vermittlung von normativen Verbindlichkeiten,

die nicht durch das Gesetz legitimiert sind, als Aufgabe der familiären Erziehung ausweist,

keinerlei Berücksichtigung finden. Die Problematik, die mit der selbstverständlichen An-

nahme, eine im familiären Umfeld erzeugte Wertbindung würde notwendig zur Stützung

des Gemeinwohls beitragen, wurde oben ausführlich erörtert. Die genauere Betrachtung

436 Höffe, Otfried: a.a.O. (1979), S. 475.

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177

der von Höffe vorgeschlagenen „elementaren Verbindlichkeiten“ zeigt, daß sie genau die

Aspekte betreffen, die nicht in allen „Glaubensquellen“ als verbindlich anerkannt werden.

Die Anerkennung dieser Normen jedoch erst sichert, gerade angesichts der in

unterschiedlichen Glaubensrichtungen begründeten differierenden Wertschätzungen

menschlichen Lebens zum einen und differierenden Vorstellungen bezüglich der

Anerkennung anderer als der eigenen Werthaltungen zum anderen, ein friedliches

Nebeneinander und ist mithin die Grundvoraussetzung für ein verständnisvolles

Miteinander.

Die kritische Erörterung der beiden unterschiedlichen Auseinandersetzungen mit der

Zielsetzung und der Realisierbarkeit der Wertevermittlung hat verdeutlicht, daß eine den

Gegebenheiten einer wertepluralistischen Gesellschaft angemessene Werteerziehung

spezifische Anforderungen stellt, von deren Berücksichtigung die Verwirklichung des

grundlegenden Anliegens: den zu Erziehenden zur Entwicklung einer Werthaltung als

Orientierungshilfe für Wertentscheidungen in einer von pluralen Wertvorstellungen

geprägten Lebenswelt zu verhelfen, entscheidend abhängig ist. Wie sich zeigen lies, ist

das von Brezinka vorgeschlagene Werteerziehungskonzept sowohl im Hinblick auf die

Zielsetzung, die Erzeugung einer Gesinnungseinstellung, als auch im Hinblick auf die

Methode: die durch Sanktionen unterstützte indirekte Erziehung für die Realisierung der

Zielsetzung unter den Bedingungen einer wertepluralistischen Gesellschaft unzureichend.

Die methodische Unzulänglichkeit zeigt sich darin, daß durch die Vernachlässigung einer

kritischen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Wertvorstellungen zwar ein an

Sanktionen orientiertes Verhaltensmuster im Sinne eines Reiz-Reaktions-Schemas

erzeugt wird, jedoch kaum die Fähigkeit, zwischen den konkurrierenden Wertangeboten

der pluralen Lebenswelt zu entscheiden. Die Zielsetzung ist insofern kritisch zu

betrachten, als durch die einer Gesinnungseinstellung eignenden realitätsunabhängig

Geltung beanspruchenden Handlungsprinzipien die Eigenverantwortlichkeit bei einer

situativen Handlungsentscheidung auf die Handlungsabsicht reduzierbar wird, womit nicht

nur eine kritische Auseinandersetzung mit den Handlungsfolgen, sondern damit

einhergehend auch eine kritische Betrachtung der situativen Gegebenheiten für eine

adäquate Handlungsentscheidung überhaupt unnötig wird. Nach Löwisch ist eine

gesinnungsethische Haltung aus diesen Gründen „unkommunikativ“ und führt nicht nur

zur Ignoranz gegenüber Konflikten, mithin verhindert sie eine gemeinsame

Weltbewältigung, da Gemeinsamkeit an Kommunikation gebunden ist.

Diese in einer gesinnungsethischen Haltung keine Berücksichtigung findenden Gesichts-

punkte: die Ausrichtung der Handlungsentscheidungen an der kritischen Beurteilung der

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situativen Gegebenheiten ebenso wie an den Handlungsfolgen sowie die Verantwortungs-

übernahme sowohl für Handlungsentscheidung und Handlungsfolgen sind die von

Löwisch ausgemachten Kriterien der Verantwortungsethik, die oben nicht nur in bezug auf

die Zielsetzung, sondern auch hinsichtlich der Methode für eine den Anforderungen einer

wertepluralistischen Gesellschaft angemessene Werteerziehung ausgewiesen wurde.

Die Methode wird deutlich an den Voraussetzungen, an die Löwisch die Realisierung

einer verantwortungsethischen Haltung bindet: die Kommunikationsfähigkeit als Fähigkeit

zum Analysieren und Reflektieren, zum Fällen von Urteilen, zum Argumentieren,

verstanden als die als Fähigkeit, Urteil und Gegenurteil kritisch abwägen zu können,

sowie Diskursfähigkeit, als Fähigkeit sich mit sich selbst und anderen auseinandersetzen

zu können. Hier geht es nicht, wie bei der für die gesinnungsethischen Wertbindung

empfohlenen Methode, um eine unreflektierte Übernahme ganz bestimmter Wertvor-

stellungen durch Einübung und Gewöhnung, sondern um eine in kritischer Auseinander-

setzung mit konkurrierenden Wertvorstellungen gewonnene Werthaltung. Für die Ver-

mittlung und Förderung der Fähigkeiten, die für eine kritische Auseinandersetzung nötig

sind, Sorge zu tragen, ist nach Höffe die Hauptaufgabe des Ethikunterrichts. Durch die

Reduzierung der Zielvorstellung des Ethikunterrichts auf die Vermittlung der Fähigkeiten

zur sittlichen Reflexion als wesentlichen Bestandteil der sittlichen Kompetenz macht Höffe

jedoch auch deutlich, daß die rein rationale Er- und Aufarbeitung von sittlichen Problemen

und deren Lösungsmöglichkeiten allein nicht ausreicht für die Entwicklung einer sittlichen

Haltung. Vielmehr ist für ihn die Realisierung der Zielsetzung notwendig gebunden an das

Einüben des Handelns unter den Prinzipien des rational erworbenen Wissens und der

Einsicht. Durch die Bindung der Entwicklung einer sittlichen Haltung an das

Zusammenwirken von Wissen und das Einüben der rational gewonnenen Einsicht im

Handlungsvollzug finden die beiden von Leventhal für das adaptive Verhalten ausge-

machten Prozeßverarbeitungsstränge Berücksichtigung: der problemorientierte, der von

Wissen und Einsicht gespeist wird und der emotionale, der durch die Bewertung der

Situationsbewältigung modifiziert und ausdifferenziert wird. Während bei der Methode der

sanktionsunterstützten indirekten Erziehung durch die Einübung immer gleichen Ver-

haltens unter gleichen Bedingungen, nicht nur die Ausdifferenzierung der Schemata

verhindert, sondern auch der rationale Aspekt, und das heißt nach Leventhal die

problemorientierte Prozeßverarbeitung, kaum Beachtung findet, ist bei Höffe durch die

Verbindung der in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Wertangeboten diskursiv zu

erarbeitenden reflexiven sittlichen Kompetenz mit dem Handlungsaspekt die Voraus-

setzung für die Erweiterung beider Prozeßverarbeitungsstränge gegeben: die Aus-

differenzierung der Schemata und die Verbreiterung des Wissens um problemorientierte

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Situationsbewältigungsmöglichkeiten. Die Bedeutung des Zusammenwirkens beider

Aspekte gerade in bezug auf eine stabile Werthaltung in den Gegebenheiten einer werte-

pluralistischen Gesellschaft, wurde oben ausführlich erörtert.

In direktem Zusammenhang mit der Methode ist auch die Zielsetzung der Verantwor-

tungsethik, die Verpflichtung durch das Prinzip Verantwortung zu sehen. Da die

Werthaltung auf diskursivem Wege in Auseinandersetzung mit den lebensweltlichen

Gegebenheiten unter Berücksichtigung des handelnden Umgangs mit situativen

Gegebenheiten zu erarbeiten ist, ist dem Subjekt nicht nur die Übernahme der Verant-

wortung für die Handlungsentscheidung, sondern auch das „personale Aufsichnehmen

der erkennbaren Folgen und der abschätzbaren Nebenfolgen des eigenen Handelns“437

aufgegeben. Nur durch die Anerkennung des einzelnen als durch sein Tun verantwort-

licher Mitgestalter der Lebenswelt und die dadurch gegebene Verpflichtung zur

Verantwortungsübernahme für Handlungsabsicht und Handlungsfolgen läßt sich ein

Miteinander von pluralen Lebensformen sozial verträglich gestalten.

Die Verpflichtung durch das Prinzip Verantwortung ist, wie mehrfach deutlich wurde, nicht

nur an die Fähigkeit, sondern auch an die Möglichkeit zur Kommunikation gebunden. In

diesem Sinne sind Höffes Vorschläge für über die verfassungsrechtlich grundgelegten

hinaus im Ethikunterricht zu vertretenen Normen, die er als Sicherung der Voraus-

setzungen von Kommunikation bzw. der Basisbedingungen einer vernünftigen Konflikt-

bewältigung verstanden wissen will, legitimierbar. Das Zentrum bildet hier die “positive

Toleranz”438, die sich zeigt in der Anerkennung aller Menschen als ebenbürtig und

gleichberechtigt, in der Achtung anderer Überzeugungen und durch die Bereitschaft

andere Überzeugungen diskursiv zu erörtern. Ziel ist hier die aktive Gestaltung eines

gleichberechtigten Miteinanders. Wie oben deutlich geworden ist, impliziert verant-

wortungsethisches Handeln die Anerkennung dieser Prämissen und macht, insofern es

notwendig gebunden ist an Kommunikation, gemeinsame Weltbewältigung erst möglich.

Durch die Untersuchungen der Methoden und Zielsetzung von Werteerziehung im

Hinblick auf die Gegebenheiten in einer von pluralen Lebensentwürfen gekennzeichneten

Gesellschaft konnte nicht nur deutlich gemacht werden, wie sehr die Zielvorstellung die

437 Löwisch, Dieter-Jürgen: a.a.O 1995, S. 29. 438 Höffe, Otfried: a.a.O. (1979) S. 467.

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Wahl der Mittel bedingt, sondern auch, welcher Stellenwert dem Gefühl bei der

moralischen Erziehung zukommt. An Brezinkas Erziehungskonzept, in dem der

Schwerpunkt auf der Bildung des Herzens, oder wie er es auch bezeichnet auf der

Gemütsbildung oder Gesinnungsbildung439, mit der expliziten Forderung die „Liebe zu

bestimmten Kulturgütern, die als besonders wertvoll gelten“440 zu fördern, also auf der

Gefühlserziehung liegt, lassen sich sowohl die Möglichkeiten als auch die Gefahren einer

allein auf die Gefühle gerichtete Erziehung ganz klar aufzeigen.

Im Zentrum steht hierbei die durch die indirekte Erziehung ermöglichte Gewöhnung an

und Einübung von bestimmten Verhaltensregeln, deren Einhaltung durch die Anwendung

von Sanktionen gewährleistet wird. Demgemäß soll durch die Erzeugung von Gefühlen,

denn genau darauf zielen die Belohnung und Sanktionen ab, deutlich gemacht werden,

welche Verhaltensweisen angemessen, gewünscht, also richtig und welche unange-

messen, unerwünscht also falsch ist. Nach Leventhals Modell manifestiert sich eine

solche gefühlsvermittelte unbewußte emotionale Situationseinschätzung durch die

Methode der indirekten Erziehung, also der Möglichkeit, ähnliche Situationskonstella-

tionen immer wieder aufs neue zu erleben, in sehr stabilen Erinnerungsstrukturen, den

sogenannten Schemata.

Durch die genauere Betrachtung lassen sich die oben bezüglich der Beziehung zur

Werteerziehung in der pluralistischen Gesellschaft angesprochenen Unzulänglichkeiten

dieser Erziehungsmethode, die sich aus der Bewertung von Tätigkeiten über Sanktionen

ergeben können, noch klarer herausarbeiten: so ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzu-

nehmen, daß im Falle einer über Sanktionen vorgenommenen Tätigkeitsbewertung die

auf bestimmte Situationskonstellationen abgestimmten Verhaltensweisen von verschiede-

nen Instanzen unterschiedlich sanktioniert werden, das Verhalten entweder der jeweiligen

Sanktion entsprechend bewertet oder die Bewertung der Instanz übernommen wird, die

als die maßgebende angesehen wird, d.h. die Art der Sanktion bestimmt die Bewertung

der Tätigkeit. Damit in engem Zusammenhang zu sehen ist die Gefahr, daß in den Fällen,

in denen die emotionalen Schemata nach den Sanktionen ausgerichtet sind, die Inhalte

jederzeit austauschbar sind. Wenn das Verhalten also nach dem Ergebnis, sei es Angst

vor der Bestrafung oder Stolz und Freude über die Belohnung ausgerichtet ist, die

Tätigkeit an sich ohne Bedeutung bleibt. Im Vordergrund steht vor allem die Vermeidung

439 Vgl. Brezinka, Wolfgang: a.a.O. (1993), S. 61. 440 Ebd. S. 62.

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der negativen Sanktionierung bzw. das Erhalten der Belohnung. Hinzu kommt, daß beim

Fehlen der sanktionierenden Instanz die hohe Wahrscheinlichkeit besteht, daß ursprüng-

liche Verhaltensweisen wieder auftreten, d.h. wenn Tätigkeiten nicht kontrolliert werden

(können), werden durch Belohnung oder Bestrafung initiierte Verhaltenregeln nicht

eingehalten.

Zusammengefaßt führt die von Brezinka empfohlene auf die Gefühle gerichtete

Erziehungsmethode nicht, wie intendiert, zur Etablierung einer gefühlsmäßigen Bindung,

die an dem Wert der Tätigkeit oder dem Wert des Modells ausgerichtet ist, denn Liebe

und Wertschätzung entwickelt sich nicht durch Zwang, sondern aufgrund der an über die

Sanktionierung etablierten emotionalen Situationseinschätzung werden an Belohung und

Bestrafung ausgerichtete Verhaltensdispositionen geschaffen. Dabei besteht die größte

Problematik darin, daß diese in relativ stabilen Gedächtnisstrukturen gespeicherten

emotionalen Einschätzungen unbewußt und daher durch rationale Argumentation nur

schwer zu beeinflussen sind. Wie wenig eine solche Konditionierung zu einer stabilen

Werthaltung führt, sondern vielmehr der Manipulation menschlichen Verhaltens dient,

bestätigt ein Blick in die Geschichte.

Zweifellos ist eine Erziehung ohne Sanktionen nicht vorzustellen, denn das würde

wiederum bedeuten, daß die Gefühle vollkommen außer Acht gelassen werden könnten.

Aber auch Höffe betont ausdrücklich, daß ein Handeln in sozialer Verantwortung, das

heißt ein Handeln, welches die Rechte anderer und die Anerkennung anderer als

ebenbürtig berücksichtigt, einzuüben ist, da eine solche Handlungsweise Triebverzicht

und Sublimierung erfordert, d.h. auch hier müssen Sanktionen als notwendiger

Bestandteil der Erziehung akzeptiert werden. Wie oben deutlich geworden ist, geht es

jedoch wesentlich darum, wie und in welchem Kontext Sanktionen angewendet werden.

Denn Höffe räumt der mit der Einübung einhergehenden rationalen Er- und Aufarbeitung

der Werthaftigkeit der Handlung in kritischer Auseinandersetzung mit konkurrierenden

Wertansprüchen im Sinne der „sittliche[n] Reflexion als Moment der sittlichen

Kompetenz“441 einen zentralen Stellenwert ein. Hier wird beides notwendig zusammen

gesehen, der rationale Aspekt des Wissens, kritischen Bewertens und selbstver-

antwortlichen Entscheidens und der sich in der aktiven Situationsbewältigung und deren

Bewertung entwickelnde emotionale Aspekt und damit verhindert, daß Tätigkeiten allein

über die Sanktionen bewertet werden. Und erst dann, wenn Handlungen eigenverant-

441 Höffe, Otfried: a.a.O (1979) S. 464.

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wortlich und unabhängig von Sanktionen als werthaft erkannt werden, reduziert sich die

Gefahr der Manipulation.

Eine Erziehung, die eine Zielsetzung mit den Maßgaben, wie sie im Curriculum für den

bayerischen Lehrplan formuliert sind: nämlich zum sittlichen Handeln anzuleiten, ein

sittliches Bewußtsein und eine sittliche Haltung sowie die Fähigkeit zur Selbstbestimmung

und sozialer Verantwortung zu bilden, tatsächlich ernst nimmt, eine Erziehung also, die

ihre Aufgabe in der Förderung der Entwicklung eines mündigen, selbstbestimmten und

selbstverantworteten Handelns sieht, muß in diesem Sinne sowohl Gefühl als auch

Verstand und die Vernunfttätigkeit fördern.

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5 Resümee

Die in dieser Arbeit vorgenommene Untersuchung der „Natur“ der Gefühle im Hinblick auf

ihren Stellenwert im Rahmen der menschlichen Lebensgestaltung hat die Unwägbar-

keiten, die mit den Gefühlen als Forschungsgegenstand verbunden sind, deutlich

hervortreten lassen. Dennoch konnten gerade hinsichtlich der philosophischen Frage

nach dem Wesen des Menschen, deren Beantwortung auch jede pädagogische Tätigkeit

grundlegend bestimmt, wichtige Sachverhalte herausgearbeitet werden.

Die Problematik der Gefühle als Forschungsgegenstand liegt darin, daß sie als privater,

persönlicher Zustand über das Ausdrucksgeschehen hinaus nicht sichtbar und daher nur

schwer meßbar sind. Diesem Umstand ist es auch zu verdanken, daß es trotz intensiver

Bemühungen bis heute nicht gelungen ist, eine allgemeingültige, exakte Begriffsbe-

stimmung für Gefühl oder Emotion vorzunehmen, ein Grund dafür, daß auch für die hier

angestellte Untersuchung von einem eher wagen Verständnis der Gefühle als Verbindung

aus einer sowohl geistigen oder seelischen Komponente wie auch einer physischen oder

leiblichen Komponente ausgegangen wurde. Dieses weite Verständnis hat es erlaubt, aus

mehreren Perspektiven an den Untersuchungsgegenstand heranzugehen, aber auch

dazu geführt, einige Herangehensweisen auszuschließen. Letzteres betrifft Peter Bieris

Zuordnung der Gefühle zu den mentalen Phänomenen, wobei die körperliche Kompo-

nente vollkommen unbeachtet bleibt, ebenso wie die phänomenologische Betrachtung

Hermann Schmitz’, der durch die Gleichsetzung der Gefühle mit dem Wetter ähnlichen

Atmosphären, die sich unabwendbar des Körpers bemächtigen, die geistige Komponente

ausschließt.

Dagegen hat die Erörterung maßgeblicher emotionspsychologischer Theorien gezeigt,

daß hier sowohl der geistige als auch der leibliche Aspekt Berücksichtigung finden, jedoch

gemäß der jeweiligen Ausgangsprämissen in unterschiedlicher Gewichtung. Dabei ließen

sich grob drei Richtungen unterscheiden: zum einen diejenigen Emotionstheorien, für die

die Emotionsgenerierung auf vermittels genetischer Determination hervorgerufene Reiz-

Reaktions-Schemata zurückgeht, zum anderen diejenigen, die einen kognitiven

Bewertungsprozeß – sei er bewußt oder unbewußt – als Bedingung für die Emotions-

generierung ausmachen und zuletzt die dritte Gruppe, die die Entstehung von Emotionen

zwar auf eine genetische Disposition zurückführen, jedoch einerseits die Zuordnung eines

Reizes zu einer bestimmten emotionalen Einschätzung entscheidend von Lernprozessen

abhängig machen und andererseits zwischen bewußten (kortikalen) und unbewußten

(subkortikalen) Lernprozessen unterscheiden.

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Die kritische Prüfung der jeweiligen Positionen und ihrer Grundprämissen im Hinblick auf

die für diese Arbeit gewählte Ausgangsfragestellung: die Klärung des Verhältnisses

zwischen Denken und den Gefühlen hat ergeben, daß bei der erstgenannten Position,

Denk- und Lernprozessen keinerlei Einfluß auf die Emotionsgenerierung zugesprochen

wird, da diese allein von genetisch determinierten körperlichen Reaktionsmustern

abhängig macht wird. Die kritische Prüfung dieser Annahme hat gezeigt, daß zum einen

die empirischen Nachweise für die Existenz spezifischer körperlicher Reaktionsmuster für

alle unterschiedlichen Emotionen fehlen, zum anderen, daß Unklarheit darüber besteht,

wie allein durch die genetische Determination die emotionale Einschätzung der vielen

unterschiedlichen Reize vonstatten gehen kann. Konsequent zuende gedacht müßten bei

dieser Art der Emotionsgenese bei der Mehrzahl der Menschen spezifische Reize immer

zumindest sehr ähnliche körperliche Reaktionsmuster hervorrufen. Allein die Tatsache,

daß jedoch derselbe Reiz bei einem Menschen abhängig von seiner körperlichen und

geistigen Verfassung, Alter und den übrigen situativen Gegebenheiten unterschiedliche

Reaktionen hervorrufen kann, läßt diese Position zweifelhaft erscheinen.

Eine ganz andere Problematik ergibt sich vor allem hinsichtlich der Fragestellung dieser

Arbeit aus der Ausgangsprämisse der Emotionstheorien, die die Emotionsgenese

undifferenziert auf bewußte und unbewußte kognitive Bewertungsprozesse zurückführen.

Aus dem hier zugrundeliegenden weiten Verständnis des Begriffes Kognition verstanden

als Informationsverarbeitungsprozeß folgt, daß die unterschiedlichen Vorgänge des

Fühlens und Denkens durch das gleiche Prozeßsystem gesteuert werden, insofern sie

beide als Informationsverarbeitungsprozesse anzusehen sind. Vor diesem Hintergrund

lassen sich durch diese Emotionstheorien kaum Aussagen zum Verhältnis zwischen

Denken und Gefühl treffen. Eben diese Fassung des Kognitionsbegriffs und die daraus

resultierende These, Emotionen entstünden in Abhängigkeit von Kognitionen unbewußter

und bewußter Art, hat eine intensive Debatte zwischen einzelnen psychologischen

Emotionsforschern ausgelöst, bezüglich der eine Untersuchung der Ausgangsprämissen

aufgedeckt hat, daß die Kontroverse allein auf das den beiden Positionen

zugrundeliegende unterschiedliche Verständnis des Begriffes Kognition zurückzuführen

sei. So ist man der Ansicht, daß der einen Position das Verständnis von Kognition als

bewußter Denkprozeß (Zajonc) unterliege, demgegenüber die andere Position die

Auffassung verträte, ein jeder Wahrnehmungsprozeß sei als Kognition zu verstehen

(Lazarus).

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185

Ein wesentlicher Punkt dieser Debatte, der aufgrund der Diskussion um das Begriffsver-

ständnis auch bei den beiden Kontrahenten weniger Beachtung findet, ist die durch das

weite Verständnis von Kognition als Informationsverarbeitungsprozeß ausgeschlossene

Möglichkeit, bewußte und unbewußte Verarbeitungsprozesse auf zwei verschiedene Pro-

zeßsysteme zurückführen zu können. Genau an dieser Stelle setzen Leventhal und

Scherer an. Mit dem Wissen darum, daß die auf semantischer Ebene geführte Debatte

nicht lösbar ist und darüber hinaus den Blick verstellt für weitergehende notwendige

Untersuchungen zur Emotionsgenese und -generierung, entwickeln sie ein Erklärungs-

modell (integratives Prozeßmodell), in dem einzelne Komponenten der sich gegen-

überstehenden Positionen integriert werden. Denn ausgehend von getrennten Prozeß-

systemen für subkortikale (unbewußten) und kortikalen (bewußten) Reizbewertungs-

prozessen, mit der Prämisse, daß Emotionen zwar hauptsächlich von subkortikalen Reiz-

bewertungsprozessen generiert werden, diese jedoch in enger Interaktion mit den

kortikalen Reizbewertungsprozessen operieren, wird die Wechselwirkung zwischen

Denken und den Gefühlen deutlich gemacht.

Das Herzstück dieses integrativen Modells bildet die von Leventhal entwickelte Theorie

zur Ontogenese der Emotionen, die eingebunden ist in ein Modell für adaptives Verhalten.

Für das adaptive Verhalten werden zwei Prozeßverarbeitungsstränge postuliert, der

emotionale und der problemorientierte, wobei die Situationsbewältigung abhängig

gemacht wird von der auf beiden Prozeßverarbeitungssträngen stattfindenden Reizbe-

wertung. Diese Voraussetzungen sind gebunden an die Option, daß die beiden getrennt

arbeitenden Prozeßverarbeitungsstränge miteinander interagieren, in der Form, daß

zunächst die jeweiligen Reizbewertungen eine spezifische Herangehensweise an die

Situationsbewältigung initiieren und die Bewertung der Situationsbewältigung jeweils

zurückwirkt auf die Reizbewertungen beider Verarbeitungsstränge. Für die Emotions-

genese, die die Grundlage für die Reizbewertung auf dem emotionalen Prozeßver-

arbeitungsstrang bildet, wird ein Modell postuliert, welches sich zusammensetzt aus drei

hierarchisch angeordneten Ebenen, der senso-motorische Ebene, der Ebene der

Schemata und der begrifflichen Ebene. Die auf eine genetische Disposition zurück-

gehende senso-motorische Emotionsgenerierung, die zunächst allein körperliche

Befindlichkeiten signalisiert, bildet nach Leventhal die Basis der Emotionsentwicklung.

Durch die Verbindung der körperlichen Befindlichkeit mit je situationstypischen Gegeben-

heiten, d.h. dem Emotionsauslöser, dem Emotionserleben, den Ausdruckserscheinungen

und den autonomen Reaktionen, erfolgt sehr früh in der individuellen Entwicklung die

Etablierung von emotionalen Schemata, die als relativ stabile Erinnerungsstrukturen

vorzustellen sind. Das besondere dieser unbewußt gespeicherten emotionalen Schemata

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186

besteht darin, daß die Aktivierung einer der Komponenten der Speicherung die

Aktivierung aller anderen Komponenten auslöst. Die emotionale Verarbeitung auf

begrifflicher Ebene schließlich, die bewußte Auseinandersetzung mit emotionalen

Erlebnissen, erfolgt über den Rückgriff auf gespeicherte Informationen vergangener

Emotionen. Wenn auch die Emotionsentwicklung abhängig gemacht wird von dem

Zusammenwirken aller drei Verarbeitungsebenen, der senso-motorischen, der schema-

tischen und der begrifflichen Ebene, so postulieren Leventhal und Scherer, daß die

situationsabhängige Generierung von Emotionen auf der Basis von emotionalen

Schemata erfolgt.

Wie sich hat zeigen lassen, bietet Leventhals durch empirische Forschungsergebnisse

gestützte Theorie der Ontogenese der Emotionen in Verbindung mit den für das adaptive

Verhalten postulierten zwei getrennt arbeitenden aber interagierenden Prozeßverarbei-

tungssträngen für die emotionale und die problemorientierte Situationsbewältigung, die

wiederum von neuesten neurobiologischen Forschungsergebnissen gestützt wird,

zunächst einen Erklärungsansatz für mit Emotionen verbundene Beobachtungen. Zu den

wichtigsten emotionsspezifischen Beobachtungen, die durch die Generierung von

Emotionen durch unbewußt gespeicherte emotionale Schemata erklärt werden können,

gehören, daß emotionale Einschätzungen sehr rasch erfolgen und nicht letztendlich

rational nachvollziehbar sind und daß die situationsspezifische Generierung von

Emotionen nur bedingt durch rationale Argumentation beeinflußbar ist.

Darüber hinaus lassen sich aus diesem Modell und seinen Voraussetzungen wichtige

Hinweise für die pädagogische Arbeit ableiten. Auszugehen ist hier von dem in Leventhals

Theorie fundierten, durch das integrative Modell von Leventhal und Scherer gestützten,

für die Pädagogik folgenreichsten Postulat: emotionale Bedeutungszuweisungen werden

gelernt. Diese Ausgangsvoraussetzung erhält ein besonderes Gewicht dadurch, daß die

emotionalen Bedeutungszuweisungen die Herangehensweise an eine Situationsbe-

wältigung wesentlich mitbestimmen. Hinzu kommt, daß die emotionale Bedeutungszu-

weisung vornehmlich über unbewußt gespeicherte emotionale Schemata erfolgt, deren

Modifikation und Ausdifferenzierung entscheidend von Handlungserfahrungen abhängig

ist. Diese Kernaussagen bezüglich der Genese der emotionalen Verfaßtheit des

Menschen betreffen die für die pädagogische Praxis notwendig zu berücksichtigenden

Ausgangsvoraussetzungen, die Natur des Menschen, und weisen darauf hin, daß die dem

Menschen eignenden „emotionalen Fähigkeiten“ ebenso förderungsbedürftig sind wie die

ihn auszeichnenden intellektuellen Fähigkeiten.

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187

Die Notwendigkeit, bei der Erziehung die emotionalen Fähigkeiten zu berücksichtigen und

dabei bedachtsam eine einseitige Ausrichtung der Erziehung auf die Förderung der

Gefühle zu vermeiden, konnte am Beispiel zweier Vorschläge für eine Werteerziehung in

einer wertepluralistischen Gesellschaft expliziert werden. Vorgestellt wurden Brezinkas

Werteerziehungskonzept, in dem er auf die gefühlsbedingte Wertbindung abzielt und in

diesem Sinne für eine Gesinnungserziehung plädiert, für deren Realisierung er die

sanktionsunterstützte indirekte Erziehung empfiehlt, und Höffes Vorschläge für die in

einem Ethikunterricht grundzulegenden argumentativen Fähigkeiten zur „sittlichen

Reflexion“ als wesentlichen Bestandteil und Grundvoraussetzung für verantwortliches

Handeln. Die vor dem Hintergrund der Bedingungen einer durch plurale Wertvor-

stellungen und demgemäß vielfältigen Lebenskonzepten gekennzeichneten Gesellschaft

vorgenommene Prüfung beider Konzepte bezüglich Zielsetzung und Methode hat

ergeben, daß Brezinkas Zielvorstellung: die Erzeugung einer Gesinnungshaltung ebenso

wie die zur Realisierung empfohlene hauptsächlich auf die Gefühle gerichtete Methode

nur in höchst beschränktem Maß zur Erfüllung des beiden erörterten Positionen gleicher-

maßen unterliegenden Anspruchs, bei den Edukanden eine sichere Basis für eine

Wertorientierung in einer wertepluralistischen Gesellschaft zu erzeugen, beitragen kann.

Die Prüfung der Methode vor dem Leventhalschen Emotionsmodell hat eine grund-

sätzliche Problematik ergeben, die vor dem Hintergrund einer durch plurale Lebensent-

würfe gekennzeichneten Sozialisationsumfeld erheblich an Brisanz gewinnt. Denn nach

Leventhals Modell zur Emotionsgenese führt die Methode der indirekten Erziehung, und

das heißt über die Bereitstellung eines der angestrebten Wertbindung entsprechenden

Umfeldes für stringente Erlebnismöglichkeiten zu sorgen, in Verbindung mit der durch

Sanktionierung anzuregenden Regelbefolgung für die Etablierung von an den Sanktionen

ausgerichteten, relativ stabilen emotionalen Schemata. Dadurch daß die Begegnungen

mit Wertvorstellungen, die den der intendierten Werthaltung entgegenstehen, möglichst

vermieden werden sollen, wird zusätzlich verhindert, daß die emotionalen Schemata

ausdifferenziert werden. Viel gravierender ist jedoch, daß die Werthaftigkeit einer Tätigkeit

gemessen wird an den der Aktivität folgenden Sanktionen. Insofern somit die Sanktionen

die Handlungsmotivation bilden und nicht die einer Handlung zugrundeliegende

Werthaftigkeit, sind durch eine solcher Art vollzogene „Wertbindung“ der Manipulation

menschlichen Handelns, vor allem im Hinblick auf die unterschiedlichen Wertkonzepte

einer pluralen Gesellschaft, Tür und Tor geöffnet.

Daß neben der Erziehungsmethode zudem die von Brezinka intendierte Zielsetzung: die

Bildung einer Gesinnungshaltung, erhebliche Schwierigkeiten birgt, macht Löwischs Kritik

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188

an Gesinnungshaltungen deutlich. Die Hauptproblematik liegt darin, daß Gesinnungs-

haltungen ausgerichtet sind an überzeitliche Geltung beanspruchende Handlungsprin-

zipien, wodurch eine Auseinandersetzung mit realen Bedingungskonstellationen

verhindert wird. Darüber hinaus ermöglicht Gesinnungshandeln den Abweis der

Verantwortungsübernahme für jeweilige Handlungsfolgen. Wie problematisch eine solche

nicht fundamentale, sondern fundamentalistische Werthaltung ist, zeigen die Ereignisse

der jüngsten Vergangenheit.

Im Gegenteil zu Brezinkas Erziehungskonzept, dessen zentrales Manko in der eklatanten

Vernachlässigung der reflexiven Fähigkeiten besteht, betont Höffe die Notwendigkeit der

Förderung der reflexiven und argumentativen Fähigkeiten als eine Grundvoraussetzung

der sittlichen Kompetenz. Für ihn bildet die kritische Auseinandersetzung mit unterschied-

lichen Werthaltungen die Grundlage für eine fundamentale und das heißt argumentativ

begründete Werthaltung. Die Kriterien, die nach Höffe sittliche Kompetenz ausmachen,

entsprechen den von Löwisch explizierten Anforderungen an eine Werthaltung, von der er

eine gemeinsame Bewältigung der Herausforderungen einer wertepluralistischen Gesell-

schaft abhängig macht: die an dem Prinzip Verantwortung ausgerichtete Werthaltung. Bei

aller Bedeutung, die Höffe der kritischen Reflexionsfähigkeit zumißt, betont er jedoch die

Notwendigkeit, die rational gewonnenen Einsichten im Handeln zu erproben.

Allein dadurch, daß Höffe die Entwicklung einer sittlichen Haltung abhängig macht von

argumentativ gewonnener Einsicht, wird nach diesem Konzept bereits die Ausdifferen-

zierung emotionaler Schemata vorbereitet, denn eine Grundvoraussetzung für argumen-

tativ gewonnene Einsichten ist Wissen um und die Fähigkeit zu kritischer Auseinander-

setzung mit konkurrierenden Wertangeboten, wozu die Konfrontation mit anderen

Wertvorstellungen eine Grundvoraussetzung bildet. Die zweite wesentliche Voraus-

setzung ist die Einübung eines Tätigseins gemäß des Wissens und der argumentativ

gewonnenen Einsicht, denn vor allem im Handeln vollzieht sich die Modifikation und

Ausdifferenzierung der emotionalen Schemata. Und allein die Verknüpfung von

Handlungsforderungen mit Wissen und Einsicht bietet die Möglichkeit, die Werthaftigkeit

einer Tätigkeit nicht nur an den ihr folgenden Sanktionen auszurichten und vermindert die

Gefahr der Manipulation.

Die sich in Zielsetzung und Methode erheblich unterscheidenden Werteerziehungskon-

zepte ermöglichten eine kritische Prüfung auf mehreren Ebenen, die gleichzeitig die Ver-

schränkung dieser Ebenen aufdeckte. So steht die Erzeugung einer Gesinnungshaltung,

da sie rekurriert auf eine gefühlsgetragene Wertbindung, in enger Verbindung mit der

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189

sanktionsunterstützten indirekten, also einer vornehmlich auf die Gefühle ausgerichteten

Erziehung. Dabei muß aufgrund des der Gesinnungshaltung eignenden apodiktischen

Geltungsanspruchs vorgegebener Prinzipien die kritisch reflexive Auseinandersetzung mit

konkurrierenden Wertvorstellungen möglichst vermieden werden. Demgegenüber ist für

eine an der Verantwortungsethik orientierte Werthaltung, insofern deren Grundvoraus-

setzung in Selbstbestimmung gewonnene und im Diskurs mit anderen legitimierte

Handlungsprinzipien bildet, die Argumentationsfähigkeit und die Fähigkeit zur kritischen

Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Wertvorstellungen unerläßlich.

Wie sich mit Hilfe des Leventhalschen in ein Modell zum adaptiven Handeln eingebun-

denen Modell zur Emotionsgenese hat zeigen lassen, führt gerade im Hinblick auf die

Bedingungen einer wertepluralistischen Gesellschaft, die zur Erzeugung einer Gesin-

nungshaltung notwendige vornehmlich auf die Gefühle ausgerichtete Erziehungsmethode

nicht zu der gewünschten Wertbindung, sondern zu einem an Belohnung und Bestrafung

ausgerichteten normenkonformen Verhalten. Anders dagegen die Methoden zur Förde-

rung einer verantwortungsethischen Werthaltung: hier werden in der Verbindung von

Wissen, Reflexion und Handlungspraxis die Grundlagen geschaffen für sanktionsunab-

hängige Wertentscheidung in Selbstverantwortung.

Ist es einerseits die mit der Gesinnungshaltung verknüpfte Methode, die die Förderung

einer Orientierung bietenden Werthaltung in einer Gesellschaft mit pluralen Lebensent-

würfen zweifelhaft erscheinen läßt, ist es andererseits die Zielsetzung selbst. Wie Löwisch

betont, erweist sich eine an einer Gesinnungsethik ausgerichtete Lebensführung aufgrund

der spezifischen Ausgangsprämissen als unkommunikativ und demgemäß als untauglich

für ein der zeitgenössischen Realität angemessenes soziales Handeln. Demgegenüber

fordert die verantwortungsethische Lebensführung eine Orientierung an den Gegebenhei-

ten der Realität ebenso wie die kommunikative Auseinandersetzung mit den Hintergrün-

den jeweiliger Spezifika der Entscheidungssituation und die Verantwortungsübernahme

der Handlungsfolgen. Gerade die Bedingungen einer wertepluralistischen Gesellschaft,

durch die das Subjekt immer wieder mit neuen Situationskonstellationen, mit divergieren-

den Wertvorstellungen und Handlungsnormen konfrontiert wird, erfordern nach Löwisch

Handlungsentscheidungen, die an der jeweiligen spezifischen situativen Gegebenheit

ausgerichtet und das heißt realitätsbezogen sind, ebenso wie die Verantwortungsüber-

nahme nicht nur für die jeweilige Handlungsentscheidung, sondern auch für die Folgen

der Handlungsentscheidung.

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Die kritische Prüfung der Werteerziehungskonzepte vor der durch die vorangehende

Untersuchung der Gefühle und deren Verhältnis zum Denken erarbeiteten Erkenntnis,

daß mit Gefühlen verbundene Bedeutungszuweisungen gelernt werden und diese

emotionalen Bedeutungsweisungen einen entscheidenden Einfluß auf die rationale

Situationsbewältigungen haben, hat aufgedeckt, wie wichtig die Förderung sowohl der

rationalen als auch der emotionalen Fähigkeiten ist. Wie sich an den Implikationen der

Werteerziehung zur Erzeugung einer Gesinnungshaltung eindrucksvoll zeigen lies, birgt

die einseitig emotionale Erziehung die Gefahr, die Grundlagen zur Verhaltensmani-

pulation zu schaffen. Wohlbemerkt ist sich die Autorin der Möglichkeit einer vor ihrem

Menschenbild aus mißbräuchlichen Anwendung der hier erarbeiten Erkenntnis durchaus

bewußt. Dennoch unterstützt – wie sich an Höffes Konzept hat zeigen lassen – eben

diese Erkenntnis bei entsprechender Berücksichtigung die Förderung der sittlichen

Kompetenz oder nach Roth und Zdarzil die Entwicklung zum mündigen, selbstbestimmten

Menschen. Unerläßlich ist das Bewußtsein dafür, daß jede Art von Erziehung mit

Sanktionen arbeitet und somit jede Art von Erziehung immer auch durch die Erzeugung

von Gefühlen Regelbefolgung erwirkt, d.h. aber auch, daß bei jeder Art von Erziehung die

Erzeugung von Werthaltungen durch Gefühle unterstützt wird. Um der Gefahr einer

ausschließlich manipulativen Erziehung zu entgehen, ist gemäß der Forderung von Höffe

und Löwisch notwendig, so früh als möglich die jeweilig eingeforderte Verhaltensweise zu

begründen, und die Zöglinge zur kritischen Auseinandersetzung und zu eigenverant-

wortlichen Entscheidungen anzuregen.

Da gemäß der vorstehenden Ausführungen die moralische Entwicklung des Menschen in

einem von ihm selbst geschaffenen differenzierten sozialen Erlebnisumfeld abhängig ist

von der Ausdifferenzierung seiner sich wechselseitig beeinflussenden Fähigkeiten zur

rationalen Situationsbewältigung und zur emotionalen Situationsbewältigung, läßt sich mit

Goller zu Recht sagen: der Mensch ist von Natur aus das rationalste und das

emotionalste Lebewesen.

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