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Erziehung und die „ Vernunft der Gefühle“
Gefühlserziehung – Möglichkeit, Notwendigkeit, Relevanz?
Der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften
der Gerhard-Mercator-Universität-GesamthochschuleDuisburg
zur Erlangung des akademischen Grades
Dr. phil.
vorgelegte Dissertation
von
Barbara Krimm
aus
Heppenheim a.d.B.
Tag der Einreichung: 19.09.2002
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Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung 3
2 Problemaufriß 7
3 Die Bedeutung der Gefühle für das Wesen
des Menschen 27
3.1 Einführung in die Problematik des Untersuchungs-
gegenstandes 27
3.2 Die Problematik der Begriffsbestimmung 36
3.3 Die Emotionsforschung in der Psychologie 46
3.3.1 Allgemeine Einführung 46
3.3.2 Psychologische Begriffsbestimmung 50
3.3.3 Emotionstheorien 58
3.3.3.1 Emotionserleben und Körperprozesse 58
3.3.3.1.1 Periphere Prozesse 58
3.3.3.1.2 Zentrale Prozesse 65
3.3.3.2 Die Verhaltenskomponente des Emotionserlebens 71
3.3.3.2.1 Evolutionstheoretische Ansätze 71
3.3.3.2.2 Ausdrucksgeschehen als Komponente des
Emotionserlebens 83
3.3.3.3 Das Verhältnis von Kognition und Emotion 97
3.3.3.3.1 Richard S. Lazarus Theorie der Emotionen 98
3.3.3.3.2 Robert B. Zajoncs Theorie der Emotionen
als präkognitives Phänomen 101
3.3.3.3.3 Howard Leventhals mehrstufiges Prozeßmodell der Emotionen 111
3.3.3.3.4 Klaus R. Scherers Komponentenprozeßmodell der Emotionen 121
3.3.3.3.5 Verarbeitungsebenen und Reizprüfungsprozesse: Leventhals
und Scherers integratives Prozeßmodell der Emotionen 124
3.4 Grundlegende Untersuchungen zu dem Verhältnis von
Denken und den Gefühlen 132
3.5 Zusammenfassung und Diskussion der Untersuchungser-
gebnisse mit Blick auf die Aufgabenstellung der Pädagogik 141
4 Gefühle und Moralerziehung 153
5 Resümee 183
6 Literaturverzeichnis 191
3
1 Einleitung
„Gefühle haben Hochkonjunktur“. Diese zugegebenermaßen provokative Verallgemeine-
rung entbehrt als subjektive Einschätzung bestimmter Tendenzen in den Medien und in
der freien Wirtschaft, jeglicher wissenschaftlicher Grundlage. Und dennoch, angesichts
der folgenden Tatbestände scheint diese Einschätzung nicht ganz von der Hand zu
weisen. In den letzten Jahren ist eine wachsende Anzahl von wissenschaftlichen und
populärwissenschaftlichen Buchveröffentlichung zu verzeichnen, die sich mit den Ge-
fühlen und deren Funktion auseinandersetzen. Das in einigen dieser Veröffentlichungen
verfolgte Ziel ist, unter Rückgriff auf eine Selektion von wissenschaftlich als erwiesen
geltenden Aspekten der Emotionsgenese in Verbindung mit Erkenntnissen aus Studien
über den Zusammenhang zwischen Krankheitsverläufen und emotionaler Disposition,
darüber aufzuklären, daß eine „adäquate Nutzung“ der menschlichen Emotionalität zur
Steigerung der Lebensqualität und – damit in eins gesetzt – zu Erfolg in privater und
beruflicher Hinsicht führt. Eben diesem Versprechen ist es zu verdanken, daß Gefühle
einmal mehr an Popularität oder besser noch an „öffentlichem Ansehen“ gewinnen, was
sich auch darin zeigt, daß nicht nur größere, sondern auch mittelständische Betriebe das
wachsende Angebot an Schulungsmaßnahmen für Firmenangehörige nutzen, die darauf
abzielen, spezielle emotionale „Fähigkeiten“ wie bspw. Freundlichkeit, Empathie und
Selbstbeherrschung zu fördern.1
1 Die steigende Popularität der Gefühle ist unter anderem einer Veröffentlichung von Daniel Goleman, die
1995 in erster Auflage in Deutschland erschienen ist, zu verdanken. Der Titel seines Werkes „Emotionale Intelligenz“ ist mittlerweile ein „anerkannter“ Begriff für die Bezeichnung einer „gewissen“ Gefühlsver-faßtheit, die als notwendige Ergänzung zu den logischen Denkfähigkeiten angesehen wird. Dies wurde anschaulich dokumentiert in einer Sendung von der Sendeanstalt RTL am Freitag, den 05.09.2002 in der Zeit von 22.15 bis 23.00 Uhr. Hier stand – eingerahmt von einem konventionellen IQ-Test für die breite Bevölkerung vor und nach dieser Sendung – die Bedeutung der emotionalen Intelligenz im Mittelpunkt. Eingeleitet wurde diese Sendung mit einer Filmsequenz, in der 3 Personen bei einem Test zur Messung ihrer „emotionalen Intelligenz“ gezeigt wurden. Bei diesem Versuch waren die Probanden aufgefordert, die auf (18) Photographien abgebildeten mimischen Ausdrücke bestimmter Gefühle zu identifizieren. Darüber hinaus wurden für Personalfragen zuständige Führungskräfte größerer Betriebe zu ihren Einstellungs-kriterien hinsichtlich der Berücksichtigung der emotionalen Intelligenz befragt. Alle drei in diesem Bericht Befragten (und auch gezeigten) räumten diesem Einstellungskriterium gemäß Golemans Motto „Was nützt ein hoher IQ, wenn man ein emotionaler Trottel ist“ (Klappentext der 11. Auflage, München 1999) höhere Priorität ein, als den funktionsspezifischen Fähigkeiten. (Tests zur „Messung“ der emotionalen Intelligenz finden sich im Internet z.B. unter: http://www.vol.at/topos/html-texte/eqjob.htm und http://www.telecol.ch/ge/testEQ/testEQ.html ebenso finden sich unter dem Stichwort „emotionale Intelligenz“ eine Fülle von Schulungsangeboten). Wie die Lektüre von Golemans Bestseller zeigt, geht es hier vor allem um eine „allgemeinverständliche“ Erklärung der neuesten neurobiologischen Forschungsergebnisse zur Emotionsgenerierung und darauf aufbauend – in Wiederbelebung des Aristotelischen Grundsatzes der Mäßigung – um die Empfehlung, den maßvollen Umgang mit den Gefühlen einzuüben.
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Daß Gefühle nicht immer Berücksichtigung fanden, deren Wirkung im menschlichen
Lebenszusammenhang sogar sehr kritisch betrachtet wurde zeigt Erich Webers2
Rückblick in die Geschichte der Pädagogik, mit dem er belegt, daß sich die von ihm
differenzierten zwei prinzipiellen Gegenpositionen einer einseitig rationalistischen Position
und einer einseitig irrationalistischen Position als Strömungen mit wechselnder Betonung
der einen oder anderen Position historisch nachweisen lassen. Nach Weber ist das Kenn-
zeichnende der einseitig rationalistischen Position, daß die Vernunft das Wesen des
Menschen ausmacht. Danach ist es dem Menschen durch die ihm eignende Vernunft
möglich, „sein Leben aus eigener Einsicht zu bestimmen und seine ihn umgebende Natur
seinen rationalen Zwecksetzungen technisch zu unterwerfen. [...] Der Intellekt im Sinne
des formal-logischen Verstandes, des kausal-analytischen und diskursiven Denkens gilt
als die höchste Fähigkeit des Menschen, durch die auch der ständige For[t]schritt garan-
tiert werde.“3 Dem gegenüber steht die einseitig irrationalistische Position, nach der die
Gefühle und die Phantasie als das Wertvollste in der menschlichen Natur gelten. Hier wird
auf die irrationalen Mächte im Menschen und die Kräfte seiner Innerlichkeit vertraut. „Was
die Erkenntnis betrifft, so verläßt man sich auf die ‚Wahrheit des Gefühls’, die ‚Logik des
Herzens’, die intuitive Schaukraft und Ahnung.“4
Gemäß dieser Gegenüberstellung werden für den Menschen zwei Erkenntnisweisen
unterschieden: zum einen die auf die geistigen Fähigkeiten als Verbindung von Verstand
und Vernunft zurückgeführte Erkenntnismöglichkeit, zum anderen jene Erkenntnisquelle,
die auf die durch die Leiblichkeit vermittelten Befindlichkeiten zurückgeht, die Gefühle.
Bezeichnend ist, wie der geschichtliche Rückblick Webers erkennen läßt, daß die Favori-
sierung einer der beiden Erkenntnisquellen zumeist einhergeht mit der Diskriminierung
der jeweils anderen, woraus folgt, daß eine einseitige Förderung der Fähigkeiten, die der
als „wertvoller“ erachteten Erkenntnisquelle zugrunde liegen, statt hat. Zudem erfolgen
diese einseitigen Förderungen oftmals unter Mißachtung oder Verachtung der jeweils
diskriminierten Position.5
2 Weber, Erich: Emotionalität und Erziehung. Ein pädagogischer Orientierungsversuch. In: Oerter, Rolf;
Weber, Erich (Hrsg.): Der Aspekt des Emotionalen in Unterricht und Erziehung. 2. Auflage, Donauwörth 1975, S. 69 – 128. Vgl. hierzu auch: Buddrus, Volker: Das pädagogische Dilemma im Umgang mit den Gefühlen – Eine historische Nachzeichnung. In: Ders. (Hrsg.): Die „verborgenen“ Gefühle in der Pädagogik. Impulse und Beispiele aus der humanistischen Pädagogik zur Wiederbelebung der Gefühle. Hohengehren 1992, S. 16 – 38.
3 Ebd. S. 75. 4 Ebd. S. 76. 5 Vgl. hierzu die kritische Betrachtung unterschiedlicher Erziehungsziele und -praktiken in Palla, Rudi: Die
Kunst Kinder zu kneten. Ein Rezeptbuch der Pädagogik. Frankfurt/Main 1997.
5
Zweifellos gründen diese Vorgehensweisen in der Eigenart der Gefühle, denen als Aus-
druck zutiefst privater, subjektiver und nur höchst unzureichend verbal kommunizierbarer
Befindlichkeiten des Menschen, deren Entstehen häufig nur schwer rational nachvollzieh-
bar ist und die oft nur schwer kontrollierbar scheinen, etwas Mysteriöses anhaftet, denn
diese Eigentümlichkeiten werden entsprechend des der jeweiligen Position unterliegen-
den Menschenbildes unterschiedlich gewertet: Für das der rationalistischen Position
unterliegende Verständnis des Menschen als Geistwesen stellen die Gefühle, insofern sie
zwar den Geist affizieren, sich ihr Entstehen und ihre Wirkungsweise jedoch nur unzu-
länglich rational ergründen und kontrollieren läßt, eine Unwägbarkeit und damit eine Art
„Bedrohung“ dar. Demgegenüber ist es eben diese rationale Unergründbarkeit, die der
irrationalistischen Position, die aus dem Verständnis des Menschen als Naturwesen
hervorgeht, die Annahme ermöglicht, in den Gefühlen offenbare sich die „wahre Natur“
des Menschen, verbunden mit der Befürchtung, der rationale Zugriff verdecke die
Möglichkeit die „Vernunft der Gefühle“ zu erkennen.
Vor dem Hintergrund der sich aufgrund der Eigentümlichkeit der Gefühle nahezu unver-
söhnlich gegenüberstehenden Menschenbilder in Verbindung mit der oben beschriebenen
„Wiederentdeckung“ der Gefühle ist diese Arbeit der genaueren Untersuchung des Ur-
sprungs der Gefühle, ihrer Entwicklung und ihrer Wirkungsweise im menschlichen Leben
gewidmet. Ein Ziel dieser Untersuchung ist, einen Beitrag zu leisten für die Klärung der
Fragen, inwieweit den Gefühlen eine „wahre Natur“ oder „eine Vernunft“ zugesprochen
werden kann und damit in Verbindung, ob und wenn ja welchen Einfluß Gefühle auf das
intellektuelle Vermögen haben. Darauf aufbauend wird zu zeigen sein, daß die Klärung
dieser Sachverhalte aus pädagogischer Sicht von doppelter Relevanz ist, also nicht nur
hinsichtlich der Zielvorstellungen erzieherischer Arbeit, die in Abhängigkeit von dem
zugrundeliegenden Menschenbild, welches wiederum, wie oben deutlich wurde, ent-
scheidend von der Beurteilung der Eigentümlichkeiten der Gefühle beeinflußt wird,
sondern auch und gerade hinsichtlich der Ausgangsvoraussetzungen erzieherischen
Tätigseins von Bedeutung sind.
Die Grundlage für die hier angestellte Untersuchung bildet die Erörterung zweier pädago-
gischer Anthropologien, die aufzeigt, wie sich das Menschenbild auf den (pädagogischen)
Umgang mit den Gefühlen und dem Stellenwert, der ihnen beigemessen wird, auswirkt.
Die daran anschließende Untersuchung der Gefühle wird eingeleitet mit einer Diskussion
um die Begriffsbestimmung. Durch die hier angestellte kritische Betrachtung von aus
unterschiedlichen Perspektiven gewonnenen Begriffsverständnissen gelingt es zum
einen, die Komplexität der Gefühle aufzuzeigen und zum anderen deutlich zu machen,
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wie der jeweilig gewählte Zugang vor allem als Ausschlußkriterium für wesentliche
Aspekte der die Gefühle begleitenden Phänomene wirkt. Hinsichtlich des Sachverhalts,
daß eine exakte Begriffsbestimmung notwendig eine Engführung der Untersuchungsper-
spektive zur Folge hat, wird auf eine solche verzichtet, dagegen von einem weiten Ver-
ständnis der Gefühle als sowohl eine körperliche als auch eine geistige Komponente
beinhaltend ausgegangen.
Die Untersuchung des Ursprungs, der Entwicklung und Wirkungsweise der Gefühle erfolgt
im Hauptteil der Arbeit über die Darstellung unterschiedlicher emotionspsychologischer
Ansätze. Hierdurch zeigt sich zunächst einmal mehr, wie die gewählten Ausgangsprä-
missen (und damit das jeweils zugrundeliegende Menschenbild) nicht nur die Zugangs-
weise, sondern in der Folge auch die jeweiligen Forschungsergebnisse bestimmen. Die
kritische Erörterung der aus den jeweils gewählten Perspektiven gewonnenen emotions-
psychologischen Konzepte der Emotionsgenese und -generierung im Hinblick auf die
dieser Arbeit zugrundeliegende pädagogische Fragestellung: wie das Verhältnis zwischen
Fühlen und Denken vorzustellen sei, führt zum Votum für eine Theorie der Emotions-
genese, in der davon ausgegangen wird, daß wohl eine Interaktion zwischen Denkpro-
zessen und Emotionsprozessen besteht, diese jedoch nicht als einseitig kausale Ab-
hängigkeit vorzustellen ist.
Mit der Prüfung zweier unterschiedlicher Konzepte zur Werteerziehung vor dem Hinter-
grund der ausgewählten Emotionstheorie werden die gewonnenen Erkenntnisse pädago-
gisch gewendet. Die kritische Sichtung der beiden Konzepte läßt zum einen erkennen,
wie sehr pädagogische Zielvorstellungen die erzieherische Praxis bestimmen. Darüber
hinaus kann durch die Abwägung der jeweiligen Zielvorstellungen in Verbindung mit den
zur Realisierung anempfohlenen Methoden vor dem Hintergrund der Annahmen zur
Emotionsgenese klar herausgearbeitet werden, daß im Hinblick auf die spezifischen
Gegebenheiten einer wertepluralistischen Gesellschaft weder eine einseitig auf die
Gefühle noch eine einseitig auf die Förderung der intellektuellen Fähigkeiten ausge-
richtete Werteerziehung hinreicht zur Ausbildung einer sicheren Orientierungsgrundlage
für die Abwägung von Wertfragen. Vielmehr wird deutlich, daß die Entwicklung einer
solchen fundamentalen Werthaltung, die in Situationen, die selbstverantwortete Hand-
lungsentscheidungen zwischen divergierenden Wertansprüchen erfordern, abhängig ist
von der Förderung des Gefühls und des Intellekts.
7
Ohne Leidenschaft gibt es keine Genialität
Theodor Mommsen
2 Problemaufriß
Die Bestimmung des Begriffs ‚Pädagogik‘ als „Lehre, Theorie und Wissenschaft von
Erziehung und Bildung“6 macht deutlich, daß sich dieses Fachgebiet mit Blick auf eine
Richtungsweisung für Praxis der Erforschung der Grundlagen widmet, die den Menschen
in seiner ihm eigenen Verfaßtheit ausmachen. Gegenstand von Pädagogik ist somit der
Mensch unter der speziellen Fragestellung seiner Erziehbarkeit und Bildsamkeit oder
anders gewendet: pädagogische Forschung und Praxis sind untrennbar verbunden mit
der Fragestellung: „Was ist das Wesen oder die Natur des Menschen?“ oder mit Kant
gesprochen „Was ist der Mensch?“. Diese grundsätzlich philosophische Fragestellung hat
für die Pädagogik als Handlungswissenschaft zwei sich gegenseitig bedingende Perspek-
tiven: zum einen zielt sie auf die Ausgangsbedingungen, die pädagogisches Handeln
möglich und nötig machen, zum anderen auf die Intentionen pädagogischen Handelns.
Die grundlegende Notwendigkeit der Berücksichtigung beider Perspektiven zeigt sich in
den zahlreichen Veröffentlichungen zu dem Thema „Pädagogische Anthropologie“7. Aber
auch allgemeinpädagogische und erziehungsphilosophische8 Erörterungen können sich
nicht der Bestimmung des Menschen im Sinne von Zielvorstellungen pädagogischen
Handelns widmen, ohne der Frage nach der Grundlage ihres Forschungsgegenstandes
nachgegangen zu sein, denn „Wissenschaften nun, die den Umgang von Menschen mit
Menschen betreffen, müssen sich dessen vergewissern – und sei es auch noch so unvoll-
kommen –, worin die Eigenart ihres Erkenntnisgegenstandes begriffen liegt“9.
Mit dieser Feststellung verweist Löwisch auf die beiden Aspekte, die mit der unbe-
strittenen Problematik des Forschungsgegenstandes Mensch unter der Fragestellung
nach seiner Wesenhaftigkeit verbunden sind: daß einerseits eine Antwort auf die Frage
6 Lenzen, Dieter: Pädagogik – Erziehungswissenschaft. In: Ders. (Hrsg.) Pädagogische Grundbegriffe. Bd.
2, 4. Aufl. Stuttgart 1997. 7 Beispielhaft seien hier genannt: Hamann, Bruno: Pädagogische Anthropologie. Theorien – Modelle –
Strukturen. Eine Einführung. 2. überarb. und erw. Aufl. Bad Heilbrunn/Obb. 1993; König, Eckard; Ramsenthaler, Horst (Hrsg.): Diskussion Pädagogische Anthropologie. München 1980. Roth, Heinrich: Pädagogische Anthropologie. 2 Bände, Berlin, Darmstadt, Dortmund 1967 und 1971; Zdarzil, Herbert: Pädagogische Anthropologie. 2. überarb. und erw. Aufl. Graz, Wien, Köln 1978.
8 Siehe z. B.: Benner, Dietrich: Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns. 3. Aufl. Weinheim und München 1996 und Löwisch, Dieter-Jürgen: Einführung in die Erziehungsphilosophie. Darmstadt 1982.
9 Löwisch, Dieter-Jürgen: a.a.O. (1982), S. 13.
8
nach dem spezifisch Menschlichen versucht werden muß, andererseits aber eine Antwort
darauf immer nur annäherungsweise gegeben werden kann und notwendigerweise unvoll-
kommen bleiben muß10. Unter uneingeschränkter Akzeptanz des letztgenannten Aspekts
ist diese Arbeit der Untersuchung eines Teilbereichs der menschlichen Verfaßtheit gewid-
met, der nach Meinung der Autorin entscheidend zur menschlichen Gesamtkonstitution
beiträgt, in der Pädagogik vor allem im letzten Jahrhundert jedoch eine eher untergeord-
nete Rolle spielt: der Bereich der Gefühle.
Die in der Pädagogik zu verzeichnende Vernachlässigung der Gefühle im Hinblick auf
deren Stellung und Funktion im menschlichen Handeln begründet sich vor allem darin,
daß die geistigen Fähigkeiten, verstanden als die Möglichkeit, sich kritisch reflektierend
mit den Gegebenheiten des Weltbezuges auseinanderzusetzen, als bestimmendes
Charakteristikum des Menschen gelten. Durch diese geistigen Fähigkeiten grenzt sich die
Gattung Mensch von allen anderen Lebewesen ab, ihnen verdankt der Mensch seine
Überlebensfähigkeit, die aufgrund seiner im Vergleich zu anderen Lebewesen mangel-
haften Organ- und Instinktausstattung in einer natürlichen Umgebung gefährdet wäre.
Diese geistigen Fähigkeiten begründen die dem Menschen zugesprochene Freiheit, als
ein Freisein von unabwendbaren Verhaltensdeterminationen11. Diese Sichtweise des
Menschen als primär geistiges Wesen, welches sich in seinen Lebensbezügen frei
bestimmen kann, bildet die Grundlage für die in der Pädagogik vorherrschende formale
Antwort auf die obengenannten zwei Perspektiven der Frage nach der Natur des
Menschen: die Ausgangsbedingung stellen die als Anlage vorhandenen speziellen
geistigen Fähigkeiten des Menschen dar, deren Entwicklung gefördert werden soll mit
dem Ziel, ein Leben in Selbstbestimmung zu ermöglichen.
Anhand der nachfolgenden Skizzierung der Positionen von Heinrich Roth und Herbert
Zdarzil, die sich beide unter der Überschrift „Pädagogische Anthropologie“ ausführlich mit
der Frage nach der Natur des Menschen auseinandergesetzt haben, soll zunächst unter-
sucht werden, inwieweit die oben aufgestellte These bezüglich der Bedeutung der Geistig-
keit für den Menschen Gültigkeit hat. Darüber hinaus soll die Gegenüberstellung der aus
unterschiedlichen Blickrichtungen gewonnenen Erkenntnisse fruchtbar gemacht werden
für die Ausdifferenzierung der dieser Arbeit zugrundeliegenden Fragestellung: die
10 Vgl. auch Bollnow, Otto Friedrich: Die anthropologische Betrachtungsweise der Pädagogik. In: König,
Eckard; Ramsenthaler, Horst: Diskussion Pädagogische Anthropologie. München 1980. S. 36 – 54. 11 Vgl. hierzu auch: Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. 13. Aufl.,
unveränd. Nachdr. d. 12. Aufl. Wiesbaden 1986, S. 31 ff.
9
Bedeutung des Bereichs der Gefühle für die Verfaßtheit des Menschen und deren
Stellenwert in seinen Handlungsbezügen.
Heinrich Roth, der als einer der ersten empirische Forschungsergebnisse anderer
Humanwissenschaften in seine pädagogischen Überlegungen einbezogen hat, widmet
sich unter dem Untertitel ‚Bildsamkeit und Bestimmung‘ im ersten Band seines zweibändi-
gen Werkes zur pädagogischen Anthropologie12 eingehend der Erforschung der Grund-
lagen und Zielsetzungen, aus denen sich die Aufgaben der Pädagogik ableiten lassen.
Zunächst arbeitet er über den Vergleich Tier-Mensch die Wesensmerkmale13 des
Menschen heraus: Untersucht wird die Eigenart menschlicher Lebensführung unter vier
Aspekten: der spezifischen Eigenarten seiner biologischen Ausstattung, der spezifischen
Eigenart seines Sozialverhaltens, seines geistig-kulturellen Erlebens und Schaffens und
seiner religiösen Erfahrung. In bezug auf die Methode des kontrastierenden Tier-Mensch-
Vergleichs macht Roth deutlich, daß zwar „die immer diffiziler werdenden Studien hoch-
entwickelten Tierverhaltens zu Befunden führen, die vor einer zu raschen Abhebung der
Eigenart der humanen Lebensform warnen“14, aber bei Einbeziehung kultureller und
geistiger Aspekte die Grenzen jedes Vergleichs voll in Erscheinung treten, was diese
Methode nur bis zu einem gewissen Punkt sinnvoll erscheinen läßt. 15 Aber gerade die
Begrenzung verdeutlicht den Unterschied zwischen Tier und Mensch, der darin besteht,
daß die menschliche „Lebenserfahrung auf eine geistige Führungshierarchie hin angelegt
ist, und [...] daß [der Mensch] im Vergleich zum Tier in seiner Lebensgestaltung auf
zunehmende Freiheit gestellt ist"16. Diese beiden Gesichtspunkte bilden Roth die Grund-
lage für die Bedeutung der Erziehung, „die notwendig wird, wenn geistige Lebens-
erfahrung gelernt und Freiheit verantwortet sein will“.17
In der Zusammenfassung der „wichtigsten Einsichten“ über die Wesensmerkmale des
Menschen, die durch die Gegenüberstellung von Tier und Mensch gewonnen wurden und
vor allem aus biologischer Sicht fruchtbar sind, betont Roth nachdrücklich den hohen
Stellenwert und die Funktion, die den geistigen Fähigkeiten des Menschen zukommen:
12 Roth, Heinrich: Pädagogische Anthropologie. Band I: Bildsamkeit und Bestimmung. 3. Aufl. Hannover
1971; Band II: Entwicklung und Erziehung. Grundlagen einer Entwicklungspädagogik. Hannover 1971. Bei den folgenden Zitaten werden diese beiden Bände mit „Band I“ und „Band II“ abgekürzt.
13 Vgl. Roth, Heinrich: Band I, S.144 ff. 14 Ebd. S. 145. 15 Vgl. ebd. 16 Ebd. S. 147. 17 Ebd.
10
Die im Vergleich zu Tieren festzustellenden „Mängel an angeborenen Fertigkeiten und
Instinkten werden überspielt von der positiven, den Menschen auszeichnenden Gabe –
und das ist die wichtigste Einsicht der pädagogischen Interpretation dieser biologischen
Fakten –: nämlich von einer unendlichen Lernfähigkeit“18. Diese Lernfähigkeit, die den
Menschen als primär intelligentes und geistiges Wesen ausweist, bildet für Roth die
Begründung für die Notwendigkeit von Erziehung einerseits, denn der „Mensch ist schon
von seinen Fundamenten aus auf seine höchste Bestimmung hin entworfen, d. h. auf
Kultur, Sprache, Denken, Gewissen, Freiheit und Entscheidung angelegt“19 und die
Zielbestimmung für Erziehung andererseits: „die geistige Freiheit und Mündigkeit der
einzelnen und der Gruppen“20:
Das Zentrum von Roths pädagogischer Anthropologie bildet also die ausgeprägte Lern-
fähigkeit – er spricht in diesem Zusammenhang nicht nur von einer unendlichen Lern-
fähigkeit, sondern auch von einer unendlichen Lernbedürftigkeit21 –, die die Kompensation
für den Mangel an richtungweisender bzw. determinierender Instinktausstattung des
Menschen darstellt und somit seine Weltoffenheit begründet. Es wird betont, daß es sich
dabei um eine Ausgangsbedingung für menschliches In-der-Welt-sein handelt, das ohne
die grundlegende Fähigkeit, sich den Umgang mit Welt lernend anzueignen, nicht zu
denken ist. Hierin begründet sich auch Roths kritische Position bezüglich der Problematik
des Primats der Anlage vor den Umwelteinflüssen bei der Entwicklung der Persönlichkeit.
In diesem Kontext wird festgestellt, daß zwar kaum zu beeinflußende körperliche
Reifeprozesse Grundvoraussetzungen für menschliche Entwicklungsfähigkeit darstellen,
die Gestaltung und Reifung individueller Persönlichkeit jedoch entscheidend mitbestimmt
und gefördert wird von Lernprozessen22. Über die Auseinandersetzung mit der Abhängig-
keit der Lernprozesse von sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Einflußfaktoren,
Lehr- und Erziehungsprozessen sowie deren didaktische Implikationen macht der Autor
deutlich, daß „eine Entwicklungstheorie nicht mehr ohne Erziehungstheorie darstellbar ist,
weil eine Entwicklung nicht mehr als unabhängige Variable verstanden werden darf. Die
Veränderungen, die durch Erziehung bewirkt oder versäumt werden können, müssen
gleichzeitig mitdurchdacht und mitbehandelt werden“23. Dementsprechend gilt ihm
Erziehung als Entwicklung bewirkender und verändernder Faktor.
18 Ebd. S. 115. 19 Ebd. S. 147. 20 Ebd. S. 148. 21 Vgl. ebd. S.115. 22 Vgl. Roth, Heinrich: Band II, S. 164 ff. 23 Ebd. S. 172.
11
Roths Erziehungsziel ist der reife und mündige Mensch24. Die Merkmale von Reife25 sind
ein körperlich ausgewachsener, bezüglich seiner Kräfte und Fähigkeiten voll entwickelter
Mensch, der über ein stabiles Ich verfügt, welches sich im Gleichgewicht zwischen
inneren und äußeren Gegebenheiten befindet. Diese ausgeglichene Persönlichkeit
entsteht durch den differenzierenden, strukturierenden und wertenden Umgang mit sich in
Abwägung mit den Anforderungen der Welt. Betonung findet hier das „dynamische
Gleichgewicht“ im Verhältnis von Person und Welt, d. h. die produktiv ausgleichende
Wendung des Spannungsverhältnisses zwischen je individuellen Wünschen, Trieben und
Motiven und gesellschaftlichen Erwartungen. „Wir sprechen eigentlich erst dann von einer
reifen Person, wenn in dieser Weise Ich und Es, Oberperson und Tiefenperson, Geist und
Trieb sich einander gegenüberstehen und zu einer – mindestens relativen – Versöhnung
gelangt sind. Diese Ausgeglichenheit bleibt immer spannungsgeladen, weil die Versöhn-
ung zwischen den Wünschen und Forderungen, den Trieben und der Moral, dem Wollen
und Können usw. nie endgültig sein kann: das Verhältnis beider Bereiche bleibt eine
unendliche Aufgabe, macht aber gerade dadurch die dynamische Lebendigkeit der
Person aus.“26 Darin liegt aber auch die Möglichkeit des Scheiterns von Handlungsvoll-
zügen begründet, was wiederum von dem reifen Menschen einen produktiven Umgang
mit Schuld erfordert, daß heißt „eigene und fremde Schuld auf sich zu nehmen[, zumin-
dest jedoch]... dem menschlichen und allzumenschlichen Drang [zu widerstehen], Schuld
unbefragt und ungeprüft von sich abzuwälzen.“27
Die Reife eines Menschen, als sein durch Wissen, Werthaltungen und Können geprägter
und gefestigter Charakter, zeigt sich in der Bewältigung aller Lebenssituationen, indem er
die jeweilige Anforderung einer Situation „sachlich zu erfassen suchen und den in ihr zur
Geltung kommenden höchsten sozialen, sittlichen oder geistigen Wertbezug erspüren und
soweit wie möglich erkennen [wird]; er wird sich ihm verpflichtet fühlen, um seine Verwirk-
lichung bestrebt sein und sich im Konfliktfalle entschieden für ihn einsetzen“28.
Bedingung für die in dieser Form beschriebene Situationsbewältigung ist die moralische
Handlungsfähigkeit, die dem Zögling durch Erziehung zu vermitteln ist29, da nach Roth
„moralische Mündigkeit zur Selbstbestimmung der Person“ durch ein Zusammenwirken
von kognitiven, moralischen und sozialen Lernprozessen unabhängig von der indivi-
24 Vgl. Roth, Heinrich: Band I, S. 361 ff. 25 Vgl. ebd. S. 435 ff. 26 Ebd. S. 436. 27 Ebd. 28 Ebd. S. 436 f. 29 Roth, Heinrich: Band II, S. 381 ff.
12
duellen genetischen Ausstattung erworben wird.30 Betont wird hier die Aufgabe der
Erziehung, befreiende Lernprozesse31 zu ermöglichen, wobei befreiend im doppelten
Sinne gebraucht wird, als Befreiung von determinierenden biologischen, sachlich
bedingten und gesellschaftlichen Einflüssen mit dem Ziel der Befreiung für die Weiter-
entwicklung der „großen Menschheitsideen“32. Denn die eigentlich moralische Aufgabe
der Erziehung ist es: „[d]ie Entwicklung von Werten und Normen im Individuum und in der
Gesellschaft [...] soweit zu analysieren und zu verfolgen, daß einsichtig wird, wie das
Individuum befähigt werden kann, die Motive zu durchschauen, nach denen es selbst und
nach denen andere handeln, und wie es sich zu jenen befreien kann, die in die Freiheit
führen bzw. Fortschritte in Richtung auf die Verwirklichung der großen Menschenrechte
[Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit] ermöglichen“33.
Diese kurze Darstellung der zentralen Gedanken Roths diente der Verdeutlichung seiner
Grundposition, daß die individuelle menschliche Entwicklung, mithin die Formung der
gesamten Persönlichkeit auf Lernfähigkeit basiert und demgemäß entscheidend mitbe-
stimmt wird von der Möglichkeit zu lernen einerseits und der Gestaltung der Lernprozesse
andererseits. Wenn auch durch die in dem kontrastierenden Tier-Mensch-Vergleich
gewonnenen Erkenntnisse zunächst den intellektuellen Fähigkeiten des Menschen sehr
großes Gewicht beigemessen wird, so zeigt die Erziehungszielbestimmung, daß es ihm
keineswegs nur um die Förderung des Intellekts geht, sondern um die Förderung der
menschlichen Gesamtverfaßtheit. Die unauflösbare Komplexität dieser Aufgabenstellung
erweist sich, indem er unter dieser Zielsetzung zwar die drei Lernbereiche der kognitiven,
moralischen und sozialen Lernprozesse expliziert, das Gelingen der Erziehung jedoch
abhängig macht von der adäquaten Berücksichtigung jedes einzelnen Bereiches und dem
ausgewogenen Zusammenwirken aller drei Bereiche. Daß es sich bei dieser Differenzie-
rung nur um eine analytische Trennung zu Untersuchungszwecken handelt, zeigen die
detaillierten Erörterungen einzelner Lernsegmente. Gerade mit den gründlichen Unter-
suchungen der zu fördernden Fähigkeiten und Fertigkeiten deckt Roth auf, daß diese
nicht jeweils unter einem der drei Lernbereiche zu subsumieren sind, sondern immer
gleichzeitig - wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung - in alle hineinwirken, was im
Gegenzug aber auch bedeutet, daß die Vernachlässigung eines einzelnen Segmentes
wiederum Rückwirkungen auf alle drei Lernbereiche haben wird. Die Grundlage für diese
These bilden die Forschungsergebnisse der Kleinkindentwicklung von Renè Spitz und
30 Vgl. ebd. S. 389. 31 Vgl. ebd. S. 396. 32 Ebd. S. 387. 33 Ebd.
13
anderen Wissenschaftlern, die die Abhängigkeit einer gesunden seelischen, körperlichen
und intellektuellen Entwicklung des Babys von der emotionalen Fürsorge belegen.34
Demgemäß erörtert Roth neben der Notwendigkeit, sacheinsichtiges und problemlösen-
des Denken zu fördern, eingehend die Bedeutung der emotionalen Erziehung. Er hebt
hervor, daß die Gefühle als Grundlage des „Wertungssystems“35 des Menschen
unbedingte Beachtung finden müssen und beklagt in diesem Zusammenhang nicht nur
den diesbezüglich unzulänglichen (empirischen) Forschungsstand, sondern auch deren
generell geringe Berücksichtigung im Erziehungswesen. Zweifellos sind Gefühle
außerordentlich vielschichtig und zeigen in ihrer Vielschichtigkeit auch divergente Wirk-
mechanismen, so verortet Roth die Hauptproblematik der Gefühle in dem Spannungsfeld
zwischen Wirkmächtigkeit und Beherrschbarkeit bzw. Steuerbarkeit. In der
Differenzierung dieses Spannungsfeldes beschreibt er den einmal negativen ein anderes
Mal positiven Einfluß von Gefühlen oder Affekten auf die menschliche Handlungsweise: in
einer groben Differenzierung ist ihre Wirkungsweise aufbauend und antreibend aber auch
hemmend, störend, mithin zerstörerisch. Dabei ist eine Wertung der Einflußnahme des
Gefühlszustandes auf die Handlung im Sinne von positiv oder negativ jeweils nur vor dem
Hintergrund der Situation aus vorzunehmen und erfolgt immer in Abhängigkeit von dem
Blickwinkel des Beteiligten als Betroffener, Akteur oder Betrachter.
Hier wird schon die vieldimensionale Problematik des Gefühlsbereiches angedeutet.
Gemäß seines anthropologischen Verständnisses vertritt Roth die Ansicht, daß zwar eine
gewisse Gefühlsansprechbarkeit als genetische Disposition vorhanden ist, die Entwick-
lung der Gefühle in bezug auf Intensität und Ausrichtung jedoch in deutlicher Abhängigkeit
vom Erziehungsgeschehen zu sehen ist. Am Beispiel der Angst als Phänomen der Erzie-
hung36 reißt Roth das Grundproblem an: zum einen die Schwierigkeit der genauen
Begriffsbestimmung, zum anderen die Komplementarität zwischen der Fähigkeit, Angst zu
empfinden bzw. der genetischen Disposition, bestimmten Situationen mit Angst zu
begegnen37 und den durch Erziehung erzeugten Ängsten. In diesem Zusammenhang wird
darauf hingewiesen, daß die meisten Ängste erlernt sind und demgemäß die mit Angst
besetzten Objekte, Sachverhalte und Situationen abhängig sind von dem jeweiligen
kulturellen und historischen Hintergrund. Problematisiert wird die einerseits lebensnot-
wendige Funktion von Angst, zum anderen die hemmende bzw. zerstörerische und vor
34 Vgl. Roth, Heinrich: Band I, S. 118, besonders 180 f.; und Band II, S. 247 35 Roth, Heinrich: Band II, S. 173. 36 Ebd. S. 332. 37 Hier genannt wird die sich im 8. Monat entwickelnde Angst vor Fremden, Roth, Heinrich: Band II, S. 335.
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allem unkontrollierbare Kraft von unbegründeten Ängsten. Roth weist darauf hin, daß es
die Aufgabe von Erziehung sein muß, Gegebenheiten immer nur aus Gründen mit Angst
zu besetzen, um die Erzeugung von unnötigen Ängsten zu vermeiden.
Mit dem letzten Aspekt kommen wir zum Kernpunkt von Roths Aufgabenstellung bezüg-
lich der emotionalen Erziehung: Auch wenn er einräumt, daß Gefühle nie vollends be-
herrschbar38 sind, so gilt es doch, sie so weit wie möglich zu rationalisieren, daß heißt sie
bewußt zu machen, um so deren anderenfalls unbemerkten Einfluß auf Entscheidungs-
und Handlungsvollzüge vorzubeugen. Roths Zielsetzung ist es, wie oben angeführt, dem
Menschen zur Entwicklung einer „Persönlichkeit mit Gründen“ zu verhelfen. Dazu ist es
notwendig, daß die Gefühle so ausgerichtet und instrumentalisiert werden (können), daß
sie unterstützend wirken bei der Realisierung der rationalen Zielsetzung. Hierzu muß
zunächst für ein Umfeld gesorgt werden, welches Lernprozesse ermöglicht, die eine
adäquate emotionale Grundstimmung erzeugen. Diese Grundstimmung gilt es dann
mittels kognitiver Lernprozesse zu fundieren, zu eruieren und kritisch zu hinterfragen, mit
dem Ziel, sich von deren unmittelbar determinierenden Wirkung zu befreien. In diesem
Sinne deutet Roth die menschliche Entwicklung „als zunehmende Freiheit aus den
instinktiven Verhaltensregelungen und den durch die primären Sozialisationsprozesse in
uns automatisierten sozialen und moralischen Verhaltensnormen“39.
Ebenso wie Roth gewinnt Zdarzil40 in seiner Pädagogischen Anthropologie die den
Menschen auszeichnenden Eigenschaften über den probaten Weg des Tier-Mensch-
Vergleichs. Im Zentrum steht für Zdarzil die nur dem Menschen als Geist-Wesen zukom-
mende Reflexivität, die die Grundlage bildet für die Selbstbestimmungs-, Selbstge-
staltungs- und Darstellungsfähigkeit des Menschen41. Als Merkmal der Reflexivität gilt
Zdarzil, daß der Mensch in einem gedanklich vermittelten Wirklichkeitsbezug steht, was
sich unter anderem ausdrückt in dem Wissen um räumliche Beziehungen, dem Bewußt-
sein von Zeit und dem nicht allein zweckhaften, sondern vor allem sinnhaften Handeln.
Nicht zuletzt ermöglicht die Reflexivität normatives Bewußtsein, welches alle Bereiche des
menschlichen Miteinanders und „in-der-Weltseins“ prägt, so ist der Mensch „der Bindung
an andere in Liebe und Freundschaft nur fähig, sofern er das Bewußtsein der Norm
besitzt, denn eine zwischenmenschliche Bindung solcher Art verstehen wir ja nicht als
38 Vgl. ebd. S. 330. 39 Roth, Heinrich:, Band II, S. 447. 40 Zdarzil, Herbert: Pädagogische Anthropologie. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage. Graz, Wien, Köln
1978. 41 Vgl. ebd. S. 38 ff.
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Verhältnis gegenseitiger Sympathie oder wechselseitiger Trieb- und Bedürfnisbefriedi-
gung, sie besteht vielmehr in einer gegenseitigen Verpflichtung unter bestimmten
Gesetzen (welche Rolle Sympathie und gegenseitiger Nutzen bei ihrem Zustandekommen
oder in ihnen auch immer spielen mögen)“42. Nach Zdarzil tragen „[a]lle Formen mensch-
licher Vergesellschaftung, ob es sich um informelle oder um institutionalisierte Gemein-
schaften handelt, [...] die Züge menschlicher Reflexivität“43. Die wichtigste Grundlage für
die Reflexivität ist das Kommunikationsmittel Sprache, welches erst ermöglicht, sinnlich
Gegebenes zu ordnen und diesem durch begriffliche Fassung Bedeutung zuzuweisen.
„Sprache ist als Einheit von Zeichen und Bezeichnetem versinnlichter Sinn.“44
Die Reflexivität als gedanklich vermittelter Wirklichkeitsbezug ermöglicht dem Menschen,
sich von anderen und anderem zu unterscheiden und darüber ein Bewußtsein von sich
selbst als Individuum zu entwickeln. Kraft dieser Selbsterkenntnis „wird der Mensch
schließlich in die Lage versetzt, sich zu sich selbst zu verhalten“45, was sich bspw. aus-
drückt in bewußter Triebregulierung und der Fähigkeit zur Selbstkritik.
Mit Rückgriff auf Kant versteht Zdarzil die „Selbstreflexion des Menschen als Bedingung
der Möglichkeit, als transzendentale Voraussetzung seiner Selbstbestimmung“46 oder
Freiheit, welche das zweite Wesensmerkmal des Menschen kennzeichnet. Freiheit zeigt
sich in zwei Momenten, nämlich als ein Moment des Freiseins von determinierenden
Einflußfaktoren, wie bspw. Trieben, Wünschen und Neigungen, das zurückzuführen ist auf
die geistige Fähigkeit, sich bewußt mit aller Art Faktoren, die Verhalten und Handeln
bestimmen, auseinandersetzen und damit zu ihnen in Distanz treten zu können, welches
in das zweite Moment eines Freiseins für den bewußten Willensakt in Form von selbst-
bestimmter Lebensgestaltung mündet. „Freiheit im Vollzug ist immer beides zugleich:
Unbestimmtheit und Selbstbestimmung, weil Selbstbestimmung Unbestimmtheit an sich
hat; nur in der Reflexion auf Freiheit treten beide Momente an ihr auseinander. Die
Reflexivität des Menschen aber erweist sich in diesem Gedanken als Bedingung der Mög-
lichkeit seiner negativen Freiheit, d.h. als Freiheit von Verhaltenszwängen, und in der
Folge auch als Voraussetzung der Selbstbestimmung, der positiven Freiheit.“47
42 Ebd. S. 44. 43 Ebd. 44 Ebd. S. 46. 45 Ebd. S. 50. 46 Ebd. S. 51. 47 Ebd. S. 52.
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Reflexionsfähigkeit und Entscheidungsfähigkeit verstanden als bewußte Willensakte
begründen die „Weltoffenheit“ des Menschen als „Gegenbegriff zur tierischen ‚Trieb- und
Umweltgebundenheit‘“48. Zwar sind, wie Zdarzil betont, zum einen dem Menschen durch
seinen Körper Grenzen des Wollens gesetzt, zum anderen wird „das Verhalten des
Menschen in einzelnen Situationen zumeist durch ein ‚Lageschema‘ bestimmt“49, welches
sich aus Erfahrungen des bisherigen Lebens in Form von Haltung und einer bestimmten
Art zu denken ausdrückt. Jedoch ist ihm die Möglichkeit, über seine Einstellung nachzu-
denken, prinzipiell gegeben, denn die Lageschemata sind nicht angeboren, sondern
erlernt, wodurch „die These von der ‚Weltoffenheit des Menschen‘ doch ihre – wenn auch
eingeschränkte – Berechtigung behält“50.
Selbstbestimmung führt zur Selbstgestaltung, die sich vollzieht durch bewußte Entschei-
dungen für bestimmte Verhaltensweisen, die nicht nur für den Augenblick gefällt werden,
sondern auch in der Antizipation von Zielvorstellungen in der Zukunft, in der Art als „der
immer wieder ausgeführte Entschluß, einer Pflicht Genüge zu tun, [...] nach und nach
Neigungen, die der Erfüllung dieser Pflicht entgegenstehen, schwächen [wird], die
Erfüllung dieser Pflicht leichter erscheinen und sie selbst zum Bedürfnis werden lassen;
[...] die mehrmals geübte Handlung wird schließlich beherrscht; häufig vollzogene gedank-
liche Operationen werden am Ende ohne Schwierigkeit reproduziert, der einmal gefaßte
Vorsatz, die einmal eingegangene Bindung an einen anderen Menschen, an eine Ge-
meinschaft bestimmen die Motivation des Menschen auch weiterhin“51. Wohl hat der
Vollzug der „Selbstformung“ des Menschen immer innerhalb von Vorgegebenheiten wie
z.B. geschichtlicher und kultureller Art statt, jedoch werden diese von dem Menschen in je
individueller Selbstbestimmtheit beantwortet.
Reflexivität ist auch die Grundlage für die Darstellungsfähigkeit des Menschen, die sich
am besten an der Kunst demonstrieren läßt. In Abgrenzung zu „erkennende[m] Bestim-
men von Konkretem unter Begriffen und daher als Allgemeinem“ versteht Zdarzil „Kunst
[als] Darstellung des Konkreten in seiner Konkretheit“52. Demgemäß wird Darstellung
gefaßt als die „Vergegenwärtigung von Konkretem in seiner Konkretheit, genauer gesagt:
sie ist intendierte Vergegenwärtigung von konkret Wirklichem“53. In der künstlerischen
Darstellung geht es also um die bewußte Demonstration von Gegebenheiten wie bspw.
48 Ebd. S. 54. 49 Ebd. S. 55. 50 Ebd. 51 Ebd. S. 55 f. 52 Ebd. S. 57. 53 Ebd. S. 58.
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Gefühlszuständen oder Charakteren und nicht um ein Erkennen im Sinne von begrifflich
vermittelter Eigenschaftszuweisung, die immer nur in der Form einer Aussage über diese
und jene Gegenstände oder Sachverhalte erfolgt und aufgrund der begrenzten Aussage-
kraft der Sprache notwendig „allgemein“ gehalten werden muß.
Die Darstellungsfähigkeit ist jedoch nicht auf den künstlerischen Bereich beschränkt,
sondern prägt auch einen erheblichen Teil des alltäglichen Lebens dadurch, daß nicht nur
über die Gestaltung des äußeren Erscheinungsbildes mittels Kleidung und Frisur, sondern
durch das „Benehmen“ die Darstellung individueller Persönlichkeit unterstützt wird. Zdarzil
betont, daß sich die Darstellungsfähigkeit des Menschen begrenzt auf die „Gegenstände“,
zu denen er in einem vermittelten Verhältnis steht. „Der Mensch ist also nur insofern der
Darstellung fähig, als er zu dem, was er darstellt, in einem vermittelten Bezug steht. Das
aber bedeutet – was wir oben als These einfach aufgestellt haben –, daß der Mensch nur
aufgrund seiner Reflexivität der Darstellung fähig ist. Darstellung ist also nicht gedanklich
vermittelnder oder gedanklich vermittelter Wirklichkeitsbezug, setzt ihn aber als Bedin-
gung ihrer Möglichkeit voraus.“54
Entsprechend der von ihm explizierten Wesenheiten des Menschen, ist der Mensch
einmal „ein Wesen (reflexiver) Kreativität“55, die sich zeigt im planvollen bewußten Gestal-
ten seiner selbst und seiner Umwelt, und „ein Wesen der Tradition, ein Wesen der Kultur-
überlieferung“56, weil er seine schöpferischen Leistungen weitergeben kann und durch
seine Sprachfähigkeit zur Mitteilung eigener und zum Nachvollzug der Gedanken anderer
fähig ist. Das Vermögen zur Vermittlung und Aneignung von Erkenntnisgewinnen bildet
Zdarzil die Grundlage für die Erziehungsbedürftigkeit des Menschen. Da der Mensch in
ein bestimmtes Gesellschaftsgefüge hineingeboren ist, welches ein je eigenes Sprachver-
halten, Wirtschafts- und Rechtssystem aufweist und von je eigenen kulturellen Gegeben-
heiten geprägt ist, ist er auf die Vermittlung der Fähigkeiten und Fertigkeiten angewiesen,
die er zum Überleben in diesem Gesellschaftsgefüge braucht. Damit aber „ist er ein auf
Tradierung angewiesenes Wesen: er ist ein der Erziehung bedürftiges Wesen, ein animal
educandum“57.
Zdarzils Erziehungsverständnis ist geprägt von seinem Freiheitsbegriff: Der Vollzug der
den Menschen fremdbestimmenden Erziehung ist immer nur im Zusammenhang zu
54 Ebd. 55 Ebd. S. 60. 56 Ebd. 57 Ebd. S. 60 – 61.
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sehen mit seiner Selbstbestimmungsfähigkeit, denn „[d]er Mensch ist keineswegs, auch
nicht als ein erziehenden oder sozialisierenden Einflüssen unterliegendes Wesen, in
seinem Verhalten, in seinen Einstellungen und in seiner Apperzeption der Wirklichkeit an
sozial präformierte Muster gebunden, er ist kein ausschließlich sozial fixiertes, deter-
miniertes Wesen“58. Wohl erfolgt die Selbstverwirklichung in jeweils vorgegebenen
sozialen Bezügen, die die Lernvorgaben und damit auch das Maß an Anregungen zu
kreativem Lernen bestimmen, wodurch „gilt [...], daß Fremdbestimmung einerseits und
Selbstverwirklichung (und Selbstbestimmung) andererseits nicht beziehungslos
nebeneinander herlaufen, sondern miteinander verschränkt auftreten“59.
In einer selektiven Rückschau auf in der Geschichte vorfindbare Erziehungsziele expliziert
Zdarzil deren Unzulänglichkeit bezüglich der Erfüllung des Anspruchs auf Allgemeingül-
tigkeit.60 Unter Anerkennung der durch den kritischen Rückblick gewonnenen Erkenntnis,
daß alle materialen Erziehungsziele dem geschichtlichen Wandel unterworfen sind, ent-
wirft er auf der Grundlage seines Erziehungsbegriffs und seines in Anlehnung an Kants in
bezug auf die praktische Vernunft entwickelten Freiheitsbegriffs einen formalen ‚Auf-
gabenkatalog‘ für Erziehung. So ist die vordringlichste Aufgabe von Erziehung, dem
Zögling zur „Mündigkeit“ 61 zu verhelfen. Für Zdarzil ist der Begriff Mündigkeit gleichbe-
deutend mit der Fähigkeit, sein Handeln nach sittlichen Prinzipien auszurichten. Insofern
ist Mündigkeit zunächst die Konkretisierung der beiden Momente der Freiheit als Fähig-
keit, sich mittels Reflexion eigene Verhaltensantriebe bewußt zu machen und dadurch mit
Gründen eine Entscheidung treffen zu können. Diese Begründung erfolgt unter Berück-
sichtigung eines der Motive übergeordneten Prinzips, welches die Entscheidung selbst
erst wieder möglich macht. „Sofern dieses Prinzip Notwendigkeit und – wie jedenfalls
immer wieder gefordert – Allgemeingültigkeit an sich hat, nennen wir es ein sittliches
Prinzip.“62 Dies bedeutet für Zdarzil, daß das einmal gewonnene Prinzip unbedingt ver-
pflichtend für den menschlichen Willen ist, der, wiederum mit Rückgriff auf Kant, verstan-
den wird als reiner Wille, d.h. er ist notwendig inhaltsleer, wodurch die Freiheit der
eigenen Setzung sittlicher Prinzipien möglich aber auch erforderlich wird. Sittliche
Prinzipien aber beanspruchen unbedingte Gültigkeit, „d.h. sie formulieren Forderungen,
welche vom Willen die Verwirklichung des in ihnen Geforderten nicht um anderer Zwecke
willen, sondern um des Geforderten selbst willen verlangen“63. Die Freiheit zeigt sich
58 Ebd. S. 120. 59 Ebd. 60 Vgl. ebd. S. 215 ff. 61 Vgl. ebd. S. 238 ff. 62 Ebd. S. 239. 63 Ebd.
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darin, daß Mensch, der sich zwar durch sein Eingebunden sein in einem gesellschaft-
lichen Zusammenhang Verhaltensanforderungen gegenüber sieht, jedoch zur Verpflich-
tung auf Prinzipien nicht gezwungen werden kann. Insofern handelt es sich hier um einen
Akt der Selbstverpflichtung des Willens, welcher in zweifacher Weise erfolgt: in Form
einer Bindung an bestimmte Personen, eine bestimmte Gemeinschaft, die einhergeht mit
einer Bindung unter ein bestimmtes Gesetz. Mit Bezug auf diese doppelte (Selbst-)Bin-
dung spricht Zdarzil von einer „doppelten Mündigkeit“64, die den Zögling befähigt „zur
Selbstbestimmung über das Gesetz seines Handelns und zur Selbstbestimmung unter
diesem Gesetz“65.
Bezüglich der Gestaltung des Erziehungsgeschehens finden sich bei Zdarzil zwei unter-
schiedliche Vorgehensweisen: unter Berücksichtigung des Freiheitsaspektes kann für ihn
Erziehung nur die Form eines „dialogischen Bezugs“ haben, da es gemäß der in der
Selbstbestimmungsfähigkeit begründeten Freiheit nicht möglich ist, die Erkenntnisse der
älteren Generation auf die jüngere zu ‚übertragen‘, denn „alles, was der Lehrer zu tun ver-
mag, ist, dem Schüler zum Verständnis einer Aussage [...], zum Nachvollzug einer Ein-
sicht zu verhelfen [...]; den Akt des Verstehens und den Vollzug der Einsicht kann er nur
provozieren, zu leisten hat sie in der lernenden Aneignung der Schüler selbst“66. Mit
Langeveld bezeichnet Zdarzil pädagogisches Tätigsein demnach als „eine Anregung zum
Selbstentdecken zur Selbstrealisierung des Kindes, als Mitarbeit an einem ‚selbstkrea-
tiven Prozeß‘“67.
Die praktische Durchführung des Auftrags Erziehung zur Mündigkeit muß jedoch zunächst
durch „handelndes Einüben des kindlichen Willens in eine bestimmte, vom Erzieher vor-
gesetzte Form der Sittlichkeit“68 statthaben. Aufgrund dieser heteronomen Bestimmung
über den Zögling wird er die von ihm abgeforderten Handlungen nicht aus einem Bewußt-
sein der Verpflichtung sich selbst gegenüber, d.h. als sittliche vollziehen. „Das Bewußt-
sein der Verpflichtung stellt sich erst dann ein, wenn das Kind an es herangetragene
Verhaltensnormen (in einem Prozeß der Identifikation) internalisiert und sie sich selbst
gegenüber geltend macht.“69 Diesem Prozeß muß das Einsichtig machen in die Gründe
für den abverlangten Gehorsam folgen. „Die Einübung des Zöglings in einsichtigen
Gehorsam leitet ihn zur Selbstbestimmung unter der gegebenen sittlichen Forderung an.
64 Ebd. S. 242. 65 Ebd. 66 Ebd. S. 61. 67 Ebd. S. 62. 68 Ebd. S. 243 – 244. 69 Ebd. S. 244.
20
Sie vermittelt zugleich aber auch jene Motive, die für die geübte Form sittlicher Selbstver-
pflichtung bestimmend sind (wird darin zur sittlichen „Bildung“) und versetzt den Zögling in
die Lage (und veranlaßt ihn), sich an die vorgesetzte Form der Sittlichkeit aufgrund der
dargelegten Motive zu binden.“70 Der tatsächliche in Freiheit vollzogene Akt der Selbstver-
pflichtung kann jedoch erst dann erfolgen, wenn dem Zögling das Wissen um weitere
sittliche Prinzipien vermittelt wurde und er sich in einer „suspendierenden Reflexion“71
unter Infragestellung der angeeigneten Form der Sittlichkeit, dieses mit den anderen
vergleichend, sich aus der Auswahl mit Gründen für und unter ein bestimmtes sittliches
Prinzip selbstverpflichtet.
Mündigkeit als abstrakte „philosophisch-anthropologisch begründete Zielformel der
Erziehung“72 wird eingebettet in die Erziehung zur Lebenswelt73. Hier wird dem Umstand
Rechnung getragen, daß Erziehung immer in bestimmten gesellschaftlichen Lebensbe-
zügen statthat und den Auftrag hat, den Zögling für die Bewältigung der Lebenswelt und
für eine kritische Stellungnahme zu derselben tauglich zu machen. Mit dem dritten Auftrag
„Erziehung als Hilfe zur Identitätsbildung“74 berücksichtigt Zdarzil schließlich, daß Erzie-
hung dem Zögling die Möglichkeit bieten muß, das je individuelle Fähigkeits- und
Neigungspotential zu eruieren und zu fördern und die Entwicklung des darauf basieren-
den, sich im Umgang mit anderen stabilisierenden Persönlichkeitsprofils zu unterstützen.
Zdarzils anthropologische Untersuchungen erfolgen im Rahmen einer „kategorialen
Reflexion“75, die für ihn notwendig ist, um der Gefahr einer „beliebigen“ Deutung empi-
rischer Erkenntnisse anderer Humanwissenschaften entgegenzuwirken. Intendiert ist, die
den jeweiligen Untersuchungen zugrundeliegenden Kategorien aufzudecken, um in einem
zweiten Schritt, diese den jeweiligen Erkenntnisgegenständen unterliegenden, die empi-
rischen Untersuchungen wesentlich bestimmenden Kategorien kritisch vor dem Hinter-
grund einer philosophisch fundierten Wesenserkenntnis des Menschen zu reflektieren.
Zudem ist es im Rahmen einer pädagogischen Anthropologie nicht angemessen, ver-
schiedene Erkenntnisse einzelner Wissenschaftsbereiche auf ihre jeweilige pädagogische
Relevanz hin zu untersuchen, sondern Aufgabe ist es, einzelne Forschungserkenntnisse
zu einer übergreifenden Theorie, einer Theorie zweiter Stufe zusammenzufassen. In
70 Ebd. 71 Ebd. 72 Ebd. S. 249. 73 Vgl. ebd. S. 249 f. 74 Vgl. ebd. S. 251 ff. 75 Vgl. ebd., S. 26 ff.
21
diesem Sinne bildet ihm der Rahmen seiner Reflexion das Verständnis des Menschen als
Geist-Wesen und die ihm dadurch mögliche Freiheit.
Die philosophisch fundierte Ausgangsüberlegung zur Wesenserkenntnis des Menschen
bildet die Reflexivität, verstanden als gedanklich vermittelter Bezug zur Wirklichkeit,
welche als Bedingung der Möglichkeit zur Freiheit gilt. Hier handelt es sich um einen
transzendentalen Freiheitsbegriff, um ‚Freiheit als Idee‘, die zurückgeführt wird auf die
dem Menschen eignende Art der Welterfassung. Nur die Reflexivität ermöglicht es, in
Distanz zu sich selbst zu treten und frei von determinierenden Einflußfaktoren wie
Wünschen, Trieben, Motivation einerseits und gesellschaftlichen Anforderungen anderer-
seits mit Gründen eigene Entscheidungen zu treffen, d.h. sich selbst zu bestimmen. Zwar
erörtert Zdarzil den notwendig prägenden Einfluß von stets in einen bestimmten
historischen und gesellschaftlichen Kontext eingebetteten Erziehungsprozessen auf die
Entwicklung des Menschen, besonders aber auf anstehende Entscheidungsprozesse,
betont jedoch, daß die Ausbildung der Persönlichkeit immer auch abhängig ist von der je
individuellen „Antwort“ auf die durch das Umfeld ermöglichten Lernprozesse. Die zentrale
Bedeutung des Freiheitsbegriffs zeigt sich in Zdarzils Verständnis von Mündigkeit als Akt
der selbstbestimmten Verpflichtung für und unter ein sittliches Prinzip.
Die der anthropologischen Untersuchung unterliegende und sie bestimmende Wesenser-
kenntnis des Menschen, die als Bedingungsverhältnis zwischen Reflexivität, Freiheit und
Selbstgestaltungsfähigkeit expliziert wurde, wird durch die Methode der kategorialen
Reflexion, welche zu weiteren philosophisch fundierten Wesensaussagen führt, erweitert
und bestätigt. Hierin liegt für Zdarzil der Beweis, daß eine einheitliche Gesamtdeutung
des Menschen möglich ist und die Wesensdeutung des Menschen nicht offengehalten
werden muß. „Die Wesensdeutung braucht also nicht unabgeschlossen oder bruchstück-
haft zu bleiben; sie muß allerdings offen für eine Korrektur bleiben, da sie, wie jede
andere menschliche Erkenntnis auch, nicht den Anspruch auf Endgültigkeit erheben
kann.“76
Daß bei Zdarzils anthropologischen Untersuchungen der Bereich der Gefühle nur
marginal Berücksichtigung findet, ergibt sich durch seine Konzentration auf das Wesens-
merkmal Reflexivität, welche er an Freiheit und Selbstgestaltung bindet. Aus diesem
Blickwinkel erscheinen Gefühle als heteronome Determination, von denen es sich kraft
Reflexivität zu distanzieren gilt, um die „Freiheit zur“ Selbstgestaltungsfähigkeit zu
76 Ebd. S. 259.
22
erlangen. Hier liegt deutlich das Verständnis zugrunde, daß Gefühl und Geistigkeit zwei
Bereiche sind, die sich wohl gegenseitig beeinflussen können, wobei aber dem Mensch
durch die Reflexivität die Fähigkeit zugesprochen wird, in Distanz zu dem Gefühlsbereich,
d.h. in Ansehung der Gefühle, jedoch ohne durch sie affiziert zu sein, wirken zu können.
Die vorstehende Darstellung belegt, daß sich aus einem unterschiedlichen Zugang zur
Untersuchung der Frage nach dem Wesen des Menschen mit Blick auf seine Erziehbar-
keit und Bildsamkeit unterschiedliche Analysen und Gewichtungen gewinnen lassen.
Denn im Gegensatz zu Zdarzil ist es Roths Auffassung nach die Aufgabe einer pädago-
gischen Anthropologie, die Erkenntnisse anderer Humanwissenschaften für die speziell
pädagogische Fragestellung fruchtbar zu machen. Er spricht deshalb von einer „datenver-
arbeitenden Integrationswissenschaft“77. Unter dieser Prämisse erscheint seine zwei-
bändige pädagogische Anthropologie als umfassende Analyse der menschlichen Gesamt-
verfaßtheit unter der Zielsetzung der bestmöglichen Förderung der spezifisch mensch-
lichen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Der Vorteil, der sich durch Roths Vorgehensweise
abzeichnet, ist neben einer detaillierten Übersicht über die förderungsfähigen und
förderungsbedürftigen menschlichen Eigenschaften der Einblick in die Komplexität der
sich gegenseitig bedingenden Lern- und Entwicklungsprozesse. Aus dieser Verfahrens-
weise ergibt sich jedoch auch ganz deutlich, daß die menschliche Natur ihre Bestimmung
in Form von Lern- und Erziehungszielen nicht vorgibt78, womit die Bestimmung des
Menschen eine „offene Aufgabe“79 bleibt. Der diese Erkenntnis bergenden Gefahr, daß
die Auswahl der Erziehungsziele aufgrund eines fehlenden letztgültigen Parameters
beliebig sei, entgeht Roth, indem er sein Erziehungsziel ausrichtet nach der „Spitze“ der
Entfaltung menschlicher Kultur, die für ihn der mündige Mensch darstellt, der sich vor dem
gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrund als reif, mündig, kritisch, produktiv-kreativ
und verantwortlich-entscheidend präsentiert.80 Hierbei handelt es sich, wie schon oben
deutlich wurde, um eine formale Zielsetzung, deren Fokus die Beförderung der Hand-
lungsfähigkeit auf der Basis von moralischer Mündigkeit bildet. Wohl bindet er die
moralische Mündigkeit an die Beförderung der „großen Menschheitsideen Freiheit, Gleich-
heit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit“, doch auch hier handelt es sich um einen formalen
Orientierungsrahmen, der sich ausrichtet an dem jeweiligen historischen und kulturellen
Kontext. Damit beantwortet Roth in seiner pädagogischer Anthropologie die Frage nach
der Natur des Menschen in bezug auf die Anlage des Menschen mit dem Nachweis der
77 Roth, Heinrich: Band II S. 65. 78 Vgl. ebd. S. 38 ff. 79 Ebd S. 40. 80 Vgl. ebd. S. 41.
23
unendlichen Lernfähigkeit, die Zielbestimmung jedoch muß ungeachtet des formalen
Orientierungsrahmens aufgrund der unendlichen Lernfähigkeit offen bleiben.
Hinsichtlich der Fragestellung dieser Arbeit ergibt sich aus Roths Grundthese, daß die
Entwicklung der menschlichen Gesamtverfaßtheit auf Lernprozessen beruht, der ent-
scheidende Hinweis darauf, daß auch das emotionale Befinden je von Lernprozessen ab-
hängig ist. In diesem Zusammenhang findet sich zum einen der Auftrag, in der Erziehung
dergestalt auf die Gefühle einzuwirken, daß sie rationale Zielsetzungen unterstützend
begleiten, zum anderen darauf hinzuwirken, daß emotionale Befindlichkeiten und die
daraus folgenden Motivationen aufgedeckt werden, um durch den rationalen Zugriff den
unbewußten emotionalen Einfluß auf Handlungsvollzüge zu verhindern. Deutlich wird
jedoch auch die Annahme einer grundsätzlichen Dichotomie zwischen Gefühl und
Intellekt, wobei dem Intellekt als Kontroll- und Steuerungsorgan der Gefühle die Vorrang-
stellung zukommt.
Die differenzierte Betrachtung der beiden unterschiedlichen Positionen untermauert
zunächst die oben aufgestellte These, daß der Fokus pädagogisch anthropologischer
Betrachtungen auf der Geistigkeit im Sinne der Fähigkeit zur kritischen Reflexion liegt.
Hiermit in Zusammenhang steht sowohl bei Roth als auch bei Zdarzil der Aspekt der
Freiheit, der dem Menschen aufgrund dieser speziellen geistigen Fähigkeit zukommt und
der in beiden Positionen eine Verbindung aus negativer Freiheit, als einem Freisein von
fremdbestimmenden Faktoren, und der positiven Freiheit, als ein Freisein zu selbstbe-
stimmter Entscheidung, zum Inhalt hat.
Wohl wird von unterschiedlichen Freiheitsbegriffen ausgegangen, so ist Freiheit bei Roth
eine wenn auch nur formale – weil jeweils abhängig vom kulturellen und historischen
Kontext zu sehende – Zielsetzung pädagogischen Handelns, damit aber formbar und
nachweisbar, während nach Zdarzils transzendentalem Verständnis Freiheit weder
formbar noch nachweisbar ist. Nicht formbar ist sie insofern, als daß sie als Bedingung
der menschlichen Verfaßtheit vorauszusetzen ist und nicht nachweisbar ist sie, da der Akt
der Selbstverpflichtung unter ein sittliches Prinzip, welches unbedingte Gültigkeit bean-
sprucht, für einen Außenstehenden nicht überprüfbar ist, denn der Nachvollzug der tat-
sächlichen Entscheidungskriterien und Handlungsmotive ist nur von dem Handelnden
selbst mit relativer Sicherheit möglich.
Die unterschiedliche Zugangsweise zur Themenstellung erklärt die unterschiedliche
Berücksichtigung des Bereichs der Gefühle: Roths Untersuchungen richten sich
24
ausgehend von seinem empirisch gewonnenen Hauptwesensmerkmal des Menschen, der
unendlichen Lernfähigkeit, auf die Prozesse, die hinführen zu dem ebenfalls empirisch
aufweisbaren Erziehungsziel: dem durch ganz bestimmte Charaktereigenschaften
gekennzeichneten reifen und mündigen Menschen. Die Grundannahme, daß die Ent-
wicklung des Menschen primär abhängig ist von Lernprozessen und somit durch die
Gestaltung derselben auch steuerbar und ausrichtbar, führt zur Analyse der menschlichen
Anlagen in Verbindung mit der Überlegung, wie deren Förderung durch Lernprozesse mit
Blick auf die bestmögliche Realisierung des avisierten Erziehungszieles zu gestalten sei.
Diese auf der Basis von empirischen Forschungsergebnissen erfolgende Analyse der
verschiedenen menschlichen Fähigkeiten bringen zutage, daß der Charakter als das
Gesamt menschlicher Eigenschaften wesentlich mitgetragen wird vom Gefühlsbereich,
dessen Ausprägung sich vor allem auf die sozialen Lebensbezüge und damit auf die
moralische Verfaßtheit des einzelnen auswirkt.
Zdarzils Kategorialanalyse ist eingerahmt von dem transzendental gewonnenen Wesens-
merkmal des Menschen: der Reflexivität. Insofern als nach Zdarzils Interpretation des
Menschen als Geist-Wesen, welchem die Fähigkeit zukommt, sich zu sich selbst zu
verhalten, d.h. in Distanz zu sich selbst treten und aus dieser Distanz heraus nur auf der
Basis der Reflexivität, d.i. durch rein rationale Abwägung mit Gründen entscheiden zu
können, wäre das Einbeziehen des Gefühlsbereichs nicht nur nicht notwendig, sondern
vielmehr nicht statthaft. Die Stringenz seiner Argumentation zeigt sich darin, daß die
Realisierung jeglichen sozialen Miteinanders an die nur durch die Reflexivität mögliche
Verpflichtung unter bestimmte Gesetze gebunden wird und in den Ausführungen zur
Bewältigung des Auftrags „Erziehung zur Mündigkeit“. Wie bereits oben ausgeführt muß
hierzu eine Grundlage gebildet werden durch „ein handelndes Einüben des kindlichen
Willens in eine bestimmte, vom Erzieher vorgesetzte Form der Sittlichkeit“81. Dieser
Prozeß der durch Identifikation statthabenden Internalisierung der Verhaltensnormen,
welche im Nachgang begründet wird, dient zur „Einübung des Zöglings in einsichtigen
Gehorsam [und] leitet ihn zur Selbstbestimmung unter der gegebenen sittlichen Forde-
rung an“82. Die tatsächliche Selbstverpflichtung als Akt des sich seines Selbsts bewußten
Zöglings erfolgt jedoch erst durch Infragestellung der bisher angeeigneten Form der
Sittlichkeit unter abwägendem Vergleich mit anderen Gestalten der Sittlichkeit und der
daraus folgenden mit Gründen belegten Entscheidung für und unter ein bestimmtes
81 Zdarzil, Herbert: a.a.O., S. 243 f. 82 Ebd. S. 244.
25
sittliches Gesetz.83 Hier wird die Unabhängigkeit und die Kraft, die der Reflexivität als
Fähigkeit des Menschen nach Zdarzil zukommt, deutlich.
Während bei Roth der emotionalen Erziehung für seine Fassung der moralischen Mündig-
keit Bedeutung zugemessen wird, insofern als daß durch sie nach seinem Dafürhalten
Werturteile und Handlungsmotivationen ihre Grundlage finden, muß sie in Zdarzils Auf-
fassung vom Menschen eine Randerscheinung, ein möglicherweise unterstützendes
(auch er rezipiert die Untersuchungen von Spitz und anderen Wissenschaftlern bezüglich
der Bedeutung der emotionalen Fürsorge für die gesunde körperliche und intellektuelle
Entwicklung des Säuglings)84 aber vor allem für die Realisierung seiner Fassung des
Erziehungsziels Mündigkeit nicht notwendig zu berücksichtigendes Moment sein.
Welches Bild ergibt sich aus den beiden pädagogisch anthropologischen Untersuchungen
hinsichtlich der Gefühle und ihres Stellenwerts für Mensch in seinen Handlungsbezügen:
Während bei Zdarzil die Gefühle nur marginal Berücksichtigung finden, bilden die Gefühle
bei Roth als Anlaß zu Werturteilen einen wesentlichen Anteil an der menschlichen
Gesamtverfaßtheit85. Dabei ist die Förderung der dem Menschen nach Roth zukommen-
den grundsätzlichen Gefühlsansprechbarkeit im wesentlichen abhängig von Lernpro-
zessen. Roth betont die Bedeutung der Emotionen für die Ausbildung des Wertesystems
mit dem Hinweis darauf, daß Handlungsentscheidungen auf Wertentscheidungen
basieren, die von Gefühlen wesentlich beeinflußt werden.
Signifikant ist das in beiden Positionen vertretene Verständnis einer Dichotomie von Geist
und Gefühl, wobei eine wechselseitige Beeinflußbarkeit eingeräumt wird, dabei der
Geistigkeit jedoch das Primat über die Gefühle zukommt. Freilich finden sich bei der
Zuschreibung der Wirkmächtigkeit graduelle Unterschiede. Während es nach Roth dem
Menschen kraft seiner Geistigkeit möglich ist, Gefühle zu eruieren, d.h. zu rationalisieren
und damit zu kontrollieren, ermächtigt die Reflexivität nach Zdarzils Auslegung den
Menschen, zu sich selbst in Distanz treten zu können, mithin sich dem Einfluß der
Gefühlsverfaßtheit zu entziehen. Die beiden Grundannahmen: die Dichotomie von Gefühl
und Geist einerseits, sowie die richtungweisende moralische Kraft des Geistes anderer-
seits, unterliegen beiden Positionen gleichermaßen.
83 Vgl. ebd. 84 Vgl. ebd. S. 100. 85 Roth, Heinrich: Band I, S. 374 ff. und besonders S. 394.
26
Die Problematisierung dieser beiden Grundannahmen, welche einer in langer Tradition
stehenden Denkweise entsprechen, ist Hauptgegenstand dieser Arbeit. Ausgegangen
wird von der These, daß neben der geistigen Veranlagung, die Fähigkeit, Gefühle zu
entwickeln, entscheidende Voraussetzung für die Überlebensfähigkeit des Menschen ist,
daß der Mensch insofern nicht nur das geistvollste, sondern auch das gefühlvollste
Lebewesen86 ist.
Vor dem Hintergrund dieser These konzentriert sich die Untersuchung vor allem mit
Bezug auf die Realisierung pädagogischer Zielsetzungen auf die Klärung der Fragen, wie
sich Gefühle entwickeln und welchen Einfluß Gefühle auf die Verfaßtheit des Menschen
und seine Lebensbezüge haben und das heißt ganz konkret: wie das Verhältnis zwischen
den Gefühlen und dem Denken vorzustellen ist. In diesem Zusammenhang wird aus-
drücklich darauf hingewiesen, daß obgleich der Fokus dieser Arbeit auf der Untersuchung
des Gefühlsbereichs liegt, nicht das Ziel verfolgt wird, den Gefühlen eine Vorrangstellung
über die geistigen Fähigkeiten einzuräumen und damit die Vorstellung einer Dichotomie
von Geist und Gefühl zu nähren, vielmehr ist die Intention, die Unauflösbarkeit des
Zusammenwirkens dieser beiden grundlegenden menschlichen Wesensmerkmale
aufzudecken und nachzuweisen, daß es ebensowenig eine rein sachliche, rationale,
vernünftige Entscheidung gibt, wie eine rein gefühlsmäßige, emotionale.
86 Hans Goller spricht in diesem Zusammenhang vom Menschen „als das emotionalste und das rationalste
Lebewesen“. Goller, Hans: Emotionspsychologie und das Leib-Seele-Problem. Stuttgart, Berlin, Köln 1992, S. 12.
27
3 Die Bedeutung der Gefühle für das Wesen des Menschen
3.1 Einführung in die Problematik des Untersuchungsgegenstandes
Unser Umgang mit Gefühlen im Alltagsleben erweist sich in den meisten Fällen als selbst-
verständlich und ist wohl auch aufgrund dessen gekennzeichnet durch eine gewisse
Undifferenziertheit. Der selbstverständliche Umgang mit Gefühlen gründet zum einen
darin, daß der größte Teil unserer Tätigkeiten von Gefühlszuständen begleitet wird, dieser
Umstand aber in den meisten Fällen keinerlei Beachtung findet. In das Zentrum der
Aufmerksamkeit rücken Gefühle zumeist erst dann, wenn sie sich außerhalb des gewohn-
ten Intensitätsbereiches bemerkbar machen, sei es in negativer Weise, wie beispielsweise
in einer Situation, in der ein erwartetes Gefühl (im subjektiven Erleben) ausbleibt oder von
anderen nicht in erwarteter Weise gezeigt wird, oder in positiver Weise z.B., durch den
Ausdruck von „überschwenglicher“ Freude oder „unbegründeter“ Angst.
Dies verweist auf einen ersten, den Umgang mit den Gefühlen im Alltagsleben kenn-
zeichnenden Aspekt: Es gibt einen situationsspezifischen Normbereich nicht nur hinsicht-
lich der Intensität des eigenen Gefühlserlebens, sondern auch – und das ist besonders
bedeutsam – für den Ausdruck der Gefühlsverfaßtheit. Die Bedeutsamkeit von letzterem
erklärt sich dadurch, daß die Darstellung der Gefühlsverfaßtheit nicht unbedingt mit dem
inneren Erleben übereinstimmen muß, was jedoch im sozialen Miteinander keine große
Rolle spielt, da vor allem der normgerechte Gefühlsausdruck Beachtung findet. Auf die
Beziehung zwischen Gefühlsempfinden und Gefühlsausdruck wird später noch genauer
eingegangen, zunächst wird die Darstellung von Gefühlen eingehender in den Blick
genommen.
Das Wissen um die überkulturelle Ähnlichkeit beim Gesichtsausdruck von ganz be-
stimmten Gefühlen gilt heute, im Zeitalter der vielfältigen Möglichkeiten für nahezu
jedermann, der die nötigen finanziellen Mittel aufbringen kann, ohne großen Zeitaufwand
in jeden Winkel dieser Welt zu reisen und die daheim Gebliebenen mittels Dokumen-
tationen von Reisen in Form von Bild- und Tonmaterial an diesen Erlebnissen teilhaben
zu lassen, als Gemeinplatz. Vor ca. 130 Jahren jedoch, als diese Möglichkeiten noch nicht
gegeben waren, war dies für Charles Darwin87 im Rahmen seiner Studien für eine Evo-
lutionstheorie eine ungeklärte Fragestellung, der er durch die Versendung von Frage
87 Darwin, Charles: Der Ausdruck der Gefühle bei Mensch und Tier. Düsseldorf 1964.
28
bögen an Missionare in alle Teile der Welt nachgegangen ist und durch deren Auswertung
er die Erkenntnis gewann, daß die Gesichtsmimik als Ausdruck von Gefühlszuständen
wie Angst, Ärger, Trauer, Wut, Scham, Ekel und Freude überkulturelle Ähnlichkeiten
aufweist. Anlaß für diese Untersuchung war die Klärung der Frage, ob die Gesichtsmimik
für den Ausdruck unterschiedlicher Gefühle genetisch bedingt sei oder nicht. Zwar
genügte Darwins Untersuchungsmethode nicht den Anforderungen an eine gesicherte
Erkenntnis bezüglich der Ausgangsfragestellung, sie regte aber andere Forscher88 zu
differenzierten Studien in den unterschiedlichsten Kulturen an, die zur Verifikation der
Ausgangsthese führten: die kulturübergreifende Ähnlichkeit in der Gesichtsmimik ist
genetisch bedingt. Nicht Gegenstand dieser Untersuchungen waren jedoch die Intensität
der anhand von Beschreibungen (Darwin) bzw. Fotographien (Ekman) identifizierten
Gefühlszustände und (begreiflicherweise) deren mögliche Auslöser.
Wie aber verhält es sich mit den Ursachen oder Auslösern von Gefühlszuständen? Daß
die Zuordnung von typischen Situationen und Verhaltens- bzw. Handlungsweisen an ganz
bestimmte Gefühlszustände zumindest teilweise auf Lernvorgängen beruht, zeigt sich
bspw. an der Genese des Ekelempfindens: So fassen Kleinkinder nicht nur alle Dinge, die
ihr Interesse erregen – sei es Spielzeug, Steine und Holzstöckchen ungeachtet des Zu-
standes – an und nehmen sie in den Mund, sondern spielen auch im Alter von 2 – 3
Jahren recht unbefangen mit ihren Ausscheidungsprodukten und lernen erst allmählich,
daß sich dies „nicht gehört“, indem diese Tätigkeiten von den Bezugspersonen mit „Pfui“-
Rufen oder ähnlichem und dem dazugehörigen Gesichtsausdruck beantwortet werden,
wodurch das Kind zum Unterlassen dieser Aktivitäten bewegt werden soll. Unter-
schwelliges (weil nicht unbedingt bewußtes) Ziel dieser unverhohlenen Mißfallens-
äußerungen durch Worte, Mimik und Gestik ist, bei dem Kind ein Ekelempfinden diesen
Aktivitäten gegenüber hervorzurufen, was dann dazu führt, daß diese generell, d. h. auch
in unbeobachteten Momenten, unterlassen werden.
Kulturübergreifend lassen sich die Unterschiede im Ekelempfinden sehr gut an der
Präferenz oder der Ablehnung von Speisen verdeutlichen. Für den größten Teil der im
westlichen Kulturkreis sozialisierten Personen ist das Verspeisen von lebenden Maden
ekelerregend, während dies bei einigen Naturvölkern eine Köstlichkeit darstellt.
88 Ekman, Paul: Gesichtsausdruck und Gefühl. 20 Jahre Forschung von Paul Ekman. Paderborn 1988. Siehe
hierzu auch Eibl-Eibesfeld, Irenäus: Der vorprogrammierte Mensch. Das Ererbte als bestimmender Faktor im menschlichen Verhalten. Vollst. durchges., aktualisierte u. erw. Neuaufl. Kiel 1988.
29
Auch die meisten Angstauslöser werden anerzogen, wobei hier, wie empirische Untersu-
chungen zutage brachten, genetische Dispositionen wohl bewirken, daß einige Situa-
tionen leichter mit Angst belegt werden können als andere, hier zu nennen sind bspw. die
Angst vor dunklen Räumen und auch die Angst vor weiten, offenen Plätzen. Daß darüber
hinaus Ängste aber nahezu beliebig, d.h. auch vor vollkommen ungefährlichen Objekten,
erlernbar sind, zeigte als erster der Konditionstheoretiker Watson an einem Versuch mit
dem kleinen Albert, dem er die Angst vor einer weißen Ratte ankonditionierte.89 Neuere
Ergebnisse neurophysiologischer Forschungen auf dem Gebiet der Angstforschung
bestätigen diesen Befund. Daß auch bezüglich der angstauslösenden Objekte oder
Situationen neben individuellen auch erhebliche kulturelle Unterschiede bestehen, ist
evident.
Deutliche kulturelle bzw. regionsspezifische Unterschiede finden sich auch hinsichtlich der
Intensität der Darstellung von Gefühlen. In der deutschen Kultur gilt im allgemeinen ein
gemäßigter Ausdruck des Gefühlserlebens als angemessen. Zu lautes Lachen oder
Jauchzen als Ausdruck für Freude, öffentliches Weinen oder lautes Schreien als offenkun-
diger Ausdruck von Trauer oder Ärger bzw. Wut, ebenso wie allzu deutlich gezeigte
Unsicherheit erzeugen in den meisten Fällen Irritation bzw. den Unwillen der Umgebung
(man denke nur an die oftmals gehörten Aufforderungen: „Nun reiß dich aber mal zusam-
men, oder: Lassen Sie sich nicht so gehen.“). Ein wohlbekanntes Beispiel für die Unter-
schiede der Umgangsformen in der Gefühlsdarstellung im interkulturellen Vergleich ist
das über Stunden andauernde öffentliche Beweinen von Toten als Zeichen der Trauer,
was in der deutschen Kultur nur in ganz besonderen Ausnahmefällen ohne Unwillen
geduldet würde.
Die innerhalb einer Kultur beobachtbaren individuellen Unterschiede im Ausdruck von
Gefühlszuständen in Form von offener oder verhaltener Äußerung des Gefühlserlebens
wird zumeist auf die individuelle Temperamentausstattung zurückgeführt. Im übergeord-
neten Sinne wird in diesem Zusammenhang auch häufig der Begriff „Mentalität“ ge-
braucht. Mentalitäten und die darunter gefaßte Temperamentausstattung dient häufig zur
Erklärung von regions- oder kulturspezifischen Gefühlsäußerungen, wobei die Unter-
schiede oftmals auch auf den Einfluß regionsspezifischer klimatischer Bedingungen
zurückgeführt werden: als Beispiele seien hier genannt der heißblütige oder tempera-
mentvolle Südländer oder der kühle Norddeutsche.
89 Vgl. hierzu die Darstellung von Meyer, Wulf-Uwe, Schützwohl, Achim; Reisenzein, Rainer: Einführung in
30
Der letzte Punkt verweist auf die oben bereits angerissene Problematik: die Korrelation
zwischen Ausdruck und Intensität von Gefühlsempfindungen: Der in Verbindung mit der
Temperamentausstattung gebräuchliche Begriff Mentalität (der den lat. Begriff: mens,
mentis: der Geist beinhaltet) zur Umschreibung der Gesamtverfaßtheit einer Person,
nämlich deren „Geisteshaltung [und] Sinnesart“90 schließt die Disposition zur Intensität
von Gefühlserleben und den Umgang mit Gefühlszuständen ein. Das aber bedeutet zum
einen, daß von dem „zur Schau gestellten“ Gefühlsausdruck auf die Erlebensintensität
geschlossen wird und zum anderen läßt sich hieraus ersehen, daß eine Disposition für
Gefühlserleben als eine Art naturgegebenes (genetisch bedingtes) Phänomen angesehen
wird, das aus diesem Grund einer vollständigen Kontrolle entzogen ist. Diese selbstver-
ständlichen Annahmen müssen jedoch aus mehreren Gründen in Frage gestellt werden:
Erstens läßt sich – wie bspw. gute Schauspieler eindrucksvoll demonstrieren – der
Ausdruck von Gefühlszuständen in jeder Intensität auch „darstellen“91. Inwieweit zweitens
– und hier handelt es sich um eine der zentralen Problemstellungen im Gefühlsbereich –
diese Darstellungen tatsächliche Gefühlszustände widerspiegeln oder gar initiieren, läßt
sich nicht zweifelsfrei nachvollziehen. Dies bedeutet ganz konkret: die intuitiv angenom-
mene Korrelation zwischen Gefühlsdarstellung in Mimik, Gestik und Sprache und der
tatsächlich vom Gegenüber erlebten Gefühlsintensität entzieht sich der letztendlichen
objektiven Beweisbarkeit.
Fassen wir das bisher Gesagte kurz zusammen: die Gesichtsausdrücke für unterschied-
liche Gefühle weisen überkulturelle Ähnlichkeiten auf, jedoch finden sich gruppen- und
kulturspezifische Unterschiede in den Auslösern für bestimmte Gefühle sowie deren
Äußerungsintensität, wobei im alltäglichen Erleben, wie sich durch die Zuordnung von
unterschiedlichen Arten der Gefühlsäußerung zu bestimmten Temperamenten oder
regions- bzw. kulturspezifischen Mentalitäten zeigt, von der Ausdrucksintensität auf die
tatsächliche Intensität des erlebten Gefühlszustandes geschlossen wird. Dieses den
alltäglichen Umgang mit Gefühlen kennzeichnende Verständnis impliziert die Vorstellung,
daß die Disposition für die Art wie Gefühle erlebt werden, als Teil der individuellen
genetischen Ausstattung angesehen wird, womit begründet wird, daß Gefühle nur
begrenzt beeinflußbar, d.h. steuerbar und beherrschbar sind. Die Nachhaltigkeit dieser
wie oben gezeigt, aus mehreren Gründen wenn nicht fragwürdigen, so doch zumindest
nicht objektiv beweisfähigen Annahme, zeigt sich an deren Niederschlag in der Recht-
sprechung. Bei strafbaren Handlungen, die nachweislich aus einer intensiven Gefühls-
die Emotionspsychologie. Band 1, 1. Nachdruck. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle 1997, S. 56 ff. 90 Duden: Das Fremdwörterbuch. 5., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim 1990. 91 Siehe hierzu oben die Ausführungen zu Zdarzil in Kapitel 2, S. 16.
31
verfaßtheit heraus begangen wurden, wirkt dieser Umstand strafmildernd92. Die Justiz
folgt dabei augenscheinlich der Annahme, daß der offenkundige Einfluß der Gefühle auf
die menschliche Verfaßtheit bei ausreichender Intensität über die Kraft der Vernunft siegt,
und somit die straffällige Handlungsweise überhaupt erst möglich macht.
Daß den Gefühlen darüber hinaus jedoch generell auch eine regelnde Funktion zuge-
sprochen wird, läßt sich ebenfalls an der Rechtsprechung verdeutlichen. Straftaten
nämlich, die aus niederen Beweggründen wie bspw. „kaltblütige“ Rache begangen
werden, werden als schlimmste Vergehen geahndet und demgemäß mit Höchststrafen
belegt93.
Die vorstehende Sammlung einiger wichtiger Merkmale der Gefühle dient bei genauerer
Betrachtung als Einstieg in die komplexe Problematik dieses Gegenstandes. Denn das
einzige, was relativ zweifelsfrei feststeht ist, daß die Gesichtsmimik beim Ausdruck von
bestimmten Gefühlszuständen deutliche überkulturelle Ähnlichkeiten aufweist. Ansonsten
jedoch zeigt schon die bisher vorgenommene fragmentarische Zusammenstellung, daß
nicht nur die Entwicklung einzelner Gefühlszustände von so vielen unterschiedlichen
Faktoren beeinflußt wird, daß deren Nachvollzug nahezu unmöglich scheint, sondern
auch die Verifikation eines individuell erlebten Gefühlserlebnisses aufgrund mangelnder
objektiver Meßkriterien begrenzt ist. Demgemäß scheint das den Gefühlen anhaftende
Attribut der „Irrationalität“, welches überhaupt erst die Forderung begründet, sie in
Entscheidungs- und Handlungssituationen möglichst unberücksichtigt zu lassen, nur allzu
berechtigt.
Bei genauerer Betrachtung erweist sich diese Forderung jedoch als Aporie, insofern als
daß die Möglichkeit, sich von etwas distanzieren zu können, notwendig voraussetzt, die
Umstände oder die Gegebenheiten zu kennen und damit auch benennen zu können, die
unberücksichtigt bleiben sollen. Folgt man nun der Annahme, daß die Zuschreibung
„Irrationalität“ in bezug auf Gefühle ihre Berechtigung hat, ist dieser Forderung de facto
nicht nachzukommen, da sie sich einem rationalen Zugang verschließen und somit nicht
erkennbar bzw. benennbar sind. Und davon einmal abgesehen: selbst dann, wenn ein
92 Vgl.: StGB § 20, § 33 – Strafgesetzbuch (StGB) vom 15. Mai 1871 (RGBl. S. 127) in der Fassung der
Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I, 3322) zuletzt geändert durch das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten (Prostitutionsgesetz-ProstG) vom 20.12.2001 (BGBl. I, 3983. Gesetzesstand 1.1.2002) www.bib.uni-mannheim.de/bib/jura/gesetze/stgb-at1.shtml#TAT-TIT1 06.09.2002 20.30 Uhr.
93 Ebd. § 211, www.bib.uni-mannheim.de/bib/jura/gesetze/stgb-bt3.shtml#LEBEN 06.09.2002 20.35 Uhr.
32
Gefühlszustand vollkommen bewußt wahrgenommen wird, ist es fraglich, ob der Mensch
sich überhaupt und wenn ja, inwieweit von diesem Gefühlszustand distanzieren kann.
In welchem Zusammenhang aber stehen Gefühle mit unseren Lebensvollzügen? Kommt
ihnen durch ihre Wirkungsweise eine Funktion zu und welcher Gestalt ist diese Wirkungs-
weise? Unbestreitbar haben Gefühle Einschätzungscharakter, d.h. mittels bspw. Freude,
Angst, Ärger, Trauer und Scham werden Situationen bewertet und auf der Basis dieser
Bewertungen Entscheidungen getroffen und Verhaltens- sowie Handlungsvollzüge
motiviert. Problematisch ist, daß diese Art Bewertungen jedoch in den meisten Fällen
nicht genau nachvollziehbar sind, denn sie erfolgen zumeist auf der Basis der bislang
gesammelten je individuellen Lebenserfahrung. Verdeutlichen wir das an einem Beispiel:
Nehmen wir an, ein Arbeitswechsel steht an: Bewerbungsschreiben haben die Wahlmög-
lichkeit zwischen zwei ähnlich gelagerten neuen Arbeitsstellen eröffnet. Die wesentlichen
vordergründigen Unterschiede zwischen beiden sind Entfernung vom Wohnort und Ent-
lohnung: die Arbeitsstelle, die dem Wohnort sehr nahe ist, wird auch deutlich höher
entlohnt als die Alternative. Nun muß eine Entscheidung zwischen den beiden Wahlmög-
lichkeiten getroffen werden. Die Ratschläge von Familienangehörigen, Freunden und
Bekannten werden eingeholt, Für und Wider wird abgewogen – schließlich fällt die Ent-
scheidung entgegen des häufigsten Ratschlags für den weiter entfernt gelegenen und
geringer bezahlten Arbeitsplatz.
Oder ein anderes Beispiel: ein Arbeitsplatz wird ausgeschrieben, nach der Sichtung der
Bewerbungen bleiben zwei Bewerber übrig. Für einen der beiden sprechen die ausge-
zeichneten Qualifikationen sowie die Souveränität im persönlichen Vorstellungsgespräch.
Dem Mitbewerber dagegen fehlen sowohl die als Zeugnisse vorzeigbaren Qualifikationen
als auch Souveränität im persönlichen Gespräch. Trotzdem entscheidet die Geschäfts-
leitung für die Einstellung des letzteren.
Die Frage nach den Gründen für die erste Entscheidung könnte wie folgt beantwortet
werden: „ich habe den Eindruck, daß das Arbeitsklima bei der ausgewählten Arbeitsstelle
besser ist“, die Begründung für die Auswahl im zweiten Beispiel könnte lauten: „wir hatten
den Eindruck, daß der Mitarbeiter sich besser in das Team einfügen wird.“
Die Entscheidungen werden also auf Eindrücke zurückgeführt. Eine genauere Nachfrage,
worauf diese Eindrücke denn begründet seien, würde wahrscheinlich recht diffuse
Antworten, wie die Mitarbeiter/der Kandidat wirkte(n) aufgeschossener, flexibler, auf-
nahmefähiger, freundlicher, interessierter etc. nach sich ziehen. Fest steht, nicht die rein
33
rational nachvollziehbaren Kriterien, die eine Präferenz begründen könnten, waren bei
den angeführten Beispielen ausschlaggebend, sondern der „Gesamteindruck“ einer von
und durch Menschen gestalteten Umgebung bzw. die „Ausstrahlung“ eines Mensch
wirkten auf die Entscheidung.
Daß diese Beispiele keineswegs der Realität entbehren, läßt sich aufzeigen an einem
Sachverhalt, der tagtäglich passieren kann: Wir begegnen einem Menschen, den wir nicht
kennen und er ist uns „auf Anhieb sympathisch (oder auch unsympathisch)“, d.h. wir
fühlen uns angezogen oder abgestoßen, ohne, daß wir für das eine oder das andere
genaue Gründe angeben könnten. Die Nachhaltigkeit eines ersten Eindrucks, der häufig
auch Bestätigung findet – und sei es durch die eigene ablehnende Haltung dem
Betreffenden gegenüber – ist bekannt. Oftmals kann sich ein erster Eindruck jedoch
ebenso gut als Vorurteil herausstellen, welches nach einem intensiveren Kontakt revidiert
werden muß.
Der Vorwurf der Irrationalität der Gefühle scheint also durchaus berechtigt, denn wie
bisher gezeigt wurde, erweist es sich als problematisch, Gefühle überhaupt zu realisieren,
dann zu identifizieren und danach noch ihre möglichen Ursachen zu eruieren. Und nicht
nur, daß es uns schwerfällt, die Ursachen für unsere je eigenen unterschiedlichen
Gefühlszustände präzise zu rekonstruieren, ohne dabei einem Irrtum zu unterlaufen,
darüber hinaus sind sie auch schwer zu vermitteln.
Die Schwierigkeit, einen Gefühlszustand präzise mitzuteilen oder ihn für Außenstehende
nachprüfbar zu machen, selbst dann, wenn er vollkommen bewußt wahrgenommen wird
und vollkommen klar identifiziert ist, scheint das Bild der Irrationalität der Gefühle zu
vervollständigen. Wie groß die Angst ist, die man vor bzw. in einer Prüfungssituation hat,
wie tief die Zuneigung zu einer Person ist, wie niederschmetternd und lähmend die Trauer
durch den Verlust eines geliebten Menschen – die subjektive Erlebnisqualität ist weder
direkt kommunizierbar noch verifizierbar.
All diese Charakteristika bestätigen die Unwägbarkeit der Gefühle – und dennoch, jeder
Mensch glaubt zu wissen, was Angst ist, was Freude, was Scham und Ärger, Wut. Wir
können subjektiv unterscheiden zwischen Furcht und Panik, zwischen Zuneigung und
Liebe und wir wissen subjektiv und situativ, daß Ärger nicht immer auch Wut ist. Und
trotzdem wir unsere Vorurteilslastigkeit in der Beurteilung von Personen und Situationen
kennen und daher wissen, daß wir kritisch mit einem ersten Eindruck umgehen sollten,
verlassen wir uns in der Regel darauf, „vertrauen wir unserem Gefühl“.
34
Der sich aufgrund der bisher gesammelten Fakten möglichen Frage, wie denn ein Mensch
ohne Gefühle vorzustellen sei, kann – schon um der Gefahr eines naturalistischen Fehl-
schlusses zu entgehen – hier nicht nachgegangen werden, da sie auf der Basis der bis
heute zur Verfügung stehenden Fakten nicht beantwortet werden kann. Hier soll vielmehr
versucht werden, „Licht in das Dunkel“ des komplexen Zusammenhangs zwischen
Denken und Fühlen zu bringen mit dem Ziel, zur Beantwortung der Frage beizutragen:
welchen Anteil Gefühle an der Bewertung von Situationen und Sachverhalten und somit
nicht nur Einfluß auf Entscheidungs- und Handlungsvollzüge haben, sondern auch auf die
Strukturierung der je individuellen Wirklichkeitserfassung.
Daß die Grundlage für eine Gefühlsverfaßtheit bereits zu Beginn unseres Lebens
geschaffen wird, läßt sich aus diversen Studien zum Zusammenhang zwischen Mutter-
Kind-Beziehung und Säuglingsentwicklung schließen. Die Notwendigkeit einer grund-
legenden gefühlsmäßigen Bindung im Säuglingsalter wurde zunächst durch eine recht
spektakuläre Untersuchungsreihe in der Mitte des letzten Jahrhunderts von Renè Spitz94
und seinen Mitarbeitern unter Beweis gestellt. Die Untersuchungsreihe über den Zusam-
menhang zwischen der Entwicklung im ersten Lebensjahr und der Mutter-Kind-Beziehung
beschränkte sich der besseren Zugänglichkeit wegen auf die Beobachtung von Klein-
kindern, die in Säuglingsheimen und Findelhäusern untergebracht waren. Das er-
schreckende Ergebnis dieser Studie waren die erheblichen psychischen und somatischen
Störungen bis hin zum Tod, die sich bei den Säuglingen zeigten, die in einem Findelhaus
untergebracht waren, in dem sie zwar hinsichtlich Ernährung, Hygiene, sowie medizi-
nischer und medikamentöser Behandlung angemessen versorgt wurden, ihnen jedoch
aufgrund Personalmangels neben der Grundversorgung keinerlei weitergehender Kontakt
gewährt werden konnte. Je länger es den Kindern an „affektive Zufuhr“ mangelte, desto
erheblicher waren die Störungen und desto drastischer stieg die Letalitätsrate. „Das
Fehlen dieser mütterlichen Fürsorge kommt einem emotionellen Verhungern gleich. Wir
haben gesehen, daß dieses einen fortschreitenden Verfall herbeiführt, der sich auf die
ganze Person des Kindes erstreckt. Dieser Verfall manifestiert sich zuerst in einer
Stockung in der psychischen Entwicklung des Kindes; dann setzen psychische Funktions-
störungen ein, mit denen somatische Veränderungen einhergehen. Im nächsten Stadium
führt dies zu gesteigerter Infektionsanfälligkeit und schließlich, wenn der Mangel an
affektiver Zufuhr bis ins zweite Lebensjahr hinein andauert, zu einer auffallenden
94 Spitz, René A. unter Mitarbeit von Cobliner, Godfrey W.: Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte
der Mutter-Kind-Beziehungen im ersten Lebensjahr. Sonderausgabe. Stuttgart 1987.
35
Erhöhung der Sterblichkeitsquote.“95 „Von den 91 anfänglich im Findelhaus beobachteten
Kindern waren bis zum Endes des zweiten Jahres 34 gestorben, 57 lebten noch.“96 Spitz
betont ausdrücklich, daß es sich hier um einen Mangel an „affektiver (emotionaler) Zufuhr“
handelt, nicht um eine „sensorische Zufuhr“ wobei er zugibt, daß diese beiden Kompo-
nenten schwer zu trennen sind.97 Jedoch führt er mit Bezug auf die bis dato bekannten
Untersuchungen „[...] mit einer Reihe von Tierarten, die auf dem Gebiet des Entzugs
sensorischer Zufuhr durchgeführt [...] [wurden], daß die Folgen desto schwerwiegender
sind, je höher die Evolutionsstufe ist, auf der die betreffende Spezies steht. [...] Dem-
entsprechend ist die Genesung nach länger andauerndem Entzug sensorischer Zufuhr bei
Vögeln, wie z. B. Enten, schnell und leicht. Schon bei Graugänsen sind die Wirkungen
schwer wieder rückgängig zu machen. Bei niederen Säugetieren ist das Bild ähnlich. Aber
wenn wir zu Harlows Rhesusaffen kommen, werden die Folgen des Entzugs affektiver
Zufuhr vollkommen irreversibel. Harlow stellt fest, diese Folgen äußerten sich vor allem
in einer Störung der seelischen Funktionen, der Reaktionen und der sozialen
Beziehungen des Tieres.“98
Diese Ergebnisse wurden in der folgenden Zeit durch diverse weitergehende Untersu-
chungen unterstützt und dahingehend erweitert, daß für eine gesunde körperliche und
seelische Entwicklung eine stabile emotionale Bindung, die durch eine möglichst
konstante Bezugsperson realisiert wird, in den ersten 3 Lebensjahren unerläßlich ist.99
Folgen wir diesen Untersuchungsergebnissen, ist am Beginn unseres Lebens also das
Eingebettet sein in einer stabilen gefühlsgetragenen Beziehung zumindest für unsere
gesunde körperliche und seelische Entwicklung – nach Spitz auch für unser Überleben –
ebenso wichtig, wie eine ausreichende Vorsorgung unserer rein körperlichen Bedürfnisse.
Doch wie entwickelt sich die Gefühlsvielfalt, die unseren Zugang zur Welt mitgestaltet und
damit auch am Umgang mit Welt beteiligt ist. In welcher Beziehung stehen Gefühle zu
unserem Denken? Entziehen sich Gefühle tatsächlich einem rationalen Zugriff? Der
Suche nach Antworten auf diese Fragestellungen sind die folgenden Kapitel gewidmet.
95 Ebd. S. 291-292. 96 Ebd. S. 293. 97 Vgl. ebd. 98 Ebd. S. 294-295. (2. Hervorheb. B.K.) 99 Vgl. hierzu: Bowlby, John: Bindung. Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung. München 1975 und ders.:
Trennung. Psychische Schäden als Folge der Trennung von Mutter und Kind. München 1976; Kagan, Jerome: Die Natur des Kindes. München, Zürich 1987. Mahler, Margaret S., Pine, Fred, Bergman, Anni: Die psychische Geburt des Menschen. Symbiose und Individuation. Frankfurt/Main 1978; Stern, Daniel: Mutter und Kind. Die erste Beziehung. 1. Auflage. Stuttgart 1979.
36
Diesem Unternehmen voraus geht jedoch eine Diskussion um die Begriffsbestimmung
des Untersuchungsgegenstandes.
3.2 Die Problematik der Begriffsbestimmung
Eine Begriffsbestimmung des Untersuchungsgegenstandes vorzunehmen erscheint zwar
unerläßlich, ist dabei jedoch höchst problematisch, da mittels eines solchen Unter-
nehmens zum einen dem Gegenstand immer schon bestimmte Eigenschaften zuge-
schrieben werden, die als zwar notwendige Voraussetzungen gelten, diese jedoch oftmals
nicht bewiesen bzw. (bisher) nicht beweisfähig sind. Mit dieser Vorgehensweise wird zum
anderen das Ziel verfolgt, die Betrachtungsweise auf den Gegenstand auf eine bestimmte
Perspektive hin einzugrenzen – man nennt diesen Vorgang auch „Komplexitätsreduktion“
–, um ihn einer Untersuchung überhaupt zugänglich zu machen. Die Problematik eines
solchen Procedere gerade für den Bereich der Gefühle offenbart sich nicht nur in den
unterschiedlichen Herangehensweisen der Psychologen an diese Thematik und der
daraus bspw. resultierenden Kognitions-Emotionsdebatte, die im nächsten Kapitel noch
eingehend erläutert wird. Sie spiegelt sich auch in den philosophischen Untersuchungen
zum ontologischen Dualismus, der auch als das Leib-Seele-Problem diskutiert wird. Der
Einfluß philosophischer Paradigmen und deren Implikationen in den Grundvoraus-
setzungen auf Theorieentwicklungen läßt sich eindrucksvoll verdeutlichen an Peter Bieris
kritischen Überlegungen zur Theorie des ontologischen Dualismus100. Als Vertreter des
nichtreduktiven Materialismus entwickelt er drei Sätze, die seiner Ansicht nach aus der
intuitiven Trennung von mentalen und physischen Phänomenen resultieren und die
traditionelle Problematik der Leib-Seele-Trennung darstellen:
„(1) Mentale Phänomene sind nicht-physische Phänomene.
(2) Mentale Phänomene sind im Bereich physischer Phänomene kausal wirksam.
(3) Der Bereich physischer Phänomene ist kausal geschlossen.“101
Zu den mentalen102 Phänomenen zählt er „[...] Gedanken und Meinungen, Motive,
Wünsche, Erwartungen, Absichten und Interessen, Erinnerungen, Träume und
Vorstellungsbilder, Gefühle wie Angst, Freude und Zorn, Stimmungen wie Heiterkeit und
100 Bieri, Peter: Generelle Einführung. In: Ders. (Hrsg.): Analytische Philosophie des Geistes. 2., verb. Aufl.,
Bodenheim 1993, S. 1 - 28. 101 Ebd. S. 5. 102 Der Begriff „mental“ ist gleichbedeutend mit geistig, seelisch oder psychisch und ist gewählt weil „‚mental‘
von den vier Ausdrücken am wenigsten festgelegt zu sein scheint, weil er am wenigsten geläufig ist. „Das gibt die Möglichkeit, ihn als terminus technicus für alle Phänomene zu gebrauchen, die in einem onto-
37
Melancholie, Empfindungen wie Schmerz, Lust, Ekel und Übelkeit usw.“103. Beispiele für
körperliche Phänomene sind: „Herz- und Lungentätigkeit, Muskeltonus, die zahllosen
Stoffwechselvorgänge im Körper, die Schwankungen im Aktionspotential des Gehirns
usw.“104. Bieri klassifiziert diese Unterscheidungen als „intuitiv“105 und genau diese
„intuitiv“ gewonnenen Unterscheidungen dienen ihm als Grundlage für die Auflösung106
der Problematik, die darin besteht, daß alle drei oben explizierten Sätze gleichzeitig
Geltung beanspruchen. Die genaue Untersuchung der Thesen macht deutlich, daß eine
gleichzeitige Geltung aller drei nicht möglich ist, womit das Problem nicht gelöst werden
kann, sondern aufgelöst werden muß. Auflösung aber bedeutet, daß einer der drei Sätze
aufgegeben werden muß.
Da es die Voraussetzungen des ontologischen Dualismus zu verbieten scheinen, den
ersten Satz aufzugeben, muß zunächst die Geltung des zweiten Satzes – die Annahme
der mentalen Verursachung physischer Phänomene – geprüft werden: Dies erfolgt im
Hinblick auf die kritische Reflexion zweier Theorien, des von Geulincx und Leibniz
vertretenen psychophysischen Parallelismus einerseits und des Epiphänomenalismus
andererseits. Der psychophysische Parallelismus ist dadurch gekennzeichnet, daß der
Zusammenhang zwischen dem Bereich des Mentalen und dem Bereich des Physischen
verglichen wird mit dem Bild zweier synchronisierter aber untereinander nicht verbun-
dener Uhren. Wichtig sind dabei die beiden, dieser Annahme zugrundeliegenden Thesen,
daß entsprechend des Uhrenbeispiels, erstens zwar innerhalb eines einzelnen Systems
kausale Beziehungen bestehen, zweitens zwischen den Organisationen jedoch keinerlei
Kausalwirkung auszumachen und jede Korrelation zwischen diesen beiden Systemen rein
zufällig ist, auch der Bereich des Mentalen ebenso wie der Bereich des Physischen in sich
kausal geschlossen sind und sich nicht gegenseitig bedingen. Die Unhaltbarkeit dieses
Gedankens expliziert Bieri mit dem Argument, daß nicht alle mentalen Phänomene durch
andere mentale Phänomene erklärt werden könnten und demnach der mentale Bereich
nicht kausal geschlossen sein könne. Als Belegbeispiel dient ihm ein auf einen
Schmerzzustand rückführbarer Gedanke, einen Arzt aufzusuchen, wobei der „Schmerz
seinerseits aber [...] sich nicht mehr vollständig durch andere mentale Phänomene
logischen Dualismus als nicht-physische gelten: von Körperempfindungen wie Schmerz über emotionale Zustände wie Zorn bis zu kognitiven Phänomenen wie Gedanken und Meinungen. [...]“ Ebd. S. 4.
103 Ebd. S. 2. 104 Ebd. 105 Ebd. 106 Ebd. S. 7.
38
erklären [läßt]. Die Erklärung muß auf Phänomene in meinem Körper zurückgreifen. Zu
vieles, was nicht selbst mental ist, affiziert das Mentale.“107
Auch der epiphänomenalistische Standpunkt, der zwar eine Kausalwirkung innerhalb der
beiden Bereiche anerkennt, diese jedoch auf die einseitige Beeinflussung des Physischen
auf das Mentale beschränkt, wird außer Kraft gesetzt durch den Aufweis dessen „intuitiv
paradoxe[r] Konsequenz: Unser Leben würde auch ohne mentale Zustände und ohne
Bewußtsein genauso verlaufen, wie es faktisch verläuft. Und daß diese Konsequenz
paradox ist, heißt einfach, daß es uns intuitiv unmöglich scheint, die Annahme mentaler
Verursachung aufzugeben.“108
Demgemäß steht die Prüfung der Geltung des dritten Satzes - die kausale Geschlossen-
heit physischer Phänomene - an: Die Aufgabe dieses Satzes aber würde bedeuten, ein
„regulatives Prinzip der empirischen Forschung“109 aufzugeben, das besagt: „Ein
physisches Phänomen gilt erst dann als erklärt, wenn wir eine physische Ursache dafür
gefunden haben.“110 Dieses als methodologischer Physikalismus bezeichnete konserva-
tive Prinzip aufzugeben aber hieße „die Regel der Naturwissenschaften aufzugeben, daß
man zur Erklärung von Phänomenen der Natur nach physischen Ursachen suchen
muß.“111 Daß dieses Prinzip nicht generell aufzugeben ist, steht außer Diskussion, aber
auch dessen partielle Aufgabe für die Bereiche des Verhaltens und gewisser körperlicher
Zustände erscheint nicht gerechtfertigt, da auch sie ein Teil der Natur sind „und warum
sollten wir [nur aus Mangel an empirischem Wissen] mit der anderswo erfolgreichen
physikalistischen Maxime auf die Dauer nicht auch hier Erfolg haben?“112.
Die Auflösung der Problematik besteht also nach Bieri in der Aufgabe des ersten Satzes
hin zur Adaption des Gedankens, „daß mentale Phänomene in Wirklichkeit eine Art von
physischen Phänomenen sind. [...] [W]enn wir wirklich verstehen wollen, wie unsere
mentalen Zustände in der physischen Welt wirksam sein können, müssen wir den
ontologischen Dualismus aufgeben.“113
107 Ebd. 108 Ebd. S. 8. 109 Ebd. S. 6. 110 Ebd. 111 Ebd. S. 8 112 Ebd. 113 Ebd. S. 8 und 9.
39
Daß die Aufgabe des ontologischen Dualismus keineswegs alle Probleme beseitigt,
sondern vielmehr neue schafft, verdeutlicht Bieri durch die Darstellung der Ansätze der
unterschiedlichsten Formen des Materialismus zur Klärung der Frage, inwiefern sich die
mentalen Phänomene in ihrer physiologischen Qualität begreifen lassen. Die Probleme
und Schwierigkeiten, die Bieri an diesen Ansätzen aufdeckt114, sind „zwar prinzipieller
Natur [...] und [können] nicht leicht behoben werden [...]. Das ändert nichts an der
materialistischen Einsicht, daß das Leib-Seele-Problem des ontologischen Dualismus
aufgelöst werden muß, und daß es nur aufgelöst werden kann, wenn es uns gelingt,
mentale Phänomene als eine Art von physischen Phänomenen zu verstehen.“115
Diese Kritik führt Bieri zu dem Votum für den „nicht-reduktiven Materialismus: einem
Materialismus, der nichts von dem eliminiert oder unterdrückt, was uns für mentale
Phänomene essentiell zu sein scheint, und der verständlich macht, was es heißt, daß
mentale Phänomene in ihrem vollen Gehalt ein Teil der Natur sind.“116 Die Chance, die
hierin gesehen wird, ist vor allem, die Philosophie für den wissenschaftlichen Realismus
zu öffnen, da das bisherige Programm der Philosophie des Geistes, die reine begriffliche
Analyse ohne die Berücksichtigung der Erkenntnisse empirischer Wissenschaften, sich
dem Vorwurf des begrifflichen Konservativismus stellen muß. Damit ist der Philosophie
neben einer diagnostischen Aufgabe, die darin besteht, eventuell sachfremde Motive, die
einer unverstellten Analyse des Mentalen entgegenstehen könnten, aufzudecken, zwar
weiterhin die begriffliche Analyse aufgegeben, jedoch mit deutlicher Bezugnahme auf die
„wissenschaftlichen Realisten“. In diesem Sinne ist „[d]ie Philosophie des Geistes [...] eine
Art Metatheorie der empirischen Wissenschaften vom Mentalen, ein fortlaufender
kritischer Kommentar zu den begrifflichen Problemen empirischer Theorien. Durch den
wissenschaftlichen Realismus wird die Philosophie des Geistes zur Philosophie der
empirischen Psychologie. Die Rolle, die der Philosophie hier zufällt, ist eine Art Vermittler-
rolle: Sie muß die Beziehungen sichtbar machen, die zwischen neuen empirischen
Theorien auf der einen Seite und unseren alten mentalistischen Beschreibungen und
Erklärungen von Personen auf der anderen Seite bestehen. Das Thema der Philosophie
ist, um eine Formel von Wilfrid Sellars zu gebrauchen, die Spannung zwischen unserem
Common-sense-Weltbild und dem Weltbild, das sich aus den fortschreitenden
empirischen Wissenschaften ergibt.“117
114 Der Darstellung und Kritik dieser verschiedenen Ansätze kann an dieser Stelle nicht nachgegangen
werden. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf Bieri, Peter: Erster Teil. Materialismus. Einleitung. a.a.O., S. 31 – 55.
115 Ebd. S. 51. 116 Ebd. S. 51 – 52. 117 Ebd. S. 25.
40
Es ist nicht der Ort, um die weitreichende Debatte um die Präferenz von Monismus bzw.
ontologischem Dualismus nachzuzeichnen, Hans Goller hat hierzu eine Arbeit vorgelegt,
in der er nach der kritischen Sichtung unterschiedlicher Standpunkte für den „pragmatisch
interaktionistischen Dualismus“ argumentiert, der „eine kausale Interaktion zwischen Men-
talem und Physischem [postuliert]. Er bestreitet die Vollständigkeit der physikalischen
Kausalerklärungen bei neurophysiologischen Prozessen und überbrückt die Unzulänglich-
keiten physikalischer Kausalität bei der Erklärung von Erleben und Verhalten mit Hilfe
psychologischer Kausalgesetze.“118 Damit findet die Privatheit, die Subjektivität des
Mentalen gerade in bezug auf die Erlebnisqualität von aktuellen Gefühlen Berück-
sichtigung, die von jedem Individuum auf eine einmalige und unverwechselbare Weise
erfahren wird und nur in beschränktem Maße von Außenstehenden nachvollziehbar ist.119
Die Erfahrung, daß „[m]entale Zustände und Ereignisse [...] von einem funktionierenden
Gehirn abhängig [sind], [...] aber Eigenschaften (Subjektivität, Intentionalität, Bewußtsein)
[besitzen], die wir an der Materie nicht beobachten“120, verweist auf die beschränkte
Beweiskraft empirischer Meßverfahren hinsichtlich des physikalischen Nachvollzugs
mentaler Ereignisse. Gollers Untersuchung hat ergeben, daß es gerade der psycho-
logischen Emotionsforschung durch ihre besonderen Meßverfahren möglich ist,
Erklärungsmuster für emotionales Erleben und Verhalten zu entwickeln, welches durch
physikalische Untersuchungen (bisher) nicht erfaßbar ist. Das Festhalten an einem
Dualismus gründet also nicht auf dem Verständnis einer kausalen Geschlossenheit des
physischen und mentalen Bereichs – hier wird im Gegenteil betont, daß „Emotionen [...]
zumindest dem Augenschein nach unser Verhalten und Handeln [beeinflussen] und
unsere seelische Gestimmtheit [...] von neurophysiologischen und somatischen
Einwirkungen beeinflußt [wird]“121. Dieses dualistische Verständnis rekurriert vielmehr auf
die Notwendigkeit von Meßmethoden vollkommen unterschiedlicher Qualität zur
Erfassung der Emotionen, denn die in den rein physikalischen Erklärungsmustern nicht
erfaßten Aspekte je individuellen Emotionserlebens können mittels Meßverfahren einer
völlig anderen Qualität - nämlich den psychologischen - zumindest nach Gollers
Dafürhalten hinreichend erklärbar gemacht werden.122
118 Goller, Hans: a.a.O., S. 297. 119 Vgl. ebd. S. 289. 120 Ebd. S. 288. 121 Ebd. S. 298. 122 Einen umfassenden Überblick zum Diskussionsstand um das Leib-Seele-Problem bietet Henrik Walter
(Walter, Henrik: Neurophilosophie der Willensfreiheit. Paderborn, München, Wien, Zürich 1998) und arbeitet heraus, daß der Gollers Verständnis zugrundeliegende auf Descartes, Popper und Eccles zurückgehende interaktionistische Substanzdualismus „kaum mehr vertreten, sondern eher als anachronistisch betrachtet“ wird aufgrund der inneliegenden wissenschaftlichen Anomalie, die darin
41
Die kurze Darstellung dieser beiden konträren Sichtweisen bezüglich des ontologischen
Dualismus zeigt, in welchem Umfang sich die begriffliche Fassung eines Gegenstandes
auf ein theoretisches Grundgerüst stützt, welches wiederum die Herangehensweise an
ein Forschungsvorhaben bestimmt. Zur Klassifizierung der Gefühle als mentales Phäno-
men – ein Begriff, den Bieri als terminus technicus einführt, weil er ihm am wenigsten
belastet erscheint123, führt er in einer Fußnote aus: „Einen Schmerz oder eine Empfindung
von Ekel etwa könnte man schlecht ‚geistige Phänomene‘ nennen, und sie ‚seelische‘
Phänomene zu nennen, wäre vielleicht auch nicht ganz passend. Umgekehrt wäre ein
geistiges Phänomen wie ein Gedanke mit ‚seelisch‘ nicht glücklich bezeichnet, da
‚seelisch‘ eher für Gefühle reserviert ist. Dasselbe scheint mir für ‚psychisch‘ zu gelten,
obwohl ‚psychisch‘ neben ‚mental‘ am neutralsten ist, was sich daran zeigt, daß wir
Beziehungen zwischen mentalen und physischen Phänomenen ‚psychophysische‘
Beziehungen nennen.“124 Die Fragen, die sich hier aufdrängen, sind einerseits: was ist
das Kennzeichnende des Mentalen, wenn es nicht ‚geistig‘ und nicht ‚seelisch‘ zu nennen
ist wie bei den Empfindungen und andererseits: was ist das Mentale der Gefühle, wenn
sie ‚seelisch‘, dahingegen aber nicht ‚geistig‘ zu nennen sind. Unterstellt, das Mentale sei
gleichbedeutend mit bewußter Wahrnehmung,125 wie verhält es sich dann mit der von
Bieri ebenfalls als mentales Phänomen bezeichneten Stimmungslage, die sich jedoch
nach DeBoni in Form „einer Gestimmtheit als den bleibenden Untergrund des gesammten
Seelenlebens [...] dem Bewußtsein meist entzieht [...]“?126
Die Gefahr, die sich ergibt durch die Einführung eines Oberbegriffes, unter den dann
„intuitiv“ bestimmte Phänomene subsumiert werden, ohne sie in ihrer Spezifität zu
besteht, daß Eccles behauptet, „daß der selbstbewußte Geist nicht den üblichen Naturgesetzen unter-worfen ist, andererseits [aber] erklärt [...], daß der selbstbewußte Geist in der Lage sei, mit der physika-lischen Welt, d.h. dem Gehirn, in Wechselwirkung zu treten.“ (Ebd. S. 123). Gollers Verständnis wird jedoch von dieser Annahme nicht berührt, da er eine physikalische Kausalität nicht grundsätzlich negiert, sondern mit Carrier & Mittelstraß auf die mangelnde empirische Beweisbarkeit physikalischer Kausalität abhebt. Der von ihm vertretene Dualismus beruht, wie oben bereits ausgeführt, auf dem Aufweis der Notwendigkeit anderer Meßmethoden – nämlich die der psychologischen Emotionsforschung -, um Erklärungsmuster für die Phänomene zu bieten, die mit physikalischen Meßmethoden (bisher) nicht erfaßbar sind. Damit beruht der hier vertretene dualistische Interaktionismus auf der Erkenntnis, daß eine Disziplin allein das komplexe Phänomen Emotion nicht zu erklären vermag, sondern daß in diesem Falle zwei vollkommen unterschiedliche Herangehensweisen für eine adäquate Erfassung aller Bereiche des Gegenstandes notwendig sind.
123 Bieri, Peter: a.a.O., S. 4 – siehe hierzu auch Fußnote 102. 124 Bieri, Peter: a.a.O. S. 25. 125 Daß diese Annahme nicht unbegründet ist, zeigt die Aufzählung derjenigen Phänomene, die Bieri als
mentale bezeichnet („Wünsche, Erwartungen, Absichten und Interessen, Erinnerungen, Träumen und Vorstellungsbilder...“ etc. Bieri, Peter: a.a.O. (1993), S. 2). Siehe hierzu die Ausführungen S. 36.
42
würdigen und damit auch die vorgenommene Zuordnung zu rechtfertigen, liegt in der
unzulässigen, weil unbegründeten Verallgemeinerung, durch die ein Zugang zu einem
einzelnen Phänomen erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht wird. Worin beispiels-
weise unterscheiden sich Gedanken und Gefühle, wenn die „Intuition“ beide den mentalen
Phänomenen zuordnet? Sind Gefühle in diesem Sinne nicht auch Gedanken und warum
heißen sie dann Gefühle und nicht Gedanken? Was ist die Qualität, die Gefühle zu
Gefühlen macht, ihre Irrationalität begründet, und Kant zu der Aufforderung nötigt, beim
moralischen Handeln die Gefühle unberücksichtigt zu lassen127. Kann es eine Hierarchie
unter den genannten mentalen Phänomenen geben, die die Vernunft als mentales
Phänomen den Gefühlen vorordnet? Daneben sind es nicht umsonst die physischen
Qualitäten der Gefühle und Empfindungen, die Bieris Argumentation für das Votum des
Monismus stützen. Fraglich ist, ob diese Art der Argumentation, nämlich die Bestimmung
der Beziehung zwischen den körperlichen Komponenten von Gefühlen oder Empfindun-
gen und deren mentaler Phänomenologie als eine kausale, einen ontologischen Dualis-
mus nicht vielmehr stützt, als ihm entgegenzustehen. Denn Kausalität allein ist noch kein
stichhaltiges Argument für die Aufgabe eines dualistischen Verständnisses, zumindest
solange nicht, bis die Art und das Ausmaß der Kausalität eruiert ist.
Dieser bisher recht ungewöhnliche Weg, eine Begriffsbestimmung zu versuchen, ist mit
Bedacht gewählt, da die Beschäftigung mit der Natur der Gefühle nahezu unweigerlich zu
der Diskussion um die Leib-Seele-Problematik führt. Nichtsdestotrotz ist einer Bestim-
mung dessen, was Gefühle ausmacht, nicht näherzukommen, indem man sie von ihrer
physischen Komponente trennt. Um hier mit William James, einem der ersten Emotions-
psychologen, zu sprechen: „Welche Art Furcht übrigbleiben würde, wenn weder die
Empfindung eines schnelleren Herzschlags noch die eines flachen Atems, weder die
Empfindung zitternder Lippen noch die Gliederschwäche, weder die Empfindung der
Gänsehaut noch die der Aufruhr in den Eingeweiden vorhanden wäre, ist überhaupt nicht
vorzustellen.“128 Damit vertritt James die Ansicht: wenn wir in bezug auf die Wahr-
nehmung unseres Emotionserlebens „versuchen, alle charakteristischen körperlichen
Symptome abzuziehen, dann behalten wir nichts übrig, kein ‚psychisches Material‘ („mind-
stuff“), aus dem die Emotion gebildet werden kann, und alles, was übrig bleibt, ist ein
126 DeBoni, Michael: Gestimmtheit und Emotionalität. Eine Untersuchung zur anthropologischen Psychologie.
Zürich 1986, S. 3. (Orthographie des Originals) 127 Vgl. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Herausgegeben von Theodor Valentiner.
Ditzingen 1994, S. 96 ff. 128 James, William: What is an emotion? First published in Mind 9, 1884, S. 188 – 205 (hier S. 193 f.)
http://psychclassics.yorku.ca/James/emotion.htm (09.02.2002, 18.00 Uhr), S. 5 (Übersetzung B.K.).
43
kalter und neutraler Zustand intellektueller Wahrnehmung.“129 Und „[e]ine reine körperlose
menschliche Emotion ist ein Unding (nonentity).“130
Eine ganz andere Perspektive bietet die phänomenologische Betrachtung der Gefühle, in
der die physiologische Komponente Berücksichtigung findet:
„Gefühle sind räumlich ortlos ergossene, leiblich ergreifende Atmosphären, vergleichbar dem
Wetter und der reißenden Schwere, wenn man ausgeglitten ist und entweder schon stürzt oder
sich gerade noch fängt: also solchen in den spürbaren Leib eingreifenden Mächten, die nicht selbst
leibliche Regungen sind, aber nur am eigenen Leib, wenn auch manchmal als Widersacher,
gespürt werden. Ebenso werden Gefühle nur im eigenleiblichen Spüren als ergreifende Mächte
wirksam, aber allerdings kann man sie als Atmosphären darüber hinaus oft auch in der Umgebung
wahrnehmen.“131
Diese Beschreibung dient Hermann Schmitz als Einführung für seine Kritik an der
herkömmlichen Herangehensweise der Naturwissenschaften an ihre Gegenstände, deren
Paradigmen sich ihm als psychologistisch, reduktionistisch und introjektionistisch dar-
stellen. Mit psychologistisch benennt er das in einer privaten Innenwelt abgeschlossene
Erleben eines Menschen, das in dieser Innenwelt einer zentralen Instanz – der Vernunft
oder dem freien Willen – unterworfen ist. Reduktionistisch bedeutet ihm der, um der
bequemen Identifizierbarkeit, Quantifizierbarkeit und Variierbarkeit willen auf wenige
Merkmale reduzierte, standardisierte Zugang zur empirisch erfaßbaren Welt. Intro-
jektionistisch meint die Verortung des nicht durch die standardisierten Schemata
Erfaßbaren in den Innenwelten, wodurch dieses „als ‚bloß subjektive‘ Privatsache, als
nicht ganz verläßlich bestimmbarer und unübersichtlicher Restposten der Vergegen-
ständlichung, behandelt“132 wird. Dieses Vorgehen führt nach Schmitz zu dem, „was der
aufgeklärte Europäer bisher mit völliger Selbstverständlichkeit vom Gefühl hält. Nach ihm
sind Gefühle private Seelenzustände, während der Raum die Domäne der Physik sein
soll, in der keine Gefühle vorkommen, wohl aber Gehirnzustände, auf die man neuer-
dings, um die Domäne der Physik total zu machen, Seelenzustände zurückführen will.“133
129 Ebd. S. 4. (im Original S. 193) (Übersetzung B.K.). 130 Ebd. S. 5 (im Original S. 194) (Übersetzung B.K.) 131 Schmitz, Hermann: Die Verwaltung der Gefühle in Theorie, Macht und Phantasie. In: Benthien, Claudia;
Fleig, Anne, Kasten, Ingrid (Hrsg.): Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Köln, Weimar, Wien 2000, S. 42 – 59, hier S. 42. Vgl. hierzu auch Schmitz, Hermann: Gefühle in philosophischer (neophänomeno-logischer) Sicht. In: Petzold, Hilarion G. (Hrsg.): Die Wiederentdeckung des Gefühls. Emotionen in der Psychotherapie und der menschlichen Entwicklung. Paderborn 1995, S. 47 – 81. Zu einer weiteren phänomenologischen Betrachtung siehe auch Sartre, Paul: Skizze einer Theorie der Emotionen. In: Die Transzendenz des Ego. 1. Auflage der erweiterten und neu übersetzten Ausgabe. Reinbek bei Hamburg 1982, S. 255 – 321.
132 Ebd. S. 44. 133 Ebd. S. 43.
44
Wenn auch Schmitz herber Kritik an den Paradigmen der Wissenschaft vor allem im
Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit Berechtigung zugesprochen
wird, so ist seine Erfassung der Gefühle jedoch – wie er im übrigen selbst bekennt134 –
nicht frei von Vorannahmen, welche wiederum die Sicht auf das Phänomen Gefühl ein-
schränken. Insofern er Gefühle mit Atmosphären wie dem Wetter gleichsetzt, die zwar am
eigenen Leib gespürt werden, jedoch „nicht selbst leibliche Regungen sind“, findet vor
allem die Komponente des „passiven Erleiden müssens“ ihren Ausdruck. Atmosphären
wie das Wetter „kommen über uns“, bemächtigen sich unser, lassen sich weder abwen-
den noch beeinflussen. Hier werden die Gefühlsauslöser komplett außerhalb der mensch-
lichen Verfaßtheit verortet und damit eine Phänomenologie nicht als Wesensschau im
Husserlschen Sinne betrieben, vielmehr erweckt diese Beschreibung den Eindruck, es
handele sich um einen Erfahrungsbericht sehr subjektiver Qualität, dessen mytholo-
gischer Charakter nicht von der Hand zu weisen ist, was der Autor jedoch auch in
gewisser Weise einräumt135.
Die vorstehenden Betrachtungen haben zwar nicht zu einer umfassenden Begriffsbe-
stimmung geführt, beinhalten jedoch wichtige Komponenten, die den Gefühlen nach der
hier vertretenen Auffassung wesentlich sind: den geistigen oder seelischen Aspekt und
den physischen oder leiblichen Aspekt. Wie wir bisher gesehen haben, wird die Ansicht
einer möglichen wechselseitigen Abhängigkeit dieser beiden Komponenten bestimmt von
den Ausgangsprämissen, die die Herangehensweise an den Gegenstand bestimmen.
Dieser Befund bestätigt sich auch, wie oben bereits erwähnt, in den psychologischen
Untersuchungen des Themas. Um einer Eingrenzung des Gegenstandes zu entgehen,
wird an dieser Stelle auf eine genauere Bestimmung des Begriffes Gefühl verzichtet. Daß
dies für Untersuchungen, die den Bereich der Gefühle betreffen, keine ungewöhnliche
Vorgehensweise ist, zeigt sich wiederum, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, in
der Emotionspsychologie, aber auch Philosophen verzichten auf eine Begriffsdefinition.
Ein Beispiel ist Ronald de Sousa, der in seinen Untersuchungen zur Rationalität des
134 Vgl. ebd. S. 42. 135 Der Beschreibung der Gefühle (siehe Zitat S. 43) folgt im direkten Anschluß: „Wenn man das hört, möchte
man sich die Augen reiben: Der Mensch, der so etwas sagt, scheint in der heutigen Welt ein Monstrum zu sein, ein Spinner oder Mythologe, der von moderner Naturwissenschaft und Psychologie nichts wissen will. Aber das ist Phänomenologie. [...] Dagegen interessiert sich der Phänomenologe dafür, was er jeweils gelten lassen muß, wenn er ernst nimmt, was er vorfindet. d.h. welchen Sachverhalten er dann die Anerkennung, daß es sich um Tatsachen handelt, nicht im Ernst verweigern kann, egal ob er sie mag oder nicht. [...]“ Schmitz, Hermann: a.a.O. (2000), S. 42.
45
Gefühls ausdrücklich sagt: „Ich gebe zu, daß ich unfähig bin, eine Definition von Gefühl zu
geben.“136
Bevor zur Klärung der Frage, wie der Zusammenhang zwischen Denken und Fühlen
vorzustellen sei, unterschiedliche emotionspsychologische Konzepte eingehender unter-
sucht werden, soll noch kurz auf einige Begriffe, die den Gefühlsbereich betreffen, einge-
gangen werden. Dazu bemerkt Zimmer: „[d]as Wortfeld ist groß: Gefühl, Emotion, Affekt,
Empfindung, Trieb, Leidenschaft, Instinkt, Stimmung, Laune, Temperament, Motivation –
viele Wörter besetzen das Feld, einige mögen mehr oder weniger das gleiche bedeuten,
niemand und nichts grenzt sie verbindlich gegeneinander ab. Auch die Wissenschaftler
sind sich völlig uneinig, und ein Teil ihrer Kontroversen war immer ein Streit um Wortbe-
deutungen [...]. Bei dieser Uneinigkeit ist jeder vollauf berechtigt, sich seine eigene
Nomenklatur zurechtzumachen.“137 Nun ist die Möglichkeit, sich eine „Nomenklatur
zurechtzumachen“, begrenzt, denn bezüglich dem Verständnis einiger Begriffe sind
Ähnlichkeiten auszumachen. Dies gilt zumindest für die Termini „Stimmung“ und „Affekt“.
Unter Stimmung wird gemeinhin eine über einen längeren Zeitraum anhaltende, ge-
mäßigte Gefühlsverfaßtheit im Sinne einer Prädisposition verstanden138, während unter
dem Terminus Affekt, „eine dem Ausdruck passio äquivalente Übersetzung des
griechischen pathos“139, mehr ein kurzer heftiger Erregungszustand begriffen wird, von
136 de Sousa, Ronald: Die Rationalität des Gefühls. 1. Auflage. Frankfurt am Main 1997, S. 47. de Sousa
widmet sich in seinem Buch der Untersuchung der Fragen, inwieweit den Gefühlen über das rein subjektive Empfinden hinaus ein objektive Qualität zugesprochen werden kann und welche Bedeutung den Gefühlen im menschlichen Leben zukommt. Dabei geht es speziell darum nachzuweisen, daß das verbreitete Vorurteil Vernunft und Gefühl keine natürlichen Gegner sind, sondern „daß die Berechnungen der Vernunft, wenn sie hinreichend komplex geworden sind, ohne die Leistung des Gefühls wirkungslos würden [...].“ Ebd. S. 12. Das oben zitierte Bekenntnis erfolgt im Zusammenhang mit der Eingrenzung des Forschungsvorhabens mit dem Hinweis darauf, daß er ihm nur möglich scheint, sich der Bestimmung des Gefühls über Abgrenzung von den hinreichend untersuchten Begriffen Wahrnehmung, Überzeugung und Wunsch zu nähern. Seiner Meinung nach spielen diese drei Begriffe bei der Erklärung von Verhalten und in der Theorie der Rationalität eine zentrale Rolle. „Tatsächlich herrschen sie in psychologischen und rationalen Erklärungen dermaßen vor, daß sich die Frage stellt, ob wir außer ihnen überhaupt noch etwas brauchen. Sollte das nicht der Fall sein, dann müßte sich das gesamte Feld des menschlichen Verhaltens und der Erfahrung mittels der Kategorien von Wahrnehmung, Wünschen und Überzeugung erklären und beschreiben lassen. Sie würden diesen begrifflichen Raum gänzlich ausfüllen, und was wir Gefühle nennen, wären lediglich zusammengesetzte Strukturen, die aus jenen bestehen. Wenn wir noch etwas anders benötigen, so könnten die erforderlichen zusätzlichen Begriffe sich als nicht homogen erweisen. Doch sie werden durch ihren Kontrast zu den Gliedern der besser untersuchten Triade ausreichend identifiziert. Wenn überhaupt von etwas, wird dieser negative Raum größtenteils von Gefühlen eingenommen.“ Ebd. S. 48.
137 Zimmer, Dieter E.: Die Vernunft der Gefühle. Ursprung, Natur und Sinn der menschlichen Emotion. 2. Aufl., München, Zürich 1984, S. 16.
138 Vgl. hierzu auch: de Boni, Michael: a.a.O, Heller, Agnes: Theorie der Gefühle. Hamburg 1981, S. 144 ff. 139 Lenz, J.: „Affekt“, in Hist.Wb.Philos. 1, Darmstadt 1971, Sp. 94. Zit. nach: Hübsch, Stefan: Vom Affekt zum
Gefühl. In: Hübsch, Stefan; Kaegi, Dominic (Hrsg.): Affekte. Philosophische Beiträge zur Theorie der Emotionen. Heidelberg 1999, S. 137 – 150, hier S. 138.
46
dem Mensch im Sinne des „Gefühl erleidens“ in Besitz genommen wird und gegen den es
sich mittels Vernunft zu wehren gilt140.
Die Sichtung der Literatur zeigt: die Begriffe Gefühl und Emotion werden nahezu bedeu-
tungsäquivalent benutzt. Zwar findet man bei einigen Autoren die Unterscheidung, daß
einer der beiden Begriffe das Erregungsgeschehen umfassender beschreiben würde,
welcher der beiden dabei jeweils präferiert wird, ist jedoch völlig autorenabhängig und
unterliegt einer rein subjektiven Wahl. So entnimmt Zimmer bspw. dem „allgemeinen
Sprachgebrauch“, daß „Gefühl ein [...] Augenblickszustand [ist]: wie man sich gerade
fühlt. Eine Emotion oder ein Affekt [aber] ist ein zeitlicher Ablauf, dessen einzelne
Momente sich durchaus anders anfühlen können. [...] So werden notwendig nur heftigere
und längere Gefühle (richtiger Gefühlsprozesse) den Namen Emotion verdienen.“141
Dieses Begriffsverständnis entspricht eher der psychologischen Terminologie. Agnes
Heller dagegen rekurriert auf den Begriff „Fühlen“ und versteht in diesem Sinne Gefühl als
Oberbegriff für Erregungszustände aller Art.142
Aufgrund der Tatsache, daß das Zentrum dieser Arbeit die Untersuchung der emotions-
psychologischen Konzepte bildet, werden hier die Begriffe Gefühl und Emotion bedeu-
tungsgleich verwendet. Bei der Rezeption der unterschiedlichen Arbeiten werde ich mich
an die dort verwendete Terminologie halten.
3.3 Die Emotionsforschung in der Psychologie
3.3.1 Allgemeine Einführung
Ein Blick in die Geschichte der Emotionspsychologie zeigt, daß einer Phase der inten-
siven Beschäftigung mit der Thematik zu Beginn der institutionalisierten Psychologie in
der Zeit von 1870 – 1920 eine ebenso lange Periode folgte, in der die Emotionen als
Forschungsgegenstand in dieser Disziplin nahezu unberücksichtigt blieben. Das von den
Jahren 1920 – 1970 zu verzeichnende geringe Interesse der Psychologen an der Er-
forschung der Emotionen wird hauptsächlich auf die diese Zeitspanne dominierende
behavioristische Position zurückgeführt, deren traditionellem Paradigma gemäß aus-
140 Vgl hierzu auch: Hübsch, Stefan: a.a.O.: S. 139 und Schmitz, Lothar: a.a.O.: S. 44 f. 141 Zimmer, Dieter E.: a.a.O., S. 16 f. 142 Heller, Agnes: a.a.O.
47
schließlich das beobachtbare Reiz-Reaktions-Geschehen als legitimer Forschungsgegen-
stand galt. Daß das rein subjektive Gefühlserleben dabei keine Berücksichtigung finden
durfte, versteht sich von selbst. Die Negation der subjektiven Aspekte des Erlebens führte
Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts sogar soweit, daß man der emotions-
psychologischen Forschung voraussagte, sie würde spätestens im Jahre 1950 als
kurioses Relikt der Vergangenheit belächelt.143
Diese Prognose bewahrheitete sich nicht, und wenn auch die emotionspsychologische
Forschung sehr lückenhaft war und eher sporadisch erfolgte, ganz aus dem Blickfeld vor
allem der europäischen Psychologie geriet sie nie, da sich hier die klassischen
„behavioristischen Positionen niemals durchsetzten“144. In das Zentrum des Forschungs-
interesses rückten die Emotionen jedoch erst über die Verdrängung des Behaviorismus
durch die „kognitive Revolution“, in deren Folge man „auch das subjektive Erleben wieder
als einen legitimen Forschungsgegenstand betrachtete“145.
Die Ergebnisse der dieser Renaissance folgenden intensiven aber auch divergierenden
Forschungstätigkeiten sind dokumentiert in einer mittlerweile eine Vielzahl von
Veröffentlichungen in Form von Aufsatzsammlungen, Monographien und Lehrbüchern,
wobei die letzteren den Zugang zu der aufgrund ihrer Vielfältigkeit kaum mehr zu
überblickenden Thematik erleichtern wollen. Für einen kleinen Einblick seien beispielhaft
einige Forschungsschwerpunkte genannt: Es gibt phylogenetische sowie ontogenetische
Forschungen, die sich u.a. mit der Erforschung möglicher Basisemotionen und/oder deren
Funktion sowie deren Ausdruckserscheinungen auseinandersetzen.146 Weiterhin
existieren Forschungszweige, die sich ganz auf die Untersuchungen der Entstehung und
Wirkungsweise einzelner Emotionen konzentrieren. Zu den diesbezüglich am intensivsten
erforschten Emotionen gehört die Angst.147 Weitere Fragestellungen sind, ob Kognitionen
143 Vgl. Meyer, Wulf-Uwe; Schützwohl, Achim; Reisenzein, Rainer: a.a.O. (1997), S. 14 f. 144 Vgl. ebd. S. 17. 145 Ebd. S. 16. 146 Beispielhaft seien hier genannt: Ekman, Paul: a.a.O. (1988) und ders.: Expression and the Nature of
Emotion. In: Scherer, Klaus R.; Ekman, Paul (Hrsg.): Approaches to Emotion. Hillsdale, London 1984, S. 319 – 343; Plutchik, Robert: Emotions: A General Pschoevolutinary Theory. In: Scherer, Klaus R.; Ekman, Paul (Hrsg.): Approaches to Emotion. Hillsdale, London 1984, S. 197 – 219; Tomkins, Silvan S.: Affect Theory. In: Scherer, Klaus R.; Ekman, Paul (Hrsg.): Approaches to Emotion. Hillsdale, London 1984, S. 163 – 195.
147 Beispielhaft seien hier genant: Birbaumer, Nils (Hrsg.): Neuropsychologie der Angst. München, Berlin, Wien 1973; Stöber, Joachim, Schwarzer, Ralf: Angst. In: Otto, Jürgen H.; Euler, Harald A.; Mandl, Heinz (Hrsg.): Emotionspsychologie. Ein Handbuch. Weinheim 2000, S. 189 – 198. Schwarzer, Ralf: Angst. In: Mandl, Heinz; Huber, Günter L.: Emotion und Kognition. München, Wien, Baltimore 1983. S. 123 – 147.
48
Emotionen auslösen, oder ob es sich umgekehrt verhält.148 Zudem wird in den letzten
Jahren an Prozeßmodellen gearbeitet, in denen Aspekte der Genese und der Funktion
von Emotionen gleichermaßen Berücksichtigung finden.149
All die bisherigen Forschungsbemühungen haben jedoch noch nicht annähernd zu einer
einheitlichen Klärung des Untersuchungsgegenstandes Emotion geführt. Die Gründe
dafür sind nahezu ebenso vielfältig, wie die unterschiedlichen Forschungsbemühungen.
Als einer der Hauptursachen gilt zweifellos die grundsätzliche Problematik der Emotionen
als empirischer Forschungsgegenstand: bedingt durch das Fehlen eines allgemein
gültigen Meßkriteriums sind Gefühle schwer meßbar. Die überkulturelle Ähnlichkeit im
Ausdruck ebenso wie die spezifische somatische bzw. neurophysiologische Wirkungs-
weise bestimmter Gefühlszustände lassen keine zuverlässigen Rückschlüsse auf das
tatsächliche individuelle Erleben zu, wodurch in Feldforschungen die Problematik der
Validierbarkeit entsteht. Demgegenüber besteht in experimentellen Situationen, in denen
die Introspektion entsprechend berücksichtigt werden kann, die Schwierigkeit darin,
„echte Gefühle“ zu erzeugen150.
Klaus Scherer bestätigt in seinem Aufsatz „Theorien und aktuelle Probleme der Emotions-
psychologie“151, in dem „nur einige wenige Aspekte der modernen Emotionspsychologie
angedeutet werden“152, die oben beschriebene Problematik. Seiner Ansicht nach ist durch
die Lektüre seines Aufsatzes „[...] beim Leser wohl der – vom Autor durchaus angestrebte
– Eindruck entstanden, daß es sich hier um einen noch weitgehend unterentwickelten
[dennoch] aber durchaus entwicklungsfähigen Arbeitsbereich der Psychologie handelt“153.
Die Entwicklungsfähigkeit sieht er begründet in den Tendenzen, die sich im Bereich der
Emotionsforschung abzeichnen, hierzu zählt er, um nur einige zu nennen: Phänomen-
148 Literaturhinweise bezüglich der beiden Gegenpositionen: Lazarus, Robert S.: On the Primacy of Cognition.
American Pschologist. Vol. 39, Nr. 2, 1984, S. 124 – 129; Zajonc, Robert B.: On the Primacy of Affect. American Psychologist, Vol. 29, Nr. 2 1984a, S. 117 – 123.
149 Wie bspw. in: Leventhal, Howard; Scherer Klaus R.: The Relationship of Emotion of Cognition: A Functional Approach to a Semantic Controversy. Cogniton and Emotion. Vol. 1 (1), 1987, S. 3 – 28.
150 Erwin Roth zitiert hierzu Lersch: „Es ist nicht die experimentelle Situation des Laboratoriums, sondern die existentielle Situation des Lebens, durch die ein Gefühl des Hasses und der Liebe, ein Akt unwiderruflicher Entscheidung, eine Haltung des Mutes oder der Tapferkeit, ... zum Vollzuge gebracht und damit der Beobachtung zugänglich gemacht werden.“ (Lersch, P.: Aufbau der Person. München 1951 (4. völlig umgearbeitete und erweiterte Auflage von „Der Aufbau des Charakters“) zit. nach Roth, Erwin: Kognition und Emotion: Der Problembereich. In: Ders. (Hrsg.) Denken und Fühlen. Aspekte kognitiv-emotionaler Wechselwirkung. Berlin, Heidelberg, New York, London, Paris, Tokyo, Hong Kong 1989, S. 14.
151 Scherer, Klaus: Theorien und aktuelle Probleme der Emotionspsychologie. In: Ders. (Hrsg.): Psychologie der Emotionen. Göttingen, Toronto, Zürich 1990, S. 1 - 38.
152 Ebd. S. 22. 153 Ebd.
49
orientierung, Theoretischer Eklektizismus, Theoretische Querverbindungen und Metho-
denvielfalt.
Die Phänomenorientierung bezieht sich auf die Berücksichtigung der Erkenntnis der
reduzierten Sicht auf den Gegenstand. So wird nach Scherer die Untersuchung der
Gefühle und Affekte nicht mehr, wie früher oft geschehen, „in sehr abstrakter Form auf der
ausschließlichen Grundlage verbaler Begriffe abgehandelt“154, sondern den Ausgangs-
punkt der meisten Untersuchungen bilden heute konkrete Emotionsprozesse. Der theore-
tische Eklektizismus zeigt sich darin, daß die heutigen Emotionsforscher zu Theorien-
pluralismus fähig sind, der vor allem auf der Einsicht beruht, daß sowohl die biologischen
Ausgangsbedingungen als auch die Förderung und Formung der Umwelt zur Ausbildung
der je individuellen Persönlichkeit beitragen und somit auch die Emotionen „sowohl phylo-
genetisch kontinuierliche biologische Grundlagen haben [...] als auch phänomenologisch
auf der Grundlage der Lebensgeschichte eines individuellen Menschens von außerordent-
lich spezifischen und komplexen subjektiven Erlebniszuständen begleitet werden [...]155.
Theoretische Querverbindungen sind in der Emotionspsychologie unumgänglich, um den
Gegenstand überhaupt erfassen zu können. So lassen sich nach Scherer „Emotionspro-
zesse [...] ohne Berücksichtigung von Kognition und Motivation nicht einmal konzeptuali-
sieren, geschweige denn erforschen“156. Umgekehrt sind auch andere Arbeitsbereiche,
wie bspw. die Kognitionsforschung, die bislang eher eine Trennung praktizierte, dazu
angehalten, das Emotionsgeschehen mitzuberücksichtigen. Die Notwendigkeit einer
Methodenvielfalt zur Erfassung der Emotionen rekurriert darauf, daß „konkrete Emotions-
prozesse gleichzeitig im Hinblick auf die hormonale Ausschüttung, die autonomen
Erregungsprozesse, den Ausdruck in Gesicht, Körper, und Stimme sowie das subjektive
Erleben und die Handlungstendenzen untersucht werden müßten“157. Da kein einzelner
Forscher alle notwendigen Apparaturen bzw. Methoden zur Verfügung hat, wird daher die
Entwicklung von Modellen zur Zusammenarbeit notwendig, „die es erlauben, das gleiche
Phänomen mit unterschiedlichen Meßverfahren zu untersuchen“158.
154 Ebd. S. 23. 155 Ebd. S. 24. 156 Ebd. 157 Ebd. S. 25. 158 Ebd. S. 26.
50
An dieser Stelle sei noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es sich bei
Scherers Beobachtungen um sich abzeichnende Tendenzen handelt. Die tatsächliche
flächendeckende Realisierung der hier angesprochenen Aspekte, die nur einen Auszug
der vom Autor explizierten darstellen, steht jedoch noch aus. Bemerkenswert ist jedoch
die mit diesen Tendenzen verbundene Änderung der Forschungspraxis. War man früher
möglichst bestrebt, die oben genannten Aspekte wie Theorieneklektizismus oder theore-
tische Querverbindungen zu vermeiden, um vor allem dem Vorwurf der Unwissenschaft-
lichkeit zu entgehen, oder Methodenvielfalt zu umgehen, um nicht auf eine Zusammen-
arbeit angewiesen zu sein, scheint die Komplexität der Emotionsphänomene eine
Hinwendung nicht nur zu verstärkter Zusammenarbeit innerhalb einer Forschungs-
disziplin, sondern auch fächerübergreifend unumgänglich zu machen.
Daß vor der Realisierung einer kooperierenden Erforschung der Emotionsprozesse noch
einige Hürden zu überwinden sind, dokumentiert die nun folgende Auseinandersetzung
mit den unterschiedlichen Begriffsdefinitionen zum Phänomen Emotion.
3.3.2 Psychologische Begriffsbestimmungen
Die Variationsbreite im Zugang zur Erforschung der Emotionen wird eindrucksvoll doku-
mentiert durch die von Kleinginna & Kleinginna im Jahre 1981 entwickelten 11 Kategorien
zur Klassifizierung dieses Forschungsgegenstandes, die sie aus ca. 100 Definitionen und
Aussagen aus einschlägigen Spezialwerken, Wörterbüchern und Einführungstexten
herausgearbeitet haben. Daß selbst innerhalb einer Disziplin unterschiedliche Aspekte
des Emotionserlebens hervorgehoben werden, zeigt sich an der von Mandl und Huber159
in Anlehnung an Kleinginna & Kleinginna vorgenommenen Zuordnung der Kategorien zu
Forschungsdisziplinen. Es werden folgende Gruppen unterschieden:
1. Affektive Definitionen, die Gefühle der Erregung und/oder Lust/Unlust betonen;
(Psychophysiologische und psychoanalytische Ansätze)
2. Kognitive Definitionen, die sich auf den Wahrnehmungs- und den Denkaspekt
konzentrieren. Dabei werden vor allem die Bewertungs- und Klassifikationsaspekte
untersucht in Form von Ursachenzuschreibung von wahrgenommenen
Erregungszuständen.
159 Euler, Harald A. und Mandl, Heinz (Hrsg.): Begriffsbestimmungen. In: Dies. (Hrsg.) Emotionspsychologie.
Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen. München, Wien, Baltimore 1983, S. 5 – 11.
51
(Kognitionstheoretische und attributionstheoretische Ansätze)
3. Die situativen Definitionen, bei denen das Hauptaugenmerk auf den äußeren Auslösern
von Emotionen liegt. Untersucht werden hier bspw. Reize, die Erregungszustände
hervorrufen.
(Lerntheoretische Ansätze)
4. Die psychophysiologischen Definitionen, die die Abhängigkeit der Emotionen von
physiologischen Mechanismen betonen.
(Psychophysiologische Ansätze)
5. Expressive Definitionen, die die emotionalen Ausdrucksreaktionen in den Mittelpunkt
stellen.
(Ausdruckserscheinungen, psychobiologische und soziobiologische Ansätze)
6. Die disruptiven Definitionen zeigen die desorganisierende oder dysfunktionale Wirkung von
Emotionen auf.
7. Die adaptiven Definitionen, die abheben auf die bedürfnissichernde oder funktionale
Wirkung von Emotionen.
(Psychobiologische und soziobiologische Ansätze)
8. Die syndromischen Definitionen, in denen mehrere Komponenten der Emotionen
miteinander verknüpft werden, wie bspw. die physiologische, kognitive, behavioral-
expressive und subjektive Komponente. Die Betrachtung der Emotion als Syndrom ist am
häufigsten vertreten.
9. Restriktive Definitionen, die darauf abzielen, das Konzept Emotion von anderen
psychischen Prozessen oder Erscheinungsformen abzugrenzen.
10. Die motivationalen Definitionen, die sich auf die Beziehung zwischen Emotion und
Motivation konzentrieren.
11. Und schließlich die skeptischen Aussagen, die den Wert des Emotionskonzeptes
überhaupt in Frage stellen.160
Vor dem Hintergrund ihrer Analyse schlagen Kleinginna & Kleinginna folgende Definition
vor:
„Emotion ist ein komplexes Interaktionsgefüge subjektiver und objektiver Faktoren, das von
neuronal/hormonalen Systemen vermittelt wird, die (a) affektive Erfahrungen, wie Gefühle der
Erregung oder Lust/Unlust, bewirken können; (b) kognitive Prozesse, wie emotional relevante
Wahrnehmungseffekte, Bewertungen, Klassifikationsprozesse, hervorrufen können; (c) ausge-
dehnte physiologische Anpassungen an die erregungsauslösenden Bedingungen in Gang setzen
können; (d) zu Verhalten führen können, welches oft expressiv, zielgerichtet und adaptiv ist.“161
160 Vgl. ebd. S. 7. 161 Kleinginna, P.R. , & Kleinginna, A. M.: A categorized list of emotion definitions, with suggestions for a
consensual definition. Motivation and Emotion, 5, S. 345 – 379, hier S. 355 zit. nach: Otto, Jürgen H.,
52
Diese Definition stellt sich dar als Zusammenfassung der wichtigsten Komponenten der
einzelnen Kategorien. Durch die Bindung des Auftretens der spezifischen Aspekte an die
Möglichkeitsform wird allen widersprüchlichen Aussagen und Untersuchungsergebnissen
Rechnung getragen. Insofern ist diese Definition im Sinne einer Ergebnissammlung
jederzeit erweiterbar, jedoch nicht widerlegbar. Der zweifelhafte Wert einer solchen
Definition als Forschungsgrundlage soll jedoch hier nicht diskutiert werden.162
In der heutigen Emotionsforschung wird das Zusammenwirken unterschiedlicher Kompo-
nenten beim Emotionsprozeß nicht mehr bestritten, jedoch werden ihre Aufgaben
kontrovers diskutiert.163 Dies bekräftigt Scherer durch seine Aussage: „Wohl aufgrund des
fehlenden Konsensus über ein verbindliches Emotionskonzept und des relativ mageren
Erkenntnisstandes über den Auslöser von Emotionsprozessen und der beteiligten
Reaktionsmuster ist in diesem Bereich ein regelrechter Wildwuchs von Theorievor-
schlägen entstanden. Da es in dieser Forschungstradition nur wenige kritische Experi-
mente gibt, die eine gewisse Selektionsfunktion bezüglich der Theorienvielfalt ausüben
könnten, ist wohl auch nicht zu erwarten, daß sich dieser Zustand ändert. Kaum eine der
Emotionstheorien kann den Anspruch erheben, eine umfassende Theorie emotionaler
Prozesse zu sein. Nahezu alle bisherigen Ansätze beschränken sich auf die Thema-
tisierung von Einzelkomponenten des Emotionsprozesses oder sogar von Einzelfrage-
stellungen [...] “164.
Angesichts dieses Mangels arbeitet Scherer165 an einem Modell, in dem alle von ihm
ausgemachten fünf Komponenten, die beim Emotionsprozeß wirksam sind, Berück-
sichtigung finden. Er benennt hier die kognitive, die neurophysiologische und die
motivationale Komponente, die Ausdruckskomponente und die Gefühlskomponente.
Diese Komponenten ordnet er den von ihm differenzierten fünf Subsystemen des
Organismus zu, dem Informationsverarbeitungssystem (kognitive Komponente), dem
Versorgungssystem (neurophysiologische Komponente), dem Steuerungssystem
(motivationale Komponente), dem Aktionssystem (Ausdruckskomponente) und dem
Monitoringsystem (Gefühlskomponente). Das Zentrum seiner Theorie bildet die kognitive
Komponente, die einerseits durch die Bewertung von internen und externen Reizen
emotionsauslösend wirkt, andererseits aber wesentlich ist für die kontinuierliche und
Euler, Harald A., Mandl, Heinz: Begriffsbestimmungen. In: Dies. (Hrsg.) Emotionspsychologie. Ein Handbuch. Weinheim 2000, S. 15.
162 Vgl. hierzu auch Goller, Hans: a.a.O. S. 18 163 Vgl. ebd. 164 Scherer, Klaus: a.a.O (1990), S. 8. 165 Vgl. ebd. S. 3 ff.
53
rekursive Informationsverarbeitung der Emotion. Er geht von folgender Arbeitsdefinition
aus:
„Emotion ist eine Episode zeitlicher Synchronisation aller bedeutenden Subsysteme des
Organismus, die fünf Komponenten bilden (Kognition, physiologische Regulation, Motivation,
motorischer Ausdruck [motor expression] und Monitoring/Gefühl), und die eine Antwort auf die
Bewertung eines externalen oder internalen Reizereignisses als bedeutsam für die zentralen
Bedürfnisse und Ziele des Organismus darstellt.“166
Hier steht der Funktionsaspekt der Emotionen deutlich im Vordergrund. Eine völlig andere
Herangehensweise an eine Bestimmung des Emotionsbegriffs bietet Dieter Ulich167. In der
Kritik zu der von Kleinginna & Kleinginna vorgenommenen Begriffsdefinition macht er
zunächst deutlich, daß aus der Begriffsdiskussion in der Literatur nur zwei Punkte un-
strittig hervorgehen, daß nämlich erstens Emotionen leib-seelische Zuständlichkeiten
einer Person anzeigen und es zweitens möglich ist, „je nach Fragerichtung und Betrach-
tungsebene unterschiedliche Komponenten eines zweifellos komplexen Geschehens
hervor[zu]heben bzw. [zu] akzentuieren: eine subjektive Erlebniskomponente, eine neuro-
physiologische Erregungskomponente, eine kognitive Bewertungskomponente, eine
interpersonale Ausdrucks- und Mitteilungskomponente.“168
In Anbetracht der für ihn zentralen Stellung des subjektiven Emotionserlebens hebt Ulich
hervor, daß Emotionsforschung zunächst immer unter Bezugnahme auf die Alltagser-
fahrung entwickelt werden muß, und daß darüber hinaus Forschungsvorhaben einerseits
immer von dem konkreten Handeln eines jeweiligen Forschers mitbestimmt werden und
andererseits notwendig schon auf der Basis gewisser theoretischer Grundlagen konzipiert
werden. Vor dem Hintergrund dieser Voraussetzung gilt es ebenso zu berücksichtigen,
daß aufgrund der Komplexität der Forschungsgegenstand Emotion nur über die Unter-
suchung von Teilaspekten erfolgen kann. Im Hinblick darauf ist es für Ulich ein ange-
messener Weg, „aus verschiedenen Ansätzen der Emotionsforschung und aus der
Alltagserfahrung jene Bestimmungsstücke emotionalen Erlebens heraus[zu]filtern und [zu]
rekonstruieren, die zum einen in einem nicht-widersprüchlichen Ergänzungsverhältnis
zueinander stehen, und die zum anderen möglichst viele ‚Stimmen’ der Forscher auf sich
vereinigen, also in möglichst hohem Grade konsensfähig sind.“169 Zwar räumt er ein, daß
166 Scherer, Klaus: Neuroscience projections to current debates in emotion psychology. cognition and
Emotion, 7, 1993, S. 4. Zit. nach: Otto, Jürgen H., Euler, Harald A., Mandl, Heinz: a.a.O., S. 15. Vgl. hierzu auch Scherer, Klaus: a.a.O. (1990) S. 7.
167 Ulich, Dieter: Das Gefühl. Eine Einführung in die Emotionspsychologie. 2., durchges. u. erg. Aufl. München 1989.
168 Ebd. S. 32. 169 Ebd. S. 33.
54
auf diesem Wege nur eine Sammlung von Beispielen bzw. Anwendungsfällen erhalten
wird, die die Emotionen im groben charakterisieren, ebenso wie nicht jedes der gesam-
melten Merkmale bei jeder Emotion auftreten muß. Der Wert dieser Merkmalssammlung
liegt für Ulich darin, einen „‚Idealtypus Emotion’ [...], also einen lediglich gedachten ‚reinen
Fall’ [zu entwerfen], der zwar in der Wirklichkeit nicht vorkommt, aber die Zuordnung
realer Einzelfälle ermöglichen soll“170.
In diesem Sinne betont er den terminologischen, klassifikatorischen und heuristischen
Zweck seiner im Folgenden dargestellten „idealtypischen Zusammenstellung von
Merkmalen, die in ihrer Gesamtheit für Emotionen ‚typisch’ sein soll“171. Für ihn sind
Emotionen Bewußtheitszustände und damit für ihn wie auch für Scherer172 zu
unterscheiden von Stimmungen, Gefühlstönungen und extremen Affekten. Ulich
entwickelt insgesamt 10 Bestimmungsmerkmale für Emotionen, die er wie folgt
zusammenfaßt:
„Gefühlsregungen sind
- einzigartige
- auf der Grundlage von Selbstbetroffenheit und
- meist über nicht-verbale Kanäle vermittelte
- innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen erworbene und
- bevorzugt über nicht-verbale Kanäle vermittelte
- seelische Zustände (Inhalte eines zuständlichen, auf den eigenen Zustand bezogenen
Bewußtseins), die
- meist mit einem erhöhten Grad von Erregung erlebt werden
- in denen die Person sich als eher passiv erfährt
- die dem Bewußtsein Kontinuität und ‚Identität’ verleihen
- die keine primäre Funktion außerhalb ihrer selbst haben“173
Nach Ulichs eigener Aussage finden die Merkmale der Einzigartigkeit, sowie der erhöhte
Grad der Erregung als Erlebensmerkmal der Emotion und die bevorzugte Vermittlung
über nicht-verbale Kanäle kritische Resonanz. Darüber hinaus wird auch seine These,
daß Emotionen keine primäre Funktion außerhalb ihrer selbst haben, kritisiert. Seine
Explikation zur Begründung dieser These ist besonders erwähnenswert: Mit Bezug auf
Mandler und Zajonc bezeichnet Ulich Emotionen als „’selbstgenügsam’, sie bedürfen
170 Ebd. 171 Ebd. 172 Vgl. Scherer, Klaus: a.a.O. (1990), S. 6. 173 Ulich, Dieter: a.a.O. S. 40.
55
keiner Zwecke außerhalb ihrer selbst“174. Und weiter heißt es dort: „Warum springen wir
vor Freude in die Luft? Weil wir uns freuen! Wenn also Warum-Fragen gelegentlich schon
problematisch sind, so sind bei Emotionen ‚Wozu’-Fragen geradezu absurd: ‚Wozu’
springen wir in die Luft? Um uns zu freuen? Nicht nur bezogen auf das Ausdrücken von
Gefühlen, sondern auch bezogen auf das Erleben von Gefühlen sind Wozu-Fragen
unzulässig, weil unsinnig.“175 Mit dieser Kritik bezieht sich Ulich auf die Vorgehensweise
der Evolutionsforscher, Emotionen nur auf ihre Funktionen zu reduzieren, was dazu führe,
daß bestimmte empirische Forschungsrichtungen im vorhinein ausgeschlossen wären,
wodurch wiederum eine umfassende Untersuchung des Gegenstandes verhindert
würde.176 Fraglich ist jedoch, ob der rigide Ausschluß eines Funktionsaspektes der
Emotionen nicht auch negative Auswirkung zeitigen kann. Hier kommt es auf das
Verständnis des Begriffes Funktion an. Wenn man Emotionen als notwendige Bestand-
teile eines Organismus betrachtet, so kommt ihnen notgedrungen eine „Funktion“ wie
bspw. im Sinne der Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung dessen homöostatischen
Gleichgewichtes zu. Ulich unterstellt in seiner Kritik an dem funktionalistischen Denkens in
der Biologie dagegen den in der Evolutionsforschung notwendigen Untersuchungen
bezüglich Funktion und Zweckmäßigkeit eines bestimmten Phänomens zur Erreichung
eines Zieles einen positiv zu bewertenden Aspekt177. Dabei wird jedoch einmal mehr
davon ausgegangen, daß einerseits die Evolutions- bzw. biologischen Verhaltensforscher
postulieren, eine genetische Disposition allein bestimme programmatisch Verhaltens- und
Handlungsweisen, was von Norbert Bischof178 energisch kritisiert wird. Zum anderen wird
damit den Evolutionsforschern die Annahme unterstellt, die Evolution werde „alles zum
besten richten“. Diese Unterstellung ist insofern nicht richtig, als in dieser Forschungs-
disziplin vor allem untersucht wird, warum sich nach den Gesetzen der Evolution nämlich
dem Zusammenwirken von Selektion und Mutation Emotionen und deren Ausdruck
entwickelt haben mit dem Ziel, den Überlebensvorteil eines bestimmten Phänomens in
einer bestimmten vorgegebenen Konstellation zu eruieren179. Daß eine Klärung dieser
Sachverhalte durchaus von Vorteil sein kann, bestätigen einschlägige Untersuchungs-
ergebnisse. Das Wissen um eine genetische Disposition des Menschen, die das
Zustandekommen bestimmter Ängste begünstigt, kann helfen, als irrational empfundene
174 Ebd. S. 38 175 Ebd. 176 Vgl. ebd. S. 125 ff. 177 Vgl. ebd. S. 132 ff. 178 Bischof, Norbert: Emotionale Verwirrungen. Oder: Von den Schwierigkeiten im Umgang mit der Biologie.
Psychologische Rundschau 40, 1989, S. 188 – 205. 179 Lorenz, Konrad: Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression. 20. Auflage. München 1995,
S. 20 f.
56
Ängste zu mäßigen. Alles in allem werden auch mit Ulichs Sicht auf die Emotionen
wiederum entscheidende Aspekte ausgeklammert.
Die vorstehenden Beispiele zeigen, wie problematisch und umstritten die Stellung der
Emotionen im Bereich der psychologischen Disziplin sind. „Die Ursache der Definitions-
probleme wird darin gesehen, daß Emotionen keine dinghaften Gegebenheiten darstellen,
die sich voneinander eindeutig unterscheiden ließen und die für alle Menschen in der
gleichen Situation identisch wären. Emotionen sind nicht eigentlich vorhanden, zu
besichtigen oder zu begutachten.“180 Emotionen sind ein ganz privater, persönlicher
Zustand, der zwar im Ausdruckverhalten nach außen hin sichtbar ist, die Erstellung von
objektiv gültigen Meßkriterien zur Erfassung eines emotionalen Zustandes aber gestaltet
sich aufgrund der Bedeutung der individuellen persönlich bedeutsamen
Erlebniskomponente außerordentlich schwierig.
Außer Frage steht, wie wir oben bereits gesehen haben, daß das Emotionsgeschehen
mehrere Komponenten beinhaltet, wobei hier jedoch Uneinigkeit in der Aufteilung und
Zuordnung herrscht. So unterscheidet Scherer fünf Komponenten, Ulich und Goller
jeweils nur vier. Der besseren Übersicht halber werden sie in einer Tabelle gegen-
übergestellt:
Scherer181
Ulich182
Goller183
��kognitive Komponente
��neurophysiologische
Komponente
��Ausdruckskomponente
��Gefühlskomponente
��motivationale
Komponente
��kognitive Bewertungs-
komponente
��neuro-physiologische
Erregungskomponente
��interpersonale Ausdrucks-
und Mitteilungskom-
ponente
��subjektive Erlebnis-
komponente
��kognitive Komponente
��körperliche
Emotionskomponente
��motorisch-expressive
Emotionskomponente
��die Gefühlkomponente.
180 Goller, Hans: a.a.O. S. 15. 181 Vgl. Scherer, Klaus: a.a.O. (1990), S. 8 ff. 182 Vgl. Ulich, Dieter: a.a.O. S. 32. 183 Vgl. Goller, Hans: a.a.O. S. 18 ff.
57
Gemeinsam haben alle drei Forscher die kognitive, die Ausdrucks- und die Gefühls- bzw.
– wie Ulich sie nennt – subjektive Erlebniskomponente. Während Scherer und Ulich die
physiologischen Aspekte der Emotionen auf die Neurologie beschränken, spricht Goller
allgemein von der körperlichen Emotionskomponente. Scherer benennt als einziger,
entsprechend seiner Emotionstheorie, noch die motivationale Komponente der Emo-
tionen, die bei Ulich in Konsequenz zu der Betonung, daß Gefühle keine Funktion außer-
halb ihrer selbst haben, keine Berücksichtigung findet. Goller klammert die motivationalen
Aspekte ebenfalls aus, da sie mehr als Folge des Emotionsgeschehens und unter diesem
Gesichtspunkt als nicht direkt zum Emotionsprozeß dazugehörig angesehen werden.184
Betont werden muß nochmals, daß die meisten Untersuchungen sich auf eine der
genannten Komponenten beschränken, bzw. in jedem Falle eine der Komponenten in den
Mittelpunkt stellen. Für unsere Beispiele sind es bei Ulich der subjektive Erlebensaspekt,
während Scherer der kognitiven Komponente die meiste Bedeutung zuweist.
Bevor im nächsten Kapitel auf einige für diese Arbeit relevante psychologische Emotions-
theorien eingegangen wird, soll noch kurz auf den in der Psychologie gebräuchlichen
Unterschied zwischen Stimmungen und Emotionen bzw. Gefühlsregungen im engeren
Sinne eingegangen werden.
Nach Otto Ewert185, der auf der Basis einer gründlichen Literaturrecherche in der psycho-
logischen Emotionsforschung eine Differenzierung der Begriffe versucht hat, werden
Stimmungen verstanden als „Gefühlserlebnisse von diffusem Charakter, in denen sich die
Gesamtbefindlichkeit eines Menschen ausdrückt“186. Sie gelten als vergleichsweise lang
anhaltende unterschwellige Gefühlsregung, die einen „selektiven Einfluß auf Erlebnisse
und Erfahrungen aus[üben], [...] indem sie als relativ überdauernder emotionaler Hinter-
grund den aktuellen Erfahrungen eine bestimmte Färbung geben, zum anderen, indem sie
eine Vorauswahl unter möglichen Verhaltensweisen nahelegen“187.
Emotionen bzw. Gefühlsregungen im engeren Sinne sind akute Gefühlserlebnisse, mit
einem deutlich abgrenzbaren zeitlichen Verlauf. Gefühlsempfindungen setzen ein und
184 Vgl. ebd. S. 22. 185 Ewert, Otto: Ergebnisse und Probleme der Emotionsforschung. In: Thomae, Hans (Hrsg.): Enzyklopädie
der Psychologie. Serie IV Band 1: Theorien und Formen der Motivation. Göttingen 1983, S. 397 – 451. 186 Ebd. S. 399. 187 Ebd.
58
werden im Verlauf intensiver und klingen dann ab. Diese Gefühlszustände haben in der
Regel ein Objekt, bzw. einen Anlaß, wie bspw. Personen oder Situationen. Damit spiegeln
diese Erregungszustände den jeweiligen Person-Umwelt-Bezug und unterliegen nach
Ewert „sozialer Formung und Normung“188.
3.3.3 Emotionstheorien in der Psychologie
Wie bereits oben mehrfach deutlich geworden ist, gibt es von psychologischer Seite
unterschiedliche Herangehensweisen zur Untersuchung der Emotionen. Aufgrund der
außerordentlich zahlreichen Theorien ist es im Zusammenhang dieser Arbeit nicht
möglich, jedem einzelnen Ansatz im Detail nachzugehen. Angestrebt wird an dieser Stelle
ein Überblick über die wichtigsten Forschungsrichtungen und die Diskussion um deren
Ergebnisse. Diese Übersicht folgt der Struktur der ausgewiesen189 gründlichen Dar-
stellung der einzelnen Forschungsrichtungen von Hans Goller190, der der besseren
Übersicht wegen die Theorien ihrem Untersuchungsschwerpunkt gemäß drei groben
Kategorien, die beim Emotionsgeschehen zu unterscheiden sind, zuordnet: den
Körperprozessen, dem Verhalten und den kognitiven Prozessen191.
3.3.3.1 Emotionserleben und Körperprozesse
3.3.3.1.1 Periphere Prozesse
Die James-Lange-Theorie der Emotionen
Daß Emotionen mit körperlichen Veränderungen einhergehen, wird augenfällig an
stärkeren Gefühlsregungen. Die Kennzeichen großer Angst sind bspw. Herzrasen,
Schweißausbrüche, Zittern oder ein unbestimmtes Gefühl in der Magengegend. Starke
188 Ebd. S. 414. 189 Hendrik Walter verweist in einer Fußnote ausdrücklich auf Gollers „hervorragende Übersicht über
Emotionstheorien“ (a.a.O. S. 329). 190 Goller, Hans: a.a.O., S. 28 – 198. 191 Diese Übersichtsform scheint hier am besten geeignet. Daß andere Formen und auch andere Einteilungen
möglich sind dokumentieren: Geppert, Ulrich; Heckhausen, Heinz: Ontogenese der Emotionen. In: Scherer Klaus: a.a.O, S. 115 – 213. Meyer, Wulf-Uwe; Schützwohl, Achim; Reisenzein, Rainer: Einführung in die Emotionspsychologie. Band I. 1. Nachdruck, Bern 1997; Scherer, Klaus: a.a.O; Otto, Jürgen H; Euler, Harald A; Mandl, Heinz: a.a.O.; Ulich, Dieter; Mayring, Philipp: Psychologie der Emotionen. Stuttgart, Berlin, Köln 1992.
59
Freude geht einher mit einem Erregungszustand, der auf erhöhte Herztätigkeit zurückzu-
führen ist. Wut ist ebenfalls begleitet von erhöhter Herztätigkeit, hinzu kommt Zittern der
Gliedmaßen und Muskelanspannung. Diese körperlichen Symptome haben William
James192, einen amerikanischen Philosophen und Psychologen, zu der revolutionären
These veranlaßt, daß Emotionen von unseren Körperempfindungen verursacht werden.
Er postulierte, daß Sinneswahrnehmungen zunächst körperliche Veränderungen hervor-
rufen und es erst in der Folge dieser Veränderung zur Wahrnehmung der der Körper-
empfindung entsprechenden Emotion kommt. Damit widersprach er dem Common-sense-
Verständnis, daß eine Wahrnehmung zunächst eine Emotion auslöst, welche dann zu
Körperempfindungen führt. Nach James ruft demgemäß die bloße Wahrnehmung einer
Gegebenheit, bspw. eines Bären, sofort viszerale Veränderungen hervor, die dann als
Emotion wahrgenommen werden. Die entscheidenden Grundlagen dieser These sind
einerseits, daß der Mensch ebenso wie das Tier über genetische Dispositionen verfügt,
durch die er gemäß eines Schlüssel-Schloß-Prinzips für alle Begegnungen in der Welt mit
bestimmten Reaktionsmustern ausgestattet ist und andererseits, daß jeder Emotion ganz
spezifische Körperprozesse zugrunde liegen. „Die Liebe eines Mannes für eine Frau oder
die einer menschlichen Mutter für ihr Baby, unser Unmut („wrath“) gegenüber Schlangen
oder unsere Furcht vor Abgründen, all dies sind Beispiele für die Art, wie speziell
angepaßte Teile der Weltausstattung unausweichlich spezielle mentale und körperliche
Reaktionen hervorrufen, die unserem bewußten Nachdenken über den betreffenden
Sachverhalt vorausgehen und oft auch in direktem Widerspruch zu diesem stehen.“193
Ganz konkret bedeutet das: wir sind traurig, weil wir weinen, wütend, weil wir zuschlagen
und ängstlich, weil wir zittern.194
James war mit seiner Annahme nicht allein, denn 1885, ein Jahr nach seiner Publikation,
veröffentliche der dänische Physiologe Carl Lange195 eine Emotionstheorie, die im
wesentlichen mit James´ Annahmen übereinstimmte. Jedoch machte der Däne nicht wie
James die gesamten körperlichen Reaktionen also Veränderungen der Eingeweide, also
Herz, Drüsen, Magen und Muskelbewegungen, sowie Hautreaktionen196 für das Ent-
stehen der Emotionen verantwortlich, sondern ausschließlich vasomotorische Reaktionen,
d.h. die durch die Erweiterung und Verengung der Blutgefäße einhergehende unter-
192 Vgl. James, William: a.a.O. S. 3 ff. im Original S. 191 ff. 193 Ebd. S. 3 (im Original S. 190) (Übersetzung B.K.). 194 Vgl. ebd. S. 2 (im Original S. 190) 195 Lange, Carl: The Mechanism of the Emotions (1885), hier in der Version von: The Classical Psychologists
1912, S. 672 – 684. http://psychclassics.yorku.ca/Lange/ 09.02.2002 19.00 Uhr. S. 1 – 9. 196 Vgl. James, William: a.a.O.
60
schiedliche Versorgung des Gehirns und anderen Körperorganen mit Blut197. Wegen der
grundsätzlichen Ähnlichkeit ihrer Grundannahmen ist diese Theorie auch als James-
Lange-Theorie bekannt.
Als bekanntester Kritiker der James´schen Theorie gilt Walter Cannon198, der mit Hilfe von
Tierversuchen, die Hypothese, Emotionen seien die Folge von viszeralen Reaktionen
überprüfte. Seine Kritik bezog sich auf 5 Punkte:
1. Die vollständige Trennung der Viszera vom Zentralen Nervensystem (ZNS) führt nicht
zu einem totalen Ausfall von emotionalem Verhalten. In Anlehnung an von Sherrington mit
Hunden durchgeführte Versuche, denen Rückenmark und Vagus durchtrennt wurde,
nahm Cannon bei Katzen chirurgische Eingriffe zur Unterbrechung der Verbindung der
Nervenstränge von den Eingeweiden zum ZNS vor. Wie die Hunde, die nach der Opera-
tion noch auf entsprechende Reize mit emotionalen Reaktionen wie Bellen und
Schnappen regierten, konnte Cannon auch bei den Katzen nach den Eingriffen Reaktio-
nen wie Furcht und Zorn nachweisen. Wohl räumt Cannon ein, daß hier der Beweis
aussteht, daß die Tiere die gezeigten Gefühlsreaktionen auch tatsächlich empfinden, da
jedoch James das Gefühlsempfinden abhängig macht von der Rückmeldung viszeraler
Reaktionen an den Kortex, dürfte nach der Unterbrechung der Nervenstränge, die die
Rückmeldung ermöglichen, kaum mehr eine Gefühlsreaktion möglich sein. „In anderen
Worten, auch nach Operationen welche gemäß der Theorie [von James] emotionale
Reaktionen zum größten Teil oder gänzlich zerstören, zeigen die Tiere wie bisher
ärgerliches, freudiges oder ängstliches Verhalten.“199
Dieser Kritikpunkt Cannons steht jedoch nur bedingt im Widerspruch zu James Theorie,
da letzterer nicht eine Abhängigkeit zwischen Ausdrucksverhalten und der Rückmeldung
von viszeralen Reaktionen, sondern eine Abhängigkeit von viszeralen Veränderungen und
dem Gefühlserleben postulierte.200
Darüber hinaus widersprechen die am Menschen durchgeführten Untersuchungen zur
Überprüfung dieses Zusammenhangs dieser Annahme Cannons. Untersuchungen an 25
Patienten mit Rückenmarksverletzungen zeigten, daß die empfundene Emotionsqualität
und -intensität variierte mit der Lokalisation der Läsion. Je höher die Verletzung im Wirbel-
197 Vgl. Lange, Carl: a.a.O., S. 2 (i. Original S. 673). 198 Cannon Walter B.:The James-Lange Theory of Emotions: A Critical Examination and an Alternative
Theory. American Journal of Psychology 39, 1927, S. 106 – 127. 199 Ebd. S. 109. (Übersetzung B.K.) 200 Meyer, Wulf-Uwe; Schützwohl, Achim; Reisenzein, Rainer: a.a.O. (1997), S. 104.
61
säulenbereich angesiedelt war, desto geringer waren die Emotionsempfindungen von
Ärger, Furcht, Kummer und sexueller Erregung.201
2. Problematisch ist der Nachweis, daß jede Emotion ein spezifisches viszerales
Reaktionsmuster hat. Cannon postulierte diesbezüglich, daß die gleichen peripheren
Prozesse bei unterschiedlichen emotionalen, wie auch nicht emotionalen Zuständen
aufträten, daß heißt, daß die viszeralen Reaktionsmuster allein nicht ausreichten, um die
vielen differenzierten Emotionserlebnisse zu klassifizieren.202
Tatsächlich ist es jedoch einerseits Cannon nicht gelungen, eindeutig nachzuweisen, daß
unterschiedlichen Emotionen gleiche physiologische Reaktionsmuster zugrunde liegen,
andererseits hat sich bisher nur für sehr wenige Emotionen, nämlich Furcht, Ärger,
Freude und Trauer der Nachweis erbringen lassen, daß ihr Erleben mit unterschiedlichen
physiologischen Zuständen einhergeht.203
3. Cannons dritter Kritikpunkt bezieht sich auf die relative Unempfindlichkeit der Viszera.
Die Rückmeldung von Zustandsveränderungen der Eingeweide an das ZNS sei zu diffus
und undeutlich, um eine spezifische differenzierte Emotionsvermittlung zu ermöglichen.204
Spätere Untersuchungen haben Cannons Annahme zwar zum Teil bestätigt, das
deutliche Körperempfinden bei stärkeren Emotionen jedoch zeigt, daß dieser Einwand
nicht ausreicht, um James´ Theorie zu widerlegen.205
4. Weiterhin wurde die Zeit der Reizübertragung angeführt, deren relativ geringe
Geschwindigkeit von 1 bis 2 Sekunden einer Emotionsverursachung entgegenstünde.206
Die Überprüfung der Reizweiterleitung bei „echten“ Gefühlserlebnissen, wie Angst oder
Ärger, stehen jedoch noch aus.207
5. In seinem letzten Kritikpunkt bezieht sich Cannon auf die Untersuchungen von
Maranon, der feststellte, daß mittels Adrenalininjektionen künstlich erzeugte viszerale
Erregungen, in den meisten Fällen keine „echten Emotionen“, sondern nur „als ob“
Emotionen hervorrufen. Nur die Probanden, mit denen vor der Adrenalininjektion ein
201 Vgl. Goller Hans: a.a.O. S. 31. 202 Vgl. Cannon, Walter B.: a.a.O. S. 109. 203 Vgl. Meyer, Wulf-Uwe; Schützwohl, Achim, Reisenzein, Rainer: a.a.O. (1997), S. 105 f. 204 Vgl. Cannon, Walter B.: a.a.O. S. 111. 205 Vgl. Meyer, Wulf-Uwe; Schützwohl, Achim; Reisenzein, Rainer: a.a.O. (1997), S. 106 f. 206 Vgl. Cannon, Walter B.: a.a.O. S. 112. 207 Vgl. Meyer, Wulf-Uwe; Schützwohl, Achim; Reisenzein, Rainer: a.a.O. (1997), S. 107.
62
Gespräch über sie emotional sehr bewegende Tatbestände, wie ihre kranken Kinder oder
ihre verstorbenen Eltern geführt wurde, berichteten ein „echtes Emotionserleben“.208
Zusammengenommen sind Cannons Kritikpunkte zwar durchaus bedenkenswert, jedoch
reichen sie nicht aus, um James Theorie zu widerlegen, denn „James behauptet nur, daß
Emotionserlebnisse ein Erleben körperlicher Veränderung sind, nicht, daß jede körper-
liche Veränderung als Emotion erlebt werden muß“.209 Zur tatsächlichen Verifikation seiner
Theorie jedoch stünde die „Identifizierung differenzierbarer vegetativer und somato-
muskulärer Reaktionsmuster als ‚Begleiterscheinungen’ von Emotionen“210 an.
Die Zwei-Faktoren-Theorie von Schachter und Singer –
Emotion als Produkt von Aktivierung und Kognition
Während James und Lange davon ausgehen, daß das Emotionserleben die Folge der
Rückmeldung ganz spezifischer körperlicher Erregungsprozesse an das ZNS sind, ist für
Schachter und Singer211 die Entstehung der Emotionen abhängig von dem Zusammen-
wirken von Kognitionen und körperlicher Aktiviertheit. Wichtig ist hier das Verständnis der
Begriffe „Kognition“ und „körperliche Aktiviertheit bzw. physiologische Erregung“, die im
Zusammenhang der Theorie zwar nicht explizit bestimmt sind, deren Fassung jedoch aus
dem Kontext zu entnehmen ist. So ist den verwendeten Beispielen zu entnehmen, daß
Schachter unter physiologische Erregung die erhöhte Aktivität des sympathischen
Nervensystems versteht, die sich z. B. ausdrückt in einer höheren Herzrate, einer
intensiveren Atmung und der Erwärmung des Gesichts. Dem Begriff „Kognition“ kommt
eine zweifache Bedeutung zu: einmal als eine bestimmte subjektive Interpretation einer
Situation oder eines Ereignisses und zum zweiten Rückführung der wahrgenommenen
Erregung auf die Situationseinschätzung212.
Schachter und Singer unterscheiden zwei Arten der Emotionsentstehung: die normale,
alltägliche und die atypische, den Sonderfall. Normalerweise entstehen Emotionen durch
208 Vgl. Cannon, Walter B.: a.a.O. S. 113 f. 209 Goller, Hans: a.a.O. S. 33. 210 Ebd. S. 34. 211 Schachter, Stanley; Singer, Jerome: Cognitive, Social, and Physiological Determinants of Emotional State.
Psychological Review 69, 1962, S. 379 – 399. 212 Vgl. ebd. S. 380. Siehe hierzu auch Meyer, Wulf-Uwe; Schützwohl, Achim; Reisenzein, Rainer: a.a.O. S.
114 und Reisenzein, Rainer: Attributionstheoretische Beiträge zur Emotionsforschung und ihre Beziehung zu kognitiv-lerntheoretischen Formulierungen. In: Eckensberger, Lutz, H.; Lantermann, Ernst-D.: Emotion und Reflexivität. München, Wien, Baltimore 1985, S. 75 – 97.
63
die Konfrontation einer Person mit einem speziellen Ereignis. Die durch die Begegnung
hervorgerufene physiologische Erregung erfährt aufgrund der bisher erworbenen
Erfahrung eine kognitive (emotionsrelevante) Einschätzung. Dementsprechend wird
physiologische Erregung von einem Mann, der bei einem nächtlichen Spaziergang in
einem Park einer Person begegnet, die ein Gewehr trägt, „aufgrund des Wissens um
dunkle Alleen und Gewehre als Angst interpretiert“213. Dagegen wird ein Student, der
gerade erfahren hat, daß er in den Kreis der hervorragenden Akademiker aufgenommen
wurde, die physiologische Erregung als Freude interpretieren. Der wahrgenommene
Erregungszustand wird also vollständig auf die erfahrene Situation zurückgeführt. Diese
Vorgänge laufen normalerweise sehr schnell und unbewußt ab.
Der zweite eher atypische Fall der Emotionsentstehung liegt dann vor, wenn eine Person
eine physiologische Erregung wahrnimmt, die sie nicht direkt auf eine Ursache zurück-
führen kann. Gemäß Schachters und Singers Theorie folgt auf die wahrgenommene
Erregung eine Ursachensuche, die sich ausrichtet an den direkten Situationsgegeben-
heiten. Die zur Verifizierung dieser These durchgeführten Untersuchungen fanden große
Aufmerksamkeit, führten jedoch auch fälschlicherweise zu der Annahme, die Umstände
dieser atypischen Emotionsprozesse stelle Schachters und Singers Modell des Emotions-
prozesses dar.214 Dieses atypische Modell und die dazu angestellte Versuchsreihe diente
jedoch vor allem der Überprüfung der grundlegende Hypothese zur Emotionsentstehung:
Die den unterschiedlichen Emotionen zugrundeliegenden physiologischen Erregungs-
muster unterscheiden sich nicht signifikant, die Klassifizierung von Emotionen muß
demgemäß über kognitive Einschätzungen bzw. Bewertungen erfolgen. Um es ganz
einfach auszudrücken: die Unterschiede zwischen bspw. dem körperlichen Erregungszu-
stand von Ärger und Freude sind so gering, daß die tatsächliche Emotionsempfindung
abhängig ist von der Situationseinschätzung.215
Zur Überprüfung dieser These entwickelten Schachter und Singer216 eine Versuchsreihe,
an der 185 Studenten teilnahmen. Durch eine Adrenalininjektion wurde ein Teil der
Versuchspersonen in einen Erregungszustand versetzt, den anderen wurde eine
Kochsalzlösung (Placebo) verabreicht. Keiner der Teilnehmer wurde über die tatsächliche
Mittelvergabe in Kenntnis gesetzt, allen wurde vermittelt, sie nähmen an einer Testreihe
für ein neues Vitaminpräparat teil. Von den Teilnehmern, die eine Wirkstoffinjektion
213 Schachter, Stanley; Singer, Jerome E.: a.a.O. S. 380. (Übersetzung B.K.) 214 Vgl. hierzu Meyer, Wulf-Uwe; Schützwohl, Achim; Reisenzein, Rainer: a.a.O. (1997), S. 115. 215 Vgl. Schachter, Stanley; Singer, Jerome E.: a.a.O. S. 381. 216 Vgl. ebd. S. 382 ff.
64
erhalten hatten, wurden einige über deren tatsächliche Nebenwirkungen informiert, einige
erhielten diesbezüglich falsche Angaben, eine dritte Gruppe bekam dazu keinerlei
Angaben. Die Teilnehmer mit der Placeboinjektion erhielten ebenfalls keine Angaben zu
Nebenwirkungen.
Nach der Injektion wurden die Versuchspersonen in Gruppen entweder mit einer Person
konfrontiert, die sehr ärgerlich war und diesen lautstark kund tat, oder einer euphorischen
Person, die lustige Späße machte. Es galt nun herauszufinden, ob die Personen, die
keine oder falsche Angaben zu den Nebenwirkungen erhalten hatten und daher keine
Erklärung für ihre körperliche Erregung hatten, ihre emotionale Befindlichkeit eher an der
Situation, in der sie sich befanden, nämlich der ärgerlichen oder der euphorischen, aus-
richteten als die Personen, die keine Erregung empfanden bzw. über deren Ursachen
genau informiert waren.
Die Ergebnisse zeigten, daß der physiologische Aktivierungsgrad bei den meisten
Versuchspersonen mit der Adrenalininjektion deutlich höher war, als der der Placebo-
gruppe (diejenigen, bei denen die Adrenalininjektion keine oder nur geringe Wirkung
zeigte, wurden aus der Untersuchung ausgeschlossen). Für die Abhängigkeit von
physiologischer Erregung und situativer Bewertung fand sich jedoch nur ein signifikanter
Beleg: Die Fremdbeobachtung zeigte bei den Probanden, die über die Wirkung des
Adrenalins nicht informiert waren, einen höheren Ärgerindex als bei den Personen, die
informiert waren bzw. Placebo erhalten hatten. Die Auswertung der Selbstbeurteilungen
dagegen ergab diesbezüglich wiederum keine signifikanten Unterschiede zwischen den
einzelnen Gruppen, was von Schachter und Singer damit erklärt wurde, daß die Ver-
suchspersonen ihren Ärger vor den Versuchsleitern verheimlichen wollten. Dennoch
lieferten die Untersuchungsergebnisse keine zweifelsfreie Bestätigung der Ausgangs-
hypothese.
Das oben dargestellte Experiment hat eine Vielzahl von weitergehenden Untersuchungen
angeregt217, deren Ergebnisse insgesamt gesehen deutlich machen, daß die Beziehung
zwischen peripher-physiologischen Prozessen und Emotionserleben viel komplexer ist als
von Schachter und Singer angenommen wurde. Darüber hinaus konnte die von William
James angenommene Bedeutung der Selbstwahrnehmung als Grundbedingung für das
Emotionserleben in vielen Ergebnissen bestätigt werden.218
217 Vgl. Goller, Hans: a.a.O., S. 40 ff und Meyer, Wulf-Uwe; Schützwohl, Achim; Reisenzein, Rainer: a.a.O.
(1997), S. 127 ff. 218 Vgl. Goller, Hans: a.a.O. S. 57.
65
3.3.3.1.2 Zentrale Prozesse
Da die neueren Untersuchungen der neurobiologischen Forschung erheblich zur
Erweiterung der Erkenntnisse in der Emotionsforschung beigetragen haben, werden im
folgenden einige der wichtigsten Aspekte der zentralen Prozesse, die am Emotions-
geschehen teilhaben, referiert.
Subkortikale Prozesse
Thalamus
Wie wir im vorhergehenden Kapiteln gesehen haben, herrschten Meinungsverschieden-
heiten bezüglich der Emotionsauslöser. Galten für James und Lange die rein somatischen
Reaktionen als Emotionsauslöser, argumentierten Cannon wie auch Schachter und
Singer, daß die körperlichen Erregungszustände viel zu unspezifisch seien, um eine
differenzierte Emotionsbestimmung zu ermöglichen. Cannons Kritik an James
konzentrierte sich auf die mangelhafte Differenziertheit der viszeralen Erregungszustände
und die Feststellung, daß auch dann ein Emotionsempfinden beobachtbar ist, wenn die
Nervenbahnen zwischen den Organen und dem Zentralen Nervensystem unterbrochen
sind. Diese Beobachtungen unterstützen Cannons These, die Emotionsentstehung im
Gehirn zu verorten, genauer im Thalamus. Die von Cannon219 entwickelte und von Philip
Bard weitergeführte Theorie basiert auf der Grundannahme, daß die im Zwischenhirn
„unter dem Sammelnamen Thalamus zusammengefaßten Nervenzellenanhäufungen“220
für die Emotionsentstehung verantwortlich sind, diese aber nur dann zum Tragen
kommen, wenn die Gehirnrinde (Kortex), die ihr in diesem Verständnis zugedachte
hemmende Kontrollfunktion nicht ausübt. Hier wird davon ausgegangen, daß bis auf zwei
Reizgruppen alle Reize, mit denen der menschliche Organismus konfrontiert wird, von der
Gehirnrinde verarbeitet werden. Nur intensive Reize und solche, die zu biologischen, d.h.
nicht konditionierten Reaktionen führten, könnten die Hemmwirkung des Kortex
überwinden und durch Reizweiterleitung die physiologischen Reaktionen erzeugen, die
als Emotionen wahrgenommen werden.221
219 Cannon, Walter B.: a.a.O. (1927) S. 119 ff. 220 Bösel, Rainer: Physiologische Psychologie. Einführung in die biologischen und physiologischen
Grundlagen der Psychologie. Berlin, New York 1981, S. 202. 221 Vgl. Bösel, Rainer: a.a.O. (1981) S. 203. Vgl. hierzu auch LeDoux, Joseph: Das Netz der Gefühle,
München, Wien, 2001, S. 87 ff.
66
Bösel weist darauf hin, daß diese Theorie der dem damaligen Zeitgeist entsprechenden
Doktrin (der er im übrigen auch heute eine breite Anhängerschaft zuspricht) folgt, „daß die
übergeordnete, spezifisch menschliche Großhirnrinde, die „niederen“ [subhuman-
animalischen] Funktionen zu beherrschen hat, d.h. im Regelfall hemmt“222.
Die Fortschritte in der Hirnforschung machte die Unhaltbarkeit der Cannon-Bard-Theorie
deutlich, nichtsdestotrotz ist sie nach Guttmann von größter Bedeutung, weil in ihr zum
ersten Mal die Bedeutung der Emotionen für die Erhaltung des organismischen
Gleichgewichts (Homöostase) angesprochen wurde. Die gegenwärtigen neuropsycho-
logischen Konzepte des Emotionserlebens rekurrieren auf dem Homöostase-Begriff mit
der grundlegenden Annahme, daß die Emotionen nur in ihrer Rolle als Regelsystem
befriedigend gedeutet werden können.223
Das limbische System
Außer Zweifel ist heute, daß unterschiedliche Hirnregionen am Emotionsprozeß beteiligt
sind. Als Zentrum gilt das Zwischenhirn mit dem dort lokalisierten limbischen System „eine
Ansammlung älterer und funktionell eng verbundener Kerne und Rindenbezirke“224, zu
denen Hippocampus, Septumkerne, Gyrus cinguli, Corpus amygdaloideum (Mandelkern),
Corpus mamillare, sowie von vielen Autoren auch der Hypothalamus gezählt wird. Alle
genannten Regionen sind paarig vorhanden, dadurch umschließt das limbische System
das Zwischenhirn wie ein Saum oder eine Borte (lat. limbus) und grenzt Hirnstamm von
Neokortex ab.225
Für die einzelnen Bestandteile wurden unterschiedliche Funktionen analysiert. Danach gilt
der Hippocampus als eine Art Integrationsstelle für die gesamten körperinternen Informa-
tionen, und erhält seine wichtige Rolle durch die Informationsverarbeitung aller Prozesse,
die aus dem Kontakt zwischen Individuum und Umwelt entstehen. Hierzu zählen Wahr-
nehmungen der Hauptsinnesorgane und Handlungsimpulse. Darüber hinaus ist der
Hippocampus wesentlich beteiligt an dem Vergleich ankommender und gespeicherter
Informationen sowie an der Struktierung der Informationsübertragung vom Kurzzeit- in
222 Ebd. S. 202. 223 Vgl. Goller, Hans: a.a.O., S. 62. 224 Ebd. S. 65. 225 Vgl. ebd. und Bösel, Rainer: a.a.O. S. 150. Zur detaillierten Darstellung über die Genese der Theorie des
limbischen Systems siehe LeDoux, Joseph: a.a.O., S. 80 ff.
67
das Langzeitgedächtnis. Personen mit Schädigungen bzw. Zerstörung des Hippocampus
sind nicht mehr in der Lage, neue Informationen in das Langzeitgedächtnis aufzunehmen.
Eine emotional-motivationale Funktion kommt den Mandelkernen durch ihre enge
Verbindung mit dem Hypothalamus und dem autonomen Nervensystem zu. Die
Mandelkerne sind nicht nur unerläßlich für Analyse, Wahrnehmung und Steuerung
viszeral-körperinterner Informationen, sondern wirken auch mit bei dem Erwerb und der
Aktivierung von Gedächtnisinhalten. Darüber hinaus erzeugt die Reizung der Amygdala je
nach Ausgangslage beim Menschen Wut und Angst oder Ruhe und Entspannung.226
Die Ausschaltung des Septums führt bei Ratten zu Hyperaktivität, Aggressivität, extremer
Erregbarkeit und Störung der Gedächtnisfunktionen. Bei Tieren mit Schädigungen des
Gyrus cinguli sind Lernprozesse für Vermeidungsreaktionen verlangsamt demgegenüber
deren Löschung beschleunigt, weiterhin zeigen sie veränderte Verhaltensweisen in
Furchtsituationen. Die mamillaren Kerne wirken mit bei Gedächtnisprozessen von
Menschen. Der Gedächtnisschwund chronischer Alkoholiker wird zurückgeführt auf die
durch den Alkoholmißbrauch verursachten Schädigungen der mamillaren Kerne und das
sie umgebende Gewebe.
Der Hypothalamus wird als oberstes Koordinationszentrum der vegetativ-efferenten
Steuerung angesehen, da in ihm alle dem autonomen Nervensystem übergeordneten
Zentren, die die wichtigsten Regulationsvorgänge des Organismus steuern, vereinigt sind.
Daß heißt, von hier aus werden, um beispielhaft nur einige zu nennen, Wasser- und
Elektrolythaushalt, Herzfunktion, Kreislauf, Atmung, Stoffwechsel, Wärmeregulation,
Wach- und Schlafrhythmus, Nahrungsaufnahme, Fortpflanzung und Sexualität geregelt.
Daneben konnten im Hypothalamus ergotrope (erregende) und trophotrope (beruhigende)
Zonen ausgemacht werden, die den beiden Anteilen des vegetativen Nervensystems
entsprechen, dem Sympathikus und dem Parasympathikus.227
226 Wie umfassend die Funktion der Amygdala bei der Emotionsgenese und der Speicherung von
Informationen ist, hat sich durch neueste neurobiologische Forschungsmethoden zeigen lassen. Dabei werden Signalstoffe, sogenannte Tracer in die zu untersuchende Hirnregion injiziert, die von den Neuronen aufgenommen und bei der Reizweiterleitungen mittransportiert werden. „Mit diesem Verfahren können die einzelnen Fasern der Neurone sichtbar gemacht werden. Da Informationen nur über Fasern von einem Teil des Gehirns zum anderen gelangen könne, läßt sich an den Faserverbindungen ablesen, wohin die in einem Teil verarbeitete Information anschließend wandert.“ LeDoux, Joseph: a.a.O., S. 167.
227 Vgl. Goller, Hans: a.a.O.: S. 66 ff. und Bösel, Rainer: a.a.O.: S. 147 ff.
68
Zweifelsfrei handelt es sich bei den hier aufgeführten Aspekten nur um einen Bruchteil der
jeweiligen Funktionen der differenzierten Zwischenhirnregionen. Die Erforschung der
Funktionsbreite jeder einzelnen Region gestaltet sich jedoch schwierig, da die gleiche
elektrische Reizung definierter limibischer Areale situationsabhängig unterschiedliche
Reaktionen hervorruft. Zwar sind im groben die Verbindungen zwischen den einzelnen
Hirnregionen sowie deren Informationsweitergabe auszumachen, der letztendliche Nach-
vollzug eines genauen Schaltplanes sowie „die funktionelle Bedeutung der zahlreichen
Regelschleifen läßt sich aus den anatomischen Beziehungen wohl grundsätzlich nicht
ableiten. Sie entstehen sicherlich in der Evolution (und im mikroskopischen Bereich auch
ontogenetisch) zunächst ‚zufällig’ und bleiben erhalten, sofern sie sich bewähren oder
zumindest nicht stören“228.
Viele der bisherigen Erkenntnisse bezüglich der Teilhabe des limbischen Systems an dem
Emotionsprozeß wurden in Tierversuchen gewonnen durch Entfernung, (Teil-)Schädigung
oder durch Reizung differenzierter Hirnregionen. Die berechtigten Zweifel an der Über-
tragbarkeit tierpsychologischer Erkenntnisse auf den Menschen können insoweit ent-
kräftet werden, als daß die beim Menschen bei chirurgischen Eingriffen durchgeführten
Reizungen spezieller Regionen im Zwischenhirn Emotionen wie Ärger, Furcht oder
sexuelle Lust auslösen. Reizungen der Hirnoberfläche dagegen erzeugen wohl Wahr-
nehmungen, aber keine emotionalen Empfindungen.
Welche Bedeutung kommt dem limbischen System zu: Als Hauptmerkmal wird ihm eine
Mittlerrolle zwischen innerem und äußerem Erleben zugesprochen, denn hier treffen
sowohl Informationen aus dem internen sensorischen Erleben wie die der äußeren
Wahrnehmung ein und werden dort verarbeitet. Die Vermittlerrolle kommt dadurch
zustande, daß die von außen kommenden Informationen auf der Folie des inneren
Erlebens be- und verarbeitet werden.
Deutlich wird durch die Erkenntnisse neuerer Hirnforschung, daß die Vorstellung der
Vorherrschaft kortikaler über subkortikale Strukturen nicht haltbar ist. Vielmehr entfalten
„die subkortikalen Strukturen (Formatio reticularis, Thalamus und Hypothalamus und das
limbische System) eine Eigendynamik [...], die den Kortex in seiner Funktionsweise bis zu
einem gewissen Grad festlegt und in seiner „Handlungsfreiheit“ einschränkt. Subkortikale
Strukturen bestimmen die Bewußtseinslage und die emotional-motivationale Färbung von
Erleben und Verhalten. Der über die Sinneskanäle in das Zwischenhirn geleitete Informa-
228 Bösel, Rainer: Biopsychologie der Emotionen. Studien zur Aktiviertheit und Emotionalität. Berlin 1986, S.
69
tionsfluß wird beim Transfer in den Kortex enorm vermindert. Die „höhere“ kortikale
Informationsverarbeitung ist auf dem Hintergrund der dem Kortex zur Verfügung
stehenden Informationen zu sehen.“229
Kortikale Prozesse230
Die Untersuchung der Rolle des Kortex am Emotionsgeschehen zeigte zunächst, daß den
beiden Hemisphären des Gehirns diesbezüglich unterschiedliche Funktionen zukommen.
Für dieses Phänomen finden sich in der Literatur die Bezeichnungen „Cerebrale
Asymmetrie“ oder „Lateralität“. Der Blick in die Geschichte der Hirnforschung macht
deutlich, daß schon im 19. Jahrhundert erste Hinweise für eine differentielle Funktionalität
beider Hirnhälften auftraten. Im Jahre 1861 veröffentliche Paul Broca seine Untersuchung
an 20 Patienten mit Sprachstörungen. Die Autopsie dieser Personen hat in jedem Fall
eine Schädigung in der linken frontalen Hirnregion erbracht. Untersuchungen an Patien-
ten, deren Corpus callosum (Balken), die Verbindung zwischen den beiden Hirnhälften,
vollständig durchtrennt war, die sogenannten Split-brain-Versuche, ergaben ausnahmslos
eine Spezialisierung der linken (dominanten) Hemisphäre für sprachliche und analytische
Verarbeitung. Die Verarbeitung visueller und räumlicher Beziehungen erfolgt dahingegen
in der rechten (nonverbalen) Hemisphäre.
Bezüglich der Verortung der Emotionsverarbeitung in den beiden Großhirnhälften werden
zwei Theorieansätze verfolgt: die Hypothese der funktionalen Spezialisierung und die
Hypothese der differentiellen Valenz. Die Hypothese der funktionalen Spezialisierung
propagiert für die rechte Hemisphäre eine stärkere Beteiligung am Emotionsgeschehen,
während der linken Hemisphäre eine emotionshemmende und -steuernde Funktion
zugesprochen wird. Nach der Hypothese der differentiellen Valenz sind beide Hemi-
sphären am Emotionsentstehungsprozeß beteiligt, dabei wird die linke Hirnhälfte als
funktional für die positiven Emotionen angesehen, die rechte Hirnhälfte für die negativen
Emotionen.231
17. Zit. nach Goller, Hans: a.a.O. S. 68. 229 Goller, Hans: a.a.O.: S. 75. Vgl. hierzu ausführlich: Ciompi, Luc: Die emotionalen Grundlagen des
Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik. 2., durchgesehene Auflage. Göttingen 1999, S. 45 ff. und besonders S. 93 ff.
230 Die nachstehende Darstellung erfolgt in Anlehnung an Goller, Hans: a.a.O. S. 76 ff. Vgl hierzu auch Davidson, Richard J.: Hemispheric Asymmetry and Emotion. In: Scherer, Klaus R.; Ekman, Paul: Approaches to Emotion. Hillsdale, London 1984, S. 39 – 57.
231 Zu einer kritischen Sicht bezüglich der funktionalen Spezialisierung siehe auch: Wolf, Gerald: Das Gehirn. Wege zum Begreifen. München 1992, S. 165.
70
Diverse unterschiedliche Untersuchungen an Kranken, wie auch an gesunden Menschen
haben eher die Hypothese der differentiellen Valenz bestätigt. Hier haben sich besonders
die frontalen Bereiche der beiden Hemisphären als (durch EEG-Aktivierung) emotional
ansprechbar herausgestellt. Dieses Ergebnis wird durch die weitreichenden anatomischen
Verbindungen zwischen Frontalkortex und limbischem System unterstützt. Besonders
erwähnenswert ist die aus den Untersuchungen hervorgegangene Erkenntnis, daß die
Aktivierung jeweiliger Hemisphären nicht direkt die Wahrnehmung emotionaler Reize
und/oder den Emotionsausdruck widerspiegelt, sondern das Emotionserleben, d.h. in
diesen Hirnbereichen ist die kognitive Verarbeitung des Emotionsprozesses zu verorten.
Die bisherige Darstellung macht den engen Zusammenhang zwischen Körperprozessen
und Emotionserleben deutlich. Hier wird jedoch auch deutlich, daß die Trennung der
peripheren und zentralen Prozesse bei der Emotionsauslösung fragwürdig ist. Vor dem
Hintergrund der nach den neurobiologischen Forschungsergebnissen berechtigten
Annahme, daß dem limbischen System eine Mittlerrolle bei der Wahrnehmungsver-
arbeitung zukommt, lassen sich die von James bzw. Lange postulierten viszeralen
Erscheinungen beim Emotionserleben erklären. Durch seine Funktion der Informations-
aufnahme, -abgleichs und -speicherung und seine enge Verbindung mit dem autonomen
Nervensystem, welches die Körperprozesse steuert, erscheint die Annahme berechtigt,
daß einerseits vom limbischen System ausgehend als Reaktion einer Wahrnehmungs-
information Körperprozesse initiiert werden, die dem Bewußtsein erst quasi in Form einer
Rückmeldung zugänglich sind und dann als Gefühl interpretiert werden. Problematisch ist
jedoch gerade vor dem Hintergrund neurobiologischer Befunde zur Emotionsgenese die
von James und Lange gleichermaßen vertretene Ansicht, daß alle emotionalen
Reaktionen auf bestimmte Reize genetisch vorbestimmt seien, vielmehr konnte hier
deutlich gemacht werden, daß emotionale Reaktionen auf bestimmte Umweltgegeben-
heiten gelernt werden.232
Daß die situationsabhängig unterschiedlichen Körperprozesse eine Erklärungsmöglichkeit
für die Entstehung von Gefühlen sind, ist nicht von der Hand zu weisen, jedoch kann es
nicht die einzige sein. Wie steht es bspw. mit Prüfungsängsten, die vor einer Prüfungs-
situation entstehen, oder dem Schamgefühl, das auftritt, nachdem der peinliche Fehler
bewußt wurde, oder die Vorfreude auf ein in der Zukunft stattfindendes Ereignis. Hier
sorgen nicht Reaktionen auf Wahrnehmungen von tatsächlichen Gegebenheiten, sondern
232 Vgl. LeDoux, Joseph: a.a.O. (2001), S. 152 ff.
71
allein bewußte Denkprozesse für die Auslösung eines Gefühlszustandes. Bei den
vorstehend dargestellten Theorien aber handelt es sich in allen Fällen um Gefühlszu-
stände, die aus empirischen Gegebenheiten erwachsen, d.h. ein großer Bereich der
möglichen Auslöser für Gefühlszustände wird nicht erfaßt. In wieweit in der Psychologie
diese Teilbereiche Berücksichtigung finden, wird noch zu klären sein. Zunächst finden
jedoch die psychologischen Theorieansätze, die sich mit den durch Gefühle ausgelösten
Verhaltensweisen auseinandersetzen, nähere Betrachtung.
3.3.3.2 Die Verhaltenskomponente des Emotionserlebens
3.3.3.2.1 Evolutionstheoretische Ansätze
Gefühle initiieren, beeinflussen oder steuern Verhaltensweisen und finden ihren Ausdruck
vor allem in Mimik und Gestik und Körperhaltung. Diese Evidenzen haben die Frage
aufgeworfen, welche Rolle Gefühle in der alltäglichen Lebensbewältigung spielen, ob sie
möglicherweise sogar überlebensnotwendig sind. Mit der Untersuchung der genetischen
Bedingtheit der emotionalen Ausdruckserscheinungen gilt Charles Darwin233 als Begrün-
der der evolutionsbiologischen Ansätze, die die Klärung der Funktionalität von Emotionen
bzw. deren Anpassungswert focussieren.
Die evolutionsbiologischen Forschungsansätze variieren in ihren Grundannahmen und
daher in ihrem Erklärungswert, was nicht nur zu Differenzen innerhalb dieser Disziplin
führt, von manchen Autoren werden die Ausgangsvoraussetzungen grundsätzlich in
Frage gestellt. Diese Kritik fußt auf der Tatsache, daß die Rekonstruktion der Emotions-
entwicklung und damit deren Funktionalität nur anhand von Veränderungen der Hirn-
strukturen und/oder Verhaltensweisen möglich wäre, archäologische Funde darüber aber
kaum Aufschluß geben. Daher ist man zum Nachvollzug einzelner Entwicklungsschritte
nahezu ausschließlich auf den Tier-Mensch-Vergleich angewiesen. Daß diesem Vergleich
aufgrund spezieller intellektueller Fähigkeiten des Menschen Grenzen gesetzt sind, wurde
oben schon ausführlich erläutert.
Eine häufig gewählte Methode, die biologischen Wurzeln der Emotionen zu eruieren, ist
die Annahme von Basisemotionen. Anstelle einer ausführlichen Darstellung der einzelnen
233 Darwin, Charles: a.a.O.
72
Ansätze, welche im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich ist, wird die Diskussion um die
unterschiedlichen Erklärungsansätze und deren Problematisierung nachgezeichnet.234
Alle Ansätze postulieren eine genetische Ausstattung mit einer bestimmten Anzahl von
Basisemotionen, auch „primäre Emotionen“ genannt, die die Grundlage bilden für die
Entwicklung aller beim Menschen vorfindbaren Emotionsvariationen. Daß darüber hinaus
die Annahmen erheblich differieren, zeigt die Gegenüberstellung in der folgenden Tabelle.
„Die von McDougall, Plutchik, Tomkins, Izard und Ekman postulierten primären Emotionen
McDougall
Plutchik
Tomkins
Izard
Ekman
Furcht
+ + + + +
Ärger
+
+
+
+
+
Ekel1
+
+
+
+
+
Kummer/Traurigkeit2
[+]
+
+
+
+
Freude
-
+
+
+
+
Überraschung
-
+
+
+
+
Verachtung1
-
-
+
+
(+)3
Interesse
-
-
+
+
(+)
Scham
-
-
+
+
(+)
Schuld
-
-
-
+
(+)
Schüchternheit
-
-
-
+
-
Akzeptieren
-
+
-
-
-
Erwartung
-
+
-
-
-
Unterwürfigkeit
+
-
-
-
-
Zärtlichkeit
+
-
-
-
-
Staunen
+
-
-
-
-
Hochgefühl
+
-
-
-
-
(1) Für Tomkins [Tomkins, S.S.: Affect, imagery, consciousness. Volume II. The negative affects. New York 1963; Tomkins S.S. & McCarter R.: What and where are the primary affects? Some evidence for a theory. Perceptual and Motor Skills, 18, 1964, S. 119 – 158] stellten Verachtung und Ekel ursprünglich nur Intensitätsvariante einer einzigen primären Emotion dar. Später hat Tomkins [Tomkins, S.S.: Affect as amplification: Some modifications in theory. In: Plutchik, R. & Kellermann H. (Eds.): Emotion: Theory, research,and experience. Vol. 1, New York 1980, pp. 141 – 164] beide als voneinander verschiedenen primäre Emotionen beschrieben.
(2) Für Plutchik [Plutchik, R.: Emotions and their vicissitudes: Emotions an psychopathology. In: Lewis, M. & Haviland, J.M. (Eds.): Handbook of emotions New York 1993, pp. 53 – 66, hier S. 59 ] sind Kummer und Traurigkeit nur verschiedenen Bezeichnungen für dieselbe primäre Emotion. Izard [Izard, C.E.: The psychologiy of emotions. New York 1991] und Ekman [Ekman, P.: Are there basic emotions? Psychological
234 Bei der folgenden Erörterung wird Bezug genommen auf: Meyer, Wulf-Uwe, Schützwohl, Achim,
Reisenzein, Rainer: Einführung in die Emotionspsychologie. Evolutionspsychologische Emotionstheorien. Band II. 2., korrigierte Auflage. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle. 1999, S. 157 – 176.
73
Review, 99, 1992, S. 550 – 553] führen nur Traurigkeit als primäre Emotion auf, Tomkins (a.a.O. 1963) nur Kummer. Izard (a.a.O., 1991, S. 193) meint allerdings, daß die Beschreibung der primären Emotion Kummer bei Tomkins seiner Beschreibung der primären Emotion Traurigkeit ähnelt. McDougall führt in seiner Social Psychology (1908/1960) Kummer noch nicht als primäre Emotion auf, wohl aber in späteren Werken (diese Emotion ist nach McDougall mit dem Instinkt des Hilfesuchenden [appeal] verknüpft).
(3) Bei den rund eingeklammerten Emotionen handelt es sich um solche, bei denen für Ekman (a.a.O. 1992) noch nicht hinreichend gesichert ist, ob es sich tatsächlich um primäre Emotionen handelt. Er bezeichnet sie daher als „mögliche“ (S. 193) primäre Emotionen. Drei weiter potentielle primäre Emotionen sind nach Ekman Ehrfucht (awe), Verlegenheit (embarassment) und Erregtheit (excitement). Bei Tomkins [Tomkins, S.S.: Affect, imagery, consciousness. Volume I. The positive affects. New York 1962 und am a.a.O. 1980] und Izard (a.a.O. 1991) ist Erregtheit keine eigenständige primäre Emotion, sondern nur eine besonders starke Form der primären Emotion Interesse. Bei Izard ist Verlegenheit keine eigenständige primäre Emotion, sondern eine Variante der primären Emotion Scham.“235
Diese Tabelle veranschaulicht eindrucksvoll die Unterschiede in der Bestimmung der
Basisemotionen. Zwar zählen alle fünf Autoren Furcht, Ärger, Ekel, Kummer/Traurigkeit
zu den primären Emotionen, die darüber hinaus bei Tomkins, Izard und Ekman
bestehenden Gemeinsamkeiten werden darauf zurückgeführt, daß Izard und Ekman
Schüler von Tomkins waren und daher stark von ihm (bzw. Darwin) beeinflußt wurden.
Doch auch die vorfindbaren Übereinstimmungen können nicht über die Unterschiede
hinwegtäuschen, die einerseits darauf zurückzuführen sind, daß Uneinigkeit in der
Begriffswahl für die gleiche Emotion herrscht, zum anderen, daß „verschiedene Autoren
unterschiedliche Kriterien zur Klassifikation einer Emotion als biologisch grundlegend
heranziehen“236. So sind es bspw. bei Tomkins, Izard und Ekman die emotionsspezi-
fischen Gesichtsausdrücke, die für die Basisemotionen maßgeblich sind, während
McDougall und Plutchik eine Basisemotion daran festmachen, daß dieser Gefühlszustand
mit einer spezifischen instinktiven Handlungstendenz verbunden ist. Daher stellt für
McDougall Zärtlichkeit eine Basisemotion dar, während aufgrund des fehlenden
spezifischen Gesichtsausdruckes für Tomkins, Izard und Ekman Zärtlichkeit nicht zu den
Basisemotionen zu zählen ist.
Für Meyer, Schützwohl und Reisenzein ist der Beweis der biologischen Grundlegung
einer Emotion notwendig gebunden an den zweifelsfreien Nachweis der für diese
Emotionen jeweils postulierten typischen Merkmale oder Kriterien. Die Autoren überprüfen
an fünf spezifischen Merkmalen, inwieweit diese sichere Befunde für Basisemotionen
liefern. Untersucht werden mimischer Ausdruck, peripher-physiologische Veränderungen,
Handlungstendenzen, Gefühlserleben und kognitive Einschätzungen.
235 Die Tabelle ist zusammen mit den Fußnoten entnommen aus: Meyer, Wulf-Uwe, Schützwohl, Achim,
Reisenzein, Rainer: a.a.O. (1999), S. 159. Die Literaturhinweise in den eckigen Klammern sind zur Sicherung der Quellenangaben vervollständigt worden.
236 Ebd. S. 161.
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Die umfassendsten Belege liegen zu der sehr intensiv erforschten Komponente des
Emotionserlebens, dem mimischen Ausdruck vor. Überkulturelle Ähnlichkeiten konnten für
den Ausdruck von Glück/Freude, Trauer, Ärger/Wut, Furcht, Ekel und Überraschung237
gefunden werden. Der aus diesen Untersuchungen geschlossene enge Zusammenhang
zwischen Gesichtsausdruck und Emotionserleben ist jedoch aus mehreren Gründen
kritisiert worden. Zum einen wird vom verhaltensökologischen Gesichtspunkt aus die
Frage gestellt, ob denn der Kommunikationsaspekt, der durch den Gesichtsausdruck
dargestellten jeweiligen emotionalen Befindlichkeit, in jedem Falle positiv zu bewerten sei.
Fridlund äußert diesbezüglich Zweifel, die er verdeutlicht an dem Beispiel, daß ein in einer
Kampfsituation gezeigtes ängstliches Verhalten den Gegner, welcher dadurch einen
leichten Sieg antizipiert, in seiner Angriffslust eher bestärken könne.238 Zum anderen
finden sich in neueren Untersuchungen sowohl Belege für Emotionserleben ohne den
dazugehörigen Gesichtsausdruck, wie Belege dafür, daß „’emotionale’ Gesichtsaus-
drücke, oder Komponenten davon, in Abwesenheit der jeweiligen Emotion auftreten
können“239. Darüber hinaus könnten auch Emotionen zu den Basisemotionen gezählt
werden, die nicht durch einen speziellen Gesichtsausdruck gekennzeichnet sind, wie
Mitleid oder Eifersucht.
Wie oben bereits dargelegt, ist auch die Klassifizierung von Emotionen durch peripher-
physiologische Veränderungen noch nicht ausreichend gelungen. Zwar haben Umfrage-
ergebnisse zu den körperlichen Symptomen von Emotionen ergeben, daß einige der
Basisemotionen mit ganz spezifischen Körperreaktionen verbunden werden, jedoch steht
der Nachweis noch aus, ob es sich hierbei um tatsächlich empfundene Körperreaktionen
handelt, oder ob die Berichte mehr die gelernten Emotionsempfindungsmuster spiegeln.
Wenn sich auch durch die Ergebnisse von zum Teil auch überkulturell angelegten Studien
für einige Emotionen bestimmte Handlungstendenzen nachweisen lassen, Furcht ist
danach bspw. häufig begleitet von einem Fluchtimpuls, während Ärger häufig mit der
Tendenz verbunden ist, den Gegner zu schädigen, so belegen nicht nur empirische
Studien, sondern vor allem auch die Alltagserfahrung, daß der hier von McDougall und
Plutchik postulierte enge Zusammenhang fragwürdig ist. Die Emotion Furcht könnte
ebensogut auch den Handlungsimpuls des „sich verstecken wollens“ auslösen oder je
nach Situationseinschätzung möglicherweise zum Angriff führen. Nachweislich sind
237 Vgl. ebd. S. 78 und die Ausführungen zu Ekman in dieser Arbeit S. 84 ff. 238 Vgl. Meyer, Schützwohl, Reisenzein: a.a.O. (1999), S. 81. 239 Ebd. S. 163.
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bestimmte Handlungsimpulse mehreren Emotion zuzuordnen, ebenso wie spezifische
Emotionen situationsabhängig unterschiedliche Reaktionen nach sich ziehen. Damit ist
der Versuch, Basisemotionen mit der Zuordnung von ganz spezifischen Handlungsten-
denzen zu fundieren, nicht haltbar.
Wie oben bereits angesprochen, lassen sich in bezug auf die körperlichen Veränderun-
gen, die mit dem Emotionsprozeß verbunden sind, keine konkreten Aussagen über das
tatsächliche Gefühlserleben machen, d.h. weder peripher-physiologische noch zentrale
Prozesse sind deutlich spezifischen Emotionen zuzuordnen.
Der Zusammenhang zwischen kognitiver Einschätzung und Basisemotionen wurde schon
von Descartes postuliert. Seiner Auffassung nach ist Furcht z.B. mit der Überzeugung
verbunden, daß ein unerwünschtes Ereignis eintritt, während Freude an die Überzeugung
gebunden ist, ein erwünschtes Ereignis träte ein. Die Berechtigung dieser Annahmen
konnte durch zahlreiche Studien bestätigt werden, da es jedoch für alle Emotionen
kognitive Einschätzungsmuster gibt, ist dies kein Beweis für Basisemotionen.
Im Hinblick auf die angeführten Kriterien muß - zumindest vom heutigen Stand der
Wissenschaft aus gesehen – die Bestimmung einer gewissen Anzahl von Emotionen als
primäre oder Basisemotionen als nicht hinreichend nachweisbar gelten. Weiterhin gilt es
zu bedenken, daß einer Emotion dann das Prädikat „primär“ zukommt, wenn sie auf keine
andere Emotion zurückzuführen ist, d.h. nicht weiter analysierbar sei. Berücksichtigt man
nun die in vielen Versuchen bestätigte Erkenntnis, daß die meisten Emotionen entweder
als lustvoll (Freude, Zärtlichkeit) oder unlustvoll (Ärger, Furcht, Wut) empfunden werden,
so liegt der Schluß nahe, „die genannten Basisemotionen als Varianten der grundlegen-
deren Gefühle Lust und Unlust aufzufassen“240. Dies muß als weiteres Indiz gewertet
werden für die mangelnde Beweislage bezüglich „primärer“ Emotionen.
An dieser Stelle sei ganz deutlich darauf hingewiesen, daß es sich um die kritische
Betrachtung der Ausgangsbedingungen der evolutionären Emotionstheorien handelt, die
über die Differenzierung von Basisemotionen die genetische Verankerung der
Emotionen nachzuweisen versuchen, die Schwierigkeiten einer solchen Beweisführung
sollte oben deutlich geworden sein.
240 Ebd. S. 169.
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Einen anderen Zugang zu dieser Thematik wählt Norbert Bischof241 ausgehend von einer
Kritik an dem der Psychologie zugrundeliegenden Biologieverständnis, welches insbeson-
dere Auswirkungen auf die emotionspsychologischen Theorien habe. Bezüglich der
Debatte um die primären Emotionen bemängelt er, daß von Voraussetzungen ausgegan-
gen würde, die er als „Grundsatz der Präformation“ bezeichnet und mit folgenden Worten
charakterisiert: „Biologische Merkmale sind ausschließlich genetisch bedingt und daher
angeboren. Wenn ein Merkmal nicht schon bei Geburt vorhanden oder später auch noch
durch Umwelteinflüsse modifizierbar ist, dann ist es nicht mehr (rein) biologischer
Herkunft.“242 Hier wird die mangelnde Berücksichtigung des individuellen Entwicklungs-
prozesses kritisiert, mit dem Hinweis darauf, daß dieser gekennzeichnet sei durch ein
Zusammenwirken von genetischer Ausstattung und Umweltbedingungen, wovon die
letzteren in Form von Stimulation und Alimentation (als Gesamt des durch die Umwelt
bereitstehenden Versorgungssystems) auf den Organismus einwirken und so mit der
genetischen Ausstattung interagieren. Unter diesen Umständen ist für Bischof die Klassifi-
kation einer bestimmten Anzahl von Emotionen als primäre nicht zulässig, da nicht von
einem ersten Erscheinungsbild auf die tatsächliche genetische Ausstattung geschlossen
werden könne. Bischof expliziert noch zwei weitere der Psychologie nach seinem Dafür-
halten fälschlicherweise zugrundeliegende Biologieverständnisse, den emergenistischen
Grundsatz und den energetischen Grundsatz. Der emergenistische Grundsatz bezeichnet
die Vorstellung, daß psychische Phänomene nur insoweit biologisch erklärbar sind, als sie
ihren Ausdruck in (peripher) physiologischen Erscheinungen finden. Bei einem Fehlen
dieses Nachweises sind außerbiologische Erklärungsmuster heranzuziehen.243 Der
energetische Grundsatz, der direkt zurückgeführt wird auf die galileische Denkweise,
bezeichnet das Verständnis der Biologie als eine Teildisziplin der Physik, was zur Folge
habe, daß qualitative Unterschiede als Epiphänomene von Energietransformationen
verstanden würden, wobei „Form“ nicht von Belang sei, denn die Erklärungsprinzipien
aller Naturwissenschaften seien „Kraft und Stoff“.244 Während die in dem emerge-
nistischen Grundsatz verbundene Kritik abzielt auf die aus diesem Verständnis
resultierende Leib-Seele-Debatte, bezieht sich die Kritik hinsichtlich des energetischen
Biologieverständnisses auf die u.a. von Schachter und Singer vertretene Ansicht,
Emotionen seien allein als „unspezifische Allgemeinerregung“ zu betrachten.
241 Bischof, Norbert: a.a.O 242 Ebd. S. 189. 243 Vgl. Bischof, Norbert: a.a.O. S. 190, 191. 244 Vgl. ebd. S. 192.
77
Unter Zurückweisung der von ihm eruierten falschen Biologieverständnisse skizziert
Bischof seine Vorstellung von einer biologischen Strukturlehre der Emotionen. Für ihn
sind Emotionen schon recht früh in der Stammesgeschichte entstanden. Es werden drei
phylogenetische Stufen unterschieden. In der untersten Stufe sind die Emotionen eine
Begleiterscheinung des Antriebsgeschehens, zu verstehen als eine Art Zustandsmelde-
system, die dem Organismus „die Thematik anstehender, aber vorerst eben noch nicht
umsetzbarer Antriebe qualitativ erfahrbar“245 macht. Dieses Zustandsmeldesystem steht in
engem Bezug zu einem niedrigen Fitneßpotential des Organismus, welches hier als Streß
bezeichnet wird, und auf ganz spezifische Gründe wie bspw. Nahrungsmangel,
Rivalendruck etc. zurückzuführen ist. Die hiermit in Verbindung stehenden Ausdrucks-
bewegungen sind noch von keinerlei Nutzen. Bedeutung im kommunikativen Sinne
erhalten diese erst in der zweiten phylogenetischen Stufe, in der das Sozialverhalten
überlebensnotwendig ist. Hier gilt es über die Wahrnehmung der motivationalen Befind-
lichkeit der Gruppenmitglieder eine Art Verhaltenssynchronisation zu erlangen, denn
„[u]nkoordinierte Antriebshandlungen der Individuen würden ja schnell die Gruppe
sprengen“246. Aufgrund dieser Notwendigkeit unterliegt die Ausdruckswahrnehmung bei
sozialen Tieren einem eigenen Selektionsdruck. Die phylogenetische Selektion von
Ausdrucksbewegungen, die als „Ritualisierung“ bezeichnet wird, erfolgt jedoch in Form
einer Anpassung der Ausdrucksdetektoren des Senders an die Eindrucksdetektoren des
Empfängers. Nach Bischof ist die menschliche Ausdrucksform der Emotionen zu einem
beträchtlichen Anteil ritualisiert und vor allem deshalb für grundlagentheoretische und
diagnostische Zwecke eher ungeeignet, weil die von der Natur kommunikativ angelegten
Ausdrucksfelder keineswegs den menschlichen Emotionsreichtum gleich gut abdecken.
Erst auf der dritten Stufe der phylogenetischen Entwicklung, dem Anthropoidenniveau,
erreichen die Emotionen eine umfassende Bedeutung. Der diese Stufe kennzeichnende
immense Zuwachs an kognitivem Vermögen beinhaltet auch die Phantasiefähigkeit, hier
verstanden als grundlegende Potenz, Reiz-Reaktions-Verhalten abzulösen. Diese Potenz
ermöglicht, Handlungsalternativen auszudenken, zu durchdenken und gegeneinander
abzuwägen. Die Rolle, die der Emotionalität dabei zukommt, ist die Entkräftung
anstehender Antriebe zugunsten der Antizipation künftiger, jetzt noch gar nicht aktueller
eigener Antriebslagen. Durch die mit Rückgriff auf Freud als „sekundärprozeßhaft“
bezeichnete „Entmächtigung aktueller Antriebslagen zugunsten vorweggenommener
Möglichkeiten wird der Mensch dann endgültig und gleichsam konstitutionell emotio-
245 Bischof, Norbert: a.a.O. S. 199. 246 Ebd. S. 200.
78
nalisiert, die imperative Macht der Triebhaftigkeit transformiert sich bei ihm endgültig in
die Unverbindlichkeit eines emotionalen Appells“247.
Bischof wendet sich gegen die weitverbreitete Ansicht, bei Menschen sei ein „Instinkt-
verlust“ zu verzeichnen, vielmehr sei in der Evolutionsreihe Neues hinzugekommen. Die
Attraktivität des Konzepts der „sekundären“ Emotionen erklärt sich für ihn daraus, daß der
emotionale Bereich des Menschen sich gegenüber den Vorformen der Tiere signifikant
erweitert hat. Tatsächlich scheint ihm die Annahme plausibel, „daß dem Menschen in
Abstimmung mit seinen kognitiven Neuerwerben auch neue artspezifische Motive
zugewachsen sind, die sich phylogenetisch aus einfacherem Ausgangsmaterial heraus-
differenziert und verselbständigt haben. ‚Sekundär’ kann man diese dann insofern
nennen, als sie – in Anbetracht der eben diskutierten Möglichkeiten zu freier Handlungs-
gestaltung – von vorn herein gar nicht mehr mit antriebsspezifischen, voll funktions-
tüchtigen Erbkoordinationen ausgestattet wurden. Nur noch die Ausdrucksmuster ihrer
phylogenetischen Stammformen haben sie als funktionsloses Relikt beibehalten.“248
Diese Hypothese erläutert Bischof an den Emotionen, die mit der Phantasietätigkeit im
Sinne einer Problembewältigungsinstanz im Zusammenhang stehen: die mit einem
Lächeln verbundene Freude nach der Lösung eines Problems, der Ärger beim Mißlingen
eines Handlungsvorsatzes und andererseits der Triumph bei der Bewältigung einer in
Angriff genommenen Schwierigkeit und weiterhin die Traurigkeit beim Versagen - nach
Bischof wurden all diese „phantasiesteuernden Emotionen durch Transformation aus dem
Repertoire des sozialen Verhaltens gewonnen“249. Ebenfalls aus dem sozialen Kontext
entstanden und daher als sekundäre Emotionen zu klassifizieren sind Hoffnung und
Befürchtung. Während Hoffnung mit Vertrauen in Verbindung steht und somit im Zusam-
menhang mit der Sicherheitsthematik steht, rekurriert Befürchtung auf die Furcht, die
Fremden entgegengebracht wird. Bischof betont, daß die Rückführung der sekundären
Emotionen auf ihren ursprünglich sozialen Bezug dadurch erschwert wird, daß „in allen
genannten Neuerwerben das aus älteren Quellen Erborgte gewissen Transformationen
unterworfen wird und dabei auch seinen erkennbaren Sozialbezug verliert“250.
Zusammenfassend richtet sich Bischof gegen die Differenzierung von „primären“ und
„sekundären“ Emotionen in dem Verständnis, daß nur die ersteren genetisch verankert
247 Ebd. S. 202. 248 Ebd. 249 Ebd. 250 Ebd. S. 202, 203.
79
seien und auf einer phylogenetischen Entwicklung beruhten. Nach seinem Dafürhalten
sind alle Emotionen im genetischen Bauplan angelegt, nicht nur Wohlbefinden und
Unbehagen, Ekel und Frucht, auch Scham und Stolz, ja sogar religiöse Ergriffenheit.
Darüber hinaus wendet sich Bischof gegen die Ansicht, Emotionen seien zu verstehen als
unspezifische Allgemeinerregung, dadurch daß er ihnen eine semantische Bedeutung
zuweist. Durch sein Verständnis von Kognition als „jeden Prozeß, der potentiell ‚wahre
Abbildungen’ von Umweltmerkmalen liefert [...]“, ist jede „[...] Wahrnehmung eine kognitive
Aktivität, und Emotionen eben auch“251. An dem Beispiel, daß das Verspüren von Angst
auf eine Wahrnehmung eines Phänomens als potentiell gefährlich hinweist, expliziert
Bischof: „Die Gefühle sind weder prä- noch postkognitiv, sie sind selbst kognitiv.“252
Bischofs Ausführungen hinsichtlich des Zugangs der Emotionspsychologien zur bio-
logischen Grundlegung der Emotionen, sowie seine eigene Skizze diesbezüglich wurden
psychologischerseits253 intensiv diskutiert. Wohl fand die Kritik an dem in der eigenen
Disziplin herrschenden Biologieverständnis in weiten Teilen Anerkennung, jedoch wurde
die rigide Verallgemeinerung sowie die auf dieser Folie erfolgte Beurteilung der einzelnen
emotionspsychologischen Konzepte aufgrund der Verengungen bei den Rezeptionen der
jeweiligen Positionen berechtigterweise abgelehnt254. Beanstandet wurden vor allem die
Bischofs eigener strukturbiologischen Skizze zugrundeliegenden Begriffsdefinitionen von
Kognition und Motivation. Nach Dörner255 spiegelt die in dem kritisierten Ansatz verwen-
dete Definition von Kognition nicht nur das allgemeine Begriffswirrwarr in den unterschied-
lichen Konzepten, vielmehr gelinge Bischof diesbezüglich durch die von ihm gewählte
Bestimmung der Kognition als jeden Prozeß, der potentiell wahre Abbildungen von Um-
weltmerkmalen liefert, noch eine Steigerung. In Dörners Verständnis ist diese Bestim-
mung einerseits zu eng und andererseits zu weit. Zu eng ist sie insofern, als daß
Kognition allein mit Abbildungen von Umweltmerkmalen in Verbindung gebracht werden
und damit die intrapersonalen Zuständlichkeiten256 keine Berücksichtigung finden, zu weit
251 Ebd. S. 195. 252 Ebd. 253 Zur Kritik siehe: Dörner, Dietrich: Emotion, Kognition und Begriffsverwirrungen: Zwei Anmerkungen zur
Köhler-Vorlesung von Norbert Bischof. Psychologische Rundschau 40, 1989, S. 206 – 209; Scherer, Klaus: Von den Schwierigkeiten im Umgang mit den Emotionen oder Terminologische Verwirrungen. Psychologische Rundschau 40, 1989, S. 209 – 216; Schneider, Klaus: Norbert Bischof zur Lage der Emotionsforschung oder der Kampf gegen Strohpuppen. Psychologische Rundschau 40, 1989, S. 216 – 218; Zajonc, R.B.: Bischofs gefühlsvolle Verwirrungen über die Gefühle. Psychologische Rundschau, 40, S. 218 – 225.
254 Siehe hierzu besonders: Scherer, Klaus: a.a.O. 1989, S. 209 – 221. 255 Dörner, Dietrich: a.a.O. (1989), S. 206 – 209. 256 Diese Kritik Dörners ist insofern unberechtigt, als daß Bischof von der Abbildung der Umweltmerkmale im
Organismus spricht, was sie damit als intrapersonale Zuständlichkeit ausweist. Wäre dem nicht so, könnte überhaupt kein emotionaler Zustand wahrgenommen werden.
80
erscheint sie dadurch, daß prinzipiell jede Tätigkeit zum „kognitiven Akt“ würde. Die Aus-
wirkungen des unterschiedlichen und teilweise auch inflationären Gebrauchs des
Kognitionsbegriffs, der jeden Wahrnehmungsakt zur Kognition macht, lasse sich bei
Bischof besonders deutlich machen. Für ihn sei (wie oben ausgeführt) die Angst natürlich
eine Kognition. Im Hinblick darauf stellt Dörner berechtigt die Frage: „was aber wäre
gemäß der Bischof’schen Definition keine?“257. Was Dörner damit andeutet, aber nicht
explizit ausführt, ist die „Ungenauigkeit“ in dieser Definition, denn einerseits sind
Kognitionen der Prozeß, der „’wahre’ Abbildungen von Umweltmerkmalen liefert“ und
andererseits ist „auch bereits jeder [...] Prozeß bis hinunter zur Wahrnehmung eine
kognitive Aktivität, und die Emotionen eben auch“258. Damit setzt Bischof Emotionen mit
Kognition gleich, was deutlich wird mit der oben bereits zitierten Feststellung: „Die
Gefühle sind weder prä- noch postkognitiv, sie sind selbst kognitiv.“259
Problematisch ist ebenfalls Bischofs Gleichsetzung der Begriffe Motivation und Emotion.
Dörners berechtigter Einwand lautet, daß man durch eine Gleichsetzung aus zwei
Begriffen einen macht, was jedoch erst dann erfolgen sollte, wenn man tatsächlich sicher
sei, daß die beiden auch den gleichen Sachverhalt bezeichnen.260 Hierzu gilt weiterhin
festzustellen, daß im Hinblick auf Bischofs Gleichsetzung der Begriffe Kognition und
Emotion, die konstatierte Identifikation der Begriffe Emotion und Motivation logisch
bedeutet, daß Kognition gleich Motivation sei. Es liegt auf der Hand, daß eine solche
Simplifizierung eine genauere Untersuchung der Emotionen eher erschwert.261
Ungeachtet der Kritikpunkte sind Bischofs Überlegungen jedoch durchaus bedenkens-
wert. Bezüglich der erwähnten Ungenauigkeiten und Vereinfachungen gilt zu berück-
sichtigen, daß die Skizze Teil eines Vortrages ist, ein Rahmen also, in dem detaillierte
Ausführungen eher unzuträglich sind. Demgegenüber liegt die Hauptproblematik m.E. in
dem von Bischof vertretenen Biologieverständnis. An den von ihm eruierten Unzuläng-
lichkeiten bezüglich der biologischen Grundverständnisse in der Psychologie wird
deutlich, daß er davon ausgeht, alle in der Natur vorkommenden Phänomene seien
biologisch erklärbar. Es kann und soll hier nicht bestritten werden, daß diese Möglichkeit
besteht, jedoch liegt die Beweislast dafür bei den Biologen. Fraglich erscheint jedoch,
257 Dörner, Dietrich: a.a.O. (1989), S. 207. 258 Bischof, Norbert: a.a.O., S. 195. 259 Ebd. 260 Vgl. Dörner, Dietrich: a.a.O. (1989), S. 208. 261 Nicht berücksichtigt wird in diesem Zusammenhang, daß Bischof zwischen Rationalität und Kognition
unterscheidet (Bischof, Norbert: a.a.O. S. 195), jedoch bringt auch diese Unterscheidung keine Klarheit, da nicht näher auf die Differenzierung zwischen Kognition, Rationalität und Emotion eingegangen wird.
81
inwieweit es im Hinblick auf die einer Disziplin notwendig zugrundeliegenden
Forschungsparadigmata, die immer eine gewisse Perspektive vorgeben und somit
eingrenzend wirken, überhaupt möglich ist, Erklärungsmuster für alle „natürlichen“
Phänomene zu finden.262 Die Schwierigkeit zeigt sich in den für eine solche Vorgehens-
weise nahezu unerläßlichen Verallgemeinerungen und Simplifizierungen bzw.
„Verwischungen“ in den Begriffsverständnissen, die oben schon diskutiert wurde.263
Grundsätzliche Kritik übt Dieter Ulich264, ausgehend von der Überprüfung der Zulässigkeit
der Ausgangsfragestellung phylogenetischer Emotionstheorien, an Forschungstätigkeiten
unter funktionalem Interesse. Aufgrund des hier zugrundeliegenden biologischen Dogma-
tismus sieht er kaum die Möglichkeit gegeben für empirische Untersuchungen der „Ent-
wicklungen und Erscheinungsformen von Emotionen als historisch und sozio-kulturell mit-
bedingte Erlebnis-Formen und individuell-einzigartige Erlebnis-Qualitäten“265. Mit Bezug
auf Robert Plutchiks266 Evolutionstheorie kritisiert er die Vorgehensweise, wie die
Überlebensfunktionalität der Emotionen nachgewiesen wird. Ulich zeigt an einer von
Plutchik aufgestellten Tabelle zur Darstellung der evolutionsbiologischen Entwicklung von
Emotionen, daß dieser von der behaupteten „prototypischen“ Funktion auf die „Natur“ der
Emotion schließt. Beispielhaft ist hier eine solche Prozeßkette wiedergegeben267:
Reiz-Ereignis
Erschlossene
Kognition
Gefühl
Verhalten
Wirkung
....
2. Hindernis
......
„Feind“
Ärger, Wut
Beißen, Schlagen
(Angriff)
Zerstören
Der Tabellenausschnitt verdeutlich, mit welchen Konstruktionen gearbeitet wird. Ulich
weist darauf hin, daß die Annahmen Plutchiks kaum empirisch belegt sind, bzw. in vielen
262 Vgl. hierzu: Vollmer, Gerd: Die Wissenschaft vom Leben. Das Bild der Biologie in der Öffentlichkeit. In:
Ders.: Biophilosophie. 1995, S. 3 – 32 und ders.: Die Grenzen der Biologie. Eine Übersicht. In: Ders. a.a.O. S. 33 – 58.
263 Vgl. hierzu auch die Ausführungen in „3.2 Die Problematik der Begriffsbestimmung“, S. 36. 264 Ulich, Dieter: a.a.O., S, 125. Siehe hierzu auch oben S. 54 f. 265 Ulich, Dieter: a.a.O., S. 43. 266 Vgl. hierzu: Plutchik, Robert: A general psychoevolutionay theory of emotion. In: Plutchik, R. u. Kellerman,
N. (Hrsg): Theories of emotion. New York 1980 , S. 3 – 33. 267 Plutchik, Robert: a.a.O. S 16. zit nach Ulich, Dieter: a.a.O. S. 131.
82
Fällen überhaupt nicht belegbar seien. So behaupte dieser, daß ebenso wie die
hierarchische Ordnung niederer Tiere, die in menschlichen Gesellschaften vorfindbaren
hierarchischen Ordnungen zwischen bspw. Alters-Beziehungen, Beziehungen zwischen
den Geschlechtern und sozialen und ökonomischen Schichten naturgegebene Phäno-
mene seien. Postulate dieser Art führten nach Ulich dazu, daß „Menschen in höheren
Positionen der Hierarchie (also z.B. Männer und Angehörige höherer Schichten ) [...] zu
Dominanz [neigen] und z. B. zur Emotion Ärger, während Menschen in der unteren
Gegend der Hierarchie (also z. B. Frauen und Leute aus unteren Schichten) eher Unter-
würfigkeit und Angst zeigen“268.
Wenn auch Ulichs Kritik in diesem Zusammenhang volle Berechtigung zugesprochen
wird, so ist doch sein Vorgehen, von der „eigenwilligen“ Arbeitsweise des Vertreters einer
Disziplin auf die Methoden und damit die Sinnhaftigkeit der gesamten Forschungsrichtung
zu schließen269, zweifelhaft. So lautet sein Hauptkritikpunkt diesbezüglich, daß die
erbbiologischen Evolutionstheorien der Emotion häufig auf einem „teleologischen Irrtum“
beruhen, indem von „der (plausiblen) Notwendigkeit zum Überleben bzw. zur Lebens-
erhaltung [...] auf die Existenz ganz bestimmter lebenserhaltender Prozesse geschlossen
[wird], oder kürzer: Von der Denknotwendigkeit wird auf die Existenznotwendigkeit
geschlossen“ 270. Als Konsequenz daraus sieht Ulich, daß durch die Vorannahme, Emo-
tionen stünden in einem Zweck-Mittel-Zusammenhang, die Bedeutung der individuell-
lebensgeschichtlichen Emotionsentwicklung ausgeblendet würde. Dieses Monitum ist
sicherlich nicht von der Hand zu weisen, jedoch sollte bedacht werden, daß es sich um
einen Teilbereich einer Forschungsdisziplin handelt, in dem einer speziellen Fragestellung
nachgegangen wird. Um bezüglich des evolutionären Forschungsinteresses einen
Erkenntnisgewinn zu erlangen, ist es unerläßlich, den subjektiven Erlebensaspekt
zunächst auszuklammern und den Fokus auf überindividuell vorfindbare Phänomene der
Emotionen zu richten.271 Natürlich ist es dann wichtig, die so gewonnenen Erkenntnisse in
einen weiteren Kontext zu stellen. Die hohe Bedeutung einer innerdisziplinären und inter-
268 Ulich, Dieter: a.a.O. S. 132. 269 Vgl. ebd. S. 132 ff. 270 Ebd. S. 134. 271 Zu evolutionstheoretischen Überlegungen bezüglich der Funktion der Emotionen im Zusammenhang mit
der Moralentwicklung siehe auch: Frank, Robert H.: Die Strategie der Emotionen. (Passion within Reason), München 1992. Zu den Möglichkeiten und Grenzen des Erkenntniswertes evolutionstheoretischer Forschung siehe auch: Spaemann, Robert: Sein und Gewordensein. Was erklärt die Evolutionstheorie? In: Spaemann, Robert, Koslowski, Peter; Löw, Reinhard: Evolutionstheorie und menschliches Selbstverständnis. Zur philosophischen Kritik eines Paradigmas moderner Wissenschaft. CIVITAS Resultate Band 6. Weinheim 1984, S. 73 – 91.
83
disziplinären Zusammenarbeit gerade in Bezug auf die Emotionsforschung hat ja bereits
Scherer hervorgehoben272.
Darüber hinaus zeigen nach Goller273 die Ergebnisse der evolutionären Emotions-
forschung die Tragweite dieses Erkenntnisinteresses. Im Vordergrund steht die positive
adaptive Funktion der Emotionen, die darauf gründet, daß Emotionen durch die Entkop-
pelung von starren Reiz-Reaktions-Folgen eine Verhaltenflexibilität ermöglichen, wodurch
die Reaktionsanpassung in wechselnden Umwelten optimiert wird.274 Goller konstatiert in
seinem Resümee zu den evolutionsbiologischen Ansätzen eine Übereinstimmung mit den
neurophysiologischen Grundlagen der Emotionen, denn in beiden werden
Extrempositionen bezüglich einer Dichotomie von Emotion und Kognition vermieden.
3.3.3.2.2 Ausdrucksgeschehen als Komponente des Emotionserlebens
Dem das Emotionserleben begleitende Ausdrucksgeschehen kommt ungeachtet der im
Zusammenhang mit den Basisemotionen diskutierten Kritikpunkte im sozialen Kontext
eine wichtige kommunikative Funktion zu. Nicht nur Mimik und Gestik, auch Körper-
haltungen spiegeln emotionale Befindlichkeiten, dennoch konzentrieren sich die meisten
Forschungen in diesem Bereich auf das Ausdrucksgeschehen im Gesicht. Dieser
Umstand ist einerseits darauf zurückzuführen, daß sich aus den wenigen Studien, bei
denen das gesamte Körpergeschehen mit in die Bewertung des emotionalen Zustandes
einbezogen wurde, zeigen lies, daß die höchste Urteilsgenauigkeit erreicht wird, wenn das
Gesicht zu erkennen ist. Andererseits können im Gesicht aufgrund der hochkomplexen
und differenzierten Muskulatur eine Vielzahl von unterschiedlichen Emotionen dargestellt
werden.275 Wie oben bereits erwähnt, konzentrierten sich Paul Ekman und Carrol Izard
besonders auf die Untersuchung des gesichtsmimischen Ausdrucks von Emotionen.276 Die
Ergebnisse werden im folgenden zusammenfassend dargestellt.
272 Vgl. oben S. 49. 273 Vgl. hierzu Goller, Hans: a.a.O. S. 123. 274 Vgl. hierzu auch: Schneider, Klaus; Dittrich, Winand: Evolution und Funktion von Emotionen. In: Scherer,
Klaus R. (Hrsg.): Enzyklopädie der Psychologie. Themenbereich C: Theorie und Forschung, Serie IV: Motivation und Emotion, Band 3: Psychologie der Emotion. Göttingen, Toronto, Zürich 1990, S. 41 – 114.
275 Vgl. Goller, Hans: a.a.O. S. 124. 276 Zum Ausdruck der Emotionen auch in Stimme und Körpermotorik siehe Scherer Klaus R., Wallbott, Harald
G.: Ausdruck von Emotionen. In: Scherer, Klaus R. (Hrsg.): Enzyklopädie der Psychologie. Themenbereich C: Theorie und Forschung, Serie IV: Motivation und Emotion, Band 3: Psychologie der Emotion. Göttingen, Toronto, Zürich 1990, S. 345 – 422.
84
Paul Ekmans Theorie der Emotionen277
Nach Ekmans eigenen Angaben stellt seine „neurokulturelle“ Theorie der Emotionen eine
Antwortmöglichkeit dar für die Fragen, was Emotionen sind, und wodurch wir ihr Auftreten
erkennen können. Die Bezeichnung „neurokulturell“ wurde gewählt, um den dieser
Theorie zugrundeliegenden Zusammenhang zwischen der biologischen und der sozialen
Komponente der Emotionen zu erfassen.278
In der Bestimmung der Emotionen als kurzlebige, komplexe Reaktionen, die oft schnell
ausgelöst werden und schwer zu kontrollieren sind, werden diese abgegrenzt von
Stimmungen als länger andauernde Gefühlszustände (z.B. Niedergeschlagenheit,
Euphorie), Persönlichkeitsmerkmale (Melancholie, Feindseligkeit) und emotionale Störun-
gen (Depression, Angstpsychose).279 Die Komplexität ergibt sich daraus, daß Gefühle auf
unterschiedliche Reaktionssysteme des Organismus einwirken, wie bspw. Skelettmusku-
latur, Gesichtsmimik, Gefäßmuskulatur, Muskelspannung oder die Stimmmodulation,
jedoch nur einige dieser Wirkungskomponenten sind direkt beobachtbar.
Für Ekman280 sind verschiedene Mechanismen am Emotionsprozeß beteiligt: ein Affekt-
programm, ein Bewertungssystem, Auslöser, Darbietungsregeln und das Bewältigungs-
handeln (Coping). Die Komplexität und Organisation der verschiedenen am Emotions-
geschehen beteiligten Reaktionssysteme setzt notwendig ein Affektprogramm voraus,
welches einerseits eine genetische Grundlage hat, andererseits jedoch von der Erfahrung
beeinflußt wird. Angenommen wird, daß die direkt nach der Geburt in Erscheinung
tretenden körperlichen Reaktionen zum größten Teil genetisch bedingt sind. Dieses
angeborene Affektprogramm unterliegt im Laufe des Lebens aufgrund von Lernprozessen
bezüglich der Bewältigung von Gefühlszuständen und den Darbietungsregeln Verände-
rungen. Das Bewertungssystem ist die Ausgangsbedingung für die Auslösung des
Affektprogramms. Hier wird unterschieden zwischen automatischen, unbewußten Bewer-
tungen und solchen, die bewußt und absichtlich erfolgen. Die Vorgänge des automa-
tischen Bewertungssystems entsprechen einem Reiz-Reaktions-Mechanismus in dem
Sinne, als ein wahrgenommener Reiz in sehr kurzer Zeit das entsprechende Affektpro-
gramm aktiviert, gleichzeitig aber die Prozesse einleitet, „die die mit dem Gefühl ver-
277 Ekman, Paul: a.a.O. 1988. Vgl. hierzu auch: Ekman, Paul: Expression and the Nature of Emotion. In:
Scherer, Klaus R.; Ekman, Paul (Hrsg.): Approaches to Emotion. Hillsdale, London 1984, S. 319 – 343. 278 Vgl. Ekman, Paul: a.a.O. (1988) S. 20, 21. 279 Vgl. ebd. S. 163.
85
knüpften Erinnerungen, Bilder, Erwartungen, Coping-Verhaltensweisen und Darbietungs-
regeln hervorrufen“281. Die bewußten Einschätzungen dagegen erfolgen langsam, können
aber müssen nicht unbedingt ein spezielles Affektprogramm aktivieren.
Die Auslöser für die Aktivierung von Gefühlszuständen sind in gewisser Weise variabel,
haben jedoch auch gemeinsame Merkmale: d.h. die Bezeichnung „Auslöser“ kommt nur in
Anwendung für solche Reize, die über das automatische Bewertungssystem je einem
spezifischen Gefühl zugeordnet werden. Wichtig ist, daß die Auslöser von Gefühlszu-
ständen in jedem Falle gelernt werden, daß heißt es gibt keine angeborene Veranlagung,
durch die ein bestimmter Reiz eine bestimmte Gefühlsreaktion hervorruft. Ekmans Ansicht
nach gibt es „[w]ahrscheinlich [...] kein Gefühl, für das ein universaler Auslöser existiert,
der auch in seinen Einzelheiten einheitlich ist und immer das gleiche und nicht zu unter-
brechende Muster emotionaler Reaktionen hervorruft“282.
Wie oben bereits angesprochen, sind bei unterschiedlichen Auslösern gemeinsame Merk-
male auszumachen: Ekel bspw. tritt zumeist in Verbindung mit Geschmacksreizen auf, die
eher als giftig, denn als schmerzlich empfunden werden. Überraschung ist gekenn-
zeichnet durch die Merkmale eines unerwarteten, eher plötzlich auftretenden Reizes,
Angstauslöser sind alle mit dem Merkmal des potentiell Schädlichen oder Schmerzlichen
verbunden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß die genannten Merkmale nicht
jeden Auslöser für jedes Gefühl begleiten, sondern nur die Ähnlichkeit von Reizen und
Gefühlszuständen andeuten. Durch wiederholende Erfahrung erfolgt durch das automa-
tische Bewertungssystem die Einordnung bestimmter Auslöser als bedeutsam für
bestimmte Gefühlszustände.283
Ekman geht es um die äußeren - also die beobachtbaren Erscheinungsmerkmale der
Emotionen.
„Die Einschätzung, daß ein Gefühl vorhanden ist, ist unter folgenden Umständen mit größerer
Wahrscheinlichkeit richtig:
�� Wenn die Veränderungen in den Reaktionssystemen komplex sind, sich nicht allein auf
das Gesicht, die Skelettmuskulatur, die Stimme, das autonome Nervensystem oder das
Bewältigungshandeln beziehen, sondern eine Kombination von mehreren bilden.
�� Wenn die Veränderungen wohlorganisiert sind in dem Sinne, daß sie miteinander
verknüpft und charakteristisch für ein Gefühl oder eine Gefühlskombination sind.
280 Vgl. für die folgende Darstellung besonders ebd. S. 20 – 36. 281 Ebd. S. 25. 282 Ebd. S. 26. 283 Vgl. ebd. S. 28.
86
�� Wenn die Veränderungen schnell vor sich gehen.
�� Wenn einige der Veränderungen in den Reaktionssystemen von der Art sind, die alle
Menschen gemeinsam haben.
�� Wenn einige der Reaktionen nicht nur für die Gattung Mensch gelten.“284
Von besonderer Bedeutung für das mimische Ausdrucksgeschehen sind die Darbietungs-
regeln einerseits und das Coping-Verhalten andererseits, da diese beiden Aspekte nach
Ekman zusammen sowohl auf die genetisch bedingte äußere Erscheinungsform der
Emotionszustände einwirken als auch das Emotionserleben beeinflussen.
Die Bezeichnung „Darbietungsregel“285 umfaßt die Tatsache, daß nicht nur der Ausdruck
von Emotionen, sondern das ganze Gefühlsempfinden reguliert wird. Das bedeutet, daß
das durch eine automatische Bewertung eines Reizes ausgelöste Affektprogramm
modifizierbar ist, dergestalt, daß die emotionalen Reaktionen unterbrochen, verstärkt,
vermindert oder durch ein anderes Gefühl maskiert werden können. Diesbezüglich wird
angenommen, daß manche Reaktionssysteme wie bspw. die Herzfrequenz schwerer zu
beeinflussen sind als andere, z. B. die Gesichtsmimik. Unterschieden wird zwischen den
von außen vorgegebenen Darbietungsregeln, die gesellschaftlich bedingt von Normen
und Konventionen geprägt sind und den persönlichen Darbietungsregeln, die individuellen
Steuerungsmechanismen des Gefühlsausdrucks, die die je subjektiven lebensgeschicht-
lichen Erfahrungen widerspiegeln. Durch den sehr früh einsetzenden Lernprozeß
bezüglich der Steuerung des Ausdrucks von Emotionen, verläuft dieser Prozeß
automatisch, kann aber auch bewußt und absichtlich angestrebt werden, wobei der
willentliche Vorgang mit hoher Wahrscheinlichkeit relativ langsam vollzogen wird und nur
unvollkommen gelingt.
Sowohl bei der automatischen als auch bei der willentlichen Steuerung von Gefühlsaus-
drücken kann es passieren, daß Gefühlsreaktionen „durchsickern“ (Leakage), daß heißt,
die Kontrollbemühungen nicht vollständig gelingen. Bei einer willentlichen Steuerung sind
Momente des Erscheinens des ursprünglichen Affektprogramms durchaus bemerkbar,
während sie bei der automatischen gut gelernten sehr kurz und kaum zu beobachten sind.
Das Bewältigungshandeln (Coping)286 bezeichnet die Anstrengungen, mit Gefühlen und
deren Ursachen umgehen zu können. Zum Coping zählen eine Vielzahl von kognitions-
284 Ebd. S. 30. 285 Vgl. ebd. S. 30 f. 286 Vgl. ebd. S. 32 ff.
87
bedingten Aktivitäten, wie bspw. Flucht oder Angriff. Da diese Vorgänge von Lernpro-
zessen abhängig sind, wird das Coping-System als das differenzierteste emotionale
Reaktionssystem angesehen. Die Komplexität läßt sich an einem Beispiel verdeutlichen:
wenn infolge einer automatischen Bewertung das Affektprogramm für Wutauslöser
aktiviert wird, welches mit einer unmittelbaren Skelettmuskelreaktion in Form einer
Bewegung nach vorn verbunden ist, so gibt es eine Vielzahl von Bewältigungsmöglich-
keiten, die erfahrungs- und situationsabhängig zur Anwendung kommen können. So wird
gelernt, ob Wut durch Angriff, Flucht, Verleugnung oder möglicherweise Besänftigung
bewältigt wird. Wichtig ist, daß gut erlernte, also „eingeschliffene“ Bewältigungstechniken,
die automatisch abgerufen werden, wenn das entsprechende Affektprogramm ausgelöst
wird, schwer veränderbar sind. Auch bewußte Einschätzungen führen zur Aktivierung
eines Affektprogrammes, jedoch stehen in diesen Fällen möglicherweise mehrere
Bewältigungsoptionen zur Verfügung.
Die vorstehenden Ausführungen zeigen deutlich, wie intensiv genetische Ausstattung und
Umweltfaktoren bei der Entwicklung des Emotionsempfindens miteinander interagieren.
Ekman weist ausdrücklich darauf hin, daß diese Interaktion bei der kulturübergreifenden
Untersuchung zu dem Gefühlsausdrucksgeschehen Berücksichtigung finden muß.
Nachfolgend werden die wichtigsten Ergebnisse der von Ekman und seinen Mitarbeitern
angestellten Untersuchungen zur genetischen Ausstattung mit bestimmten Gesichtsaus-
drucksmustern zusammengefaßt.
��Wiedererkennen des spontanen Gesichtsausdrucks in zwei Schriftkulturen287
Dieses Experiment erfolgte unter der Fragestellung, inwieweit die Mitglieder zweier
unterschiedlicher Kulturen Gefühlszustände der jeweilig anderen Kultur erkennen
können. Zur Durchführung wurden amerikanische und japanische Studenten als
Versuchspersonen rekrutiert. Feststellbar war, daß von beiden Kulturen die
Gesichtsausdrücke der jeweils anderen mit hoher Sicherheit zugeordnet werden
konnten. Jedoch ging es nur um das Erkennen von positiven und negativen
Emotionsausdrücken der jeweils anderen Kultur.
Gegen die Interpretation dieser Ergebnisse als Hinweis für universelle Gesichtsmimik
wurde der Einwand vorgebracht, daß die beiden Kulturen durch den visuellen Kontakt
miteinander gelernt hätten, die Gesichtsausdrücke der jeweils anderen richtig zu
interpretieren. Um die Berechtigung dieses Einwands zu prüfen, wurden Messungen
an den spontanen Gesichtsbewegungen vorgenommen
287 Vgl. ebd. S. 41 f.
88
��Messung spontaner Gesichtsbewegungen in zwei schriftkundigen Kulturen288
Mit Hilfe der Facial Affect Scoring Technique (FAST), eines von Ekman, Friesen und
Tomkins entwickelten höchst komplexen Verfahrens zur Kodierung der Gesichts-
mimik, konnte eine große Ähnlichkeit des Gesichtsausdrucksgeschehens von Ameri-
kanern und Japanern bei der Betrachtung eines streßauslösenden und eines neutra-
len Films beobachtet werden. Diese auf die eher allgemeine Emotionsbefindlichkeit
zutreffenden Befunde galt es nun zu differenzieren, d.h. zu untersuchen, inwieweit
unterschiedliche Gefühlszustände tatsächlich ganz bestimmten Gesichtsausdrücken
zugeordnet werden können.
��Erkennen gefühlsbezogener mimischer Ausdruckformen in fünf Schriftkulturen289
Die Ergebnisse der in fünf Kulturen (Argentinen, Brasilien, Chile, Japan, USA) durch-
geführten Untersuchung stellen nach Ekman „den klaren Beweis dafür dar, daß der
Gesichtsausdruck universell mit den gleichen Einzelgefühlen verknüpft ist. Abge-
sehen von zwei Ausnahmen wurden die gleichen Formen des Gesichtsausdrucks als
Ausdruck des Glücks, der Angst, des Ekels, des Ärgers/der Wut, der Überraschung
und der Trauer gedeutet – unabhängig von Sprache oder Kultur des Beobachters.“290
In diesen Ergebnissen, die von Izard in anderen Untersuchungen bestätigt wurden,
sieht Ekman den Beweis für sein Postulat, daß das Zustandekommen des mimischen
Ausdrucks von Gefühlen auf einem nervengesteuerten Affektprogramm beruht, durch
das bestimmte Gefühlszustände mit bestimmten Ausdrücken verbunden sind. Um
den Einwand zu entkräften, das Erkennen von Gefühlszuständen anderer Kulturen
beruhe auf einem durch visuellen Kontakt bspw. über Massenmedien bedingten
Lernprozeß, wurde ein weiteres Experiment durchgeführt in zwei schriftlosen, visuell
isolierten Kulturen.
��Erkennen und Ausdruck von Gefühlen in zwei schriftlosen Kulturen291
Durch diese mit den „Fore“, einem Volksstamm aus dem südöstlichen Hochland von
Neuguinea, und den „Dani“, einem Volk, das im zentralen Hochland von Neuguinea
angesiedelt ist, durchgeführten Untersuchungen, fand Ekman sein Postulat einer
genetischen Ausstattung für den Ausdruck bestimmter emotionaler Zustände zum
großen Teil bestätigt. Mitglieder dieser beiden Volksstämme, die bis zu dem Unter-
suchungszeitpunkt nachweislich kaum Kontakt mit Angehörigen weißer Kulturen
hatten, wurden angewiesen, anhand von Fotographien, die Emotionsausdrücke
kulturfremder Personen zu identifizieren. Klar identifiziert wurden in beiden Kulturen
288 Vgl. ebd. S. 47 f. 289 Vgl. ebd. S. 61 f. 290 Ebd. S. 68. 291 Vgl. ebd. S. 69 f.
89
die Gefühle Glück, Trauer, Ekel und Überraschung. Schwierigkeiten hatten die dem
Forestamm Angehörigen bei der Unterscheidung zwischen Angst und Überraschung,
während Mitglieder des Danistammes Ärger und Ekel nicht sicher differenzieren
konnten. Ob diese Ergebnisse auf mögliche Fehler der Untersuchungsmodalitäten
zurückzuführen sind, oder ob es sich um tatsächliche kulturelle Spezifika handelt, ist
noch zu klären. Bedeutend ist, daß diese Spezifika sich auch in der Darstellung der
Gesichtsausdrücke der einzelnen Stämme zeigten. Die Versuchspersonen beider
Stämme wurden aufgefordert, bestimmte gefühlsspezifische Gesichtsausdrücke
einzunehmen, die dann auf Video aufgenommen wurden. Die Aufnahmen der Fore
wurden amerikanischen Studenten zur Auswertung vorgelegt. Hier konnten vier von
sechs Emotionen sicher zugeordnet werden. Schwierigkeiten bestanden bei der
Zuordnung der Emotionen Überraschung und Furcht, also genau den Gefühlsaus-
drücken, die von diesen Stammesangehörigen nicht klar unterscheidbar waren.
Mit dem Resultat der letzten Untersuchung wird Ekmans Ausgangshypothese erneut
bestätigt: Insgesamt sieht er in den Ergebnissen aller vier genannten Studien den
Nachweis dafür gegeben, daß einer grundlegenden Gruppe universeller Formen des
Gesichtsausdrucks ganz bestimmte Gefühle zuzuordnen sind.
Neben diesen grundsätzlichen Untersuchungen bezüglich der Universalität bestimmter
emotionaler Gesichtsausdrucksmuster hat Ekman sich um die Identifizierbarkeit feiner
Unterschiede im Ausdrucksgeschehen bemüht. Er berichtet von drei Studien292 zur Frage
nach der Differenzierbarkeit von willkürlicher und unwillkürlicher emotionaler Mimik. Die
Ergebnisse dieser Forschungsbemühungen bestätigen, daß zwischen willkürlichen und
unwillkürlichen Ausdrucksbewegungen deutlich identifizierbare Unterschiede bestehen:
Zum einen sind bei den willkürlichen Emotionsausdrücken entweder Bewegungen
beobachtbar, die das tatsächliche Gefühlsempfinden normalerweise nicht begleiten, oder
es verhält sich gerade umgekehrt. Zum anderen ist beim willentlichen Gefühlsausdruck
das Timing nicht richtig, daß heißt entweder dauert es zu lange, bis der Ausdruck auftritt
(bei gespielter Überraschung) oder Gesichtsausdrücke werden zu lange oder eben nicht
lange genug beibehalten. Ekman betont, daß diese Ergebnisse erst ein Ausschnitt dessen
sind, was bezüglich der willensgelenkten und unwillkürlichen Ausdrucksbewegungen
erforscht werden müßte. Noch offene Fragen sind bspw., ob und in wieweit die willentliche
Beeinflussung von Ausdrucksgeschehen das Emotionsempfinden beeinflußt, oder ob es
individuelle Unterschiede in der Fähigkeit gibt, Gefühlsausdrücke zu verbergen.
292 Vgl. ebd. S. 149 ff.
90
Ekmans Untersuchungen beziehen sich vor allem auf die Universalität des mimischen
Ausdrucksgeschehens, wiewohl er der subjektiven Erlebniskomponente der Gefühle
durchaus Bedeutung beimißt. Mit der Beziehung zwischen Ausdruckserscheinungen und
Emotionserleben hat sich Carrol Izard in seiner differentiellen Emotionstheorie ausein-
andergesetzt, die in Grundzügen im nächsten Abschnitt behandelt wird.
Ausdruckserscheinungen und Emotionserleben: Carrol Izards differentielle
Emotionstheorie293
Izard geht in seiner differentiellen Emotionstheorie, die nach seiner eigenen Aussage eine
Fortführung der Arbeiten von Darwin, dem frühen James, F.H. Allport, Tomkins und
Gellhorn darstellt, von fünf Hauptannahmen aus: „(1) Zehn fundamentale Emotionen
bilden das Hauptmotivationssystem des Menschen. (2) Jede fundamentale Emotion hat
einzigartige motivationale und phänomenologische Eigenschaften. (3) Fundamentale
Emotionen wie Freude, Traurigkeit, Zorn und Scham führen zu unterschiedlichen inneren
Erlebnissen und unterschiedlichen Konsequenzen auf der Verhaltensebene. (4) Emo-
tionen interagieren miteinander – eine Emotion kann eine andere auslösen, verstärken
oder abschwächen. (5) Emotionsprozesse interagieren mit homöostatischen, Trieb-,
perzeptiven, kognitiven und motorischen Prozessen und üben Einfluß auf sie aus.“294 Die
Annahme, daß die fundamentalen Emotionen das Hauptmotivationssystem bilden,
impliziert, daß es keinen Zustand des Menschen gibt, der nicht von einer Emotion
begleitet wird.295 Weiterhin sind die Entstehungsprozesse der fundamentalen Emotionen
evolutionsgenetisch entstanden und bieten aus diesem Grunde universale Ausdrucks-
muster.
Gemäß der differentiellen Emotionstheorie bestehen Emotionen aus dem Zusammen-
wirken dreier Komponenten, „dem animalen Nervensystem, aus Ausdruck durch die
quergestreiften Muskeln oder Gesicht und Körperhaltung und Gesicht-Gehirn-Feedback
und aus subjektiven Erleben“296. Zwar sind alle drei Komponenten insofern autonom, als
293 Izard, Carrol E.: Die Emotionen des Menschen. Eine Einführung in die Grundlagen der
Emotionspsychologie. Weinheim, Basel 1981. 294 Ebd. S. 63. 295 Vgl. ebd. S. 79. 296 Ebd. S. 84.
91
daß sie in Ausnahmefällen auch von den anderen unabhängig wirken können, gewöhnlich
ist der Emotionsprozeß jedoch geprägt von deren Zusammenwirken.
Das Procedere bei der Entstehung einer neuen Emotion (neu deshalb, weil das Bewußt-
sein grundsätzlich immer von Emotionen begleitet ist) erfolgt durch eine selektive
Verarbeitung eines internen oder externen Reizes im limbischen System. Von dort aus
wird im Falle einer fundamentalen Emotion über Gesichtnerv und Schädelnerv eine
spezielle Gesichtsmimik aktiviert. Die Rückmeldung dieses emotionsspezifischen
Gesichtsausdrucks (Feedback) an den Kortex bewirkt dann das subjektive Emotions-
erleben. Izard räumt ein, daß das Emotionserleben zumeist auch mit viszeralen
Veränderungen (wie Herzklopfen, schweißigen Händen etc.) einhergeht, diese
Reaktionen werden jedoch erst durch das Feedback des Gesichtsausdrucks an den
Kortex aktiviert. Izard definiert Emotion dementsprechend als „ein komplexes Phänomen
mit neurophysiologischen, motorisch-expressiven und Erlebniskomponenten. Der
intraindividuelle Prozeß, durch den diese Komponenten interagieren, um die Emotion
hervorzubringen, ist ein evolutionär-biogenetisches Phänomen.“297
Als fundamentale Emotionen werden genannt:
„1. Interesse - Erregung
2. Vergnügen – Freude
3. Überraschung – Schreck
4. Kummer – Schmerz
5. Zorn – Wut
6. Ekel – Abscheu
7. Geringschätzung – Verachtung
8. Furcht – Entsetzen
9. Scham/Schüchternheit – Erniedrigung
10. Schuldgefühl – Reue“298
Die für jede Emotion genannten zwei Bezeichnungen weisen darauf hin, daß jede
Emotion in verschiedenen Intensitätsstufen auftreten kann, wobei die erste Bezeichnung
für die niedrige Intensitätsstufe, die zweite für die höhere Intensitätsstufe steht. Alle
weiteren Emotionen kommen durch die Mischung verschiedener Emotionen zustande.
297 Ebd. S. 85. 298 Ebd. S. 66.
92
Besondere Bedeutung kommt nach der differentiellen Emotionstheorie dem Zusammen-
hang zwischen dem mimischen Gesichtsausdruck und dem subjektiven Erleben zu, denn
nach Izard „hängt die Differenzierung spezifischer Emotionen im Bewußtsein (subjektiven
Erleben) ab von dem raschen und spezifischen sensorischen Feedback von der Tätigkeit
der fein differenzierten (animalen) Muskeln des Gesichts bei der Bildung voneinander
unterschiedener mimischer Äußerungen oder entsprechender verdeckter Muster. Die
kortikale Integration des Gesichtsfeedbacks führt zu dem spezifischen Emotionserleben.
Kurzum liefert das Gesicht die Daten für die Auslösung qualitativ unterschiedlicher
Emotionen, aber es spielt vielleicht eine weniger entscheidende Rolle bei der Aufrecht-
erhaltung von Emotionen.“299
Für die beiden durchaus bekannten Erscheinungen: ein Emotionserleben ohne mimischen
Ausdruck und ein mimischer Ausdruck ohne Emotionserleben werden folgende Erklärun-
gen geboten. Für den Fall, wie es trotz fehlender Ausdruckserscheinungen zum
Emotionserleben kommen kann, werden drei Möglichkeiten diskutiert. Erstens können
trotz des erlernten und verinnerlichten Normverhaltens, wie bspw. deutliche Zorn-
äußerungen zu vermeiden, mikromomentane Muskelbewegungen im Gesicht auftreten,
die jedoch aufgrund ihrer äußerst geringen Dauer von einem Beobachter normalerweise
nicht wahrnehmbar sind. Das zweite Beispiel, eine Emotionsempfindung trotz des tatsäch-
lichen Fehlens eines Gesichtsausdrucks, wird dadurch erklärt, daß eine vollständige
Blockade der motorischen Botschaft von den subkortikalen Zentren auf der Bahn zum
Gesicht nur die Bewegung der Zielmuskel gänzlich verhindert, diese Hemmungsbotschaft
aber wiederum über den Prozeß der inneren Rückmeldung (Reafferenz) allein schon das
spezifische Emotionserleben auslöst. Die dritte Möglichkeit basiert auf dem Prinzip der
klassischen Konditionierung. Hier wird argumentiert, daß praktisch durch die „Erinnerung“
daran, wie sich der „Ausdruck“ der Emotion Zorn anfühlt, das Emotionsempfinden
ausgelöst wird. Betont wird, daß alle Formen der mimischen Emotionsunterdrückung
größere Anforderungen an das Nervensystem stellt, als ein „natürlicher“ Emotionsaus-
druck, was bei „chronischem Gebrauch“300 psychosomatische Störungen nach sich ziehen
könnte.
Mimischer Ausdruck ohne Emotionsempfinden kann zwei Ursachen haben: zum einen
kann eine schon vorherrschende starke Emotion verhindern, daß das Feedback eines
299 Ebd. S. 80, 81. 300 Vgl. ebd. S. 82.
93
durch eine andere Emotion ausgelösten Gesichtsausdruckes weitergeleitet wird. Eine
zweite Möglichkeit wird darin gesehen, daß ein gerade wirkender hochintensiver Trieb das
Emotionsempfinden hemmt, wie bspw. außerordentlich starker Hunger ein Ekel-
empfinden.
Izard vertritt die Ansicht, daß mit der Kontrolle des mimischen Ausdrucks auch eine
Emotionsregulierung stattfindet, worin er mit Darwin und James und anderen Wissen-
schaftler übereinstimmt. Nach Darwin hat der ungehemmte Ausdruck einer Emotion ein
intensiveres Emotionserleben zur Folge, während die Unterdrückung der motorischen
Expression dämpfende Wirkung auf das Empfinden habe. James postulierte, daß durch
die Ausführung der Bewegungen von erwünschten Emotionen die Tendenzen einer
unerwünschten Emotion bezwungen werden könnten.301
Im Hinblick auf die Beziehung zwischen Emotion und Kognition wird den Emotionen eine
relative Unabhängigkeit von der Kognition zugeschrieben. Wohl kommt der Kognition in
bezug auf die Emotion-Kognition-Interaktion eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu,
jedoch hauptsächlich nachdem der Emotionsprozeß in Gang gesetzt ist.
Um die in der differentiellen Emotionstheorie entscheidende Komponente, die Gesichts-
Feedback-Hypothese, zu überprüfen sind eine Reihe von Untersuchungen durchgeführt
worden. Dabei kamen zwei Methoden zur Anwendung: die direkte Manipulation des
Gesichtsausdrucks und die indirekte Manipulation der Gesichtsmimik durch die
Anweisung zur Simulation oder Dissimulation emotionalen Verhaltens.302 Bezüglich der
direkten Manipulation berichtet Goller von zwei verschiedenen Versuchsanordnungen, die
sich auch in den Ergebnissen unterscheiden. In einer Studie wurden die Versuchs-
personen gebeten, 15 Sekunden lang zu lächeln bzw. einen finsteren Blick einzunehmen.
Während dieses Zeitraums wurden ihnen entweder ein Foto mit spielenden Kindern oder
eines von Ku-Klux-Klan-Mitgliedern vorgelegt. Die Auswertung der Selbstbeurteilungen
ergab, daß der Ärgerausdruck zu erhöhten Aggressionsgefühlen, der Ausdruck des
Lächeln zu einem erhöhten Freudegefühl führte. In einem zweiten Versuch, in dem Bilder
von lustigen Karikaturen verwendet wurde, konnte dieses Ergebnis bestätigt werden.
In der anderen Versuchsanordnung wurden die Probanden während der Betrachtung
eines je zwei minütigen neutralen, Angst bzw. Trauer auslösenden Filmes angewiesen,
301 Vgl. ebd. S. 132 f. 302 Vgl. für die folgende Darstellung Goller, Hans: a.a.O. S. 142 ff und Leventhal, Howard: A perceptual-motor
theory of emotion. Advances in Experimatal Social Psychology, Vol. 17, New York 1984, S. 148 ff.
94
einen neutralen, ängstlichen oder traurigen Gesichtsausdruck einzunehmen, während in
einer vierten Versuchsbedingung keinerlei Anweisungen gegeben wurden. Diese
Versuchspersonen berichteten von keinerlei Änderung im Emotionsempfinden. Die
widersprüchlichen Ergebnisse der beiden Studien wurden darauf zurückgeführt, daß die
Zeitspanne für die Präsentation des Gesichtsausdruck in dem zuletzt genannten
Experiment zu lange gewesen sei, wodurch es zu einer Unterbrechung des Emotions-
erlebens gekommen sei. Zudem hätten die Versuchspersonen in der ersten Testreihe aus
der Versuchsanordnung auf die Bedeutung des Gesichtsausdruckes schließen können,
was die Selbsteinschätzung beeinflußt haben könnte. Dieser Umstand sei in dem zweiten
Experiment auszuschließen. Darüber hinaus könnte eine Divergenz zwischen der
Intensität des eingenommenen Gesichtsausdrucks und der mit den Filmen assoziierten
Emotionsintensität zu einer Mißachtung des Gesichtsfeedbacks geführt haben, also in
den Fällen, in denen der von den Filmen ausgehende Gefühlsreiz stärker oder schwächer
war als der eingenommene Gesichtsausdruck.
Bei der Methode der indirekten Manipulation der Gefühle, also der Simulation bzw.
Dissimulation wird ebenfalls von zwei unterschiedlichen Testverfahren berichtet. In der
ersten Testreihe wurden Volksschüler avisiert, bei dem Anschauen eines komischen
Filmes entweder mit der Begründung, Lachen würde stören, das Lachen zu unterdrücken,
oder mit der Vorgabe, man wolle eine Aufnahme von Gelächter machen, besonders viel
zu lachen. Die Mädchen berichteten, daß sie den Film besonders lustig fanden, als sie
aufgefordert wurden, viel zu lachen, bei den Jungen war es genau umgekehrt: Sie fanden
den Film lustiger bei der Aufforderung, das Lachen zu unterdrücken. In einer anderen
Versuchsreihe wurden Versuchspersonen Elektroschocks unterschiedlicher Stärke
verabreicht mit den Anweisungen, die Gefühle so auszudrücken, daß ein Beobachter der
Videoaufnahme die Schockintensität erraten kann, bzw. die Gefühle zu verbergen, so daß
die Schockintensität nicht zu erraten ist. Unter den experimentellen Bedingungen „Übung“
und „Videoaufnahme“ wurden die Gesichtsaktivitäten, die autonomen Reaktionen und die
subjektive Einschätzung der Schmerzhaftigkeit des Schocks aufgezeichnet. Die Ergeb-
nisse aus fünf Testreihen waren, daß die Probanden, die aufgefordert wurden, ihre
Gefühle auszudrücken, differenziertere und deutlichere Gesichtsausdrücke sowie
intensivere autonome Reaktionen zeigten, als diejenigen, die ihre Gefühle verbergen
sollten. Diese Unterschiede waren bei der Versuchsbedingung „Übung“ sehr gering, bei
der Bedingung „Videoaufnahme“ jedoch sehr stark. Die Einstufung der Schmerzhaftigkeit
des Schockes war nicht eng mit den Ausdrucksänderungen verbunden. Zwar konnte bei
zwei Untersuchungen ein schwacher aber signifikanter Unterschied konstatiert werden,
jedoch differierten die Reaktionen. So zeigten sich unterschiedliche Wahrnehmung der
95
Schmerzhaftigkeit in dem einen Versuch bei niedriger und in dem anderen bei hoher
Stromstärke. Zwar wurden die Untersuchungsergebnisse dahingehend bewertet, daß sich
die Manipulation des Gesichtsausdrucks auf die Gefühlsempfindung auswirkt. Dennoch
belegen die Befunde nicht eindeutig, wie die Ausdrucksintensität sich auf die Erlebnis-
intensität auswirkt, was jedoch auf die Problematik der schwierigen Testbarkeit dieser
Hypothese zurückgeführt wird. Nach Goller unterstützen die „vorhandenen Befunde die
Gesichts-Feedback-Hypothese nicht mehr als alternative zentrale Modelle, die
Emotionserleben und Ausdrucksbewegungen als Produkt eines zentralen motorischen
Mechanismus betrachten“303.
Die Darstellung der Untersuchungen und Theorien, die sich mit der Frage nach der
„Nützlichkeit“ der Emotionen beschäftigen, hat die Problematik dieses Forschungsbe-
reiches deutlich gemacht, die zum einen darin besteht, daß selbst bei ähnlichen
Ausgangsprämissen die Erkenntnisgegenstände erheblich voneinander abweichen. Dies
ist der Fall bei den Evolutionstheorien, die eine bestimmte Anzahl von primären
Emotionen postulieren. Hier divergieren die Erklärungsmuster, die zur Rechtfertigung
dieser Annahmen herangezogen werden, was wiederum dazu führt, daß keine Überein-
stimmung darüber herrscht, wie vielen und welchen Emotionen das Prädikat „primär“
zurecht zukommt. Zum anderen ergeben sich Defizite in den Erklärungsmustern innerhalb
der Theorien. So ergibt sich bspw. bei der Annahme jeder Art von Basisemotionen die
Frage, wie sich andere Emotionen entwickeln? Durch welche Art von Mischungsverhältnis
welcher Emotionen entsteht eine „sekundäre“ Emotion? Diese Problematik läßt sich am
Beispiel der Gesichtsfeedback-Hypothese verdeutlichen: Wie gestaltet sich das subjektive
Erleben bei einer nicht zu den von Izard als fundamental klassifizierten Emotionen wie
z.B. Mitleid. Wie und welche Gesichtsausdrücke müssen hier zusammenwirken, um das
subjektive Erleben dieser Emotion zu erreichen?
Abgesehen von den Unzulänglichkeiten innerhalb der Erklärungsmuster der Theorien, die
von Basisemotionen ausgehen, gibt es eine grundsätzliche Problematik zwischen den
Annahmen von McDougall / Plutchik und Bischof: Während McDougall und Plutchik davon
ausgehen, daß der evolutionäre Selektionsvorteil der Basisemotionen in der Kopplung an
ganz bestimmte Handlungsvollzüge zu sehen sei, postuliert Bischof, daß Emotionen sich
im Laufe des Evolutionsprozesses ebenso wie kognitive Fähigkeiten differenziert und
damit starre Reiz-Reaktions-Ketten abgelöst hätten. Der evolutionäre Vorteil der Differen-
zierung der Emotionen sei nur in Verbindung mit den ebenso differenzierten kognitiven
303 Ebd. S. 144.
96
Fähigkeiten zu sehen, durch deren Zusammenwirken erst Wahlmöglichkeiten zwischen
unterschiedlichen Handlungsoptionen kreiert würden. Angenommen, den Emotionen
käme die Aufgabe zu, starre Reiz-Reaktions-Muster abzulösen, um den in der Ent-
wicklung höher stehenden Lebewesen mehr Handlungsfreiheit zur optimalen Umwelt-
anpassung zu ermöglichen, so würde die Identifizierung der „Basisemotionen“ mit ganz
bestimmten Handlungsmustern jedoch eine Einschränkung genau dieser Wahlfreiheit
bedeuten.
Die Frage ist nun, ob die erkennbaren Widersprüchlichkeiten und Unzulänglichkeiten in
den Erklärungsansätzen den Vorschlag von Dieter Ulich rechtfertigen, Forschungstätig-
keiten unter dieser Fragestellung grundsätzlich aufzugeben. Betrachten wir im Hinblick
auf diese Fragestellung die Theorie, die auf relativ gesicherten empirischen Daten
aufbaut: die „neurokulturelle“ Emotionstheorie von Paul Ekman. Auf der Basis des von
ihm und seinen Mitarbeitern gesammelten Datenmaterials postuliert er ein Affektpro-
gramm, das in seinen Grundstrukturen genetisch bedingt ist. Aber sowohl das Affektpro-
gramm wie auch alle weiteren zu einem Emotionserleben dazugehörigen Komponenten,
wie das Bewertungssystem, die Auslöser, die Darbietungsregeln und das Bewältigungs-
handeln sind abhängig von einem Lernprozeß, welcher bestimmt wird durch soziale,
kulturelle und ökologische Umweltgegebenheiten. Lernprozesse aber setzen notwendig
gewisse kognitive Fähigkeiten und eine relative Freiheit von Reiz-Reaktions-
Mechanismen voraus. Durch die Zusammenstellung der Komponenten und das ihnen
zugewiesene Potential der Modifikationsfähigkeit durch Interaktion mit Umweltge-
gebenheiten entspricht dieser Erklärungsansatz in jeder Hinsicht dem von Norbert Bischof
geforderten Biologieverständnis. Wessen sich Ekman enthält, ist den Emotionen explizit
eine Funktion zuzuweisen, um ihre Selektion im Evolutionsprozeß zu rechtfertigen. Wohl
postuliert er die Notwendigkeit eines Bewertungssystems zur Etablierung einer Emotion,
dieses jedoch ist in enger Verbindung mit den Auslösern der Gefühlszustände zu sehen,
für die es keine angeborene Veranlagung gibt, sondern die in jedem Falle gelernt werden.
Damit sind für die neurokulturelle Theorie Ekmans einmal Bischofs Kritikpunkte
hinsichtlich eines inadäquaten Biologieverständnisses zurückzuweisen. Darüber hinaus
steht Ekmans Theorie in Einklang mit den Erkenntnissen der neurobiologischen
Emotionsforschung, nach denen für die subkortikalen und kortikalen Hirnregionen eine
unterschiedliche Beteiligung an der Emotionsgenese postuliert wird: demgemäß erfolgt
durch die subkortikale Reizbewertung eine außerordentlich schnelle körperliche Reaktion,
was Ekmans Initiation des Affektprogramms durch das automatische Bewertungssystem
entspricht, während die bewußten Bewertungsprozesse das Affektprogramm entweder
verzögert oder gar nicht auslösen, was wiederum der Annahme der Neurobiologen
97
entspricht, daß der Kortex an der Emotionsentwicklung nur bedingt beteiligt ist. Die
Bedeutsamkeit von Ekmans Theorie liegt darin, daß das Emotionsgeschehen als ein
Prozeß des Zusammenwirkens von genetischer Ausstattung und Lernprozessen durch
Umwelteinflüsse gesehen wird. Durch diese Kombination aber kommt einerseits der
subjektiven Komponente des Gefühlserlebens eine immense Bedeutung zu. Andererseits
ist es durch die Annahme eines Zusammenwirkens von genetischer Ausstattung und
Umweltfaktoren nicht möglich, den Emotionen eine eindeutige Funktion zuzuweisen,
wodurch der von Ulich kritisierte „teleologische Irrtum“ verhindert wird. Insofern als daß
Ulichs Monita hier in keinem Falle greifen, ist der auf seiner Kritik basierenden pauschalen
Forderung, Forschungstätigkeiten unter evolutionärem Interesse besonders in bezug auf
Emotionen aufzugeben, zurückzuweisen.
Sowohl bei Ulich als auch bei Bischof kommen den kognitiven Prozessen im Emotions-
geschehen besondere Bedeutung zu. Die Untersuchung des Verhältnisses von Emotion
und Kognition ist wiederum ein eigener Bereich der Emotionsforschung. Speziell geht
man der Frage nach, ob Kognitionen Emotionen auslösen, oder ob es sich umgekehrt
verhält, daß Emotionen Kognitionen bedingen. Die wichtigsten Theorien werden hier
vorgestellt und im Anschluß diskutiert.
3.3.3.3 Das Verhältnis von Kognition und Emotion
Im Zuge der „kognitiven Wende“ in der Psychologie gerieten die Emotionen vor allem als
postkognitive Phänomene im Sinne von „Bewertungsmechanismen“ interner und externer
Reizverarbeitungen in das Zentrum des Interesses. Diese Kausalrichtung entspricht der
traditionellen Ansicht, daß Kognitionen den Emotionen vorzuordnen seien. Zu den
prominentesten Vertretern der Auffassung, Emotionen seien eine Folge kognitiver
Prozesse gehören Magda Arnold und Richard S. Lazarus. Deutliche Zweifel an dieser
Auffassung äußert Robert B. Zajonc, der davon ausgeht, daß das Emotionserleben auch
ohne vorherige Kognition möglich ist. Diese kontroversen Ansichten haben zu einer
intensiven Diskussion zwischen Lazarus und Zajonc geführt. Um aufzuzeigen, daß es sich
hierbei einerseits um einen Unterschied in dem Verständnis des Begriffes Kognition
handelt und andererseits von den beiden Vertretern je unterschiedliche emotionale
Phänomene untersucht wurden, sollen beide Positionen kurz dargestellt werden, um sie
im Anschluß daran diskutieren zu können.
98
3.3.3.3.1 Richard S. Lazarus Theorie der Emotionen
Die Analyse der Emotionen von Lazarus und seinen Mitarbeitern erfolgt aus einer
kognitiv-phänomenologischen Perspektive304. In ihrer Theorie gehen sie davon aus, daß
Emotionen als komplexe organisierte Zustände ein Resultat aus der kognitiven Bewertung
der Interaktion von Person und Umwelt (Transaktionen) darstellen, welche durch drei
miteinander verbundene Komponenten gekennzeichnet sind: kognitive Bewertungs-
muster, Handlungsimpulse und körperliche Reaktionen. Wichtig ist, daß alle drei
Komponenten zusammen auftreten und auch wahrgenommen werden. Fehlt also eine der
Komponenten, oder wird ihr Auftreten nicht wahrgenommen, bleibt das eigentliche
Emotionserleben aus.
Eine zentrale Bedeutung kommt der kognitiven Bewertung zu, die als eine Erweiterung
der von Magda Arnold vertretenen These verstanden wird. Als integraler Bestandteil der
Emotion ist die kognitive Bewertung einerseits Auslöser für bestimmte Erregungsmuster
und die daraus hervorgehenden Handlungsimpulse und dient andererseits auch der
Beurteilung der zur Situationsbewältigung zur Verfügung stehenden Handlungsmöglich-
keiten. Lazarus betont, daß „jede emotionale Reaktion, ohne Rücksicht auf ihren
konkreten Inhalt eine Funktion einer bestimmten Kognition oder Einschätzung“305 ist, die
resultiert aus der Beurteilung der Situation und der dieser entsprechenden je individuellen
Bewältigungsressourcen. Emotionen sind mithin anzusehen als Reaktionen der kognitiven
Bewertungen von Organismus-Umwelt-Wechselwirkungen (Transaktionen).
Es wird unterschieden zwischen drei kognitiven Bewertungsformen, der primären und der
sekundären Bewertung sowie der Neubewertung.306 Der primäre Bewertungsprozeß
kennzeichnet die Einschätzung einer jeden Interaktion oder Begegnung eines Organis-
mus mit der Umwelt im Hinblick auf deren Bedeutung für den Organismus. Dabei wird
zwischen drei fundamentalen Bewertungskategorien unterschieden: der irrelevanten, der
angenehm-positiven und der streßauslösenden Kategorie. Die Einschätzungen erfolgen
auf der Basis bisheriger Erfahrungswerte bezüglich der situativen Gegebenheiten und der
persönlichen Verfassung.
304 Lazarus, Richard, S., Kanner, Allen D., Folkman, Susan: Emotions: A cognitive-phenomenological
analysis. In Plutchik, Robert, Kellermann, Henry: Emotion: Theory, Research, and Experience. Vol. 1. London 1980, S. 189 – 217.
305 Lazarus, Richard S., Averill, James R., Opton jr., Edward M.: Ansatz zu einer kognitiven Gefühlstheorie. In: Birbaumer, Niels: Neuropsychologie der Angst. München, Berlin, Wien 1973, S. 169.
306 Vgl. Lazarus et al. 1980, S. 193 f.
99
Die sekundäre Bewertung ist die Einschätzung der eigenen Ressourcen zur Bewältigung
von streßauslösenden Situationen. Lazarus mißt der sekundären Einschätzung eine
größere Bedeutung zu als der Streßsituation selbst, denn erst die Einschätzung der
eigenen Fähigkeiten bestimmt zum Großteil, ob eine Streßsituation angstauslösend,
herausfordernd möglicherweise sogar harmlos wirkt.
Durch den Prozeß der Neubewertung ändert sich die ursprüngliche Einschätzung der
Person-Umweltbeziehung. Über die Realisierung der wechselseitigen Beeinflußbarkeit
zwischen Person und Umwelt erfolgt eine Änderung der primären und sekundären
Bewertungsmuster. Diese Bewertungsprozesse erfolgen kontinuierlich, können, müssen
aber nicht notwendigerweise bewußt ablaufen. Bei den Neubewertungen sind zwei
Formen zu unterscheiden: Einmal kann sie daraus resultieren, daß die Person ihre
veränderte Beziehung zur Umwelt wahrnimmt, woraus eine Änderung der Einschätzungs-
muster folgt. Die zweite Möglichkeit, von Lazarus als defensive Neubewertung bezeich-
net, ist ein intrapsychischer Prozeß, der unabhängig von Umweltinformationen erfolgt.
Hierbei wird bspw. eine Gefahr negiert oder die gedankliche Beschäftigung mit der
Gegebenheit vermieden. Durch diesen Prozeß kann eine ursprünglich als gefährlich
eingeschätzte Situation als neutral oder sogar angenehm gewertet werden.
Die defensive Neubewertung gehört mit zu den Bewältigungsmechnismen, dem
sogenannten Coping. Ziel des Coping ist, die aus der Situationsbewertung resultierenden
somatischen und subjektiven Komponenten der Emotion zu regulieren und kontrollieren.
Dies kann erfolgen über die oben benannte Methode der gedanklichen Verleugnung oder
Verharmlosung der Umweltgegebenheiten, aber auch die Einnahme von Psycho-
pharmaka kann diese Funktion übernehmen. Die aktuelle Person-Umwelt-Situation wird
dadurch jedoch nicht verändert. Eine andere Methode des Coping ist das direkte Handeln,
welches darauf abzielt, die situativen Gegebenheiten zu verändern. Eine Änderung des
Emotionserlebens ist davon abhängig, wie erfolgreich diese Methoden angewandt werden
können. Für Lazarus ist die Berücksichtigung von Copingprozessen in einer Emotions-
theorie unabdingbar. Er sieht das Coping nicht nur als Folge, sondern vielmehr als
essentiellen Bestandteil von Emotionen, da die Bewältigung von emotionalen Zuständen
mittels Bewertungsänderungen oder direkten Handlungsvollzügen Veränderungen der
Einschätzung von Person-Umwelt-Bezügen nach sich zieht. Dies gilt nicht nur für
gegenwärtige oder zukünftige, sondern auch für vergangene Transaktionen.
Lazarus folgt einer klassischen Unterscheidung zwischen Emotionen, Stimmungen und
Erlebnistönungen. Danach sind Emotionen im Unterschied zu Stimmungen und Erlebnis-
100
tönungen von relativ kurzer Dauer und die Wahrnehmung der Emotionsqualität verändert
sich während des Entfaltungsprozesses. Stimmungen und Erlebnistönungen werden
darüber hinaus weniger intensiv erlebt. Jedes Emotionserlebnis ist nach Lazarus „in a
sense, a little world of its own, a little drama with a particular background of beliefs,
sentiments, and goals, thoughts infused with feelings, behavioral impulses and acts, and
physiological reactions”307. Emotionales Erleben ist fließend und gekennzeichnet durch
einen ständigen Wandel. Im Laufe eines Person-Umwelt-Bezuges können einige Emotio-
nen gleichzeitig auftreten, dabei werden möglicherweise einige umgewandelt in andere,
manche intensivieren sich, während andere schwächer werden. All das gründet in der
kognitiven Bewertung der kognitiven Situationseinschätzung.
Trotz der Veränderbarkeit und Wandelbarkeit von Emotionsreaktionen, die auf der
Interaktion von Person und Umwelt rekurrieren, können auch stabile Emotionsreaktionen
beobachtet werden. Dies kann einerseits dann auftreten, wenn sich die Umweltbe-
dingungen, in denen sich eine Person bewegt, im wesentlichen gleichen. Zum anderen
machen Persönlichkeitsfaktoren einige emotionale Reaktionen wahrscheinlicher als
andere. Diese durch die je individuelle Biographie bestimmten Persönlichkeitsfaktoren
manifestieren sich bspw. in festen Wertesystemen und Überzeugungen oder können das
Resultat von ungelösten Kindheitskonflikten sein. Lazarus betont, daß individuelle
emotionale Reaktionsmuster nur unter Berücksichtigung der jeweiligen lebensgeschicht-
lichen Entwicklung verstanden werden können.
In Lazarus Verständnis ist Emotion ein komplexes Syndrom, verursacht durch die
kognitive Bewertung einer Person-Umwelt-Transaktion, die zu Handlungsimpulsen führt,
welche wiederum ganz bestimmte körperliche Erregungszustände nach sich ziehen. Wie
oben bereits angedeutet, hat sich Zajonc energisch gegen diese Auffassung ausge-
sprochen. Seine Argumentation wird im folgenden dargestellt.
307 Ebd. S. 196: (Übersetzung von B.K.:“....in einem gewissen Sinne eine eigene Welt, ein kleines Drama auf
einem speziellen Hintergrund, der sich zusammensetzt aus Überzeugungen, Gefühlen und Zielen, mit Gefühlen verwobene Gedanken, Verhaltensimpulsen und Handlungen sowie körperliche Reaktionen.“)
101
3.3.3.3.2 Robert B. Zajoncs Theorie der Emotionen als präkognitives
Phänomen
Zajonc308 kritisiert die seiner Ansicht nach in der Emotionspsychologie vorherrschende
Auffassung, Emotionen seien abhängig von Kognitionen. Mit Wundt argumentiert er, daß
Emotionen auch unabhängig von kognitiven Bewertungsprozessen auftreten können. Eine
Wahrnehmung von einem Bruchteil einer Sekunde genüge, um Vorlieben oder Abneigun-
gen gegenüber Objekten zu entwickeln, was sich deutlich zeige in unserem täglichen
Erleben. Innerhalb kürzester Zeit nach einem sinnlichen Eindruck sind wir in der Lage
einzuschätzen, ob wir einen Menschen mögen oder nicht, einen Gegenstand anziehend
oder abstoßend finden. Zajonc konzentriert sich in seinen Ausführungen ganz auf die
emotionale Reaktion, die entweder in Annäherungs- oder Vermeidungsverhalten mündet.
Weitere Qualitäten spezifischer Emotionen wie Interesse, Zorn, Schuldgefühl oder Scham
werden nicht behandelt.
In Anbetracht der Beobachtung, daß einem Emotionsprozeß nur eine minimale Kognition
vorausgehen muß, plädiert Zajonc für eine Unterscheidung zwischen Kognition und
Emotion. Aufgrund der für ihr Zustandekommen unterscheidbaren Voraussetzungen,
seien sie als unabhängige Prozesse anzusehen. Zwar bräuchten beide sowohl Energie
als auch Information, während Gefühle jedoch vor allem Energie benötigten, wären für
Gedanken mehr Informationen nötig. Weiterhin wird die These vertreten, daß Gedanken
immer von Emotionen begleitet seien, Emotionen jedoch auch ohne Kognitionen auftreten
könnten. Die erste Reaktion eines Organismus auf einen Reiz kann durchaus emotionaler
Natur sein, ebenso wie die erste Stufe an eine Erinnerung. Es ist möglich, daß man den
Inhalt eines Musikstückes oder eines Buches vergessen hat, die emotionale Komponente
jedoch noch erinnert, ebenso ist es möglich, etwas zu mögen oder zu verabscheuen,
ohne genau zu wissen, was es ist.
Folgende Argumente werden angeführt, um die These zu bekräftigen, daß Emotionen und
Kognitionen nicht von einander abhängen309.
��Emotionale Reaktionen gehen den Kognitionen voran
Mit Bezug auf diverse empirische Studien bezüglich des Wahrnehmungsprozesses
konstatiert Zajonc, daß grundsätzlich alle Begegnungen mit unserer Umwelt zuallererst
308 Zajonc, Robert B.: Feeling and Thinking. Preferences Need No Inferences. American Psychologist. Vol.
35, No. 2, 1980, S. 151 – 175 und Zajonc, Robert B.: On Primacy of Affect. In: Scherer, Klaus R.; Ekman Paul: Approaches to Emotion. London 1984, S. 259 – 270.
309 Vgl. Zajonc, Robert B:. a.a.O. (1980), S. 155 ff und Zajonc, Robert B.: a.a.O. (1984), S. 262 ff.
102
emotionale Reaktionen hervorrufen. Diese unmittelbaren Reaktionen bestimmen grob
die Motivation und den mit der Situation verbundenen Erwartungshorizont. Darüber
hinaus wird angenommen, daß alle Entscheidungen nicht nur eine kognitive, sondern
auch eine emotionale Komponente beinhalten. Hier wird postuliert, daß der emotionale
Aspekt eine wesentlich größere Rolle spielt als der kognitive Prozeß. Die rationalen
Begründungen, die für eine Entscheidung angeführt werden, dienten nicht der Ent-
scheidungsfindung, sondern der Rechtfertigung für die bereits getroffene Entschei-
dung. Nach Zajonc bedeutet, sich für X entschieden zu haben zumeist nichts mehr als
an X Gefallen gefunden zu haben.
��Emotionen haben aus phylogenetischer und ontogenetischer Perspektive eine
Vorrangstellung gegenüber den Kognitionen
Die phylogenetische Entwicklung der Emotionen gilt Zajonc als erstes Unterschei-
dungsmerkmal zwischen Pflanzen und Tieren mit dem Ziel die Umweltanpassung zu
optimieren. Nicht Sprache und Kognition, sondern die emotionale Ansprechbarkeit
ermöglicht Tieren auf Umweltgegebenheiten schnellstens zu reagieren. So muß ein
Kaninchen vor einer Schlange fliehen, bevor es deren einzelne Attribute genauer
untersucht hat und bewertet hat. Das heißt, die Reaktion auf die Wahrnehmung erfolgt
unter minimaler kognitiver Beteiligung. Die emotionale Entwicklung liegt evolutorisch
weit vor der mit der Kognition verbundenen sprachlichen Entwicklung, denn das
limbische System, welches nachgewiesen die emotionalen Reaktionen koordiniert, ist
schon bei niederen Säugetieren vorhanden. Nach Zajoncs Überlegungen müßten,
wenn es denn zuträfe, daß die Emotionen tatsächlich abhängig seien von vorher-
gehenden kognitiven Prozessen, die Emotionen im Laufe der Evolution ihre Autonomie
verloren haben und unter die Vermittlung der Kognition geraten sein, was er jedoch als
äußerst unwahrscheinlich ansieht. Er nimmt dagegen an, daß die phylogenetisch
älteren Emotionen im Laufe der Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten die alleinige
Kontrolle über Verhaltensprozesse verloren hätten, zugunsten einer durch das Zusam-
menwirken beider Systeme verbesserten Anpassungsfunktion. Gegen die These der
kognitionsabhängigen Emotionsreaktionen spräche ebenfalls, daß das kognitive
System wesentlich verzweigter, vielfältiger und flexibler ist, während es nur eine
begrenzte Zahl an Emotionen gibt, die sich nur auf begrenzte Weise empfinden lassen.
Auch in der Ontogenese zeigen sich emotionale Reaktionen vor den Kognitionen. Der
erste Kontakt, den Säuglinge mit der Umwelt aufnehmen, erfolgt über emotionale
Ausdruckserscheinungen.
��Emotionale Reaktionen sind unvermeidlich
Emotionen als Reaktionen auf Wahrnehmungen treten im Gegensatz zu deren
kognitiver Beurteilung unwillkürlich und mühelos auf und können leicht erinnert werden.
103
Aufgrund ihres unwillkürlichen Auftretens sind Emotionen weniger leicht bewußt zu
machen und demgemäß auch weniger bewußt kontrollierbar als Kognitionen. Zwar
können Gefühlsausdrücke unterdrückt werden, das hat aber wenig Einfluß auf das
emotionale Erleben, welches stärker als Kognitionen von der Umgebung beeinflußt ist
und stets ganzheitlichen Charakter hat.
��Emotionale Urteile sind nahezu korrekturresistent
Vorlieben oder Abneigungen gegenüber situativen Gegebenheiten, Objekten oder
Personen sind nahezu unumstößlich, weil sie sich „richtig“ anfühlen. Mit rationalen
Argumenten ist es nicht möglich, bspw. das Gefühl, ein Musikstück zu mögen, zu
verändern, da diese Wahrnehmung einem inneren Empfinden entspricht.
��Gefühlsurteile implizieren das Selbst
Während kognitive Urteile, wie bspw. „dieses Haus ist groß“ nur Aussagen über
bestimmte Eigenschaften eines Objektes sind, beinhalten emotionale Urteile wie bspw.
„ich mag dieses große Haus“ immer eine gewisse Zuständlichkeit des Beurteilers
gegenüber dem Objekt, d.h. Gefühlsurteile offenbaren Aspekte der Persönlichkeit.
��Emotionen lassen sich nur schwer verbalisieren
Zum einen lassen sich Vorlieben oder Abneigungen nur schwer begründen, zum
anderen ist die nonverbale Vermittlung von Emotionen präziser als die verbale. Zajonc
vermutet, daß die Emotionsvermittlung bei den prälinguistischen Menschen so effektiv
war, daß eine Entwicklung sprachlicher Mitteilung nicht notwendig war. Darüber hinaus
wird den Emotionen oft keine semantische Bedeutung zugemessen, sondern sie
manifestieren sich häufig in viszeralen oder muskulären Reaktionsmustern. Aufgrund
dieser Gegebenheit nimmt Zajonc an, daß die Informationen, die in den Emotionen
enthalten sind, auf eine andere Art erworben, organisiert, kategorisiert, repräsentiert
und abgerufen werden, als die Informationen, die über Sprache vermittelt werden. Mit
Bezug auf Untersuchungsergebnisse, aus denen zu entnehmen war, daß beim
Erinnern, Vorstellen und Produzieren von Gefühlszuständen Muskelaktivitäten beteiligt
sind, postulierten Zajonc und Markus, daß körperliche Gefühlsausdrücke ohne
kognitive Vermittlung die Funktion der Repräsentation übernehmen können und
erinnert werden. Lachen, Weinen oder Schreien sind in diesem Sinne zu verstehen als
Repräsentationen emotionaler Zustände. Zwar führen Emotionen zu bestimmten
mentalen Repräsentationen, jedoch werden sie am schnellsten durch bestimmte
körperliche Zustände identifiziert. Somit wird dem motorischen System eine extensive
Beteiligung an emotionalen Prozessen zugesprochen. Aber auch Kognitionen sind
durch motorische Reaktionen repräsentiert, denn das Kratzen am Kopf oder das
Reiben des Kinns beim Lösen eines schwierigen Problems ist ebenfalls überkulturell zu
beobachten. Diese Erscheinungen sind jedoch bisher zu wenig erforscht. Bemängelt
104
wird, daß die kognitiven Emotionstheorien die motorische Komponente vernach-
lässigen aufgrund der Annahme, Interaktionen von Kognition und Emotion fänden
vornehmlich auf der Ebene interner mentaler Repräsentationen statt.
��Emotionale Reaktionen sind nicht notwendig abhängig von Kognitionen
Daß Emotionen von Kognitionen unabhängig sind, zeigt sich, wie oben bereits
angedeutet, darin, daß man bereits bei der ersten Begegnung mit einer fremden
Person, noch bevor nähere Fakten zu dieser Person bekannt sind, mit Sympathie oder
Antipathie reagiert. Hierzu führt Zajonc weiter aus, daß im Falle es möglich wäre, durch
kognitive Einsicht, Vorlieben oder Abneigungen zu verändern, das Problem von
Einstellungsänderungen lange gelöst wäre. Gemäß einer Untersuchung von Petty &
Cacioppo erwies sich gerade die Methode der rationalen Argumentation als am
wenigsten effektiv, um Einstellungsänderungen hervorzurufen. Erfahrungsgemäß führt
die rational gewonnene Einsicht über die gesundheitsfördernde Wirkung des Genusses
von Bananen bei einem Menschen, der Bananen nicht mag, keineswegs dazu, eine
Vorliebe für diese Frucht zu entwickeln.
��Emotionale Zustände können sich von ihrem ursprünglichen Inhalt loslösen
Mit dieser These wird darauf Bezug genommen, daß es nicht immer möglich ist, sich
präzise an manche Gegebenheiten zu erinnern, man dagegen durchaus eine
Vorstellung von den die Situationen begleitenden emotionalen Zuständen haben kann.
Ein bekanntes Beispiel dafür sind Streitigkeiten oder Meinungsverschiedenheiten.
Häufig ist es nicht mehr möglich, den Grund für eine Streitigkeit zu erinnern, dagegen
ist der in dieser speziellen Diskussion vorherrschende Gefühlszustand noch präsent.
��An emotionalen und kognitiven Prozessen sind unterschiedliche neuroanatomische
Strukturen beteiligt
Zajonc stützt sich auf die oben bereits ausgeführten Ergebnisse der Hirnforschung:
angeführt wird zunächst der Zusammenhang zwischen dem limbischen System und
den emotionalen Prozessen. Weiterhin wird bezüglich der Erkenntnisse zur
Hemisphärendominanz darauf verwiesen, daß die emotionalen Aspekte der Sprache
von der rechten Hirnhälfte kontrolliert werden, die semantischen Aspekte dagegen von
der linken. Als weiteres Indiz für die Möglichkeit einer kognitionsunabhängigen
emotionalen Reaktion wertet Zajonc die direkte neuronale Verbindung zwischen der
Retina und dem Hypothalamus, mittels derer im Organismus Reaktionen hervorgerufen
werden können, ohne die vorgängige Vermittlung höherer mentaler Prozesse.
Demgemäß können allein sensorische Inputs auch ohne kognitive Transformation
emotionale Reaktionen hervorrufen.
105
��Ergebnisse aus empirischen Untersuchungen zum Zusammenhang von Kognition und
Emotion
Personen, denen über die Nahrung Valium verabreicht wurde, veränderten ihre
Stimmung, unabhängig davon, ob sie von der Drogenvergabe wußten oder nicht. Für
die veränderte Stimmungslage mögen alle Arten von Erklärungen gefunden werden,
einige Qualitäten der Stimmungsveränderungen sind durch körperliche Wirkung des
Valiums verursacht.
Zajonc verweist auch auf die oben bereits erwähnte Möglichkeit, durch direkte
elektrische Reizung der Areale des limbischen Systems emotionale Reaktionen
induzieren zu können.
Diverse Laboruntersuchungen haben den Nachweis für emotionale Reaktionen unab-
hängig von einer bewußten Wahrnehmung oder Wiedererkennen erbracht. In Experi-
menten zur unterschwelligen Wahrnehmung wurden Versuchspersonen 1 – 5 msec.
z.B. drohende Gesichter dargeboten. Trotzdem die Reize weder erkannt noch
wiedererkannt wurden, löste die unterschwellige Darbietung dieser Reize starke
emotionale Reaktionen aus.
Durch die von Kunst-Wilson und Zajonc entwickelte Versuchsanordnung, in denen
Probanden unregelmäßige Vielecke für die Dauer von 1 Millisekunde dargeboten
wurden, konnten die Ergebnisse aus vielfachen Studien mit anderen Designs bestätigt
werden: Unabhängig der Wiedererkennungsrate wurden bei der Präsentation der
Vielecke zusammen mit anderen Vielecken zu 60 % gegenüber 40 % diejenigen
bevorzugt, die vorher kurz präsentiert worden waren. Von den 24 Versuchspersonen
bevorzugten 16 die bereits präsentierten Reize, aber nur von 5 der 24 Personen
wurden sie als solche erkannt. Eine Unterscheidung zwischen neuen und alten Reizen
wird mit Hilfe von „Gefallen“ getroffen.
Zajonc, der es selbst bemerkenswert findet, daß bei einer solch kurzen Darbietungszeit
überhaupt Unterschiede festzustellen sind, sieht diese Ergebnisse aber als weitere
Bestätigung für seine These, daß emotionale Reaktionen unabhängig von
differenzierten kognitiven Bewertungsprozessen stattfinden können.
Für Zajonc bildet die Sammlung vorstehender Argumente die Grundlage für seine These,
daß kognitive und emotionale Prozesse von zwei von einander getrennten Systemen
hervorgebracht werden, die miteinander interagieren und sieht sich damit im völligen
Widerspruch zu Lazarus, der für die Emotionen eine Abhängigkeit von kognitiven
Bewertungsprozessen postuliert.
106
Diese beiden widersprüchlichen Ansichten führten, wie bereits erwähnt, zu einer inten-
siven Debatte, an der sich auch andere Emotionstheoretiker beteiligt haben. Einigkeit
herrscht zumindest bei den Außenstehenden darin, daß es sich hierbei um eine Frage der
Bestimmung des Begriffes Kognition handelt310. Diese Meinung wird von den beiden
Kontrahenten jedoch nur im beschränkten Maße geteilt. Gemäß Zajoncs311 Ansicht, ist die
Kontroverse nicht auf definitorischem Wege, sondern nur über empirische Studien zu
klären, wobei er allerdings einräumt, daß eine endgültige Klärung abhängig sei von einem
umfassenderen Verständnis unseres Bewußtseins. Dagegen bestreitet Lazarus312 mit
Blick auf den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft die Möglichkeit, daß diese Debatte
auf empirischem Wege zu klären sei, da es einerseits Zajonc nicht möglich wäre nachzu-
weisen, daß Emotionen ohne vorherige kognitive Bewertung aufträten, andererseits
könne er (Lazarus) ebensowenig den gegenteiligen Beweis liefern. Im übrigen gründe die
Kontroverse auf Unterschiede in den philosophischen Grundprämissen. Während Zajoncs
Sichtweise dem Neopositivismus entspräche, vertrete er eher die konstruktivistische
Perspektive.
Entgegen den Ausführungen der beiden Kontrahenten zeigt Goller vor allem bei Zajonc
einen undifferenzierten Umgang mit dem Begriff Kognition auf, der sich in weiten Teilen
von Lazarus Begriffsverständnis unterscheide. Einmal definiere Zajonc Kognition als reine
Informationsverarbeitung, also als „diejenigen internen Prozesse, die am Erwerb, an der
Transformation und Speicherung von Informationen beteiligt sind“313 und bezeichne auch
die Ergebnisse der Informationsverarbeitung als Kognitionen. An anderer Stelle lasse sich
dagegen eine Einschränkung der Begriffsverwendung aufzeigen: „My definition of
cogniton (Zajonc, 1980, p. 154) required some form of transformation of a present or past
sensory input. ’Pure’ sensory input, untransformend according to a more or less fixed
code, is not cognition. It is just ‘pure’ sensation. Cognition need not be deliberate, rational,
or conscious, but it must involve some minimum “mental work’. This mental work may
consist of operations on sensory input that transform that input into a form that may
become subjectively available, or it may consist of the activation of items from memory.”314
Goller folgt in seiner Interpretation Dörner und Stäudel, dem zufolge bezeichne Zajonc als
eine Minimalform der Kognition den Transformationsprozeß eines sensorischen Inputs,
310 Vgl. Bischof, Norbert (1989): a.a.O.; Dörner, Dietrich: (1989): a.a.O.; Scherer, Klaus (1989), a.a.O 311 Vgl. Zajonc, Robert, B.: On the Primacy of Affect. American Psychologist, Vol. 29, Nr. 2, 1984a, S. 117 –
123, besonders S. 121 f. 312 Vgl. Lazarus, Richard S.: On the Primacy of Cognition. American Psychologist. Vol. 39, Nr. 2 1984, S. 124
– 129, siehe hierzu besonders S. 126. 313 Vgl. Goller, Hans: S. 173. 314 Zajonc, Robert B. (1984a) : a.a.O., S. 118.
107
der dem Subjekt bewußt gemacht werden kann, d.h. dem Erleben zugänglich sei.
Widersprüchlich sei, wie Goller feststellt, die von Zajonc im Zusammenhang mit der
letzten Definition aufgestellte Behauptung, mit Lazarus einer Meinung zu sein, daß zur
Emotionsentstehung kein willentlicher, bewußter und rationaler kognitiver Prozeß
notwendig sei, da diese Aussage seiner Kognitionsdefinition als bewußtem Prozeß
entgegenstünde.315
Gollers Ansicht nach liegt der Unterschied zwischen den Definitionen des Begriffes
Kognition von Lazarus und Zajonc also darin, daß nach Lazarus kognitive Bewertung
nicht willentlich, rational oder bewußt sein muß. Darüber hinaus verwende letzterer den
Begriff Kognition sehr breit, indem er jede primitivste wertende Wahrnehmung als
kognitiven Prozeß bezeichne, und damit auch Tiere zu den wertenden und einschätzen-
den Organismen zählten. Dadurch, daß nach Lazarus Kognitionsprozesse auf unter-
schiedlichen Komplexitätsstufen ablaufen, wäre jede Form der Informationsverarbeitung
Kognition und notwendigerweise Voraussetzung für das Auftreten einer Emotion.
Worauf Goller in diesem Zusammenhang nicht eingeht, sind die in Zajoncs Definition
verwendeten ungeklärten Begriffe und die sich daraus ergebenden weiteren
Interpretationsmöglichkeiten: Nach Zajonc können aus reinen sensorischen Inputs, die
nicht durch einen bestimmten „Filter“ encodiert werden, reine Empfindungen entstehen.
Nicht geklärt ist jedoch, durch welchen Prozeß diese Empfindungen entstehen. Die aus
dieser Unklarheit resultierenden Fragen sind erstens, ob reine Empfindungen im Sinne
eines Reiz-Reaktions-Mechanismus gleichzusetzen sind mit Emotionen und zum
anderen, ob nicht auch ‚reine sensorische Inputs’ einer gewissen und jedoch nicht
bewußten ‚mentalen Verarbeitung’ bedürfen, um körperliche Empfindungen hervorzu-
rufen, denn auch die direkte Weiterleitung eines Reizes von der Retina über die Nerven-
bahn zum limbischen System ist dann als mentaler Prozeß im Sinne einer Informations-
transformation zu bezeichnen, wenn die mentale Arbeit einer Kognition eine Informations-
transformation nicht notwendig willentlicher, rationaler oder bewußter Art ist. In diesem
Zusammenhang ist vor allem der letzte Satz des Zitats von Zajonc unklar, in welchem die
mentale Arbeit bezeichnet wird als Transformation eines Reizes in eine Form, die
subjektiv verfügbar ist. Vorausgesetzt auch die Umsetzung sensorischer Inputs in
Empfindungen erfolge über mentale Arbeit, dann wären die Empfindungen das
„subjektiv verfügbare“ (subjective abvailable) Resultat dieser Verarbeitung.316 Mit dieser
315 Vgl. Goller, Hans: S. 173. 316 Daß diese Interpretation durchaus eine Berechtigung hat, wird deutlich an den Ausführungen von Zajonc
und Martin in dem Punkt: „Emotionen lassen sich nur schwer verbalisieren“. Hier wird angenommen, daß
108
Interpretation würde nicht nur der von Goller aufgezeigte Widerspruch in Zajoncs
Aussagen und der Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Kognitionsdefinition
nahezu aufgehoben, auch der propagierte Unterschied zwischen der von Lazarus und
Zajonc vorgenommenen Begriffsdefinition würde sich auflösen.
Hier soll darauf hingewiesen werden, daß solcherart Interpretationsspekulationen dadurch
Raum gegeben wird, daß keiner der in der Definition verwendeten Begriffe genauer
geklärt ist, weder „Empfindung“, noch „mentale Arbeit“ noch das, was unter „subjektiv
verfügbar“ verstanden wird, woraus notwendigerweise die Unklarheit der Bestimmung
dessen, was Kognition ausmacht, resultieren muß.
Wie bereits deutlich wurde, haben sich auch andere Emotionspsychologen an der
Kognitions-Emotions-Debatte beteiligt, was vor allem zu einer Reflexion über die
Rezeption des Kognitionsbegriffes in der Psychologie geführt hat.317 Nach Dörner und
Stäudel318 hat mit der kognitiven Wende in der Psychologie auch der Begriff Kognition
einen Bedeutungswandel erfahren. Bezog er sich vorher auf Erkenntnis und Erkenntnis-
tätigkeit, genauer „auf die Gedächtnismodelle, die sich Menschen von der Welt machen,
und auf die Prozesse, mit denen Menschen solche Modelle erstellen und modifizieren,
also auf Denken und Lernen [...], [hat er bis heute] eine fast unerträgliche Ausweitung
seiner Bedeutung erfahren: für viele bedeutet er einfach ’Informationsverarbeitung’“319.
Problematisch ist diese Bedeutungserweiterung für die Autoren insofern, als man unter
Vernachlässigung von qualitativen und energetischen Aspekten und alleiniger Berück-
sichtung abstrakter Wirkzusammenhänge nahezu jeden Prozeß auf dieser Welt als
Informationsverarbeitung bezeichnen könne. Anhand des Beispiels, daß auch der Lauf
eines Automotors, aufgrund der Tatsache, daß dessen einzelne Prozesse mit dem
Computer simuliert werden können, als Informationsverarbeitungsprozeß betrachtet
werden kann, wird expliziert, daß es eine Sache des Standpunktes sei, einen Prozeß als
Informationsverarbeitungsprozeß anzusehen, denn es sei „nicht der eine Prozeß
‚Informationsverarbeitung’, der andere nicht“. Mit dem Hinweis darauf, daß der Lauf eines
Motors wohl als Informationsverarbeitung, aber sicherlich nicht als kognitiver Prozeß zu
bezeichnen sei, empfehlen Dörner und Stäudel, kognitive Prozesse von Informations-
Lachen, Weinen oder Schreien als Repräsentationen emotionaler Zustände zu verstehen seien. Siehe oben S. 104.
317 Vgl. hierzu auch oben die Diskussion um Norbert Bischofs Kognitionsverständnis, S. 79 ff. 318 Vgl. Dörner, Dietrich; Stäudel Thea: Emotion und Kognition. In: Scherer, Klaus R.: Enzyklopädie der
Psychologie. Themenbereich C: Theorie und Forschung, Serie IV: Motivation und Emotion, Band 3: Psychologie der Emotion. Göttingen, Toronto, Zürich 1990, S. 293 – 344, siehe hierzu besonders S. 294 ff.
319 Ebd. S. 294.
109
verarbeitungsprozessen scharf abzugrenzen. Wohl könne es von Vorteil sein, psychische
Prozesse insgesamt als Informationsverarbeitungsprozesse zu bezeichnen, dabei würde
jedoch deutlich, daß dieser Begriff ein Oberbegriff sei, unter den kognitive Prozesse zu
subsumieren seien. „Aber nicht jede Informationsverarbeitung ist ein kognitiver Prozeß.“320
An anderer Stelle schlägt Dörner321 vor, sich zur Klärung des strittigen Verständnisses des
Begriffs zu besinnen auf die Wortbedeutung der etymologischen Wurzel von Kognition:
„cognoscere“, was er frei übersetzt als „zusammen wissen“. In Dörners Interpretation muß
dieses „Zusammen wissen“ sich beziehen auf die Erkenntnis eines „allgemeine[n] (also
raum-zeitlich übergreifende[n]) Zusammenhang[es] zwischen Sachverhalten [...], der
zunächst nicht sinnfällig war und daher auch nicht bekannt. Es wird im Wissen etwas
zusammengebracht, was vorher nicht zusammen war.“322 Demgemäß will Dörner Kogni-
tion verstanden wissen als „Einsicht“, was sich deutlich abhebe von der bloßen Fest-
stellung oder Wahrnehmung einer Gegebenheit. Den Unterschied illustriert er an dem
Beispiel, daß man schlecht sagen könne, man habe eingesehen, daß auf einem Tisch ein
Kugelschreiber läge, wohl aber, man habe eingesehen, daß die Prüfungsangst in Zusam-
menhang zu sehen sei mit der Person des Prüfers. Nur im letzten Falle handele es sich
um einen „neu hergestellten, übergreifenden Zusammenhang“323, und allein für solche
Fälle sollte der Begriff Kognition zur Anwendung kommen. Bezüglich seiner Ausführungen
betont er zwar deren Notwendigkeit, um Vereinfachungen durch Verallgemeinerungen
vorzubeugen, räumt jedoch gleichzeitig ein, daß solche Erörterungen müßig seien, „denn
[...] der Begriff ‚Kognition’ lasse sich sowieso nicht mehr retten“324.
Die geringe Fruchtbarkeit von Debatten über Begriffsbestimmungen betonen auch
Leventhal und Scherer325 vor allem im Zusammenhang mit der Kognitions-Emotions-
Debatte. Für sie konzentriert sich die Auseinandersetzung auf zwei miteinander verbun-
dene zentrale Fragestellungen: strittig sei zum einen, ob Emotionen und Kognitionen von
voneinander unabhängigen Mechanismen erzeugt werden und zum anderen, ob
Emotionen vor Kognitionen auftreten können. Um die zweite Frage beantworten zu
können, sei es zunächst notwendig, die erste Frage zu klären, denn wenn die Erzeugung
von Kognitionen und Emotionen nicht zumindest zu einem gewissen Teil voneinander
320 Ebd. S. 295. 321 Vgl. Dörner, Dietrich: a.a.O. (1989) S. 207. 322 Ebd. 323 Ebd. 324 Ebd. 325 Leventhal, Howard, Scherer Klaus R.: The Relationship of Emotion ot Cognition: A Functional Approach to
a Semantic Controversy. Cognition and Emotion Vol. 1 (1), 1987, S. 3 – 28.
110
unabhängig erfolge, wäre es nach Leventhal und Scherer kaum möglich, daß Emotionen
vor Kognitionen auftreten, wodurch sich die zweite Frage erübrige. Um die erste Frage
klären zu können, müssen also zunächst spezielle Mechanismen differenziert werden. Die
Autoren betonen jedoch, daß selbst wenn unabhängige Prozeßmechanismen für Kognitio-
nen und Emotionen gefunden würden, es wahrscheinlich sei, daß diese beiden Mechanis-
men ausschließlich in wechselseitiger Abhängigkeit miteinander operierten, was eine
adäquate Erklärung für die Beobachtung sei, daß sie niemals unabhängig voneinander
aufträten.
In diesem Zusammenhang wird bemängelt, daß weder Lazarus noch Zajonc zwischen
Verhalten und Mechanismen unterscheiden, noch daß sie die Möglichkeit erwägen, es
könne sich bei Emotions- und Kognitionsprozessen um zwei in wechselseitiger
Abhängigkeit operierende Systeme handeln. Dagegen konzentriere sich der Streit allein
auf das Verständnis des Begriffes Kognition, der bei Lazarus jeden sensorischen oder
Wahrnehmungsprozeß umgreift, für Zajonc aber auf die Prozesse beschränkt ist, die nach
der Wahrnehmung erfolgen, d.h. beide gehen in ihrem Begriffsverständnis von ver-
schiedenen Ebenen der Reizverarbeitung aus. Nach Leventhal und Scherer ist diese
Streitfrage nicht lösbar, da sie sich allein darauf beschränke, welcher dieser Prozesse der
Reizverarbeitung schon als Kognition zu bezeichnen sei.
Unter Berücksichtigung dieses Tatbestandes entwickeln Leventhal und Scherer in
Auseinandersetzung mit den von Zajonc und Lazarus vertretenen Grundprämissen ein
integratives Modell der Emotionen. Hierbei arbeiten sie unter mehreren Zielsetzungen:
zum einen geht es ihnen darum, die zentralen Fragestellungen, die nach ihrer Meinung
die Kognitions-Emotions-Debatte bestimmen, zu beantworten, zum anderen wollen sie
zeigen, daß Kognitions- und Emotionsprozesse in wechselseitiger Abhängigkeit miteinan-
der operieren. Die diesen Untersuchungen zugrundeliegende Absicht ist es, die bisher
mehr semantisch geführte Kognitions-Emotions-Debatte abzulösen durch konkretere und
operationalisierbare Fragen, die zur Untersuchung der am Emotionsprozeß beteiligten
Komponenten und der Art ihres Zusammenwirkens führen.
Das integrative Emotionsmodell ist eine Zusammenführung der beiden von den Autoren
unter unterschiedlichen Fragestellungen unabhängig voneinander entwickelten Emotions-
modellen: Leventhals mehrstufiges Prozeßmodell (multilevel process model), das sich auf
die Ontogenese der Emotionen konzentriert und Scherers Komponentenprozeßmodell
(component process model of emotions), welches die Funktion der Emotionen fokussiert.
Bei ihrem Projekt gehen die Autoren wie folgt vor: zunächst werden auf der Folie der
111
Prämissen von Leventhals Entwicklungstheorie die zentralen Gegenstände der
Kognitions-Emotions-Debatte diskutiert. Dieser Erörterung folgt die Darstellung des
Modells von Scherer, das darauf abzielt, die Komponente der Reizprüfung, die ein
wesentlicher Bestandteil von Leventhals Modell und auch der meisten anderen Emotions-
theorien ist, zu differenzieren und präzisieren. In einem dritten Schritt erfolgt die Integra-
tion der beiden Modelle in Form einer Tabelle, die es möglich macht, die Interdependenz
zwischen Emotionsgenerierung und Reizprüfung zu konkretisieren.
Im folgenden wird die Argumentationslinie zur Entwicklung des integrativen Modells
nachgezeichnet. Zur Vorstellung der zugrundeliegenden Emotionstheorien werden frühere
ausführlichere Veröffentlichungen der beiden Autoren herangezogen, um die jeweiligen
Grundprämissen präziser darstellen zu können.
3.3.3.3.3 Howard Leventhals mehrstufiges Prozeßmodell der Emotionen
Leventhal326 sieht sein Modell als eine Weiterentwicklung der Theorien von Ekman,
Friesen und Tomkins, und betrachtet Emotionen im Sinne eines Wahrnehmungs-
erlebnisses, die wie andere Wahrnehmungen subjektiver Natur sind und aufgrund dessen
nur mittels Indikatoren wie sprachliche Äußerungen, körperliche Ausdruckserscheinungen
und autonome Reaktionen untersucht werden können. Leventhals Theorie zielt darauf ab,
die Mechanismen aufzudecken, die aktiv an der Konstruktion von emotionalem Erleben
beteiligt sind.
Einige wichtige Ausgangsprämissen sind:
1. Emotionsausdrücke weisen überkulturelle Ähnlichkeiten auf.
2. Unterschiedliche Emotionen entwickeln und differenzieren sich im Laufe der Onto-
genese, beginnend mit der Geburt. Lernprozesse sind die wichtigsten Komponenten
für diese Differenzierung, denn Lernen bedingt die situationsübergreifende
emotionale Einschätzung ebenso wie das eigentliche Emotionserleben. Darüber
hinaus verändern Lernprozesse nicht nur die Organisation oder die Beziehung der
einzelnen Indikatoren der Emotionen, sondern verändern auch den emotionalen
326 Die Darstellung erfolgt nach Leventhal, Howard: A Perceptual-Motor Theory of Emotion. In Advances in
Experimental Social Psychology. Vol. 17, 1984, S. 117 – 182; Leventhal, Howard: A Perceptual Motor Theory of Emotion. In: Scherer, Klaus R. und Ekman, Paul: Approaches to Emotion. Hillsdale, London 1984a, S. 271 – 291 und Leventhal, Howard, Scherer Klaus R. (1987): a.a.O., S. 8 – 13.
112
Ausdruck. Aufgrund der entwicklungsbedingten Lernprozesse entstehen neue
Mischungen und neue Arten von Emotionen.
3. Emotionen scheinen Verhaltensmuster insgesamt zu verändern. Sie strukturieren
oder fokussieren alle Komponenten des Verarbeitungssystems auf ein allgemeines
Ziel.327
Leventhal328 geht davon aus, daß es zwei parallel arbeitende Subsysteme gibt, die einem
allgemeinen Informationsverarbeitungssystem zur Vermittlung adaptiven Verhaltens
angehören: ein emotionales Verarbeitungssystem und ein objektives – problemorien-
tiertes Verarbeitungssystem. Beide parallel und interaktiv arbeitenden Systeme sind durch
eine Reihe von Schritten und Stufen hierarchisch organisiert. Leventhal postuliert für
beide Verarbeitungssysteme drei Stufen: auf der ersten erfolgt die Rezeption und
Interpretation einer Information, die sowohl zur emotionalen als auch zur problem-
bezogenen Repräsentation der Reizsituation führt. Auf der zweiten Stufe werden sowohl
je emotions- und problembezogene Handlungspläne zur Situationsbewältigung entwickelt
und ausgeführt. Auf der dritten Stufe erfolgt die Bewertung der Bewältigungsbemühungen.
Das System arbeitet rekursiv und schnell, d.h. es findet ein schneller Austausch zwischen
Repräsentation, Bewältigung und Bewertung statt, wobei die beiden letzteren Stufen
sowohl den Emotions- als auch den Problemaspekt der Repräsentation beeinflussen.
Die Generierung des Emotionserlebens erfolgt in der ersten Stufe des emotionalen Ver-
arbeitungssystems. Auch zur Generierung wird wiederum ein hierarchisches Modell mit
drei verschiedenen Verarbeitungsebenen postuliert: 1. die senso-motorische Verarbei-
tung, 2. die schematische Verarbeitung und 3. die konzeptuelle Verarbeitung. Alle drei
Ebenen verbinden Stimulation mit emotionalem Erleben, wobei jeder Verarbeitungsweg
Emotionserleben generieren kann. Das senso-motorische System ist die „angeborene“
Möglichkeit zur Generierung „primitiver“ oder teilweise vorgeformter Emotionen. Das
schematische und das konzeptuelle System sind unterschiedliche Erinnerungssysteme,
die zum einen der Abstraktion und Speicherung der Bedingungen, die Emotionen hervor-
rufen, dienen und zum anderen Erinnerungen an Emotionen selbst speichern. Die drei
Verarbeitungssysteme sprechen auf unterschiedliche Emotionsstimuli an, die im
folgenden näher erläutert werden.
327 Vgl. Leventhal, Howard: a.a.O. (1984a), S. 273. 328 Vgl. ebd. S. 273 ff.
113
Das senso-motorische Verarbeitungssystem329
Leventhal sieht das senso-motorische Verarbeitungssystem als Basis für die emotionale
Entwicklung an, da die Aktivität dieses „angeborenen“ motorischen Systems bei Neuge-
borenen zu beobachten ist, in der Form, daß bestimmte interpersonelle Reizmuster wie
die Stimmlage oder Gesichtsausdrücke ganz bestimmte Ausdrucksreaktionen hervor-
rufen. Als eine Referenz für diese These wird u.a. eine Untersuchung von Field et al.
genannt, die an 76 Neugeborenen nachweisen konnten, daß diese im Alter von 36 Stun-
den schon die Fähigkeit besitzen, die ihnen von einem Erwachsenen präsentierten
glücklichen, traurigen oder überraschten Gesichtsausdrücke zu imitieren. Diese Unter-
suchungsergebnisse lassen auf die vorprogrammierte Natur des Ausdrucks von
Emotionen und des damit verbundenen Emotionserleben schließen, wobei letzteres
bisher noch nicht nachgewiesen ist. Für Leventhal bilden diese motorischen Reaktionen
oder Kategorien eine Art Grundvokabular für emotionales Verhalten und Erleben. Diesen
frühen emotionalen Reaktionen kommen wie allen senso-motorischen Reaktionen
motorische Bedeutung zu. Hier fehlen noch klare Assoziationen zu bestimmten Objekten
oder Gegebenheiten, ebenso wie noch keine Bewältigungsmechanismen etabliert sind.
Aus diesem Grunde gleichen die in dem senso-motorischen Verarbeitungssystem
generierten Emotionen in vielem einfachen Reflexen, da ihnen sowohl die Verbindung zu
komplexen Umwelterlebnissen als auch die Bewältigungsmechanismen fehlen. Jedoch
unterscheiden sie sich nach Leventhal von einfachen Reflexen dadurch, daß sie abhängig
sind von differenzierten Reizmustern und für eine Reaktion das Zusammenwirken einiger
Muskelgruppen benötigt wird.
Verarbeitung der Emotionen durch Schemata330
Durch die wiederholte Auslösung bestimmter senso-motorischer Emotionen, in Verbin-
dung mit der Wahrnehmung und Reaktion auf bestimmte Umweltgegebenheiten, bilden
sich eine Reihe von nonverbalen perzeptiv-motorischen Gedächtnisstrukturen, die
zunächst an ganz bestimmte Situationen gebunden sind. Hier werden zunächst beson-
dere Details und spezielle Situationen erinnert, die starke Emotionen hervorrufen. Mit
diesen Erinnerungen ist die Speicherung des situationstypischen Emotionserlebens als
motorische und autonome Reaktion verknüpft. Diese emotionalen Schemata sind
vergleichbar mit konditionierten Reaktionen. Aus der Tatsache, daß die Verbindung
zwischen den einzelnen Komponenten der Schemata, d.h. dem Auslöser, dem Emotions-
329 Vgl. ebd. S. 274 f. 330 Vgl. ebd. S. 275 f.
114
erleben, den Ausdruckserscheinungen sowie den autonomen Reaktionen viel fester ist
und besser integriert wird als die meisten anderen assoziativen Prozesse, vermutet
Leventhal, daß es sich bei diesen Erinnerungsstrukturen um kortikale „Säulen“ handelt,
d.h., die neuronalen Repräsentationen der einzelnen Komponenten sind in enger
räumlicher Beziehung zueinander angeordnet.
In der weiteren Entwicklung werden emotionale Schemata durch wiederholtes Erleben
spezifischer emotionsauslösender Situationen, wie bspw. wiederholte liebevolle oder
ärgerauslösende Erfahrungen mit einem Elternteil, verallgemeinert auf bestimmte
Durchschnittswerte der jeweiligen emotionalen Situation. Die Verarbeitung emotionaler
Schemata erfolgt automatisch und schnell und ähnelt dem Wiedererkennen und der
intuitiven Bewertung im Sinne von Mögen und Nichtmögen. Bewußte Denktätigkeit wird
hier nicht benötigt. Der Aktivierung einer Komponente eines emotionalen Schemas folgt
sofort die Aktivierung der anderen Komponenten.
Selbstverständlich verändern sich die Schemata im Laufe der Entwicklung. Die ursprüng-
lichen Schemata, die sehr nahe an der Wahrnehmung und an konkreten Situationen
orientiert sind, differenzieren sich im Laufe der Zeit, werden operationalisiert oder
wahrnehmungsunabhängig, ähnlich der Schemata der physikalischen Welt, die sich im
Laufe der Zeit von der voroperationalen zur operationalen Form entwickeln.
Leventhal differenziert 7 Funktionen der schematischen Verarbeitung:331
1. Automatische Verarbeitung: Die Hauptfunktion der emotionalen Schemata ist eine
außerordentlich schnelle emotionale Einschätzung von aktuellen Situationen parallel
zu willentlicher kognitiver Aktivität, die das subjektive Erleben von Objekten und
Ereignissen ohne speziellen Aufwand formen. Diese emotionalen Einschätzungen
organisieren das Wahrnehmungsfeld. Nach Leventhal spricht vieles dafür, daß die
emotionale Einschätzung einer Situation nicht mit deren bewußten Bewertung
übereinstimmen muß.
2. Erwartungsformung: Ähnlich anderen Schemata oder Kategorien arbeiten emotionale
Schemata wie eine Art Filter, die die Aufmerksamkeit auf bestimmte Reizgegeben-
heiten lenken. Zudem dienen sie als Erinnerungsfolie für spätere Erlebnisse.
3. Festigung von speziellen episodischen Erinnerungen: Typische emotionale
Reaktionen auf Objekte, Personen oder situative Gegebenheiten werden in einem
emotionalen Schema abgespeichert und spielen so eine Hauptrolle bei der Erinnerung
331 Vgl. Leventhal, Howard: a.a.O. (1984), S. 135 ff.
115
an die jeweilige Personen oder Situationen. Diese spezifischen emotionalen Erinne-
rungsstrukturen wiederum beeinflussen die Ausdruckserscheinungen sowie die
autonomen und instrumentellen Reaktionen von Gefühlserlebnissen auf andere
situationsspezifische Reize und Vorstellungen.
4. Prototypische Formationen und Verallgemeinerungen: Ebenso wie Wahrnehmungs-
erinnerungen Prototypen oder Verallgemeinerungen bilden, tragen Schemata zur
Verallgemeinerung von emotionalen Erlebnissen bei. Diese Verallgemeinerungen
richten sich aus an bestimmten Merkmalen oder Dimensionen, die als besonders
wichtige Charakteristika eines Sets konkreter Episoden angesehen werden und
ursprünglich diese spezielle Klasse von Emotionen hervorgerufen haben. Wenn
beispielsweise Macht oder Status immer in Verbindung mit Körpergröße und Kleidung
erfahren wurde und diese Darstellung von Macht Ärger oder Angst ausgelöst hat,
kann daraus erfolgen, daß allein die Konfrontation mit ähnlicher Körpergröße oder
Kleidung Ärger oder Angst auslösen. Diese emotional fundierten Attribuierungen
erfolgen automatisch und „unbegründet“.
5. Formung neuer Emotionsarten: Emotionale Schemata sind wichtig für die Entwicklung
neuer Emotionen. Situationen können Kombinationen von Ausdruckserscheinungen
bestimmter grundlegender Gefühle (wie Angst, Freude, Ärger oder Trauer) hervor-
rufen und diese Kombinationen werden in Form von emotionalen Schemata abge-
speichert. Auf diese Weise können neue Gefühlserlebnisse generiert werden. Daher
kann man von automatisch hervorgerufenen Emotionen wie Intimität, Stolz und
Mißfallen reden.
6. Klassifizierung und Akkumulierung emotionaler Erlebnisse: Emotionale Schemata
dienen der Organisation von emotionalen Erlebnissen. Hier werden zwei Möglich-
keiten unterschieden: zum einen werden Objekte oder Erlebnisse durch die Verbin-
dung mit Gefühlen klassifiziert, d.h. emotionale Schemata bedingen die Anziehungs-
oder Vermeidungsreaktion gegenüber Objekten oder speziellen Gegebenheiten und
tauchen die Wahrnehmung der jeweiligen Sachverhalte in ein spezielles Gefühls-
erlebnis.
Der zweite Organisationseffekt ist die kumulative Wirkung der Emotionen. Die
Komponenten von Emotionen scheinen sich nicht anzugleichen, sondern zu addieren
oder zu multiplizieren. Nach Leventhal ist dieser kumulative Effekt eine Eigenart der
emotionalen Schemata, die sich darin zeigt, daß scheinbar unzusammenhängende
Ereignisse (z.B. Wahrnehmung von Objekten oder Ausdrucksverhalten) miteinander
kombiniert werden zu einem bestimmten Gefühl. Die Verstärkung einer der Elemente
(z.B. durch die Steigerung der Intensität von spontanem Ausdruck oder die Erhöhung
der autonomen Reaktionen) erhöht die Intensität des Emotionserlebens. Leventhal
116
berichtet in diesem Zusammenhang über eine Untersuchungsreihe von Zillmann
bezüglich der Generalisierung von Erregung, die bestätigte, daß eine körperliche
Erregung aus einer vorherigen Aufgabe, hier war es das Betätigen der Pedale eines
Trainingsfahrrads, die nachfolgende aber damit nicht in Beziehung stehende
Gefühlsempfindung (in diesem Falle eine sexuelle Erregung) verstärkt.332
7. Stabilisierung der Objektbeziehung: Schließlich führen über emotionalen Schemata zu
stabilen Objektbeziehungen, die sich zeigen in positiven und negativen Einstellungen
sowie Vorlieben und Abneigungen. Stabile Objektbeziehungen sind wichtig für die
Aufrechterhaltung sicherer sozialer Beziehungen und für die Erinnerung an positive
und die Vermeidung von negativen Erfahrungen mit speziellen Objekten und
Ereignissen.
Ein konkretes Beispiel für die schematische Verarbeitung der Emotionen ist das
Phänomen des Phantomschmerzes. Phantomschmerzen sind die einem amputierten
Körperteil zugeordneten Empfindungen, die in vielen Fällen extrem schmerzhaft sind. Das
Auftreten von Empfindungen eines amputierten Gliedmaßes, die häufig in enger Verbin-
dung stehen mit dem zur Amputation geführten schmerzvollen Erlebnis, deutet darauf hin,
daß Emotion in Form von Schemata gespeichert ist. Die Beobachtung, daß mit dem
Aufkommen von negativen Gefühlen wie Angst oder Unwohlsein auch Phantom-
schmerzen aktiviert werden können, unterstützt weiterhin die These, daß emotionale
Schemata fest miteinander verbundene Strukturen sind, die sich zusammensetzen aus
emotionsauslösenden Situationen, subjektiven Gefühlen sowie Ausdruckserscheinungen
und autonomen Reaktionen.
Begriffliche Verarbeitung333
Die begriffliche Verarbeitung, die unerläßlich ist für die bewußte Auseinandersetzung mit
den Gefühlen, erfolgt unabhängig von dem senso-motorischen und dem schematischen
Prozeßsystem. Leventhal unterscheidet bei der begrifflichen Verarbeitung zwei
Komponenten: eine sprachliche Komponente für eine verbale Auseinandersetzung mit
emotionalen Erlebnissen (Verbal Conceptual Component) und die Darstellungskom-
ponente, die der willentlichen Gestaltung emotionaler Handlungen (Performance
Conceptualizations) dient. Während das Sprechen über Emotionen zwar für die meisten
Personen relativ einfach ist, scheint es doch oft von den eigentlichen Emotionen getrennt
332 Vgl. ebd. S. 137. 333 Vgl. ebd. S. 141 ff. und Leventhal, Howard: a.a.O. (1984a) S. 277 f.
117
zu sein und nicht dazu geeignet, emotionale Prozesse zu kontrollieren. Leventhal führt
das darauf zurück, daß bei der sprachlichen Verarbeitung nur einzelne (in der Erinnerung)
als besonders wichtig angesehenen Aspekte einer emotionalen Episode abstrahiert
werden. Die Konzentration auf unerwartete oder ganz besonders herausragende Faktoren
führt dazu, daß diese als Emotionsauslöser angesehen und andere die Situation
begleitenden Umstände außer Acht gelassen werden. So kann man sich bspw. aufgrund
eines Geräusches in einem dunklen Haus erschrecken oder fürchten. Wird nun diese
Gefühlsempfindungen allein auf das Geräusch zurückgeführt, bleibt unberücksichtig, daß
die Dunkelheit eine entscheidende Rolle bei der Stimulierung von Angstreaktionen spielt.
Eine ähnlich wichtige Rolle spielt das Alleinsein als kontextueller Faktor für die Erregung
von Angst und die Formation von Phobien gegenüber einer Vielzahl von Reizen.334 Nach
Leventhal reagieren schematische und senso-motorische Systeme stark auf kontextuelle
Gegebenheiten, was zu einer Inkonsistenz zwischen ihnen und der post hoc
Einschätzung des Akteurs führen kann.
Die zweite Komponente der begrifflichen Verarbeitung, die Darstellungskonzeptualisierun-
gen sind abstrakte, sequentielle Repräsentationen von Wahrnehmungen und motorischen
Reaktionen. Darstellungscodes werden nur durch die aktive emotionale Situationsbewälti-
gung gebildet. Mit ihnen erfolgt die willentliche Gestaltung des Ausdrucks von bspw.
Trauer, Ärger, Freude und Angst.
Beide Verarbeitungskomponenten greifen auf ein propositionales Gedächtnisnetzwerk zu,
in welchem spezifische Elemente in logischer Beziehung stehen. Da propositionale
Erinnerungen abstrakter sind als schematische, können mit Hilfe der propositionalen
Speicherungen auch die emotionalen Situationen interpretiert werden, die einen sehr
starken Transformationsprozeß durchlaufen. Aufgrund der größeren Abstraktheit
verändern sich propositionale Speicherungen durch neue emotionale Erfahrungen kaum,
kleine oder größere Unterschiede im Kontext einer speziellen Emotionsepisode werden
ignoriert, da die Situation nur einige abstrakte emotionale Merkmale aufweisen muß, die
einer vorangegangenen Episode ähneln. Propositionale Speicherung erlaubt flexiblere
oder bedächtigere Reaktionen auf emotionale Erlebnisse und unterstützt die Kurzzeit- und
334 Leventhal weist in diesem Zusammenhang auf eine wichtige Untersuchung von Sroufe und Waters
bezüglich der bei ca. 9 Monate alten Kleinkindern auftretenden Fremdenangst hin. Sroufe und Waters stellten fest, daß diese Fremdenangst bei Kleinkindern vor allem in Laborsituationen auftritt, jedoch nicht in der bekannten häuslichen Umgebung wenn die Mutter präsent ist. In diesen Fällen nämlich führte der Kontakt mit Fremden zu positiven affektiven Reaktionen. Nach Leventhal dokumentiert dies, wie leicht es (auch im wissenschaftlichen Rahmen) zu Fehlinterpretation bezüglich der Auslöser von Emotionen kommen kann. Vgl. Leventhal, Howard: a.a.O. (1984) S. 142.
118
Langzeitkontrolle einzelner Erlebnisse. Begriffliche Verarbeitung ist mühevoll, erfolgt
willentlich und bewußt.
Es wird angenommen, daß begriffliche Erinnerungen dadurch entstehen, daß ein
Individuum über seine emotionalen Erlebnisse reflektiert. Durch die selbstbewußte
Auseinandersetzung mit der emotionsauslösenden Situation sowie den eigenen
Gefühlserlebnissen werden abstrakte begriffliche Gedächtnisstrukturen über die
emotionale Episode gebildet. In ähnlicher Weise wirkt sich das bewußte Einüben von
emotionsbegleitenden motorischen Ausdruckserscheinungen entscheidend auf die
Bildung begrifflicher Codes für die Gestaltung und die Kontrolle von emotionalen
Reaktionen aus. In diesem Zusammenhang wird auf Untersuchungsergebnisse
hingewiesen, nach denen durch die Übung situationsangemessener emotionaler
Ausdruckserscheinungen die Kontrolle über die emotionale Reaktion verbessert werden
kann. Voraussetzung dafür ist der Wille und die Fähigkeit zur Selbstreflexion.
Leventhal betont, daß das Emotionssystem als Ganzes operiert. Typischerweise sind
sowohl alle Stufen, das Fühlen, das Bewältigen und das Bewerten sowie alle Ebenen, die
senso-motorische, die schematische und die begriffliche, an der Generierung von
Emotionen beteiligt. Alle Ebenen der Verarbeitungshierarchie können sich ungeachtet
ihrer hierarchischen Stellung gegenseitig beeinflussen, d.h. die senso-motorische Ebene
kann auf die begriffliche Ebene wirken, ebenso wie die begriffliche die schematische oder
senso-motorische Ebene beeinflussen kann. Andere nichtemotionale Verarbeitungspro-
zesse können in ähnlicher Weise parallel zu den emotionalen Verarbeitungsprozessen
operieren. Emotionen sind nicht einmalig, da viele, wenn nicht alle Bestandteile eines
Emotionsverarbeitungsprozesses auch in anderen Informationsverarbeitungsprozessen
zu beobachten sind.
Nach Leventhal und Scherer lassen sich durch Leventhals Entwicklungsmodell nicht nur
die oben gestellten Fragen beantworten, darüber hinaus erscheinen durch die hier ver-
tretenen Thesen die Hauptgegenstände der Lazarus-Zajonc-Debatte in einem anderen
Licht: Ausgehend von der Frage: „Do simple, reflex-like behaviours consitute emotions, or
does something need to be add to them to qualify for this status?”335 wird zunächst die von
den beiden Kontrahenten vertretene Auffassung, eine einfachste Vermeidungsreaktion sei
eine Emotion, problematisiert. Es wird gezeigt, daß sich mit der Betrachtung der Emotio-
335 Leventhal, Howard, Scherer Klaus R.: a.a.O. (1987), S. 6. („Werden Emotionen durch einfache reflex-
ähnliche Verhaltensweisen erzeugt, oder sind zur Erzeugung einer Emotion zusätzliche Komponenten notwendig?“)
119
nen als ein Produkt eines Multikomponentenmechanismus (multicomponent mechanism)
eine grundlegende Unterscheidung zwischen Emotionen einerseits und Reflexen oder
anderen stereotypen Reaktionsmechanismen andererseits treffen läßt. Dabei liegt die
Annahme zugrunde, daß Emotionen einen phylogenetisch entwickelten komplexen
Adaptionsmechanismus repräsentieren, der einfache reflexartige Reaktionen ablöste, was
jedoch nicht bedeutet, daß Reflexe komplett durch Emotionen ersetzt wurden, bzw. für
diese irrelevant seien. Leventhal und Scherer weisen darauf hin, daß eine Diskussion
über das Verhältnis von Reflexen und Emotionen den gleichen fruchtlosen Charakter
hätte, wie die Diskussion über die Definition über Kognition. Für sie können Reflexe
einerseits als ein Element von Emotionen eine bedeutende Rolle spielen, andererseits
können Emotionen die Aktivierung von Reflexen stimulieren.336
Ausgehend von dieser Differenzierung lassen sich durch das Leventhalsche Modell vier
grundlegende Punkte klären337:
1. Durch das Postulat, daß eine gewisse Anzahl senso-motorischer Mechanismen für
die ersten emotionalen Verhaltensweisen verantwortlich sind, lassen sich emotionale
(Ausdruck von Annäherung und Vermeidung) von nicht-emotionalen Reaktionen von
einander abheben. Die hierdurch gegebene Möglichkeit, einige der Komponenten zu
unterscheiden, die zu kognitivem und emotionalem Verhalten führen, stützt die
Annahme der Autoren, daß es sich um zwei von einander verschiedene
Prozeßsysteme handelt. Aus diesem Grunde ziehen es die Autoren vor, die diese
unterschiedlichen Verhaltensweisen hervorrufenden Reize und Prozesse als
„sensory-perceptual“ (Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen) und nicht als
kognitiv zu bezeichnen, womit sie sich im Einklang mit der von Zajonc vertretenen
Position sehen.
2. Wie oben ausgeführt, werden die reflex-ähnlichen senso-motorischen Komponenten
schon sehr früh in der emotionalen Entwicklung, d.h. schon mit den frühesten emo-
tionalen Reaktionen verbunden zu immer komplexer werdenden Komponenten, die
zur schematischen und erinnerungsabhängigen Prozeßverarbeitung führen. Da die
Reizbewertung ein wesentlicher Bestandteil der schematischen emotionalen
Konstruktionen darstellt, kann man nach Leventhal und Scherer nicht nur wie Lazarus
argumentieren, daß Erfahrung und Verhalten von Emotion und Kognition
gleichermaßen bestimmt werden, sondern auch, daß in dem zugrundeliegenden
Prozeßsystem Emotion und Kognition zusammen wirken.
336 Vgl. ebd. S. 7. 337 Vgl. ebd. S. 11ff.
120
3. Als Beleg für die Unabhängigkeit der emotionalen und kognitiven Prozeßsysteme
werten Leventhal und Scherer, daß eine emotionale Reaktion als verändert oder in
einer gewissen Art „merkwürdig“ erlebt wird, wenn eine oder mehrere der Komponen-
ten, die für eine Emotion eines Erwachsenen typisch sind, fehlen. Sie beziehen sich
hier auf eine Untersuchung von Hohman an erwachsenen doppelseitig gelähmten
Patienten, deren Verletzungen das Feedback autonomer Reaktionen verhinderten.
Diese Patienten berichteten, daß einige ihrer Emotionen (Angst und Furcht, aber
nicht Traurigkeit oder Sentimentalität) sich verändert hätten und den Charakter von
einer „als ob“ Emotion bekommen hätten. Nach Leventhals Modell treten solche
Effekte nur auf, wenn die emotionstypischen Schemata nicht mit dem tatsächlichen
Erleben übereinstimmen. D.h., wenn z.B. eine autonome Erregung nicht zu einem
Emotionsschema gehört, wird das Fehlen derselben auch nicht zu einer Störung der
Wahrnehmung führen. Daß auch andere Arten von Unstimmigkeiten zu der Erfahrung
einer „als ob“, einer merkwürdigen oder fremden Emotion führen können338, stützt die
Annahme daß Emotionen und Kognitionen auf voneinander unabhängige Prozeß-
systeme zurückgehen.
4. Wie in Leventhals Modell postuliert, kann ein einmal etabliertes Schema durch jede
einzelne seiner Komponenten aktiviert werden, d.h. ein bestimmtes emotionales
Schema kann erregt werden durch die Wahrnehmung eines speziellen Reizereig-
nisses, durch einen die subjektiven Gefühle generierenden Mechanismus des
Zentralen Nervensystems, durch Ausdrucksverhalten oder durch autonome
Reaktionen. Das bedeutet konkret, daß auch wenn durch einen Reiz wie bspw. eine
Schlange zuallererst autonome Reaktionen und Ausdrucksverhalten hervorgerufen
werden, nahezu zeitgleich die kognitiven Aspekte des Schemas mit aktiviert werden,
so daß Zajoncs Standpunkt, emotionale Mechanismen arbeiteten vor und unabhängig
von kognitiven Mechanismen, keinerlei Bedeutung hat.
5. Darüber hinaus wird in Leventhals Modell, wie auch in anderen Entwicklungs-
modellen, postuliert, daß das Emotionserleben und emotionales Verhalten
entscheidende Veränderungen erfährt durch Entwicklungen innerhalb der Prozeß-
level und den Beziehungen zwischen den Stufen durch die biographische Ent-
wicklung des Individuums. Das entspricht Lazarus’ Annahme, daß sich das
emotionale Leben in der Entwicklung des Individuums durch eine kontinuierliche
Interaktion von „kognitiven“ und „emotionalen“ Prozessen verändert.
338 Hierzu zählen bspw. die durch Adrenalininjektionen hervorgerufene “künstliche“ Erregungszustände und
die durch elektrische Reizung bestimmter Hirnregionen hervorgerufenen Emotionen.
121
Diese Grundannahmen der Emotionsentwicklung und der situationsabhängigen
Emotionsgenerierung sind in hohem Maße abhängig von der Reizbewertung. Während
bisherige Emotionstheorien zwar die Bedeutung vom kognitivem Umgang mit Ereignissen
oder der Bedeutung von Ereignissen als Vorgeschichte zu emotionalen Reaktionen
Beachtung fand, wurde jedoch nicht eruiert, inwieweit kognitive Prozesse spezifische
Emotionen hervorrufen und wie diese kognitiven Prozesse wohl gestaltet seien. Abge-
sehen von dem Grad der Unabhängigkeit von kognitiven und emotionalen Mechanismen
bleiben nach Leventhal und Scherer Emotionstheorien „primitiv“, wenn sie nicht die Natur
des Prozesses und die kognitiven Inhalte benennen können, die eine bestimmte Emotion
hervorrufen.
Scherers Komponentenprozeßmodell der Emotionen beschreibt einen Mechanismus der
fortdauernden Bewertung der Ereignisse der Umweltgegebenheiten und präsentiert
Hypothesen bezüglich der Bedeutungsmuster, die spezielle emotionale Zustände
hervorrufen. Abgesehen davon, daß dieses Modell bestätigt, daß Emotionen aus
mehreren Komponenten zusammengesetzt sind, postuliert diese Theorie, daß ganz
bestimmte Emotionen durch die Operation einer Serie von Reizbewertungschecks
entstehen.
3.3.3.3.4 Klaus R. Scherers Komponentenprozessmodell der Emotionen
Scherer339 sieht wie Leventhal Emotionen nicht als Zustand, sondern als Prozeß. Im
Gegensatz zu Leventhal beschäftigt sich Scherer jedoch nicht mit der Ontogenese des
Emotionserlebens, sondern mit deren Funktion. In seinem Komponentenprozessmodell
postuliert er, daß spezifische Emotionen durch die Prüfung von externen und internen
Reizen hervorgerufen werden. In Folge dieser Prüfung werden wahrgenommene Reize
auf ihre Bedeutung für den Organismus und auf die erforderlichen Reaktionen hin
bewertet. Scherer unterscheidet fünf Prüfungsschritte, die die durch die ständige
Abtastung des Wahrnehmungsfeldes gewonnenen Informationen durchlaufen340:
1. Prüfung in bezug auf Neuartigkeit oder Unerwartetheit:
Hier wird bestimmt, ob bei den internen oder externen Wahrnehmungsmustern eine
Veränderung stattgefunden hat. Speziell wird überprüft, ob sich etwas Neues ereignet
339 Scherer, Klaus R.: Nature and Function of Emotion. A Component Process Approach. In: Scherer, Klaus
R. und Ekman, Paul: Approaches to Emotion. Hillsdale, London 1984, S. 293 – 317 und Leventhal, Howard, Scherer Klaus R. (1987): a.a.O., S. 13 - 16. Siehe für eine zusammenfassende Darstellung auch Goller, Hans: a.a.O. S. 187 – 189.
122
hat oder ein neues Ereignis erwartet wird. Es wird angenommen, daß diese erste
Prüfungssequenz zumindest teilweise unabhängig von höheren kortikalen Funktionen
verläuft. Die erste Prüfungssequenz steht in Verbindung mit Langeweile oder Über-
raschung, wobei die hier auftretenden Gefühle durch spätere Prüfungssequenzen
beeinflußt werden können. Diese erste Prüfung muß sehr schnell erfolgen, da das
Überleben des Organismus von einer schnellen Reaktion auf ein unerwartetes
Ereignis abhängig sein kann. Es ist wahrscheinlich, daß die erste Prüfungssequenz
dazu führt, die weiteren Prüfungsschritte zu beschleunigen.
2. Prüfung in bezug auf die Angenehmheit oder Unangenehmheit für den Organismus
Die Bestimmung, ob ein Reiz für den Organismus als angenehm oder unangenehm
empfunden wird, bewirkt Annäherungs- bzw. Vermeidungsreaktionen. Diese Prüfung
kann auf der Basis von genetisch bedingten oder durch Lernvorgänge fest etablierten
Einschätzungsmustern erfolgen.
3. Prüfung in bezug auf die Relevanz für Ziele oder Pläne:
Für diese Sequenz unterscheidet Scherer vier Subchecks: a) die Einschätzung der
Bedeutung eines Reizes für die Erreichung wichtiger Ziele oder die Befriedigung
gerade anstehender Bedürfnisse des Organismus (relevance subcheck); b) die
Einschätzung, ob das Ergebnis mit dem aktuell erwarteten Status zur Erreichung des
Zieles übereinstimmt oder nicht (expectation subcheck); c) ob der Reiz zur Er-
reichung des anvisierten Ziels oder zur Befriedigung aktueller Bedürfnisse beiträgt
(conduciveness subcheck); d) ob eine Verhaltensreaktion dringend notwendig ist
(urgency subcheck). Diese Prüfungssequenz muß deutlich unterschieden werden
von der vorherigen Prüfungssequenz, da auch ein als angenehm empfundener Reiz
die Ausführung eines Planes unterbrechen kann, was im Sinne der Zielverfolgung zu
negativer Bewertung führt und Angst oder Ärger auslösen kann. Reize, die die
Zielverfolgung befördern und zur Erfüllung der Erwartungen des Organismus
beitragen, führen zu einem Gefühl der Befriedigung, Genugtuung oder Freude.
4. Prüfung bezüglich der Einschätzung der Fähigkeiten, die wahrgenommene
Gegebenheit zu bewältigen:
Diese Einschätzungssequenz bestimmt die Bewältigungsfähigkeit des Organismus
mit Blick auf vergangene oder zukünftige Situationen und deren Konsequenzen für
den Organismus. Auch hier werden vier Subchecks unterschieden: a) die Über-
prüfung der Ursache des Reizes (causation subcheck); b) darauf aufbauend die
Einschätzung, inwieweit der Organismus durch eigene Aktivitäten die Konsequenzen
beeinflussen kann (control subcheck); c) die Einschätzung der Kraft, die der Organis-
340 Vgl. zur folgenden Darstellung: Scherer, Klaus: a.a.O. (1984) S. 306 ff.
123
mus zur Verfügung hat, um das Ergebnis zu kontrollieren oder zu vermeiden bspw.
durch Kampf oder Flucht (power subcheck) und d) die Einschätzung inwieweit der
Organismus fähig ist, sich auf die durch unkontrollierbare Situationen hervorge-
rufenen Veränderungen einzustellen (adjusting subcheck). Demgemäß postuliert
Scherer, als Folge der Einschätzung einer Situation als unkontrollierbar und negativ,
die Emotion Traurigkeit, während Ärger und Furcht aus der Einschätzung einer
Situation als nicht zu bewältigen resultieren.
5. Eine Prüfung inwiefern die Gegebenheit (einschließlich der Handlung) mit dem
Selbstkonzept und den sozialen Normen vereinbar ist.
Hier wird geprüft, ob die in einer Situation gezeigte Tätigkeit mit sozialen Normen,
kulturellen Konventionen oder Erwartungen wichtiger anderer äußerer Gegeben-
heiten übereinstimmt und ob sie mit internalisierten Normen und Standards als Teil
des Selbstkonzeptes vereinbar ist.
Alle Wahrnehmungen durchlaufen die unterschiedlichen Bewertungsmuster in der
angegebenen hierarchischen Ordnung, wobei Art und Intensität der Emotionen von den
Bewertungsergebnissen abhängig sind.
Scherer postuliert drei Entwicklungsaspekte für den Reizprüfungsprozeß341: 1. die regel-
mäßige Abfolge der Prüfungsschritte bei Bewertung spezifischer konkreter Ereignisse
(mikrogenetische Analyseebene), 2. eine mit der phylogenetischen Höherentwicklung
einhergehende wachsende Anzahl an Reizprüfungsschritten und deren wachsenden Grad
an Differenziertheit und Komplexität (phylogenetische Analyseebene) und 3. eine Zu-
nahme der Komplexität jeder einzelnen Prüfungssequenz im Laufe der individuellen
Entwicklung (ontogenetische Analyseebene). Die letzten beiden Analyseebenen impli-
zieren, daß sehr einfache Organismen und Neugeborene weniger Prüfungsschritte
absolvieren als höher entwickelte Lebewesen und erwachsene Menschen. Für den
menschlichen Bereich bedeutet das, daß Babys die Prüfschritte bezüglich der Normen
und des Selbstkonzeptes wohl nur unzureichend durchlaufen. Weiterhin wird für bio-
logisch und sozial höher entwickelte Lebewesen eine Abhängigkeit zwischen der
zunehmenden Komplexität der Prüfungsschritte und der Komplexität der durch die
Prüfung hervorgebrachten Emotionen postuliert. Beim Menschen ändern sich die
Verarbeitungsschritte am effektivsten durch die Differenzierung innerhalb jedes einzelnen
Reizverarbeitungsprozesses. Mit der Entwicklung erweitern sich die Zielvorgaben, neue
Überraschungsmöglichkeiten, neue Interessen und Werte sowie neue Bewältigungs-
341 Leventhal, Howard; Scherer, Klaus: a.a.O. (1987) S. 15.
124
möglichkeiten und -fähigkeiten entstehen. Daß heißt, je komplexer die Reizvorgaben sind,
desto elaborierter wird das Reizprüfungssystem. Mit Hebb klassifiziert Scherer den
erwachsenen Menschen daher als das emotionalste aller Lebewesen.
Scherer möchte sich nicht mit der Frage auseinandersetzen, ob diese Bewertungspro-
zesse kognitiv zu nennen sind oder nicht, da sie nicht zu beantworten sei. Vielmehr
postuliert er, daß Emotionen auf all den unterschiedlichen Komplexitätsebenen auftreten
können, den Wahrnehmungsebenen ebenso wie den kognitiven, wobei er einräumt, daß
der Begriff „Einschätzung“ schon nach Kognition „rieche“, es sich jedoch schwierig
gestalte, dieses komplexe Modell mit neutralen Begriffen zu beschreiben. Mit seinem
Modell wolle er jedoch deutlich machen, daß manche der Prüfungsoperationen leicht als
Wahrnehmungsprozesse, andere dahingegen als kognitive Prozesse zu erkennen
seien.342
3.3.3.3.5 Verarbeitungsebenen und Reizprüfungsprozesse: Leventhals und
Scherers integratives Prozeßmodell der Emotionen
Wie oben bereits angesprochen haben Leventhal und Scherer343 ihre beiden Modelle
miteinander verbunden. Die Autoren betonen, daß es sich bei ihrem in Form einer Tabelle
dargestellten Modell um einen ersten groben Entwurf handelt. Die Anordnung der Reiz-
prüfungsschritte in der Horizontalen und die der Verarbeitungsebenen in der Vertikalen
verweisen darauf, daß jede der Reizprüfungen durch verschiedene Mechanismen auf
jeder der Verarbeitungsebenen ausgeführt werden kann. Dabei leisten das autonome und
das zentrale Nervensystem abhängig von der Verarbeitungsebene unterschiedliche
Beiträge zum Prüfungsprozeß.
342 Vgl. ebd. S. 14. 343 Leventhal, Howard, Scherer Klaus R.: a.a.O. (1987).
125
Verarbeitungsebenen der Reizüberprüfung344
Neuartigkeit
Angenehmheit
Ziel/Bedürf-
nisent-
sprechung
Bewältig-
ungsfähig-
keit
Normen/Selbst
Vereinbarkeit
Begriffliche
Ebene
Erwartungen:
Ursache-Wir-
kungswahr-
scheinlich-
keitsbeurtei-
lungen
erinnerte,
vorweggenom-
mene oder
abgeleitete
positive-
negative
Bewertungen
bewußte Ziele,
Pläne
Problemlöse-
fähigkeit
Selbstideal,
moralische
Bewertungen
Ebene der
Schemata
Vertrautheit:
Schemata
Vergleich
gelernte
Vorlieben und
Abneigungen
erworbene
Bedürfnisse,
Motive
Körper-
schemata
Selbst- und
soziale
Schemata
Senso-
motorische
Ebene
plötzliche
intensive
Stimulierung
angeborene
Vorlieben/
Abneigungen
Grundbedürf-
nisse
vorhandene
Energie
(Empathie
Adaption?)
Auf der senso-motorischen Ebene erfolgt die Prüfung der Neuartigkeit mittels schnell
einsetzender Reize, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Orientierungs- und Verteidi-
gungsreaktionen führen. Für die Prüfung, ob ein Reiz vertraut erscheint oder nicht, sind
dahingegen, wie in der zweiten Ebene deutlich wird, bereits gespeicherte Schemata
notwendig, mit denen die wahrgenommenen Reize verglichen werden können. So kann
ein Kind Änderungen in der Stimmqualität der Mutter erst dann als neuartig identifizieren,
wenn es bereits die Stimme der Mutter in einem Schema gespeichert hat. Erst auf der
dritten, der begrifflichen Ebene ist eine Neuartigkeitsprüfung einer Ereignisfolge möglich,
denn hierfür müssen begriffliche Repräsentationen von Ursache-Wirkungs-Zusammen-
hängen eines beträchtlichen Zeitraumes gespeichert sein. Beispielsweise würde zu einem
Überraschungs- oder Neuartigkeitsgefühl führen, wenn man bei einem Restaurantbesuch
von einem die Speisekarte vorsingenden Ober empfangen würde, der erst dann die
Erlaubnis erteilen würde Platz zu nehmen, nachdem die Bestellung singend aufgegeben
wurde. Ein solches Procedere würde dem Schema widersprechen, das üblicherweise mit
einem Restaurantbesuch verbunden ist.
344 Ebd. S. 17 (Übersetzung: B.K.). Vgl. für die Erläuterung der Tabelle ebd. S. 17 ff.
126
Die Prüfung der Angenehmheit auf der senso-motorischen Ebene ist wahrscheinlich das
Produkt von angeborenen Merkmalsdetektoren, die entweder zu einer reflexartigen
Assimilation oder zur Abwehr des Reizes führen (bspw. sauerer oder süßer Geschmack).
Für die Prüfung der Angenehmheit auf der schematischen Ebene wird angenommen, daß
hier “Lust“-Schemata“ gespeichert sind, die durch die Konfrontation mit einem ent-
sprechenden Reiz aktiviert werden. Schwierigkeiten bereitet die Beschreibung der
Einschätzung der Angenehmheit auf der begrifflichen Ebene. Leventhal und Scherer
vermuten, daß es sich hier um komplexere Reize handelt wie bspw. Worte mit doppelter
Bedeutung. Hierzu zählen aber auch zukünftige freudige Ereignisse, die positive oder
negative Einschätzung von Personen oder Ereignissen oder auch die Vorliebe für Kunst.
Bezüglich der Einschätzung der Ziel/Bedürfnisrelevanz sind auf den drei Ebenen unter-
schiedliche Motivstrukturen auszumachen. Die Reizbewertung auf der senso-motorischen
Ebene ist ausgerichtet an der aktuellen Bedürfnislage. So führt die Wahrnehmung
bedürfnisrelevanter Reize zu entsprechenden reflexartigen Bewegungen, bspw. löst das
Bedürfnis nach Nahrung bei der Wahrnehmung des Fläschchens Saugbewegungen aus,
das Bedürfnis nach Kontakt bewirkt bei der Wahrnehmung eines Kontaktpartners Lächeln.
Die Prüfung, ob wahrgenommene Reize der Befriedigung erworbener Bedürfnisse und
Motive dient, bedarf eines Vergleiches des Reizes mit gespeicherten emotionalen
Schemata. Auf der begrifflichen Ebene werden symbolisch repräsentierte Ziele und Pläne
angenommen und die Einschätzung von Reizen und Ereignissen entsteht auf der Basis
komplexer Bewertungsschemata.
Die Grundlage für die Einschätzung der Bewältigungsfähigkeit bildet die dem Organismus
zur Verfügung stehende Energie und seine Fähigkeit, sich situationsadäquat zu verhalten.
Auf der senso-motorischen Ebene erfolgt die Reizprüfung durch einfache Feedback-
mechanismen mit Hilfe unwillkürlicher und willkürlicher motorischer Reaktion, die Signale
der Erschöpfung und Müdigkeit bei Mißlingen der Bewältigung aussenden, bei erfolg-
reicher Bewältigung dagegen Gefühle der Wachheit und Energie hervorrufen. Während
diese regulierenden Signale beim Säugling automatisch erfolgen und sofortige Aktivitäten
hervorrufen, können sie auch an komplexeren begrifflichen Entscheidungsprozessen
beteiligt sein. Komplexere Selbstschemata, die sowohl körperliche als auch soziale
Eigenschaften beinhalten, werden für die Prüfung der Bewältigungsfähigkeit auf der
Schemataebene postuliert. Auf der begrifflichen Ebene wird die Bewältigungsfähigkeit
durch die Einschätzung der eigenen Problemlösefähigkeit geprüft.
127
Erwartungsgemäß ist es schwierig, die Prüfung der Vereinbarkeit des Selbstkonzeptes mit
sozialen und persönlichen Normen auf der senso-motorischen Ebene zu konzeptuali-
sieren. Es ist kaum möglich die phylogenetisch und ontogentisch frühen Entwicklungs-
schritte nachzuverfolgen, da sie durch die je individuelle komplexe Sozialisationsge-
schichte verdeckt sind, was zur Folge hat, daß sie nach Meinung der Autoren unange-
messen als hochintellektuelle Strukturen angesehen werden. Dagegen erwägen sie die
Möglichkeit, daß die Erlebnisse von Angenehmheit und Unangenehmheit, die kindlichen
Aktivitäten folgen, zur Bildung erster Schemata bezüglich dessen führen, was akzeptabel
bzw. normgerecht ist. Hierbei könnte es sich auch um einen grundlegenden Empathie-
prozeß handeln, bei dem der Organismus einer Art sozialen Konvention, Mimikry oder
Gefühlsansteckung folgt. Auf der Ebene der Schemata dienen Selbstschemata und
rudimentäre Normschemata als Folie für die Prüfung, ob Ereignisse oder Tätigkeiten mit
erwünschten Zuständen vereinbar sind. Für die Autoren ist es klar, daß 10-12 Monate alte
Kinder die Angemessenheit ihres Verhaltens an dem Gefühlsausdruck und dem Verhalten
der Mutter erkennen und so Verhaltensnormen für bestimmte Situationen entwickeln. Für
die Ebene der begrifflichen Verarbeitung werden hochbewußte und symbolische
Mechanismen, wie abstraktes moralisches Argumentieren und die Bewertung des
Selbstrealisierungspotentials postuliert.
Zur Frage, welche Emotionen auf welchen Ebenen der Reizverarbeitung entstehen, kann
keine klare Antwort gegeben werden.345 Die Autoren nehmen diesbezüglich an, daß die
emotionalen Zustände abhängig von der involvierten Verarbeitungsebene in all ihren
Komponenten (dem Ausdruck, den körperlichen Reaktionen und dem subjektiven
Gefühlserleben) variieren. Hinsichtlich der sich hieran anschließenden Frage, von welcher
Ebene aus die Reizverarbeitung erfolgt, wird vermutet, daß die meisten, wenn nicht alle
emotionalen Prozesse durch die mittlere, die schematische Ebene initiiert werden.
Spezifische Erfahrungen mit Personen, Objekten oder Ereignissen bringen Schemata
hervor, in denen die Geschichte von Wahrnehmungserinnerungen oder „Identitäten“
zusammengefaßt sind, welche dann die aktuelle emotionale Erfahrung organisieren.
Selbstverständlich beeinflußt die begriffliche Ebene die Schemata auf vielfältige Weise,
besonders in Form der Ausdifferenzierung von Schemataklassen, die auf eher abstraktere
Ereignisse bezogen sind. Aber auch die senso-motorische Verarbeitungsebene ist noch
mit am Emotionsprozeß beteiligt. Beispielsweise kann die Wahrnehmung eines unbe-
kannten Geräusches beim Eintreten in die eigene Wohnung Angst erzeugen. Wenn
345 Vgl. ebd. S. 21 f.
128
dieses Ereignis in der Nacht auftritt, können die durch die Dunkelheit initiierten senso-
motorischen Reaktionen die Angst verstärken.
Die Autoren betonen, daß der größte Teil der durch ihr Modell hervorgebrachten Hypo-
thesen noch nahezu unerforscht ist. Besonders die emotionalen Reaktionen auf den
unterschiedlichen Ebenen müssen näher untersucht werden. Grundsätzlich wird jedoch
davon ausgegangen, daß bei einem Erwachsenen alle Reizprüfungssequenzen und alle
Ebenen am Emotionsprozeß beteiligt sind.346
Leventhal und Scherer haben sich bei der Untersuchung der Emotionen auf den
hierarchisch organisierten Reizprüfungsprozeß konzentriert, da dieser in bezug auf die
Kognitions-Emotions-Debatte von besonderer Bedeutung ist. Mit dem Prüfungsaspekt
ergeben sich eine Reihe von neuen Möglichkeiten, das Zusammenwirken von speziellen
Wahrnehmungs- und Kognitionsrepräsentationen bei emotionalen Zuständen zu unter-
suchen. In diesem Zusammenhang betonen die Autoren nochmals ausdrücklich, daß ihre
Fokussierung auf den Reizbewertungsaspekt bei der Emotionsauslösung keineswegs
bedeute, daß die Emotionsgenerierung ausschließlich auf Bewertungsprozesse
zurückgehe, denn wie die Analyse der internen Prozesse deutlich mache, kann eine durch
Schwankungen des Hormon- oder Neurotransmitterniveaus hervorgerufene Änderung des
Körperempfindens profunde Auswirkungen auf alle drei Prozeßebenen haben. Die durch
chemische Prozesse im Körper hervorgerufenen unterschiedlichen Stimmungen beein-
flussen die an eine Situation gebundene Erwartungshaltung und dadurch den Reiz-
prüfungsprozeß. Veränderungen die durch die Jahreszeit, Tageszeit, körperliche Befind-
lichkeit und wiederholtes Emotionserleben hervorgerufen werden, können sich auf die
Stimmungslage auswirken und somit emotionale Zustände stärken, die die Art der
Informationsverarbeitung beeinflussen und die Emotions-Kognitions-Interaktionen
verändern.347
Für die Autoren wird anhand ihres integrativen Modells deutlich, daß in der Emotions-
Kognitions-Debatte zwei Sachverhalte miteinander vermischt wurden: Der erste betrifft die
Emotionsauslösung. Hier geht es um die zeitliche Abfolge und die durch vorangegangene
Ereignisse hervorgerufenen Reaktionsmodifikationen. Der zweite Sachverhalt bezieht sich
auf die Organisation oder die Beziehung zwischen den bei einer Reaktion in einem
346 Vgl. ebd. S. 22. 347 Vgl. ebd.
129
Reaktionssystem involvierten Komponenten. In bezug auf die erste Frage stellen die
Autoren fest, daß es Gelegenheiten gibt, in denen Änderungen in einer Situationswahr-
nehmung sich auf die emotionale Befindlichkeit auswirken, ebenso wie sich umgekehrt
emotionale Befindlichkeiten, wie Ängste, Freude oder Ärger auf die Interpretation von
Situationen auswirken. Bei der Zajonc-Lazarus-Debatte geht es jedoch nicht um zeitliche
Abfolgen auf dieser molaren Ebene, sondern sie konzentriert sich auf die zeitlichen
Abfolgen auf der Mikroebene, d.h. auf den Bereich der Auslösemechanismen. Diese
Sachverhalte können nur durch physiologische Untersuchungen geklärt werden, aller-
dings sind sie wahrscheinlich für einen Großteil der Emotionstheorien nicht von Belang. In
bezug auf die zweite Frage, die Organisation der in einem Emotionsprozeß beteiligten
Komponenten, postulieren Leventhal und Scherer, daß beim Menschen nur höchst selten
emotionale Reaktionen unabhängig von Wahrnehmungen oder Kognitionen zu finden
seien. Tatsächlich scheint es für den Menschen extrem schwierig, wenn nicht gar unmög-
lich zu sein, eine „wirklich frei schwebende“ (truly free-floating) Emotion zu erleben, außer
in solch seltenen Momenten, in denen nur die senso-motorische Verarbeitungsebene
angesprochen wird und bei emotionsähnlichen Reflexen. Dieses Emotionserleben ist wohl
den Neugeborenen vorbehalten, da bei Erwachsenen immer die schematische und die
begriffliche Ebene im Emotionsprozeß mit involviert sind. Die Autoren betonen, daß im
emotionalen Verhalten und im Emotionserleben die beiden Aspekte „Emotion“ und
„Kognition“, wie sie von Zajonc und Lazarus verstanden werden, immer zusammenwirken.
Dieses Zusammenwirken wird auch deutlich in den von Zajonc angestellten Untersuchun-
gen bezüglich der durch Wiederholung entstandenen Vorlieben, die er als Beweis für die
Unabhängigkeit von Emotion und Kognition gewertet hat, denn die positiven Gefühle
entstanden durch die „Erinnerung“ an den gleichen Reiz nicht durch andere Reize.
Vor diesem Hintergrund betonen Leventhal und Scherer einmal mehr, daß die Klärung der
zeitlichen Abfolge, ob Kognitionen Emotionen oder Emotionen Kognition folgen, belanglos
sei, denn gleichgültig, ob ein Schema durch interne oder externe Reize oder eine Ver-
änderung des Hormonniveaus aktiviert wird, immer werden gleichzeitig entweder die
kognitiven oder die emotionalen Komponenten mit aktiviert. Damit wird offensichtlich, daß
die Beziehung zwischen Emotion und Kognition sehr viel komplexer ist, als es die Debatte
zwischen Zajonc und Lazarus vermuten lasse, denn die tatsächliche Bedeutung liegt in
dem notwendigen Zusammenwirken von Kognition und Emotion. Diese Interdependenz
wird verglichen mit der Wahrnehmung von Objekten, deren Oberfläche nur in Beziehung
zu den Konturen und die Konturen nur in Beziehung zu der Oberfläche wahrgenommen
130
werden können. Ebenso können emotionale Oberflächen nur innerhalb Konturen
kognitiver und perzeptiver Art gefühlt werden.348
Gemäß der Einsicht, daß über eine semantische Debatte das Verständnis des Begriffes
Kognition nicht zu klären ist, geht es Leventhal und Scherer in ihrem integrativen
Emotionsmodell vor allem darum zu zeigen, daß sowohl Zajoncs Ausgangshypothese, der
von einer Emotionsgenerierung durch einfache Wahrnehmungsprozesse ausgeht, als
auch Lazarus’ Verständnis der Emotionen als komplexe organisierte Zustände, die aus
kognitiven Bewertungsprozessen resultieren, zu einem gewissen Teil Berechtigung
zukommt. Zajoncs Ausgangshypothese kommt insofern Berechtigung zu, als daß in der
hier vorgelegten Konzeption von einem Kognitionsverständnis als bewußten Verarbei-
tungsprozeß ausgegangen wird und demgemäß die von Leventhal postulierte, durch
unbewußte Verarbeitungsprozesse auf den ersten beiden Ebenen (die senso-motorische
und die schematische Ebene) erfolgende Emotionsgenerierung nicht als kognitive,
sondern als Wahrnehmungsprozesse bezeichnet werden. Lazarus wird darin gefolgt, daß
Emotionen als komplexe organisierte Zustände angesehen werden, die durch Reizbe-
wertungsprozesse (bewußter oder unbewußter Art) hervorgerufen werden. Möglich wird
die Zusammenführung der sich scheinbar gegenüberstehenden Positionen durch die auf
die Leventhalsche Theorie der Ontogenese rekurrieren Ausgangsprämissen. Demgemäß
werden für unbewußte und bewußte Verarbeitungsprozesse zwei getrennt operierende
Prozeßsysteme postuliert, die wie das integrative Emotionsmodell anschaulich
demonstriert bei der Emotionsgenerierung interagieren.
Der Überblick über einige zentrale Ansätze der psychologischen Emotionsforschung zeigt,
daß die Kognitions-Emotions-Debatte die Essenz der in diesem Forschungszweig auffind-
baren unterschiedlichen Positionen bildet und bestätigt in weiten Teilen die oben
aufgestellte Hypothese, daß ausgehend von der allen gemeinsamen Grundlage, daß
Emotionen im weitesten Sinne sowohl eine körperliche als auch eine geistige Kompo-
nente aufweisen, die Diskrepanzen in den Erkenntnissen zurückzuführen sind auf die
jeweiligen Ausgangsprämissen und dem daraus resultierenden Forschungsinteresse.
Hinsichtlich der Ausgangsprämissen lassen sich grob drei Gruppen unterscheiden: Einer
Gruppe sind die Untersuchungen zuzuordnen, die der physischen Komponente, wie
Ausdruck, Verhalten und/oder (autonome, viszerale oder motorische) Körperprozesse
besondere Bedeutung beimessen. Sehr allgemein gefaßt wird unter dieser Grund-
prämisse davon ausgegangen, daß Emotionen durch körperliche Veränderungen hervor-
348 Vgl. ebd. S. 24 f.
131
gerufen werden. Diese körperlichen Regungen werden zurückgeführt auf genetisch
bedingte Reaktionsmechanismen, die durch die Wahrnehmung ganz bestimmter innerer
oder äußerer Reizkonstellationen ähnlich des Reiz-Reaktions-Schemas ausgelöst
werden, mit dem Ziel, den Organismus für eine ganz bestimmte dem Reiz zugeordnete
Reaktion vorzubereiten. Die aufgrund einer genetischen Determination bewußtseins-
unabhängige Initiierung dieser Prozesse bietet eine Erklärung für die erfahrungsgemäße
Problematik einer willentlichen Kontrolle der Emotionen. Diesen Positionen unterliegt -
wenn auch nicht immer explizit benannt – das Verständnis des Begriffes Kognition als
bewußter Prozeß einerseits und andererseits die Annahme, daß die körperlichen
Reaktionsmuster den Kognitionen vorausgehen und diese in erheblichem Maße
bestimmen. Hier einzuordnen sind die Theorien von James und Lange, McDougall,
Plutchik, Izard und Zajonc, wobei letzterer als einziger Vertreter dieser Position davon
ausgeht, daß Emotionen und Kognitionen auf zwei verschiedene Prozeßsysteme
zurückgehen.
In einer zweiten Gruppe lassen sich diejenigen Forschungsbemühungen zusammen-
fassen, die sich auf die geistige Komponente im Sinne der Bewertung von Wahr-
nehmungen innerer und äußerer Veränderungen konzentrieren. Die Problematik hierbei
ist der für die Beschreibung der geistigen Komponente gewählte Begriff Kognition. Wie
oben ausführlich erörtert, gilt es diesbezüglich zu unterscheiden zwischen den Vertretern,
die Kognition allgemein als Informationsverarbeitungsprozeß betrachten und nicht
zwischen subkortikalen (unbewußten) und kortikalen (bewußten) Prozeßmechanismen
differenzieren und den Vertretern, für die kognitive Prozesse allein auf der kortikalen
Ebene ablaufen und die demgemäß den Begriff Kognition allein für bewußte
Denkvorgänge in Anwendung bringen. Für die Emotionstheoretiker, die unter Kognition
allgemein Informationsverarbeitung verstehen, ist die Emotionsentstehung allein abhängig
von kognitiven Prozessen, also gelten auch die oben angeführten körperlichen
Reaktionen als ein Produkt kognitiver Bewertung (Lazarus). Dagegen dienen denjenigen
Theoretikern, die Kognition allein auf die kortikalen Prozesse beziehen, die bewußten
Bewertungsprozesse von gewissen Reizwahrnehmungen zur Klassifikation der mit der
Reizwahrnehmung einhergehenden jedoch als unspezifisch angesehenen körperlichen
Reaktionen (Schachter und Singer).
Wie sich in der Kognitions-Emotions-Debatte gezeigt hat, liegt die Grundproblematik der
sich in diesen beiden Gruppen gegenüberstehenden Positionen in dem Verständnis des
Begriffes Kognition. Daß diese Problematik nicht grundsätzlich lösbar ist, haben Leventhal
und Scherer deutlich gemacht, die mit ihrem Verständnis der Emotion als Ergebnis eines
132
Multikomponentenprozesses unter die dritte Gruppe der Emotionstheorien einzuordnen
sind. Wie oben erörtert, lassen sich durch Leventhals differenziertes Modell für die
Ontogenese der Emotionen einerseits und die in Leventhals und Scherers integrativem
Modell postulierte sowohl auf subkortikale als auch auf kortikale Reizbewertungsprozesse
zurückgeführte Generierung der Emotionen andererseits einige Teilaspekte sich schein-
bar ausschließender Positionen miteinander in Beziehung setzen. Darüber hinaus
verdeutlicht Leventhals Theorie der Ontogenese der Emotionen, da sie in ein Modell für
adaptives Verhalten eingebunden ist, zum einen den Einfluß der emotionalen Ein-
schätzung auf die Situationsbewältigung und zum anderen die Wechselwirkung zwischen
der Bewertung der emotionalen und der problemorientierten Situationsbewältigung.
Da Ekman zwar von einer genetischen Disposition zur Generierung des mimischen
Ausdrucksverhaltens bestimmter Emotionen ausgeht, darüber hinaus jedoch postuliert,
daß die Zuordnung bestimmter Reize zu einem spezifischen emotionalen Ausdrucks-
verhalten gelernt wird, ist seine „neurokulturelle Theorie der Emotionen“ eher der letzten
Gruppe zuzuordnen.
Im folgenden gilt es nun zu überprüfen, ob und welche Erkenntnisse der psychologischen
Emotionsforschung fruchtbar gemacht werden können für die dieser Arbeit zugrunde-
liegende Aufgabenstellung: die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Denken
und Gefühlen.
3.4 Grundlegende Untersuchungen zu dem Verhältnis von Denken
und Gefühlen
Die kritische Betrachtung der bisherigen Ausführungen zeigt, daß es durch die Rezeption
der psychologischen Emotionstheorien nicht gelungen ist, das dieser Arbeit zugrunde-
gelegte weite Verständnis von Gefühl näher einzugrenzen. In anderer Richtung jedoch
sind die Bemühungen durchaus von Nutzen, denn es lassen sich auf der Basis der
bisherigen Erkenntnisse einige Aspekte der Ausgangsfragestellung dieser Arbeit: wie das
Verhältnis zwischen Denken und den Gefühlen vorzustellen sei, differenzieren und
diskutieren.
Wie in dem Problemaufriß angeklungen ist, wird pädagogischerseits davon ausgegangen,
daß es sich bei den intellektuellen Fähigkeiten und den Gefühlen um zwei voneinander
133
unabhängige Bereiche handelt und darüber hinaus, daß der Mensch durch die Ent-
wicklung seiner intellektuellen Fähigkeiten dazu instand gesetzt werden kann, kontrol-
lierend und regulierend auf die Gefühle einzuwirken (Roth), oder diese gänzlich unbe-
achtet zu lassen (Zdarzil), d.h. den intellektuellen Fähigkeiten wird eine Vormachtstellung
über die Gefühle eingeräumt. Völlig ungeklärt bleibt dabei die Frage, wie Gefühle ent-
stehen und in welcher Weise der Intellekt Kontrolle über sie gewinnen kann. Zwar erwähnt
Roth allgemein eine genetisch bedingte Gefühlsansprechbarkeit, die es so zu fördern gilt,
daß sie unterstützend für die Umsetzung der rationalen Zielsetzungen wirken könne, bei
seinen Überlegungen zu der Art und Weise wie diese Förderung gelingen könnte, konzen-
triert er sich jedoch vor allem auf das Bewußtmachen emotionaler Zustände. In Zdarzils
Erziehungskonzept finden die Gefühle nahezu keine Erwähnung.
Wie der Überblick über die psychologische Emotionsforschung zeigt, lassen sich durch
einen Teil des Spektrums, der durch unterschiedliche Herangehensweisen an den Unter-
suchungsgegenstand gewonnenen Erkenntnisse und Theorien, einmal Roths Aus-
gangsthese, es gäbe eine förderbare genetisch bedingte Gefühlsansprechbarkeit, die
impliziert, (1) die Gefühlsgenerierung sei (durch Lernprozesse) beeinflußbar und (2) die
körperlichen Reaktionsmuster unterschiedlicher Emotionen würden sich unterscheiden
und zudem die grundlegende pädagogische These: (3) es handele sich bei den
Intellektuellen Fähigkeiten und den Gefühlen um zwei von einander unabhängige
Bereiche problematisiert werden.
Ad (1): Die These, daß die Gefühlsgenerierung beim Menschen relativ unabhängig von
seiner Entwicklung und d.h. auch von Lernprozessen erfolgt, wurde von William James
und Carl Lange vertreten. Bei dieser Position werden Gefühle verstanden als genetisch
bedingte körperliche Reaktionsmuster (neurophysiologische, motorisch-expressive und
Erlebniskomponente), die ähnlich eines Reiz-Reaktions-Schemas generiert werden. Die
bewußte Einschätzung des Gefühls erfolgt erst nach der Wahrnehmung der
spezifischen Körperprozesse, deren Aktivierung auf genetische Dispositionen
zurückgeführt wird. Hierbei spielen Lernprozesse keine Rolle.
Die Problematik bei dieser Position besteht in der Unklarheit bezüglich der Ontogenese
der Emotionen, denn wie gestaltet sich die Zuordnung eines bestimmten Reizes zu einer
bestimmten körperlichen Reaktion, wenn Emotionen allein durch einen genetisch
bedingten Art Reiz-Reaktions-Mechanismus entstehen? Betrachten wir dazu das von
James genannte Beispiel: „...weil wir weinen, sind wir traurig...“. Dazu gilt es grundsätzlich
festzustellen: Tränen sind nicht nur ein Anzeichen von Traurigkeit, sondern sie können
134
ebenso körperlichen Schmerz, Zorn, Wut, Enttäuschung und Freude begleiten. Aber
unterstellt, es gäbe diesbezüglich Differenzierungsmöglichkeiten, so ist immer noch
unklar, wodurch ein Reiz zu körperspezifischen Zorn, Wut, Enttäuschungs- oder Freude-
reaktionen führen kann, denn die Erfahrung zeigt, daß der gleiche Reiz nicht nur bei
unterschiedlichen Personen, sondern auch bei ein und derselben Person zu unterschied-
lichen Reaktionen führen kann, entsprechend den die Situation begleitenden Umstände,
die Vorgeschichte und/oder Zielsetzungen.
Ähnlich gelagert, jedoch vor allem auf die situationsspezifische Entstehung bezogen, ist
die Position Izards, der zwar den kognitiven Lernprozessen bei der Emotionsgenese
einen gewissen Stellenwert einräumt, jedoch postuliert, daß allein die körperlichen
Reaktionen, in diesem Falle die unterschiedlichen Gesichtsausdrücke die Emotionen
generieren. Wie vollzieht sich aber die Generierung der Gesichtsausdrücke für die
Gefühle Schuld bzw. Reue, Geringschätzung bzw. Verachtung oder Scham/Schüchtern-
heit bzw. Erniedrigung (drei der 8 von Izard bestimmten fundamentalen Emotionen), die
einerseits im hohen Maße abhängig sind von einem gewissen Normenbewußtsein und
dem je individuellen Selbstkonzept, d.h. also von kognitiven Lernprozessen und darüber
hinaus von der bewußten Bewertung einer Situation? Gerade hinsichtlich der offensicht-
lichen Abhängigkeit der Gefühlsgenerierung auch von bewußten Situationsbewertung
erscheint die in diesen Positionen enthaltene Annahme einer Gefühlsgenerierung allein
aufgrund von genetisch bedingten körperlichen Reaktionsmustern als nicht haltbar.
Ad (2): Die Annahme, Gefühle würden als undifferenzierte körperliche Erregungszustände
wahrgenommen, deren Klassifizierung allein über die bewußte kognitive Bewertung der
situativen Gegebenheiten erfolgt, die die Gegenposition zur James, Lange und Izard
darstellt, wird von Schachter und Singer vertreten. Die Zweifelhaftigkeit dieser Position
dokumentieren nicht nur die Ergebnisse der von Schachter und Singer zur Verifizierung
ihrer These durchgeführten Studie, sondern auch die Untersuchungen, in denen nachge-
wiesen wurde, daß für einige Emotionen unterschiedliche körperliche Erregungsmuster
auszumachen sind.349
Ad (3): Die Notwendigkeit der Problematisierung der pädagogischen Ausgangsthese, bei
den intellektuellen Fähigkeiten und den Gefühlen handele es sich um zwei voneinander
getrennte Bereiche, ergibt sich aus der von Lazarus entwickelten Emotionstheorie, mit der
er postuliert, daß Emotionen eine Folge von kognitiven Bewertungsprozessen sei. Hier
349 Vgl. hierzu oben S. 65.
135
bezeichnet der zentrale Begriff „Kognition“ nicht mehr nur bewußte Denkprozesse,
sondern wird gleichbedeutend mit dem Begriff „Informationsverarbeitung“ verwendet.
Nach diesem Begriffsverständnis unterliegen sowohl die Gefühle als auch das Denken
Informationsverarbeitungsprozessen und sind daher nicht als zwei getrennte Bereiche
aufzufassen.
Daß eine solch breite Auffassung des Kognitionsbegriffs die Untersuchungsmöglichkeiten
der Emotionsentwicklung und -generierung eher erschwert und der Komplexität des
Emotionsgeschehens nur höchst unzureichend gerecht wird, zeigen Leventhal und
Scherer in ihrem Modell zur Ablösung der durch das breite Verständnis des Kognitions-
begriffs ausgelösten Kognitions-Emotions-Debatte. Die ihrem Modell unterliegende
Differenzierung zwischen Wahrnehmungsprozessen und kognitiven Prozessen, die von
zwei getrennt arbeitenden Prozeßsystemen organisiert werden, jedoch bei der
Emotionsgenese und -generierung eng miteinander interagieren, finden durch die
Erkenntnisse aus neueren neurobiologischen Forschungen Bestätigung.
Wie in Kapitel 3.3.3.1.2 erörtert, erfolgt die Emotionsgenerierung durch Reizverarbei-
tungsprozesse subkortikaler Hirnregionen, die unter dem Oberbegriff „limbisches System“
zusammengefaßt werden. Hier konnten unterschiedliche Hirnbezirke für die Entstehung,
Organisation und Steuerung spezifischer Emotionen ausgemacht werden. Der Emotions-
ausdruck in Form von körperlichen Reaktionen geht also auf die Aktivitäten des
limbischen Systems zurück. Die kognitive Verarbeitung der Emotionen, d.h. das bewußte
Erleben der Körperreaktionen konnte dagegen im frontalen Bereich des Kortex350
lokalisiert werden.
Der Neurobiologe LeDoux faßt weitere Ergebnisse seiner Forschungsdisziplin zusammen:
��„Bei einer Beschädigung einer bestimmen Hirnregion büßen Tiere und Menschen
die Fähigkeit ein, die emotionale Bedeutung bestimmter Reize zu bewerten,
können diese Reize aber weiterhin als Objekte wahrnehmen. Die perzeptuelle
Repräsentation eines bestimmten Objekts und die Bewertung der Bedeutung
eines Objekts werden vom Gehirn getrennt verarbeitet.
��Die Bewertung der emotionalen Bedeutung eines Objekts kann einsetzen, bevor
die Wahrnehmungssysteme den Reiz vollständig verarbeitet haben. Es kommt
sogar vor, daß Ihr Gehirn weiß, ob etwas gut oder schlecht ist, ehe es genau weiß,
was dieses Etwas ist.
136
��Die Hirnmechanismen, mit deren Hilfe Erinnerungen an die emotionale Bedeutung
von Reizen registriert, gespeichert und wieder abgerufen werden, unterscheiden
sich von den Mechanismen, mit deren Hilfe kognitive Erinnerungen an dieselben
Reize verarbeitet werden. Werden erstere beschädigt, so vermag ein Reiz mit
einer gelernten emotionalen Bedeutung keine emotionale Reaktion mehr in uns
hervorzurufen, während die Beschädigung der letzteren unsere Fähigkeit
beeinträchtigt, uns zu erinnern, wo wir den Reiz gesehen haben, warum wir dort
waren und mit wem wir zusammen waren.
��Die Systeme, welche die emotionale Bewertung vornehmen, sind direkt mit den
Systemen verbunden, welche an der Steuerung der emotionalen Reaktionen
beteiligt sind. Sind diese Systeme zu einer Bewertung gelangt, treten die
Reaktionen automatisch ein. Dagegen sind die an der kognitiven Verarbeitung
beteiligten Systeme nicht so eng mit Systemen der Reaktionssteuerung
verkoppelt. Kennzeichen der kognitiven Verarbeitung ist eine Flexibilität der
Reaktionen auf der Basis der Verarbeitung. Die Kognition gibt uns
Entscheidungsspielraum. Die Aktivierung von Bewertungsmechanismen engt
dagegen die verfügbaren Reaktionsmöglichkeiten auf einige wenige Optionen ein,
bei denen die Evolution die Klugheit besaß, sie mit dem entsprechenden
Bewertungsmechanismus zu verknüpfen. Diese Verknüpfung zwischen
Bewertungsprozeß und Reaktionsmechanismen bildet den grundlegenden
Mechanismus bestimmter Emotionen.
��Die Verknüpfung zwischen Bewertungsmechanismen und Systemen der
Reaktionssteuerung bedeutet, daß es, wenn der Bewertungsmechanismus ein
signifikantes Ereignis entdeckt, zur Programmierung und oft auch zur Ausführung
von entsprechenden Reaktionen kommt. Im Endergebnis sind Bewertungen oft
von körperlichen Empfindungen begleitet, und wenn diese auftreten, sind sie
Bestandteil des bewußten Erlebens von Emotionen. Da die kognitive Verarbeitung
nicht auf diese obligatorische Weise mit Reaktionen verknüpft ist, ist es weniger
wahrscheinlich, daß intensive körperliche Empfindungen in Verbindung mit bloßen
Gedanken auftreten.“ 351
Diese Aspekte begründen nach LeDoux, daß Emotion und Kognition (hier verstanden als
bewußter Verarbeitungsprozeß) als zwei getrennte, aber miteinander wechselwirkende
mentale Funktionen zu verstehen sind, die durch getrennte, miteinander wechselwirkende
350 Vgl. hierzu auch Damasio, Antonio R.: Descartes’ Irrtum. Denken, Fühlen und das menschliche Gehirn. 6.
Auflage. München 2001. 351 LeDoux, Joseph: a.a.O., S. 75 ff.
137
Hirnsysteme vermittelt werden.352 Damit stützen die neurobiologischen Forschungsergeb-
nisse nicht nur die von Leventhal postulierte und seiner Emotionstheorie
zugrundeliegende Hypothese, daß Emotion und problemlösendes Denken durch zwei von
einander getrennte Prozeßsysteme organisiert werden, sondern auch die pädagogischer-
seits vertretene Grundauffassung, es handele sich beim Denken und den Gefühlen um
voneinander getrennte Bereiche.
Im folgenden gilt es nun gezielt, die auf dieser Grundauffassung aufbauende pädago-
gische Hypothese, daß der Mensch Kraft seiner intellektuellen Fähigkeiten kontrollierend
und regulierend auf seine Gefühle einwirken, bzw. diese bei Handlungsentscheidungen
gänzlich unberücksichtigt lassen kann, zu untersuchen. Genauer betrachtet handelt es
sich hier um zwei Fragestellungen:
1. Sind Gefühle völlig irrelevant, da Handlungsentscheidungen durch ein rein rationales
Abwägen von Gründen getroffen werden können?
2. Ist es möglich, durch Denken Gefühle so zu beeinflussen, daß sie Handlungsent-
scheidungen unterstützen?
Ad 1: Die sowohl von der neurobiologischen Seite als auch von Leventhal und Scherer
aus der psychologischen Perspektive vertretene These, es handele sich beim Denken
und den Gefühlen um zwei getrennte Prozeßsysteme, ist verbunden mit der Option, daß
diese beiden Systeme in wechselseitiger Abhängigkeit miteinander operieren. Nach
LeDoux besteht die Wechselwirkung darin, daß kognitiven Verarbeitungsprozessen eine
emotionale Bedeutung zugewiesen wird, wobei der emotionalen Reizbewertung die
Funktion zukommt, die durch die kognitive Reizverarbeitung ermittelten Handlungs-
optionen einzuschränken. Demgemäß erfolgt das Abwägen der rational ermittelten
Handlungsoptionen immer auf der Basis der emotionalen Bedeutung, die das Individuum
den einzelnen Handlungsoptionen zumißt. Mithin ist aus dieser Sicht ohne eine gefühls-
mäßige Bewertung einer bestimmten Gegebenheit eine Entscheidung zwischen
verschiedenen Handlungsmöglichkeiten nicht möglich.
Ad 2: Die wechselseitige Abhängigkeit von Denken und Gefühlen läßt sich an Leventhals
mehrstufigem Prozeßmodell der Emotionen veranschaulichen. Von zentraler Bedeutung
sind die Lernprozesse, die zur Entwicklung der Emotionen notwendig sind. Nach
Leventhal wurzelt die Ontogenese der Emotionen in den unterschiedlichen genetisch
352 Vgl. ebd. S. 75.
138
bedingten körperlichen Reaktionsmustern. Diese zunächst über das senso-motorische
Verarbeitungssystem generierten emotionalen Erlebnisse bilden die Grundlage zur
Entwicklung von Schemata, welche durch die Wahrnehmung einer speziellen emotionalen
Verfassung in Verbindung mit ganz bestimmten Situationskonstellationen gebildet
werden. Diese Schemata sind also zu verstehen als relativ stabile Gedächtnisstrukturen,
in denen die speziellen situationstypischen Komponenten, d.h. die emotionsauslösende
Situation, subjektive Gefühle, Ausdruckserscheinungen und autonome Reaktionen
miteinander verbunden sind. Für Leventhal sind emotionale Schemata vergleichbar mit
konditionierten Reaktionen, denn ein einmal etabliertes Schema kann durch die Konfron-
tation mit einer Komponente dieses speziellen Schemas aktiviert werden. Der Vergleich
der Schemata mit konditionierten Reaktionen, d.h. mit unbewußten Prozessen, die im
Laufe der Entwicklung Veränderungen durchlaufen, in der Form, daß sie gelöst werden
von der wahrnehmungsnahen Orientierung und von konkreten Situationen, ausdifferen-
ziert und operationalisiert werden, verweist auf ihre Resistenz gegenüber Beeinflussung
durch rationale Denkprozesse. Wie in dem integrativen Modellentwurf von Leventhal und
Scherer betont wird, sind die emotionalen Schemata für die situationsabhängige Genese
von Emotionen von zentraler Bedeutung, denn nach der Vermutung der Autoren werden
die meisten, wenn nicht alle emotionalen Prozesse bei einem Erwachsenen von der
Schemataebene aus initiiert, wobei ein Reiz, der auch auf der senso-motorischen Ebene
verarbeitet wird, die emotionale Reaktion verstärken kann. Die begriffliche Ebene ergänzt
die ontogenetische Entwicklung der Emotionen, denn ihr kommt neben der Erinnerung
und willentlichen Beeinflussung von emotionalen Reaktionen vor allem die Funktion zu,
die Schemataklassen auszudifferenzieren, die auf abstraktere Ereignisse bezogen sind.
Während die Prozesse auf der senso-motorischen Ebene und der Schemataebene
unbewußt ablaufen, erfolgt die begriffliche Verarbeitung bewußt und willentlich. Nach
Leventhal sind also bewußte Denkprozesse ein grundlegender Bestandteil für die
Entwicklung von Emotionen. Hierbei geht es jedoch zunächst allein um die bewußte
Verarbeitung und willentliche Gestaltung emotionaler Reaktionen.
Daß die begriffliche Verarbeitung emotionaler Reaktionen nicht die einzige Verbindung
zwischen Denken und Gefühlen darstellt, wird daran deutlich, daß Leventhal die
ontogenetische Entwicklung der Emotionen in ein Modell für adaptives Verhalten
einbindet. In diesem Modell ordnet er dem adaptiven Verhalten zwei hierarchisch
organisierte, parallel und interaktiv arbeitende Prozeßsysteme zu, das emotionale und
das problemorientierte.353 Die Repräsentation und Interpretation eines Reizes auf dem
353 Vgl. oben S. 112.
139
emotionalen Prozeßverarbeitungsstrang erfolgt durch die Verarbeitung einer Information
auf einer oder mehrerer der emotionalen Reizverarbeitungsebenen. Ausgehend von der
jeweiligen Reizbewertung, die eine bestimmte Emotion erzeugt, erfolgt die Planung der
Handlungsstrategien für die emotionale Situationsbewältigung und als dritter Schritt die
Bewertung der Handlung. Der gleichzeitig auf dem problemorientierten Prozeßverar-
beitungsstrang repräsentierte Reiz durchläuft parallel zur emotionalen Verarbeitung die
gleichen Prozeßverarbeitungsschritte der Handlungsplanung zur Situationsbewältigung
und daran anschließend die Handlungsbewertung. Nach Leventhal arbeitet dieses
System außerordentlich schnell und rekursiv, demzufolge bauen einerseits die einzelnen
Prozeßverarbeitungsschritte aufeinander auf, zum anderen wirken die Bewertungen der
Handlungsabfolgen wiederum zurück auf die Interpretation und Repräsentation von
Reizsituationen. Dabei beeinflussen die einzelnen problemorientierten Verarbeitungs-
schritte die emotionalen, ebenso wie die emotionalen die problemorientierten. Von
besonderer Bedeutung ist die wechselseitige Rückwirkung der Bewertung der Situations-
bewältigung auf die jeweiligen Reizrepräsentationen und -interpretationen auf den beiden
Verarbeitungssträngen. D.h. die Bewertung der problemorientierten Handlung wirkt nicht
nur auf die problemorientierte, sondern auch auf die emotionale Reizrepräsentation,
ebenso wie die Bewertung der emotionalen Situationsbewältigung nicht nur die
emotionale, sondern auch die problemorientierte Reizrepräsentation beeinflußt. Ganz
konkret folgt daraus für die emotionale Reizverarbeitung: die oben explizierten emotio-
nalen Reizverarbeitungsebenen: die senso-motorische, die Schemataebene und die
begriffliche Ebene werden durch die auf beiden Verarbeitungssträngen für die Situations-
bewältigung als angemessen erachteten Tätigkeit und deren Bewertung beeinflußt.
Demgemäß führt diese Bewertung entweder zur Bestätigung des Ausgangsschemas,
wenn die Situationsbewältigungshandlungen zum erwarteten Ergebnis führen oder aber,
wenn die Bewertung nicht dem Ausgangsschema entspricht, zu Irritation und dadurch
möglicherweise zur Modifikation/Ausdifferenzierung des für die entsprechende
Situationskonstellationen gespeicherten emotionalen Schemas.
Nach Leventhals Modell des adaptiven Verhaltens ist die Bewältigung einer Situation also
einerseits abhängig von der emotionalen Bedeutungszuweisung und andererseits von den
kognitiven Fähigkeiten, verstanden als bewußte Denkprozesse. Und folgt man dem
Postulats der beiden rekursiv arbeitenden und interagierenden Prozeßverarbeitungs-
stränge, so ist die Differenzierung und Modifizierung der emotionalen Schemata abhängig
von der dem Individuum zur Verfügung stehenden Anzahl an Problemlösestrategien und
das heißt von einem Wissensreservoir, auf das zurückgegriffen werden kann, um
verschiedene Problemlösungsstrategien zu entwickeln. Weitere Konsequenzen sind, daß
140
diese wechselseitige Beeinflussung einerseits vornehmlich in Handlungssituationen
stattfinden kann, zum anderen, daß die Bewältigung und Bewertung dieser Handlungs-
situationen Lernprozesse für beide Prozeßverarbeitungssysteme entscheidend beeinflußt.
Diese wechselseitige Interaktion und Beeinflußbarkeit läßt sich treffend an dem oft
rezipierten Beispiel der ‚Begegnung eines Menschen mit einem Bären’ von William James
verdeutlichen: Die Art und Weise, wie ein Mensch die Situation: Begegnung mit einem
Bären interpretiert und bewältigt, ist abhängig von der je individuellen Vorgeschichte und
der körperlichen Verfassung, der eigenen Wahrnehmung, dem Wissen um Handlungs-
strategien, der persönlichen Zielsetzung etc. So wird ein in der Jagd auf Bären erfahrener
Mensch, der mit den notwendigen Jagdgeräten ausgestattet ist und sich seiner dieser
Situation entsprechend erprobten Handlungsstrategien bewußt ist, dem Tier, falls er auf
Bärenjagd ist, höchstwahrscheinlich freudig erregt gegenübertreten. Unter veränderten
Umständen kann die gleiche Person jedoch, bspw. aufgrund einer schlechten körper-
lichen Verfassung oder des Fehlens einer wirksamen Waffe mit Verstecken reagieren.
Andere Menschen mögen dagegen gemäß ihres individuell gelernten emotionalen
Schemas und in Abhängigkeit ihrer je eigenen Situationsbewältigungsstrategien vor
Schreck erstarren, auf einen Baum klettern oder weglaufen. Ein kleines Kind jedoch, daß
bisher noch nicht gelernt hat, daß die Begegnung mit einem Bären mit einem gewissen
Gefahrenpotential verbunden ist, wird möglicherweise neugierig auf das Tier zugehen und
es streicheln wollen. Die Bedeutung, die dieser Situation zugewiesen wird, ebenso wie die
Handlungsplanung zur Bewältigung der Situation, erfolgt also auf der Basis einer Kombi-
nation von gelerntem Sachverhaltswissen, erworbener individueller Selbsteinschätzung
und erprobter Handlungserfahrung.
Die Hypothese von zwei unterschiedlichen Prozeßverarbeitungssystemen zur Situations-
bewältigung einerseits und die Abhängigkeit der emotionalen Repräsentation, d.h. der
Bedeutungszuweisung eines Reizes von gelernten Schemata, die dem Bewußtsein nur
schwer zugänglich sind, andererseits, bietet nicht nur eine Erklärung für die Resistenz
individueller emotionaler Reaktionen auf ganz bestimmte Reizkonstellationen gegenüber
reiner Wissensvermittlung, sondern macht darüber hinaus deutlich, in welch wechsel-
seitiger Abhängigkeit Denken und Gefühle Situationseinschätzungen, -bewältigungen und
Handlungsbewertungen organisieren. Mithin werden dadurch auch die Grenzen der
wechselseitigen Beeinflußbarkeit aufzeigbar. Danach ist es wohl möglich, durch willent-
liche Anstrengung den Ausdruck von Gefühlen bis zu einem gewissen Grade zu kontrol-
lieren, nicht möglich ist jedoch, allein durch das Denken, auch unter der Berücksichtigung,
daß es in hohem Maße von Sachverhaltswissen bestimmt wird, erstens die Initiierung von
141
ganz bestimmten Gefühlszuständen zu verhindern und zweitens in der Form eines ein-
seitig kausalen Wirkgefüges, Gefühle so zu beeinflussen, daß sie Handlungsentschei-
dungen unterstützen.
3.5 Zusammenfassung und Diskussion der bisherigen Ergebnisse
mit Blick auf die Aufgabenstellung der Pädagogik
Im Problemaufriß dieser Arbeit wurde als die grundsätzliche Aufgabenstellung der
Pädagogik die Erforschung des Menschen mit dem Blick auf seine Erziehbarkeit und
Bildsamkeit ausgemacht und in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, daß die
Untersuchung dieser Fragestellung untrennbar verbunden ist mit der Klärung der Aspekte,
die den Menschen in seiner ihm eigenen Verfaßtheit ausmachen. Die vor dem Hinter-
grund der Fragestellung, was das Wesen des Menschen ausmache und was demzufolge
die Aufgabe der Pädagogik sei, an zwei beispielhaft ausgewählten pädagogischen
Anthropologien angestellten Untersuchungen haben ergeben, daß der Fokus der
Pädagogik auf der Förderung der intellektuellen Fähigkeiten des Menschen liegt. Beiden
Werken unterliegt das Ziel, den Menschen zu der ihm eigenen Freiheit zu verhelfen,
verstanden im Sinne einer doppelten Freiheit, als ein Freimachen von natur- und
sozialisationsbedingten Zwängen und daran gebunden das Freisein für ein Handeln unter
selbstgesetzten moralischen Prinzipien. Die Realisierung dieser Zielsetzung wurde bei
Zdarzil abhängig gemacht von dem Einüben des kindlichen Willens in eine vom Erzieher
vorgesetzte Form der Sittlichkeit, von der es sich nach gelungener Internalisierung mittels
der Reflektionsfähigkeit zu distanzieren gilt, während sie nach Roth abhängig ist von dem
sich unter Nutzung der Lernfähigkeit entwickelnden Wissenspotentials. Während Zdarzil
in diesem Zusammenhang aufgrund der nach ihm den Menschen auszeichnenden
Fähigkeit, zu sich selbst in Distanz treten zu können, den Gefühlen keinerlei Bedeutung
beimißt, kommt ihnen nach Roth bei Werturteilen und Handlungsmotivationen eine Rolle
zu. Beide Autoren gehen jedoch gleichermaßen von einer Dichotomie von Intellekt und
Gefühlen aus, wobei dem Intellekt die Vorherrschaft über die Gefühle zukommt.
Gemäß der oben angestellten kritischen Erörterung der psychologischen
Emotionstheorien, welche zu einem Votum für das integrative Emotionsmodell von
Leventhal und Scherer und insbesondere für das dem diesem Modell zugrundeliegende
Leventhalsche Modell der Ontogenese geführt hat, dessen Grundannahmen durch die
142
neuesten neurobiologischen Forschungserkenntnisse Bestätigung finden, sind beide
Annahmen, die einer Dichotomie von Gefühlen und Intellekt ebenso wie die des Primates
des Geistes über die Gefühle nicht in der rigiden Form haltbar. Vielmehr wird hier
postuliert, daß die dem Menschen eigene Verfaßtheit durch das Zusammenwirken beider
Komponenten, den Gefühlen und dem Denken, bestimmt wird. Für die Pädagogik ist in
bezug auf die Gefühle die Erkenntnis von besonderer Bedeutung, daß nicht nur die
Ausbildung der intellektuellen Fähigkeiten, sondern auch die Gefühlsdifferenzierung
abhängig ist von Lernprozessen. Gemäß des Leventhalschen Modells kann davon
ausgegangen werden, daß die Lernprozesse für die Differenzierung unterschiedlicher
Gefühle auf einer genetisch bedingten, nahezu rein von der Befindlichkeit des
Organismus bestimmten Initiierung von Gefühlen aufbauen. Als Bestätigung für die
genetische Grundlage der Gefühlsdifferenzierung können einmal die von Paul Ekman
bisher eruierten überkulturellen Ähnlichkeiten in den mimischen Ausdruckserscheinungen
für Furcht, Ärger, Ekel, Kummer, Freude und Überraschung gewertet werden. Ekmans
Untersuchungen zu dem emotionalen Ausdrucksgeschehen haben ebenfalls ergeben,
daß es keine universalen Auslöser für die spezifischen Gefühle gibt, dagegen sind
Tendenzen bei den unterschiedlichen Auslösern auszumachen, wie bspw. Ekel meist in
Verbindung mit Geschmacksreizen auftritt, die eher giftig sind, oder Überraschung durch
das Auftreten eines unerwarteten, eher plötzlich auftretenden Reizes ausgelöst wird,
während Angstauslöser alle mit dem Merkmal des potentiell Schädlichen oder
Schmerzlichen verbunden sind354.
Die genetische Determination für die Entwicklung ganz bestimmter Gefühle zeigt sich zum
anderen auch daran, daß es nicht möglich ist, jemanden Angst zu lehren, oder Scham,
Interesse, Mitleid, Trauer, Glück etc. Wäre ein Mensch nicht dazu in der Lage, aus
eigenem Antrieb das typische Reaktionsspektrum für bspw. Angst, Ekel, Scham oder
Ärger zu entwickeln, es wäre nicht möglich, ihn zu lehren, diese Gefühle zu empfinden.
Zwar kann man versuchen zu vermitteln, welche Symptome die jeweiligen Gefühle
begleiten, jedoch ist es für einen Menschen nicht möglich, willentlich einen solchen
Zustand herzustellen, wenn er ihn noch nicht erlebt hat.
Die körperlichen Komponenten der Gefühle basieren also auf einem genetisch bedingten
Reaktionsmuster, welches im frühen Entwicklungsstadium relativ erinnerungsunabhängig
eng an die aktuelle organismische Befindlichkeit gebunden ist, wobei das Ausdrucksge-
schehen vornehmlich der Kommunikation der jeweiligen Empfindung dient und im
354 Vgl. oben die Ausführungen zu Ekman, Paul: S. 84 ff. besonders S. 85.
143
Vordergrund steht. Dabei ist das emotionale Befinden, wie die bereits erwähnten Unter-
suchungen von Spitz belegen, nicht allein ein Parameter für grundlegende körperliche
Versorgungszustände, sondern steht auch in enger Wechselwirkung mit den Erlebnis-
möglichkeiten im sozialen Bezug. Die Tatsache, daß die genetische Grundlage für die
Initiierung von Gefühlen sowohl die rein biologische Versorgung als auch die soziale
Fürsorge des Organismus umfaßt, weist darauf hin, daß die soziale Fürsorge von
existentieller Bedeutung für die Entwicklung des Individuums ist, was ja auch durch Spitz’
Untersuchungen bestätigt wurde355.
Nach Leventhal bilden diese rein körperlichen (senso-motorischen) Reaktionen die
Grundlage für die Ausbildung emotionaler Schemata, d.h. mit dem Fortschreiten der
Entwicklung findet über Lernprozesse eine Verknüpfung von ganz spezifischen Kompo-
nenten, der emotionsauslösenden Situation, dem subjektiven Gefühlserleben, den Aus-
druckserscheinungen und den autonomen Reaktionen statt. Diese Verbindung der
einzelnen körperlichen Reaktionen mit ganz bestimmten situativen Gegebenheiten führt
dazu, daß nicht mehr allein die organismische Befindlichkeit, sondern die Begegnung mit
einer Komponente, die Teil einer Schemaerinnerung ist, gefühlsauslösend wirken kann.
Diese emotionale Auszeichnung einer Situation durch unbewußt etablierte, relativ stabile
Gedächtnisstrukturen bildet eine Grundlage für das eine Situationsbewältigung organi-
sierende adaptive Verhalten. Leventhal postuliert, daß das adaptive Verhalten durch zwei
von einander getrennt arbeitende Prozeßverarbeitungssysteme organisiert wird, dem
emotionalen und dem problemorientierten, die jedoch miteinander interagieren. Die
Situationseinschätzung durch emotionale Schemata einerseits und die getrennte
Organisation des Handlungsvollzuges und der Handlungsbewertung andererseits bieten
ein Erklärungsmuster für eine Reihe von in Verbindung mit den Gefühlen beobachtbaren
Eigentümlichkeiten:
1. Die emotionale Einschätzung einer Situation oder eines Reizes erfolgt außer-
ordentlich schnell, nach LeDoux manchmal schon bevor das Gehirn weiß, um was es
sich handelt.
2. Emotionale Einschätzungen vermitteln den Eindruck von Verläßlichkeit, Richtigkeit,
Authentizität – das sogenannte „Gefühl im Bauch“.
3. Emotionale Einschätzungen können täuschen.
4. Emotionale Einschätzungen sind nur mühevoll und höchstwahrscheinlich nicht in
Gänze rational nachvollziehbar.
355 Vgl. oben S. 35.
144
5. Emotionale Einschätzungen sind relativ resistent gegenüber rationaler
Argumentation.
Ad 1: Wenn die Aktivierung eines emotionalen Schemas durch eine Wahrnehmung einer
seiner Komponenten erfolgt, so ist eine emotionale Einschätzung eines Reizes vor der
bewußten Wahrnehmung möglich. Angenommen man wacht in der Dunkelheit von einem
bisher nicht bekannten Geräusch auf, so wird man mit hoher Wahrscheinlichkeit zunächst
mit Erregung und/oder Furcht reagieren, ohne genau bestimmen zu können, was das
Geräusch initiiert hat.
Ad 2: Wenn man berücksichtigt, daß die emotionalen Schemata unbewußt durch das
mehrmalige Erleben der gleichen oder sehr ähnlichen Situationskonstellationen erzeugt
werden, kann der Eindruck von Verläßlichkeit oder Richtigkeit eines „Gefühles im Bauch“
dadurch Bestätigung finden, daß eine Situationsbewältigung und deren Bewertung der
durch ein emotionales Schema erfolgten emotionalen Repräsentation entspricht. Ein
gutes Beispiel für eine solche Gegebenheit sind Prüfungssituationen. Angenommen eine
Person hat mehrmals die Erfahrung gemacht, daß sie trotz erheblichen Lernaufwands und
nachweisbaren intellektuellen Fähigkeiten, sich den jeweiligen Prüfungsstoff erarbeiten zu
können, in mündlichen Prüfungssituationen nicht in der Lage ist, das erarbeitete Wissen
adäquat zu vermitteln. Gemäß der Theorie der Schemata wird aufgrund der Erfahrung die
emotionale Situationseinschätzung zu einem sehr hohen Aufregungszustand führen mit
der Konsequenz, daß sowohl die Konzentrationsfähigkeit als auch die sprachlichen
Fähigkeiten außerordentlich leiden. Wenn in der Prüfungssituation dieser
Aufregungszustand nicht aufgehoben werden kann, was in diesem Falle in hohem Maße
auch von dem Verhalten des Prüfers abhängig ist, wird die erneute durch den Auf-
regungszustand bedingte mangelnde Prüfungsleistung das bisherige emotionale Schema
bestätigen. Andererseits könnte eine wider Erwarten gute Prüfungsleistung dazu führen,
das bisherige Schema zumindest zu irritieren. Die letztere Möglichkeit führt zu Punkt 3:
emotionale Einschätzungen können täuschen.
Ad 3: Die Möglichkeit, daß ein aufgrund einer Komponente eines repräsentierten Reizes
aktiviertes emotionales Schema täuschen kann, ist zumindest bei nicht sehr ausdifferen-
zierten Schemata sehr hoch. Nehmen wir als Beispiel den Umgang eines kleineren
Kindes mit dem der Familie angehörigen Haustier bspw. einem Hund. Ein Kind, welches
mit einem Hund aufgewachsen ist und keinerlei schlechte Erfahrungen mit diesem Tier
gemacht hat, wird vollkommen unbefangen und freundlich auf jedes ähnlich aussehende
Tier zugehen, es streicheln wollen, mit ihm spielen wollen. Das emotionale Schema:
145
vertrauensvoller spielerischer Umgang mit einem Hund wird erst dann gestört, wenn das
Kind einmal die Erfahrung gemacht hat, daß ein Hund schmerzhaft zubeißen kann. Dies
kann zu einer rigiden Änderung des Schemas führen, wenn es der Hund ist, mit dem das
Kind das ursprüngliche Schema erworben hat. Wenn es jedoch ein fremder Hund ist,
kann es zu einer Ausdifferenzierung des Schemas bezüglich des Umgangs mit Hunden
führen. Der dem eigenen Haushalt angehörige Hund ist lieb und gut, fremde Hunde böse
und gefährlich. D.h. eine Änderung bzw. Ausdifferenzierung eines emotionalen Schemas
erfolgt durch die nicht adäquate Situationsbewältigung und deren Bewertung.
Ad 4: Durch die Annahme, daß emotionale Schemata auf unbewußt gespeicherte
Erinnerungsstrukturen zurückgehen, läßt sich erklären, warum es schwierig ist, bewußt
nachzuvollziehen, warum bestimmte Situationen bestimmte Gefühle hervorrufen. Die
grundsätzliche Problematik läßt sich sehr gut verdeutlichen an dem oben bereits
erwähnten Beispiel des kleinen Albert.356 Bei diesem ca. 11 Monate alten Baby wurden mit
der Methode des klassischen Konditionierens Furcht vor einer weißen Ratte erzeugt,
gegenüber der er zu Beginn des Versuches keinerlei ängstliche Reaktionen zeigte. Wie
sich im weiteren Verlauf des Versuches herausstellte, übertrug Albert nicht nur seine
Furcht vor der Ratte auf ähnlich aussehende Reize wie einem Kaninchen, einem Hund,
einem Pelzmantel aus Seehundfell und einer Nikolausmaske (mit einem weißen Bart) (!),
darüber hinaus zeigte sich, daß die Furchtreaktionen über einen bestimmten Zeitraum
hinweg erhalten blieben, denn nach einem Monat, in dem keinerlei Versuche mit ihm
stattfanden, zeigte das Baby weiterhin die gleichen Furchtreaktionen nicht nur gegenüber
der Ratte, sondern auch gegenüber allen übrigen vorher genannten Objekten. Die
Überprüfung, ob diese Furchtreaktion sich experimentell beseitigen lasse, der letzte Teil
dieser Versuchsreihe, konnte nicht durchgeführt werden, da das Baby vorher aus dem
Heim, in dem das Experiment stattfand, entlassen wurde.357
Der Versuch mit dem kleinen Albert zeigt, daß es aufgrund des Transfers einzelner
Komponenten eines emotionalen Schemas auf andere Objekte außerordentlich schwierig
ist nachzuvollziehen, wo die Ursache für einzelne Gefühlsempfindungen liegen. Denn
selbst wenn möglicherweise einzelne Schlüsselsituationen eruiert werden könnten, würde
356 Vgl. hierzu Meyer, Wulf-Uwe; Schützwohl, Achim; Reisenzein, Rainer: a.a.O. (1997), S. 56 ff. und oben
S. 29. 357 In diesem Zusammenhang wird jedoch von einem weiteren Experiment mit einem fast drei jährigem
Jungen berichtet, der ähnlich wie Albert Furcht vor einer weißen Ratte, vor Kaninchen, Baumwolle etc. zeigte. Über einen Zeitraum von zwei Monaten gelang es der Versuchsleiterin durch wiederholtes Präsentieren der Ratte zeitgleich mit einem Reiz, der bei dem kleinen Jungen positive Reaktionen
146
es sich schwierig gestalten, nachzuvollziehen, ob und welche Komponente des Schemas
auf andere Objekte übertragen werden. Darüber hinaus ist – und das leitet über zu dem
nächsten Punkt – durch die Aufklärung über die subjektspezifische Emotionsgenese
allein, die an gewisse Situationskonstellationen gebundene Entstehung einer Emotion
nicht wirkungsvoll zu verhindern.
Ad 5: Die Resistenz emotionaler Einschätzungen gegenüber rationaler Argumentation
wurde oben schon an mehreren Stellen angesprochen. Durch die von neurobiologischen
Forschungsergebnissen unterstützte Annahme Leventhals, daß es sich bei der emotio-
nalen und der rationalen Prozeßverarbeitung um zwei getrennt arbeitende Systeme
handelt, läßt sich dieses Phänomen erklären. Wenn die Reizbewertung auf dem emotio-
nalen und dem problemorientierten Prozeßverarbeitungsstrang unabhängig voneinander
erfolgt, wird eine rein rationale Bearbeitung einer emotionsauslösenden Situation nur
geringen Einfluß auf die Auslösung einer Emotion haben, die über ein emotionales
Schema gemäß eines Reiz-Reaktions-Mechanismus hervorgerufen wird.
Gerade für die geringe Beeinflußbarkeit von Gefühlen durch Argumente gibt es eine Fülle
von Beispielen. Am bekanntesten sind die Gegebenheiten, die Ängste hervorrufen: um
nur einige wenige zu nennen: die Angst vor Spinnen, Schlangen, Versagensängste bei
Prüfungen oder allgemein Panikattacken. Wenn die Ängste übermächtig werden, ist es
eine Aufgabe der Tiefenpsychologie, durch Gespräche dem Auslöser der jeweiligen
Gefühle nachzugehen, um sie auf diesem Wege zu mildern, jedoch wird hier eine lange
Behandlungsdauer benötigt, die häufig nicht das gewünschte Resultat zeigt. Mehr Erfolg
versprechen andere Behandlungsmethoden. Zu diesen gehört einmal die „systematische
Desensibilisierung“358, eine Technik bei der sich der Patient im Zustand der Entspannung
angstauslösende Situationen vorstellt. Durch den Entspannungszustand soll die Angst-
reaktion auf den vorgestellten Reiz beseitigt werden. Eine der wirkungsvollsten Methoden
ist das „Anti-Angsttraining“ 359 oder auch „konfrontative Therapie“360 genannt. Hier wird den
Personen zur Aufgabe gemacht, sich in kleinen Schritten tatsächlich ihrer speziellen
angstbesetzten Situation auszusetzen und diese auszuhalten mit dem Ziel, das Vertrauen
in die eigene Kraft, die angstbesetzte Situation bewältigen zu können, wiederherzustellen.
auslöste, die Angst vor dem Tier zu beseitigen. Nicht berichtet wird leider, ob die übrigen Objekte ebenfalls keine Furcht mehr auslösten. Vgl. Meyer, Schützwohl, Reisenzein: a.a.O. (1997), S. 64 f.
358 Vgl. ebd. S. 65 f. 359 Vgl. http://www.angst-auskunft.de - 02.07.02, 8.25 Uhr. 360 Vgl. http://www.hr-online.de/fs/servicenatur/archiv/061199.html - 02.07.02, 8.30 Uhr.
147
Zusätzlich werden Informationen über die körperlichen Reaktionen und die ursprüngliche
Funktion der Angst geliefert. Der mit dieser Methode in relativ kurzer Zeit zu erzielende
Behandlungserfolg liefert ein weiteres Indiz für die Berechtigung der Annahme, daß
Situationseinschätzungen über emotionale Schemata erfolgen, welche in Verbindung mit
den problemlösenden Bewältigungsstrategien vor allem im Handlungsvollzug verändert
werden können.
Bei diesem Punkt ist das genaue Verständnis von rationaler Argumentation zu beachten.
Hier geht es um rationale Erklärungsmuster und Beschwichtigungsversuche, wie „Du
mußt keine Angst haben, die Spinne (der Hund, die Schlange) tut Dir nichts“, bzw. in
Verbindung mit Flugangst, die Vorlage von Statistiken, die beweisen, daß Fliegen im
Vergleich zum Straßenverkehr sehr viel weniger gefährlich ist. Dies berührt jedoch nicht
die fraglos gegebene Möglichkeit, durch die Assoziation von bestimmten Gegebenheiten,
Gefühle hervorrufen zu können, bzw. die Entwicklung einer durch die Reizbewertung
einer aktuellen Gegebenheit ausgelösten Emotion zu beeinflussen. In diesem Falle wird
jedoch das mit der realen Situation verbundene emotionale Schema durch das mittels der
Assoziation hervorgerufenen Situationskonstellation verbundene emotionale Schema
ersetzt. Gerade die Möglichkeit, durch die gedankliche Vorstellung von bestimmten
Gegebenheiten Emotionen hervorzurufen bzw. mittels der Assoziation anderer Situati-
onen eine aktuelle Gefühlsempfindung zu beeinflussen, ist eine weitere Bestätigung für
die Annahme der Emotionsgenerierung durch emotionale Schemata, da in diesem
Zusammenhang gilt, daß der Aktivierung einer Komponente (hier die Vorstellung einer
bestimmten Gegebenheit) die Aktivierung aller anderen Komponenten des emotionalen
Schemas auslöst.
Wie die Erörterung der vorstehenden Punkte zeigt, lassen sich mittels der Theorie der
Initiierung von Gefühlen durch emotionale Schemata und deren Einbindung in ein Modell,
in welchem die Organisation des adaptiven Verhaltens durch zwei von einander
getrennten aber interagierenden Prozeßverarbeitungssystemen erfolgt, einige der den
Gefühlen anhaftenden „Mysterien“ klären. Darüber hinaus wurde auch deutlich, daß die
emotionale Entwicklung vor allem in Zusammenhang mit Lernprozessen erfolgt, die an
Handlungen gebunden sind. Dabei kann grundlegend davon ausgegangen werden, daß
die Entwicklung der Gefühle rekurriert auf die Fähigkeit des Organismus, je individuelle
situationsabhängige körperliche Befindlichkeiten zu signalisieren. Diese Signalfunktion
basiert auf einer zur Lebenserhaltung notwendigen genetischen Ausstattung. Die
anfänglich spontane genetisch bedingte Gefühlsinitiierung über die rein körperlichen
Zustände wird nach Leventhal jedoch recht schnell erweitert durch die Verbindung von
148
prägnanten Situationskomponenten zu festen Erinnerungsstrukturen. Hier sind bereits die
Handlung als Situationsbewältigung und daran anschließend die Bewertung der Hand-
lungsbewältigung mit eingebunden, denn sehr schnell lernt das Kleinkind, welche
Aktivitäten – und seien es zunächst nur stimmliche oder motorische Gefühlsäußerungen –
dazu beitragen, situative Gegebenheiten zu verändern, d.h. Entwicklung und Ausdifferen-
zierung der emotionalen Schemata erfolgt in Abhängigkeit von Handlungsvollzügen. Wie
oben expliziert bietet nach Leventhal erst die Verbindung der emotionalen Bedeutungs-
zuweisung mit den beiden das adaptive Verhalten kennzeichnenden rekursiv arbeitenden
Verarbeitungssträngen, der emotionalen und der problemlösenden Prozeßverarbeitung,
die Möglichkeit zur Entwicklung des emotionalen und des problemorientierten Bewälti-
gungshandelns einerseits und zur Veränderung der Reizrepräsentation auf beiden
Verarbeitungssträngen andererseits.
Daß bereits neben Nahrung und Pflege des Körpers im frühesten Lebensalter die aus-
reichende soziale Fürsorge mit in die grundlegende emotionale Bewertung der körper-
lichen Befindlichkeit einbezogen wird, wurde oben bereits angesprochen. Leventhal und
Scherer folgen dieser Annahme, indem sie postulieren, auch auf der senso-motorischen
Ebene würden alle Reizprüfungssequenzen durchlaufen, d.h. auch auf dieser Ebene wird
die Prüfung eines Reizes auf die Normen- und Selbstvereinbarkeit angenommen.361 Zwar
räumen sie ein, daß es schwer sei, auf dieser Ebene die Prüfung der Vereinbarkeit des
Selbstkonzeptes mit sozialen und persönlichen Normen zu konzeptualisieren, da diese
frühen Entwicklungsschritte durch die individuelle komplexe Sozialisationsgeschichte
verdeckt würde. Dennoch nehmen sie an, daß das Erlebnis von Angenehmheit bzw.
Unangenehmheit als Folge der kindlichen Aktivitäten zur Bildung dessen führt, was
akzeptabel bzw. normgerecht ist. Demgemäß wird in diesem frühen Entwicklungsstadium
durch die emotionale Einschätzung die Bildung des Selbstkonzeptes grundgelegt.
Leventhal hat in seinem Konzept zur emotionalen Entwicklung die prägende Kraft dieser
frühen Lernprozesse herausgestellt362, indem er ausführt, daß die Art wie die frühen
senso-motorischen emotionalen Äußerungen des Kindes von den Bezugspersonen
beantwortet werden, den späteren Ausdruck nachhaltig beeinflussen. So wird ein Kind,
dessen emotionale Äußerungen vornehmlich verhalten beantwortet werden, lernen, seine
Freude, seinen Ärger und seine Wut eher verhalten auszudrücken. Dagegen lernt ein
Kind seine Gefühle ausdrucksstärker zu zeigen, wenn es zu aktionsreichen
Verhaltensäußerungen motiviert wird, d.h. seinem Lachen und dem Ausdruck der Freude
durch heftige Bewegungen der Gliedmaßen wird mit Lachen und Bewegungsunter-
361 Vgl. Leventhal, Howard; Scherer, Klaus:: a.a.O. (1987) S. 19 f, siehe hierzu auch oben S. 127.
149
stützung begegnet. Die bedeutende Rolle der Lernprozesse bei der Gestaltung des
Ausdrucksverhaltens bestätigen auch die Untersuchungen von Ekman. Wie einige
psychologische Untersuchungen deutlich gemacht haben, wirkt sich das Ausdrucks-
geschehen jedoch nicht einwandfrei nachweisbar auf die Gefühlsempfindung aus, d.h.
selbst wenn verhaltene Gefühlsäußerungen eingeübt werden, bedeutet das nicht
gleichzeitig, daß ein anderes Gefühlsempfinden vorherrscht, als bei sehr ausdrucks-
starken Gefühlsäußerungen.
Zusammenfassend sind für die Pädagogik die Ergebnisse der psychologischen Unter-
suchungen der Emotionen zwei Rubriken zuzuordnen: der Genese der Emotionen und
der Funktion der Emotionen. Bezüglich der Genese der Emotionen gibt es hinreichend
Beweise für die Annahmen, daß die Initiierung der Gefühle auf einer genetischen
Grundlage basiert, die Zuordnung von Gefühlen zu ganz bestimmten Auslösern gelernt
wird, wobei bei den Auslösern für ganz bestimmte Gefühle Tendenzen festzumachen sind
und die Ausdrucksstärke der Gefühlsverfaßtheit und der Umgang mit dem Gefühlserlebnis
gelernt wird. Die Funktion der Gefühle ist vor allem im Handlungszusammenhang zu
verstehen. Hier schaffen sie Bedeutungszuweisungen, wirken dadurch als notwendige
Orientierung für Handlungsbewältigung und -bewertung und bilden in dieser Funktion die
Grundlage für ein Selbstkonzept.
Wie oben bereits erwähnt sind unter dem Gesichtspunkt, daß Gefühle Situationen je
unterschiedliche Bedeutungen zuweisen und dadurch auch Überlegungen zu Handlungs-
bewältigungsstrategien und deren Bewertung lenken, als natürliche und sozialisations-
bedingte Gegebenheit nicht zu vernachlässigen. Berücksichtigt man weiterhin, daß die
emotionale Situationsbewertung durch unbewußte emotionale Schemata erfolgt, die
gelernt werden, birgt gerade die Vernachlässigung des Gefühlsbereichs, bzw. deren
Verortung unter das Primat der intellektuellen Fähigkeiten die Gefahr, jedweder
Erziehungsbemühung, die nicht auf die Entwicklung des Intellekts gerichtet sind, nur
einen geringen Wert beizumessen. Die Problematik dabei ist, daß eine solche Position
impliziert, ein Wissen um bestimmte Sachverhalte, Tatbestände, begründete normative
Forderungen führe dazu, daß die Werthaftigkeit der jeweils als erstrebenswert vermittelten
Gegenstände erkannt und damit gleichzeitig zur Richtschnur für Handlungsentscheidun-
gen gemacht würde. Wäre dem jedoch so, wäre das Erziehungsgeschäft ab einem
gewissen Alter sehr einfach und darüber hinaus der größte Teil des Strafvollzuges
überflüssig, da allein die Vermittlung von normativen Vorgaben, Pflichten und gesetz-
362 Vgl.: Leventhal, Howard: a.a.O. (1984), S. 283.
150
lichen Vorschriften in Verbindung mit einer rationalen Begründung für ihre Berechtigung
zu ihrer Einhaltung führen würde. Die Erfahrung mit der Lebenswirklichkeit zeigt, daß dem
nicht so ist, und eine mögliche Erklärung dafür bietet das oben explizierte Konzept der
Situations- oder Reizbewertung durch emotionale Schemata.
Wenn aber die emotionale Bedeutungszuweisung an Lernprozesse gebunden ist, können
Gefühle nicht notwendig „von Natur aus“ signalisieren, was „richtiges und was falsches“
Handeln ist, womit einer genetisch bedingten Gefühlsethik jegliche Grundlage entzogen
wird.363 Demgemäß muß Roths Position der unendlichen Lernfähigkeit auch in Gänze auf
den emotionalen Bereich Anwendung finden.
Diese Position der von Lernprozessen abhängigen Entwicklung der Emotionen macht
deutlich, daß die Gefühle zwar auf einer genetischen Grundlage basieren, diese Grund-
lage jedoch nur die Bedingung der Möglichkeit zur Ausdifferenzierung unterschiedlichster
Gefühle darstellt. Die Zuweisung einzelner Gefühle zu den jeweiligen Auslösern wird
gelernt und nach Leventhal unbewußt in Form von festen Erinnerungsstrukturen
abgespeichert. Ausgehend davon, daß die Entwicklung der emotionalen Schemata
abhängig ist von den Lernprozessen zum adaptiven Verhalten, d.h. abhängig nicht nur
von der emotionalen Bewältigung einer Situation, sondern auch von den zur Verfügung
stehenden Problemlösestrategien, hat die Pädagogik dafür Sorge zu tragen, die
Grundlagen für die Entwicklung beider Verarbeitungsstränge zum adaptiven Verhalten,
dem emotionalen und dem problemorientierten, zu schaffen. Im Hinblick darauf, daß nicht
nur die Erziehungsbemühungen in der frühesten Kindheit, sondern die gesamte Art und
Weise wie der Umgang mit dem Kleinkind gestaltet wird zur Bildung von emotionalen
Schemata führen, die die Grundlage für die Ausdifferenzierung aller weiteren emotionalen
Schemata bilden, kommt der emotionalen Erziehung besondere Bedeutung zu. Insofern
allen Situationen im Lebensalltag durch emotionale Schemata eine je eigene von der
individuellen Lebensgeschichte bestimmte Bedeutung beigemessen wird, haben diese
Bewertungsgrundlagen einen erheblichen Einfluß auf die gesamte Lebensgestaltung,
nicht nur bezogen auf die Gestaltung des sozialen Miteinanders, sondern ebenso auf die
Herangehensweisen an jedwede Problemstellung. Durch die emotionalen Schemata wird
bestimmt, ob man bspw. ängstlich, verhalten, vertrauensvoll, mutig oder gelassen an die
Bewältigung ganz bestimmter auch intellektueller Herausforderungen herangeht, ebenso
363 Vgl. zur Diskussion: Vollmer, Gerd: Sein und Sollen. Möglichkeiten und Grenzen einer Evolutionären Ethik.
In: Ders.: Biophilosophie 1995, S. 162 – 192 und Neumann, Dieter; Schöppe, Arno, Treml, Alfred K. (Hrsg.): Zur Natur der Moral. Evolutionäre Ethik und Erziehung. Stuttgart Leipzig 1999.
151
wie die emotionalen Einschätzungen bewirken, ob das soziale Miteinander z.B. liebevoll,
schüchtern, bestimmend, gewaltbereit, rücksichtsichtsvoll, tolerant etc. gestaltet wird.
Folgt man der Annahme, daß die Emotionen hauptsächlich über emotionale Schemata
generiert werden, bei denen es sich um unbewußte, relativ stabile Erinnerungsstrukturen
handelt, die nur höchst unzureichend rational nachvollziehbar sind und zudem durch
einzelne Komponenten des Erinnerungskomplexes aktiviert werden können, wird deutlich
daß die Emotionserziehung für die Pädagogik eine besondere Herausforderung darstellt.
Durch die geringe Beeinflußbarkeit durch rationale Argumentation sind Veränderungen
von emotionalen Schemata vornehmlich im Handlungsvollzug möglich. Wenn aber die
emotionale Einschätzung mit entscheidend ist dafür, wie an die Situationsbewältigung
herangegangen wird, d.h. also nicht nur beeinflußt wie die emotionale Bewältigung der
Situation gestaltet wird, sondern auch die Richtung vorgibt, welche problemorientierten
Handlungsstrategien angewandt werden, dann besteht die Gefahr, daß sich hierdurch ein
Procedere entwickelt, durch welches das für solche Situationstypen grundgelegte
emotionale Schema immer aufs Neue Bestätigung findet. Dieser Kreislauf kann an einem
Beispiel im sozialen Miteinander verdeutlicht werden: Ein schüchterner, ängstlicher
Mensch wird einer Gruppe fremder möglicherweise auch bekannter Menschen sehr
verunsichert gegenübertreten. Diese Verunsicherung kann dazu führen, daß er wenig
gesellig, wortkarg oder in einer anderen Art abweisend wirkt, wodurch der Kontakt mit ihm
schwierig bis unmöglich wird. Die immer wiederkehrende Erfahrung, daß sich ein Kontakt
mit anderen Menschen schwierig gestaltet, wird das grundlegende emotionale Schema
immer aufs Neue bestätigen. Erst ein Erlebnis, das die bisherige Erfahrung nicht bestätigt,
kann zumindest zunächst zur Irritation des für diese Situationsbewertung grundgelegten
Schemas führen. Jedoch ist es eher unwahrscheinlich, daß bereits eine einzelne
Erfahrung – es sei denn sie war außerordentlich gefahrvoll – zur Modifikation oder
Ausdifferenzierung einer relativ stabilen Erinnerungsstruktur führt. Vielmehr verweisen die
Ergebnisse der neurobiologischen Angstforschung auf die Nachhaltigkeit einmal fest
etablierter emotionaler Schemata gerade in bezug auf angstauslösende Situationen.364 Die
Problematik der emotionalen Schemata besteht also darin, daß sie, obwohl sie nur in sehr
geringem Maße rational nachvollziehbar und vor allem nicht durch Belehrung allein
modifizierbar sind, einen nachhaltigen Einfluß auf den Umgang mit Handlungssituationen
haben.
364 Vgl. LeDoux, Joseph: a.a.O. S. 273 ff.
152
Betrachten wir vor diesem Hintergrund nun die von Roth und Zdarzil angegebenen
Erziehungsziele der moralischen Mündigkeit im Sinne einer Freiheit von sozialisations-
bedingten Einflußfaktoren hin zu einer Freiheit zu selbstgewählten Prinzipien. Unter dem
Gesichtspunkt, daß die emotionale Einschätzung einer Situation die Herangehensweise
zur Situationsbewältigung und -bewertung entscheidend mitbestimmt, ist ebenso die Wahl
wie auch die Einhaltung der handlungsweisenden Prinzipien in entscheidendem Maße
abhängig von der emotionalen Bewertung der Situationen, die prinzipiengemäßes
Handeln erfordern. Die bedeutende Rolle, die damit dem Gefühl bei der Moralentwicklung
zugewiesen wird, bestätigt Löwisch, indem er expliziert: „Das Subjekt kann zum eigenen
Vorteil lügen, es kann zum eigenen Vorteil Menschen gegeneinander ausspielen, es kann
zum eigenen Vorteil Gerüchte in die Welt setzen, die anderen schaden. Aber irgendwann
kommen Skrupel auf, irgendwann fühlt es sich nicht mehr wohl dabei: Es bekommt ein
existentielles „moralisch-schlechtes“ Gefühl.“365 Damit spricht Löwisch dem Gefühl die
Funktion zu, ein Nachdenken über die moralische Qualität der Handlungsweise zu
veranlassen, das aber heißt: es bildet eine Voraussetzung für moralische Entwicklung.
Natürlich ist die Entwicklung der moralischen Urteilskompetenz an die Vernunfttätigkeit
gebunden: Anlaß oder Auslöser für diese Vernunfttätigkeit ist jedoch das moralische
Gefühl: „Der zwanglose Zwang des vernunftgestifteten und mit einem moralischen Gefühl
einsetzenden und stückweise rational werdenden Verantwortungsbewußtseins läßt es
[das Subjekt, B.K.] nicht mehr los.“366
Damit wird die grundlegende Bedeutung, die dem moralischen Gefühl für die Förderung
der moralischen Entwicklung hin zur moralischen Mündigkeit zukommt, klar herausge-
stellt. Es veranlaßt das Nachdenken, das zu Handlungsentscheidungen unter selbst
gesetzten moralischen Prinzipien führt. Dieses moralische Gefühl, die emotionale
Bedeutungszuweisung aber wird gelernt und zwar wie oben ausführlich erläutert vor allem
in Handlungssituationen im sozialen Kontext. Während Roths und Zdarzils Forderung,
sich von sozialisationsbedingten Einflußfaktoren freizumachen, um selbst gesetzten
moralischen Prinzipien folgen zu können, impliziert, daß es vor allem mittels der intellek-
tuellen Fähigkeiten, also kraft der Vernunft möglich ist, Handlungsentscheidungen unter
selbstgesetzten moralischen Prinzipien zu treffen, wird unter Berücksichtigung des durch
die emotionale Bedeutungszuweisung veranlaßten moralischen Nachdenkens deutlich,
daß die Realisierung eines solchen Handelns abhängig ist von dem Zusammenwirken von
Gefühl und Vernunft.
365 Löwisch, Dieter-Jürgen: Einführung in pädagogische Ethik. Eine handlungsorientierte Anleitung für die
Durchführung von Verantwortungsdiskursen. Darmstadt 1995, S. 63. 366 Ebd.
153
4 Gefühle und Moralerziehung
Die Fragestellung dieser Arbeit: die Bedeutung der Gefühle und ihre Wirkungsweise im
menschlichen Leben mit dem Fokus, zur Klärung des Verhältnisses von Gefühlen und
Denken beizutragen, wurde mit Blick auf die pädagogische Zielsetzung, die Förderung der
moralischen Mündigkeit, diskutiert. Die Realisierung des Erziehungsziels „moralische
Mündigkeit“, die sowohl bei Roth als auch bei Zdarzil als ein Freisein für ein Handeln
unter selbstgesetzten moralischen Prinzipien nur eine formale Richtschnur darstellt, muß
im Erziehungsalltag in Auseinandersetzung mit kulturellen und historischen Gegeben-
heiten material gefüllt werden.
Gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden Pluralisierung der Lebensformen und der
damit einhergehenden schnellen Änderungen der Einstellungen zu Werten im Sinne von
handlungsleitenden Prinzipien ist das Thema Moralerziehung mit der Kernfrage, welche
Werte den Jugendlichen in einer wertepluralistischen Gesellschaft als Orientierungshilfe
an die Hand gegeben werden dürfen, sollen und müssen, seit Anfang der 80er Jahre
zunehmend in das Zentrum des gesellschafts-politischen und pädagogischen Interesses
gerückt. Die Problematik liegt darin, daß in einem demokratischen Staat zwar im Hinblick
auf jedwede Art weltanschaulich gebundener Werthaltungen Neutralität gewahrt werden
muß, andererseits jedoch keine Gesellschaftsform ohne eine gewisse Übereinkunft
bezüglich der Normen und Regeln des sozialen Miteinanders existieren kann, welche
jedoch nicht allein aus dem im Grundgesetz und in den Landesverfassungen verankerten
Wertekatalog ableitbar sind.
In Anbetracht dieses Dilemmas konzentriert sich die Diskussion um die Werteerziehung
hauptsächlich auf die Wertevermittlung im schulischen Kontext und steht hier in enger
Verbindung mit einem Schulfach, welches als Ersatzunterricht für den Religionsunterricht
eingerichtet wurde. Wie ein Blick in die Geschichte des Ethikunterrichtes – die gängige
Bezeichnung für den Ersatzunterricht – zeigt, wurde dessen Einführung zunächst aus der
Perspektive der beiden christlichen Großkirchen und in der Folge auch aus staatlicher
Sicht aufgrund eines gravierenden Wandels der Werteinstellungen der Gesamtbevölke-
rung einerseits und erheblicher Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur andererseits
notwendig. Die Forderung der beiden christlichen Großkirchen nach einem Ersatzunter-
richt für den Religionsunterricht gründet in den Folgen der Studentenunruhen Ende der
60er Jahre, denn die harsche Kritik der Studenten an den die Gesellschaft tragenden
Institutionen: der Politik, Justiz, Polizei und Presse machte auch vor der Kirche nicht halt
154
und initiierte nach Treml einen „allgemeinen Emanzipationsaufbruch, der für viele auch in
einer radikalen Kirchenkritik mündete“367. Die Folge waren sowohl Kirchenaustritte als
auch ein rapider Anstieg der Abmeldungen vom Religionsunterricht. Hintergrund der von
der katholischen und evangelischen Kirche geforderten Einführung eines Unterrichts-
faches für die Nichtteilnahme am konfessionell gebundenen Unterricht war zunächst die
banale Hoffung, zumindest die Schüler an der Abmeldung vom Religionsunterricht zu
hindern, die damit lediglich zwei Freistunden gewinnen wollten.368 Aufgrund der erheb-
lichen Veränderungen der Gesellschaftsstruktur durch die in den 60er und 70er Jahren
stetig wachsende Anzahl von Migranten, die nicht der christlichen Konfession angehörten,
erwachte jedoch auch das staatliche Interesse an der Einrichtung eines Unterrichtsfaches
zur Vermittlung der die Gesellschaft tragenden Werte. Und mit dem zunehmenden staat-
lichen Interesse wuchs der Stellenwert, der dem Ethikunterricht beigemessen wurde,
denn zentraler Wunsch war es nun, den „Verlust der gemeinwohlförderlichen Tugenden“,
der auf die „zunehmend multikulturelle und ‚multiweltanschauliche’ Zusammensetzung der
Gesellschaft“369 zurückgeführt wurde, aufzuhalten.
Wie sich gezeigt hat, wurde die Einrichtung dieses Ersatzfaches länderabhängig mit
unterschiedlichen Zielvorstellungen und divergierenden Methodenvorschlägen
realisiert.370 Trotz der erheblichen Unterschiede in den Formulierungen der Lerninhalte
und didaktischen Konzepte der einzelnen Länder unterliegt allen Ethikunterrichtskon-
zepten das gemeinsame Ziel, bei den Schülern ein Wertebewußtsein zu wecken, welches
sie zur moralischen Urteilsbildung befähigt und die Grundlage zu einem verantwortungs-
vollen Handeln bildet.371 Den Anstoß für die Wertediskussion gab, wie oben bereits
angedeutet, genau diese Zielformulierung für das Unterrichtsfach: denn zum einen
herrscht Uneinigkeit darüber, ob in einem Ethikunterricht eines Staatsgefüges, das
weltanschauliche Neutralität beansprucht, für ganz bestimmte Werte eingetreten werden
367 Treml, Alfred K.: Ethik als Unterrichtsfach in den verschiedenen Bundesländern – Eine Zwischenbilanz. In:
Ders. (Hrsg.) Ethik macht Schule! Moralische Kommunikation in Schule und Unterricht. In: Ethik & Unterricht. Frankfurt/Main 1994, S. 18 – 29, hier S. 18.
368 Vgl. Maier, Hans: Einleitung zur Diskussion. In: Zinser, Hartmut (Hrsg.): „Herausforderung Ethikunterricht“ Ethik, Werte und Normen als Ersatzfach in der Schule, Marburg 1991, S. 53 – 57, hier S. 53 (Hans Maier war während der Einführung des Ethikunterrichts in Bayern im Jahr 1973 amtierender Kultusminister) und Treml, Alfred K.: a.a.O.: S. 19.
369 Treml, Alfred K.: a.a.O. (1994). 370 Vgl. Treml, Alfred K. a.a.O. (1994) und für eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Thematik: Krimm,
Barbara: Aufgaben und Ziele eines Ethikunterrichts in einer wertepluralistischen Gesellschaft. Unveröffentlichte Diplomarbeit 1998.
371 Vgl. Franzen, Winfried: Ethikunterricht. In: Hastedt, H./ Martens, E. (Hrsg.): Ethik – Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg 1994, S. 301 – 312, hier S. 305
155
darf, und wenn ja, welche Werte den in einer wertepluralistischen Gesellschaft lebenden
Schülern als Grundlage für ihre moralische Urteilsfähigkeit nahegebracht werden sollen.
Zum anderen ist unklar, ob und wie diese moralische Urteilsfähigkeit erzeugt werden
kann, sodaß ihr auch im Handeln entsprochen wird.
Bei der Durchsicht der Literatur372, die der Diskussion um Wertevermittlung gewidmet ist,
wird der enge Zusammenhang zwischen Zielvorstellung und Methode offensichtlich,
wobei die jeweilige Zielvorstellung sich auch deutlich auf die Ansicht bezüglich der
möglichen Vermittelbarkeit einer Werthaltung im schulischen Kontext niederschlägt.
Beispielhaft werden hierzu Beiträge von Wolfgang Brezinka373 und Otfried Höffe374
diskutiert, die sich im Rahmen der Diskussion um Notwendigkeit und Möglichkeiten einer
Wertevermittlung im Ethikunterricht intensiv mit der Thematik auseinandergesetzt haben.
Beide Autoren stehen der Möglichkeit, allein im schulischen Kontext eine Werthaltung
grundzulegen, kritisch gegenüber. Darüber hinaus sind bedingt durch die jeweils als
erstrebenswert angesehene Werthaltung jedoch erhebliche Unterschiede bezüglich
dessen, was Schule im Rahmen der Werteerziehung leisten kann und sollte, auszu-
machen.
Im folgenden werden die Vorschläge beider Autoren einzeln vorgestellt und diskutiert. Die
kritische Betrachtung der beiden konträren Zielvorstellungen und der jeweils dazu anemp-
fohlenen Methoden zur Realisierung erfolgt vor dem Hintergrund, daß in einer Demokratie
öffentlich (und das heißt auch in staatlichen Lehranstalten) für die Wahrung der Rechte
eingetreten werden sollte, die die demokratische Verfassung stützen. Dabei herrscht
Klarheit darüber, daß die von staatlicher Seite recht- und pflichtgemäß einforderbaren,
dem Grundgesetz entsprechenden Wertvorstellungen allein nicht ausreichen, um das
gesellschaftliche Miteinander sozial verträglich zu gestalten. Diese Sachverhalte finden
372 Hierzu seien beispielhaft genannt: Gensicke, Thomas: Wertewandel und Erziehungsleitbilder. In:
Pädagogik 46, Heft 7-8, 1994, S. 23 – 26; Hentig, Hartmut von: Ach, die Werte! Ein öffentliches Bewußtsein von zwiespältigen Aufgaben. Über eine Erziehung für das 21. Jahrhundert. München, Wien 1999; Huber, Herbert: Was ist Werterziehung? In: Ders. (Hrsg.): Sittliche Bildung. Ethik in Erziehung und Unterricht. Asendorf 1993, S. 77 – 104; Hurrelmann, Klaus: Mut zur demokratischen Erziehung. In: Pädagogik 46, Heft 7-8, S. 13 – 17. Spaemann, Robert: Zum Sinn des Ethikunterrichts. In: Huber, Herbert: Sittliche Bildung. Ethik in Erziehung und Unterricht. Asendorf 1993, S. 349 – 362; Zehetmair, Hans: Werteordnung und Wertewandel. Eine Herausforderung für den Ethikunterricht. In: Huber, Herbert: Sittliche Bildung. Ethik in Erziehung und Unterricht. Asendorf 1993, S. 363 – 372.
373 Brezinka, Wolfgang: „Werte-Erziehung“ in einer wertunsicheren Gesellschaft. In: Huber, Herbert (Hrsg.): Sittliche Bildung. Ethik in Erziehung und Unterricht. Asendorf 1993, S. 53 - 76.
374 Höffe, Otfried: Ethikunterricht in pluralistischer Gesellschaft. In: Ders.: Ethik und Politik. Grundmodelle und -probleme der praktischen Philosophie. Frankfurt/Main 1979, S. 453 – 481.
156
auch in den beiden Positionen Berücksichtigung. Der Unterschied zwischen beiden liegt
dagegen, wie oben bereits angedeutet, in den Ansichten darüber, welche Werte neben
denen zur Wahrung der Grundrechte vermittelt werden sollen und mit welchen den
Zielvorstellungen entsprechenden Mitteln die Vermittlung am besten gelingen könnte. Mit
Bezug darauf sollen die in den beiden Beiträgen explizierten Gedanken zur Wertever-
mittlung einerseits auf die Kompatibilität mit der in einer Demokratie zu gewährenden
Freiheit in bezug auf die Wahl weltanschaulich gebundener Werthaltungen untersucht
werden. Andererseits werden die Mittel geprüft, die – unter Anerkennung der Wahlfreiheit
bezüglich weltanschaulicher Wertvorstellungen – zur Realisierung der jeweiligen Ziel-
setzung in den Blick genommen werden. Die darüber hinaus angestellte Untersuchung,
inwieweit die Mittel- und Methodenwahl zur Realisierung der jeweiligen Zielsetzungen
führen könnte, erfolgt auf der Basis des Leventhalschen Modells zum adaptiven
Verhalten.
Nach Brezinka ist Werteerziehung nur ein neuer Name für seit langem bekannte
Erziehungsaufgaben wie „religiöse Erziehung, weltanschauliche oder lebenskundliche
Erziehung; moralische oder sittliche Erziehung; Rechtserziehung; staatsbürgerliche,
politische und soziale Erziehung; ästhetische Erziehung“375, welche das gemeinsame Ziel
haben, bei den zu Erziehenden „Glaubensüberzeugungen, Gesinnungseinstellungen,
Grundhaltungen und persönliche[..] Wertrangordnungen [...] [zu erzeugen], die den
normativen Orientierungsgütern der eigenen Gesellschaft entsprechen. Zu diesen
Orientierungsgütern gehören moralische und rechtliche Normen, Persönlichkeitsideale
und Gesellschaftsideale, Institutionen als verpflichtende Elemente der gemeinsamen
Lebensordnung sowie klassische Werke der Dichtkunst und der anderen schönen
Künste.“376 Mit dem Verweis darauf, daß Kenntnisse und Fertigkeiten allein nicht
ausreichen, um ein Leben in Selbstverantwortung führen zu können, bekommt die
Werteerziehung als Gesinnungserziehung mit dem Ziel, die Herausbildung ganz
bestimmter Persönlichkeitsmerkmale zu befördern, einen ganz besonderen Stellenwert.
Unter Bezugnahme auf den in der Bayerischen Verfassung grundgelegten Erziehungs-
auftrag der Schule, nicht nur Wissen und Können zu vermitteln, sondern auch Herz und
Charakter zu bilden, interpretiert Brezinka Charakter als die sittliche Grundhaltung,
während Herz im Sinne von Liebesneigungen und Wertgefühlen auch für „außer-
moralische, insbesondere religiöse, soziale und ästhetische Einstellungen, Interessen und
375 Brezinka, Wolfgang: a.a.O. (1993), S. 60. 376 Ebd.
157
Strebungen“377 steht. Damit stellt Werteerziehung als eine Erziehung zur Bindung, d.h.
der Förderung der Liebe zu bestimmten als wertvoll angesehenen Kulturgütern zum einen
eine Gegenbewegung zur emanzipatorischen Erziehung dar. Durch die Konzentration auf
die Förderung der „Gemütskräfte, [der] emotionalen Bindungen, [der] Glaubensbedürf-
nisse und Glaubensüberzeugungen“378 ist die Werteerziehung aber zum anderen auch ein
Gegenprogramm zur einseitig wissenschaftsorientierten Erziehung, die auf Kosten aller
anderen Kulturgüter und Denkweisen die kritisch-wissenschaftliche Denkweise überbe-
wertet. Demgemäß ist „[d]ie Parole ‚Werte-Erziehung’ [...] gegen diese rationalistischen
Irrtümer gerichtet. Sie ist Symbol einer Erneuerungsbewegung, die gegen Utopien für ein
realistisches Menschenbild eintritt. Ihr Ideal ist nicht das selbstherrliche Individuum, das
sich zu allen Bindungen und Pflichten kritisch verhält, sondern die ‚gemeinschaftsfähige
Persönlichkeit’, die weiß, daß Lebenssinn und innerer Halt von der Liebe zu gemein-
samen Orientierungsgütern abhängen.“379
Bei den Erziehungsaufgaben, die zur Realisierung der Herz- und Charakterbildung zu
leisten sind, trennt Brezinka streng zwischen dem schulischen Erziehungsauftrag und den
Aufgaben, die die Familie hierbei zu leisten hat. Mit Blick auf die zwar bezüglich religiös-
weltanschaulicher Fragen zur Neutralität verpflichtete Schule gewinnt gerade angesichts
der zunehmenden Pluralisierung der Lebensformen im Schulalltag die „Pflege der
kulturellen Einheit, insbesondere der moralischen Grundübereinstimmung, des ‚Grund-
konsenses’ der Nation“380 an Bedeutung. In diesem Sinne muß in der Schule für eine
Grundwerteerziehung gesorgt werden zur Förderung „der unverzichtbaren Bürger-
tugenden und der Grundpflichten gegen das Gemeinwesen. Dazu gehören Gemeinsinn,
Gehorsam gegen die Gesetze, Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols und
Friedenspflicht; Leistungswille und Dienstbereitschaft, demokratische Einstellung und
Toleranz; ein gesundes deutsches Nationalbewußtsein, das heißt ein aufgeklärter
Patriotismus und Sympathie für ein Vereintes Europa der Vaterländer.“381
Die für den schulischen Bereich anempfohlene Sorge für die Vermittlung der staatlichen
Grundwerte deckt jedoch nur einen Teilbereich der Wertorientierung der Person ab. Für
eine umfassende Werthaltung muß die Erziehung in den Familien, in den Religions-,
377 Ebd. S. 61. 378 Ebd. S. 63. 379 Ebd. 380 Ebd. S. 65. 381 Ebd. S. 66.
158
Weltanschauungs- oder anderweitigen Gesinnungsgemeinschaften sorgen. Dabei können
die Glaubensquellen durchaus unterschiedlich sein, „[w]esentlich für das Wohl der Person
wie für das Gemeinwohl aber ist es, daß jedem Menschen eine solche Quelle für gute
Gedanken, wertvolle Strebungen und Trost im Leiden zugänglich ist.“382 Diese
moralischen Grundgesinnungen des Menschen aber werden am besten im familiären
Umfeld und in „staatsfreien familienergänzenden Gemeinschaften“383 gebildet, denn die
Voraussetzung für ihr Entstehen ist „Geborgenheit im gemeinsamen Leben eines kleinen
Kreises mit verläßlichen Gefühlsbindungen, übereinstimmender Wertordnung, guten
Beispielen, eindeutigen moralischen Forderungen und vielseitigen Handlungsmöglich-
keiten“384. Das Gelingen einer familialen Werteerziehung bindet Brezinka an drei
Voraussetzungen: erstens müssen sich die Eltern bezüglich ihrer Wertrangordnungen im
Klaren sein und eine übereinstimmende Wertbindung haben, zweitens muß ein Anschluß
an eine größere familiennahe Gruppe von Gleichgesinnten gegeben sein und drittens
müssen die in der Familie vertretenen Wertbindungen angemessen gepflegt werden.
Brezinka bezeichnet den Kern der Erziehungsaufgabe der Familie als „den Mut zu
Wertbindungen und einer wertgebundenen Erziehung“385.
Die Voraussetzungen, an die das Gelingen der familialen Werteerziehung gebunden wird,
geben bereits einen Hinweis auf die von Brezinka empfohlene Methode zur Vermittlung
einer Werthaltung: die indirekte Erziehung. Unter indirekter Erziehung will er verstanden
wissen eine günstige Gestaltung der Lebensumstände der Zöglinge, d.h. es sei für
Gelegenheiten zu sorgen, die Erfahrungen ermöglichen, aus denen die erwünschten
Werteinstellungen und -haltungen entstehen. Da nach Brezinka die Werteinstellungen vor
allem durch Nachahmungs- und Modell-Lernen entstehen, sind die Erzieher aufgefordert
„sich selbst und den gemeinsamen Lebensraum so [zu] ordnen, daß davon mehr gute
Einflüsse ausgehen als schlechte“386, was natürlich auch eine Übereinstimmung der
Erzieher hinsichtlich der zentralen Normen der jeweiligen Lebensgemeinschaft ein-
schließt. Um die in dem kleinen Familienumfeld grundgelegte Wertbindung an „nicht-
egoistische Ideale“387 gegen den in der werte-pluralistischen Gesellschaft vorfindbaren
„Haß der entwurzelten Spötter, der banalen Geister, der nihilistischen Verführer“388 zu
schützen, braucht die Familie die Einbindung in eine Gemeinschaft mit Gleichgesinnten,
382 Ebd. S. 68. 383 Ebd. S. 69. 384 Ebd. 385 Ebd. S. 70. 386 Ebd. S. 72. 387 Ebd. S. 73. 388 Ebd.
159
in der durch „die Teilnahme am gemeinsamen Kult [...] die individuelle Wertsicherheit“389
gestärkt wird.
Die indirekte Erziehung muß durch direkte Erziehungsmaßnahmen in Form von
Sanktionen unterstützt werden, d.h. normgemäßes Verhalten ist zu belohnen, während
normwidriges Verhalten mit Strafe belegt werden muß. Brezinka betont ausdrücklich die
nachteilige Wirkung von Permissivität auf die Wertungssicherheit und die moralische
Anstrengungsbereitschaft der Zöglinge. In diesem Zusammenhang wird nochmals darauf
hingewiesen, daß die durch die indirekten und direkten Erziehungsmethoden in der
Familie grundgelegten Werthaltungen die Grundlage bilden für die in der Schule
stattfindende belehrende Werteerziehung, die dann anleitet zum „vernünftigen Werten,
Wählen und Entscheiden sowie zur sachlichen Begründung von Entscheidungen“390.
Schon eine erste oberflächliche Betrachtung der oben dargelegten Gedanken zur
Werteerziehung wirft Fragen auf, die sich aus Brezinkas selbstverständlicher Annahme
ergeben, die staatlichen Grundwerte, die die Basis für einen Teilbereich normengemäßen
Verhaltens bieten, würden durch diejenigen ergänzt, die in der Familie durch die dort zu
kultivierenden Glaubensgüter an die Hand gegeben werden. In bezug darauf betont er
ausdrücklich, daß „die Impulse für das gute Leben [...] aus ganz verschiedenen
Glaubensquellen [kommen]“391. Demgemäß sind die Kriterien, die ein „gutes Leben“
ausmachen, weder auf empirischem Wege objektiv nachweisbar noch letztbegründbar,
sondern werden ausschließlich bestimmt durch die zugrundeliegenden Glaubensquellen.
Das aber bedeutet konkret, daß die von Brezinka ausgemachten in den Glaubenquellen
grundgelegten „nicht-egoistischen Ideale“ unterschiedlich ausgelegt werden können. Die
Konsequenzen dieser unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten zeigen sich in den
Aktionen fundamentalistischer Vertreter einiger Glaubensrichtungen. Hier wird unter der
Vorgabe, „nicht-egoistische Ideale“ zu verfolgen, eigenes und fremdes menschliches
Leben geschädigt in einer Form, die den Grundwerten unseres demokratischen Staates
eindeutig entgegensteht. Betrachtet man die Art, wie dieser Glauben tradiert und gelebt
wird, findet man genau die Prämissen erfüllt, die Brezinka für das Gelingen seiner Werte-
Erziehung voraussetzt: klare Werterangordnungen und Übereinstimmung der Wertbin-
dung bei den Erziehern, Einbindung in eine größere Gruppe von Gleichgesinnten, die die
in der Familie grundgelegte Wertbindung stärkt und schützt sowie die Kultivierung der
389 Ebd. 390 Ebd. 391 Ebd. S. 68.
160
Glaubensgüter innerhalb des Familienkreises. Daß solche Glaubensrichtungen auch in
unserem demokratischen Staat kultiviert werden, steht außer Zweifel.
In diesem Zusammenhang stellt sich weiterhin die Frage, wie die Menschen, die in einer
fundamental orientierten Glaubenstradition aufgewachsen sind, ihr Leben in unserer
Gesellschaft gestalten? Folgen sie den in der Familie tradierten Wertvorstellungen,
widersprechen sie den staatsrechtlichen Grundnormen. Halten sie dagegen die staats-
rechtlich vorgegebenen Grundnormen ein, geraten sie in Widerstreit mit den ihnen durch
die tradierten Glaubensvorstellungen anerzogenen Normen. Ein Beispiel sind die in der
islamischen Tradition aufgewachsenen Jugendlichen. Noch immer folgen einige Familien
der Tradition, für ihre Töchter schon im frühesten Kindesalter ein Eheversprechen mit
einem bestimmten Mann abzugeben. Ein Fehlverhalten der Tochter, d.h. die Weigerung,
diese Verbindung einzugehen oder eine Beziehung zu einem anderen als dem von der
Familie ausgewählten Mann aufzubauen, muß auf das Härteste bestraft werden. Als
Rächer gelten zumeist die engsten Familienmitglieder wie der Vater oder die Brüder. Wie
sollen sich die zum Strafvollzug auserkorenen Familienangehörigen aber verhalten:
Entsprechen sie den traditionellen Forderungen, handeln sie dem geltenden Recht
zuwider, verweigern sie den Gehorsam der Familie gegenüber, drohen ihnen von dieser
Seite Sanktionen.
Die Annahme also, eine jede familiale Werteerziehung würde zur Stützung der jeweils
staatlichen (in diesem Falle der demokratischen) Grundwerte beitragen, ist höchst
problematisch und, wie die obigen Beispiele verdeutlichen, keineswegs voraussetzbar.
Hinzukommt, daß die Fälle, in denen sich die Grundwerte von Familie bzw. dem
familiären Umfeld und Staat entgegenstehen, für das betroffene Subjekt außerordentlich
konfliktträchtig sind.
Betrachten wir nun die in diesem Zusammenhang vorgeschlagenen Erziehungsmethoden:
Brezinkas Plädoyer für die Vermittlung eines dem Grundgesetz entsprechenden klar
umrissenen Wertekatalogs, dessen Anerkennung durch die in der familiären Erziehung
geleistete Wertbindung vorbereitet werden soll, geht einher mit der Empfehlung, für die
Erzeugung von Wertbindungen indirekte Erziehungsmethoden in Anwendung zu bringen.
Ohne Zweifel gehört, wie Siegfried Uhl in seinen Studien bestätigte, unter bestimmten
Prämissen das Zusammenwirken aus indirekter und direkter Erziehung zu einem der
erfolgversprechendsten Mittel der Moralerziehung392.
392 Uhl, Siegfried: Mittel der Moralerziehung und ihre Wirksamkeit. Bad Heilbrunn 1996, S. 143 ff.
161
Zur Klärung der Prämissen soll zunächst die von Brezinka vorgeschlagene indirekte
Erziehung in Verbindung mit dem oben explizierten Modell des adaptiven Verhaltens von
Leventhal näher untersucht werden. Das Hauptmerkmal der indirekten Erziehung ist es,
die Umwelt des Zöglings in der Form zu gestalten, daß möglichst viele Gegebenheiten die
Erziehungszielsetzung in der intendierten Weise unterstützen. Das bedeutet de facto, daß
zum einen die erziehenden Personen unter eindeutiger Wertordnung und -bindung eine
klare Vorbildfunktion einnehmen müssen, zum anderen, daß möglichst viele Verhaltens-
und Handlungsmöglichkeiten der Erziehungszielsetzung entsprechen müssen. Schlechte
Einflüsse durch Personen und Situationen sollen möglichst gering gehalten werden. Ziel
ist es, durch diese Vorkehrungen eine homogene Einübung von, mithin eine Gewöhnung
an eine Lebensweise unter festgelegten Wertvorstellungen zu ermöglichen. Die sich
hieran direkt anschließende Frage, von welchen Umständen die Realisierung einer solch
stringenten Umweltgestaltung abhängt, soll für den Moment hintan gestellt werden,
hierauf wird später noch näher eingegangen.
Zur Untersuchung, wie sich diese Möglichkeiten der Erfahrungsgestaltung auf die
Handlungsmöglichkeiten des Zöglings auswirken, sollen noch einmal kurz die
Hauptmerkmale des Leventhalschen Modells zum adaptiven Verhalten rekapituliert
werden: Der Kern von Leventhals Modell sind die beiden getrennt arbeitenden aber
miteinander interagierenden Prozeßverarbeitungsstränge, der emotionale und der
problemorientierte als Subsysteme des adaptiven Verhaltens. Nach Leventhals Modell ist
die Bewältigung einer Situation einerseits abhängig von der emotionalen Bedeutungs-
zuweisung, d.h. der Reizbewertung, die die emotionale Prozeßverarbeitung steuert,
andererseits aber auch von den kognitiven Fähigkeiten, die zur Reizbewertung und
Situationsbewältigung auf dem problemorientierten Prozeßverarbeitungsstrang führt. Für
den Zugang zur Bewältigung einer Situation ist, wie oben ausführlich expliziert, die
emotionale Reizrepräsentation entscheidend ausschlaggebend, die nach Leventhal und
Scherer in den allermeisten Fällen durch die Reizprüfung auf der Schemataebene erfolgt.
Zur Erinnerung: Schemata sind als unbewußte, relativ stabile Gedächtnisstrukturen vorzu-
stellen, in denen wiederholt erlebte ähnliche Situationskonstellationen (die emotions-
auslösende Situation, das subjektive Gefühlserleben, die Ausdruckserscheinungen und
die autonomen Reaktionen) gemeinsam abgespeichert werden, wobei die Wahrnehmung
einer Komponente, die Teil einer solchen Erinnerungsstruktur ist, zur Aktivierung eines
Schemas führt. Diese spezielle Eigenart der unbewußten Schemata in Verbindung mit der
Annahme, daß die problemorientierte und emotionale Situationsbewältigung getrennt
verlaufen, verweist auf die Stabilität der emotionalen Reizbewertung gegenüber rein
162
rationaler Argumentation. Die Annahme einer rekursiven Interaktion zwischen den auf den
jeweiligen Prozeßverarbeitungssträngen erfolgenden situationsadäquaten Handlungs-
vollzügen und deren Bewertungen dagegen verweist darauf, daß Veränderungen und
Ausdifferenzierungen von Schemata vornehmlich im Handlungsvollzug vonstatten gehen.
Betrachtet man nun in bezug auf dieses Modell die Wirkungsweise der Methode, die
Brezinka für eine gelingende Moralerziehung empfiehlt, so wird deutlich, daß sie durch die
sich immer wiederholende Begegnung mit ähnlichen Situationskonstellationen haupt-
sächlich zur Stabilisierung der unbewußten emotionalen Erinnerungsstrukturen auf der
Schemataebene führt. Durch die Vermeidung von Erlebnismöglichkeiten, die der
gewünschten Erziehungsabsicht entgegenstehen, wird eine Ausdifferenzierung der
Schemata verhindert, denn wie oben ausführlich erörtert wurde, entsteht die Ausdifferen-
zierung emotionaler Schemata vor allem durch die Begegnung mit vielen unterschied-
lichen Situationen, wobei deren Bewältigung immer im Zusammenhang mit den zur
Verfügung stehenden Problemlösestrategien zu sehen ist. Wird jedoch eine Begegnung
mit unterschiedlichen Gegebenheiten verhindert, ist auch eine Ausweitung des Problem-
lösepotentials nicht notwendig. Die indirekte Erziehung zur Erzeugung normgemäßen
Verhaltens in Verbindung mit der Sanktionierung normwidrigen Verhaltens führt also zu
wenig ausdifferenzierten, dafür aber sehr festen Erinnerungsstrukturen, die ein stabiles
Verhaltensmuster für die Bewältigung der ermöglichten Situationskonstellationen erzeu-
gen, wobei die subjektiven Handlungsentscheidungen jedoch nicht auf der erkannten
Werthaftigkeit einer spezifischen Handlungsentscheidung beruhen, sondern vor allem mit
Blick auf die mit einer Handlung verbundenen Sanktionen gefällt werden. Im Hinblick auf
die Werteerziehung in einem bezüglich der Werteinstellung stringenten Lebensumfeld
wird diese Methode dennoch relativ sicher zu dem gewünschten Verhalten führen.
Hinsichtlich der Gegebenheiten einer wertepluralistischen Gesellschaft, das heißt einem
Lebensumfeld mit vielfältigen vor allem auch konkurrierenden Wertvorstellungen, erweist
sich dieses Vorgehen jedoch als problematisch, da es in einem durch pluralistische
Lebensformen und Werthaltungen gekennzeichneten Lebensumfeld nahezu unmöglich
ist, ein Lernumfeld zu schaffen, welches vornehmlich den Erfahrungshorizont bietet, der
dem intendierten Erziehungsziel entspricht. Aufgrund der Fülle von divergierenden
Vorbildern und Modellen ist daher die Vermittlung von stabilen Werthaltungen – nach
Brezinka auch Gesinnungshaltungen – durch einfaches Nachahmungslernen kaum mehr
möglich. Die besondere Problematik des Lernens am Modell ist aber, daß es nur durch
zusätzliche Motivationsfaktoren wie Sanktionen erfolgreich ist. Die Folge ist, daß ein den
vorgegebenen Werten entsprechendes Verhalten, welches allein motiviert durch äußere
163
Einflußfaktoren in Form von negativen und positiven Sanktionen, beliebig über die
Veränderung der Sanktionsmaßnahmen manipulierbar ist.
Konkret stellt sich diese Situation für heutige Kinder und Jugendliche wie folgt dar: Wird
zu Hause ein bestimmtes normenkonformes Verhalten belohnt, kann genau dieses
normenkonforme Verhalten in außerfamiliären Kreisen zu negativen Sanktionen in Form
von Mißachtung oder Rügen führen. Oder umgekehrt kann das außerhalb des häuslichen
Umfeldes gezeigte Verhalten höchste Anerkennung erfahren, welches im familiären
Umfeld im höchsten Maße mißbilligt wird. Man mag einwenden, daß dieser Sachverhalt
zweifellos seit jeher ein wesentliches Element des Erziehungsgeschäftes ist und sowohl
für Erzieher wie auch für die Zöglinge die eigentliche Herausforderung darstellt. Für die
Erzieher besteht sie darin, die Zöglinge gesellschaftstauglich zu machen und das heißt
vordringlich, sie zu befähigen, ihr Verhalten und Handeln den Normen der Gesellschaft
anzupassen, wozu notwendigerweise gehört, sie dazu instand zu setzen, sich selbst zu
disziplinieren und gewissen Verlockungen zu widerstehen. Für die zu Erziehenden
dagegen besteht die Herausforderung darin, dem Reiz des Verbotenen zu folgen und
über unterschiedlichste Aktivitäten die Grenzen des Erlaubten auszutesten. Dieses
„natürliche“ Hineinfinden in auf der Basis von klaren Wertvorgaben normierte Verhaltens-
weisen wird in einer wertepluralistischen Gesellschaft jedoch dadurch erheblich
erschwert, daß es aufgrund der vielen unterschiedlichen Glaubensquellen keine „allge-
meingültige“ Moral und demnach auch keinen festumgrenzten allgemein anerkannten
Maßstab für die Beurteilung von normenkonformen bzw. normwidrigen Verhaltens- und
Handlungsweisen gibt. Jede Gruppe hat ihren eigenen Moralkodex und dementsprechend
eigene Handlungsnormen.
Diesen Umstand hat Brezinka durchaus erkannt und eben darauf ist sein Werte-
erziehungsprogramm zur Erzeugung von Wertbindung ausgerichtet. Für ihn ist das
vordringliche Ziel einer Werteerziehung, Bindungen zu schaffen, Bindungen zu ganz
bestimmten Werten, die durch das Leben in einer bezüglich der Werteinstellung
homogenen Glaubensgemeinschaft geschützt und gestützt werden. Unbeachtet bleibt
dabei jedoch einerseits, wie oben erörtert, daß die einer Wertbindung zugrundeliegenden
Glaubensquellen interpretationsbedürftig sind und die Normierung der Verhaltensweisen
in der jeweiligen Interpretation der Werte gründet. Problematisch ist zum anderen, daß er
davon ausgeht, daß eine Wertbindung allein über das Zusammenwirken von indirekter
Erziehung und Sanktionen zu erreichen ist. Wie durch Leventhals Modell deutlich wird,
liegt die Problematik darin, daß in den Fällen, in denen ein gutes Beispiel nur aufgrund
von Belohnung und Bestrafung befolgt wird, die dem Beispiel zugrundeliegende
164
Werthaftigkeit zugunsten der Sanktionen in den Hintergrund tritt. Im Ergebnis wird zwar
ein den jeweiligen Anforderungen einer Situation angepaßtes Verhalten erzeugt, jedoch
keinesfalls eine stabile Werthaltung, die zu einer sicheren Entscheidung zwischen
miteinander konkurrierenden Werten befähigt.
In einer wertepluralistischen Gesellschaft aber ist die Entwicklung einer stabilen Wert-
haltung und das heißt einer Haltung, die Handlungsentscheidungen auf der Basis einer –
ohne Angst vor Strafen vollzogenen – freiwilligen Anerkennung von Werten ermöglicht,
wie auch in Leventhals Modell für adaptives Verhalten deutlich wird, abhängig von genau
den Bedingungen, die Brezinka in seinem Werteerziehungsprogramm ausdrücklich
ausschließt: die Begegnung mit konkurrierenden Werteinstellungen, die Beurteilung von
daraus resultierenden Handlungsvollzügen und eine kritische Auseinandersetzung mit
den jeweils zugrundeliegenden Ausgangsvoraussetzungen. Erst dies führt zu einer Wert-
haltung, die notwendig an die Eigenverantwortlichkeit des Subjektes gebunden sein muß,
ein Gesichtspunkt, der bei Brezinkas Erziehungsprogramm, dessen Ideal die „gemein-
schaftsfähige Persönlichkeit“ ist, welche durch „Gesinnungsbildung“ mittels der Stiftung
von Wertbindung an gemeinsame Orientierungsgüter erzeugt werden soll, vollkommen
aus dem Blick gerät. Die mit diesem Aspekt verbundene Problematik einer Gesinnungs-
haltung, die hinsichtlich der Anforderungen einer wertepluralistischen Gesellschaft noch
verschärft wird, verdeutlicht Löwisch durch die kritische Betrachtung der Charakteristika,
die eine gesinnungsethische und eine verantwortungsethische Lebensführung kenn-
zeichnen.393
Nach Löwisch ist das Spezifische einer Gesinnungsethik, daß sie „in Unabhängigkeit von
jeweiliger Realität allgemeine Prinzipien [formuliert], die für die Lebensführung der
Menschen im ganzen gelten. Gesinnungsethik kann so die Welt durch ein ihr entspre-
chendes eindeutiges Handeln rational, sicher und verläßlich machen, da sie keine
Irritationen duldet. Es gibt für sie als einer rigorosen Ethik nur Entweder-Oder-Entschei-
dungen: Entweder ist eine Handlung oder ist ein Mensch gemäß seiner Handlungsabsicht
anständig und gut, oder Handlung und Mensch sind schlecht. Gesinnungsethik ist nicht
abwägend, sie ist prinzipientreu und grundsatzverpflichtet, sie ist radikal in ihrem
Anspruch.“394 Kennzeichnend für die Gesinnungsethik sind demgemäß die in Unab-
hängigkeit von weltlichen Gegebenheiten bestehenden handlungsleitenden Prinzipien, die
absolute Gültigkeit beanspruchen. „Dem reinen Gesinnungsethiker [müssen] Pluralismus,
393 Löwisch, Dieter-Jürgen: a.a.O. (1995), S. 22 ff. 394 Ebd. S. 23.
165
Toleranz und Aufklärung in hohem Maße verdächtig [sein]“395, denn bedingt durch den
absoluten Geltungsanspruch der Handlungsprinzipien ist eine kritische Auseinander-
setzung mit Wertfragen nicht statthaft. Die Konsequenz des apodiktischen Geltungsan-
spruchs der handlungsleitenden Prinzipien aber ist, daß Handlungen allein im Hinblick auf
die einer Aktivität zugrundeliegende Absicht beurteilt werden, die Handlungsfolgen aber
nicht bedacht werden müssen, woraus resultiert, daß die Schuld für das Fehlgehen einer
Handlung den mißlichen Begleitumständen zugeschrieben wird, der Gesinnungs-
handelnde selbst, mit Verweis auf seine gute Absicht und dem diesbezüglich reinen
Gewissen, sich nichts vorzuwerfen hat.396
Im Hinblick auf die Charakteristika der Gesinnungsethik, daß weder Wertinterpretationen
noch Handlungsfolgen kritisierbar sind, zeigt sich diese Form der Lebensführung als im
höchsten Maße „unkommunikativ“ und damit gleichzeitig als untauglich für ein den
Anforderungen der zeitgenössischen Realität angemessenes soziales Handeln, welches
die Voraussetzung bildet für eine gemeinsame Weltbewältigung. Zusammenfassend
erweist sich nach Löwisch die Problematik einer gesinnungsethischen Lebensführung
darin, daß sie Probleme und Konflikte nicht löst, sondern sie ignoriert. „Und Gesinnungs-
handeln ermöglicht keine gemeinsame Weltbewältigung, weil es unkommunikativ ist und
Gemeinsamkeit nur durch Kommunikation, d.h. auch durch ein kommunikatives Zusam-
menraufen und Zusammenfinden gestiftet werden kann.“397
Vor dem Hintergrund dessen soll nochmals Brezinkas Werteerziehungsprogramm unter-
sucht werden. Ihm geht es, wie oben erörtert wurde, bei der Werte-Erziehung ausdrück-
lich um gute Werteinstellungen oder Gesinnungen, mithin ist ihm „’Werte-Erziehung’ [...]
also Gesinnungserziehung“398. Unter Berücksichtigung der Gegebenheiten in einer
wertepluralistischen Gesellschaft wird ebenfalls ausdrücklich betont, daß es gleich sei,
welche Glaubensquelle die Wertinterpretationen für die Gesinnungseinstellung liefere,
wichtig sei nur, „daß jedem Menschen eine solche Quelle für gute Gedanken, wertvolle
Strebungen und Trost im Leiden zugänglich ist“399. Wie oben bereits in anderem Zusam-
menhang kritisch angemerkt wurde, birgt eben dieses „Zugeständnis“ insofern eine
Problematik, als die Werteinstellungen, welche aus den entsprechend der zugrunde-
liegenden Glaubensquellen differierenden Interpretationen bezüglich dessen, was ein
gutes Leben ausmacht, entstehen, erheblich von einander abweichen können. Die
395 Ebd. S. 26. 396 Vgl. ebd. S. 25. 397 Ebd. S. 27. 398 Brezinka, Wolfgang: a.a.O. (1993), S. 60.
166
Betrachtung dieser Möglichkeit in Zusammenhang mit den Merkmalen, die nach Löwisch
gesinnungsgemäße Handlungsweisen wesentlich bestimmen: nämlich die unabhängig
von den Realitätsbedingungen geltenden Handlungsprinzipien, die zudem durch die
Konzentration auf die Handlungsabsichtsbewertung jeglicher Kritik entzogen werden und
sich dadurch als „unkommunikativ“ darstellen, macht deutlich, wie gering die Möglichkeit
ist, mit Mitgliedern zwar jeweils gesinnungsethisch fundierter jedoch unterschiedlicher
Werteeinstellungen ein sozialverträgliches „Miteinander“ zu gestalten.
In der Gesamtschau erweist sich das von Brezinka vorgeschlagene Konzept für die
Erzeugung von Werteinstellungen vor allem in Hinblick auf die Anforderungen einer
wertepluralistischen Gesellschaft als höchst problematisch. Zweifelhaft ist zum einen die
Methode der durch Sanktionen unterstützten indirekten Erziehung, die angesichts der
vielfältigen als Beispiele vorhandenen Lebensentwürfe einerseits und der aufgrund der
zunehmenden Technisierung nahezu unbegrenzt erscheinenden Erlebnismöglichkeiten
andererseits, eher zu einem den jeweiligen situativen Anforderungen entsprechenden
Normenverhalten führt, denn zu einer stabilen Werteeinstellung. Kritisierenswert ist
darüber hinaus – auch in Absehung von der Realisierungsproblematik – die Zielvor-
stellung: Für eine wertepluralistische Gesellschaft eine Werteerziehung in Form einer
Gesinnungseinstellung vorzuschlagen, ist allein aufgrund der Tatsache problematisch,
daß die Erzeugung einer Gesinnungseinstellung nur durch eine unkritische Übernahme
bestimmter Wertinterpretationen und die Akzeptanz der aus diesen erwachsenden
realitätsunabhängigen Handlungsprinzipien möglich ist. Mit dem in einer werteplura-
listischen Gesellschaft notwendigen Zugeständnis der freien Wahl weltanschaulicher
Werteeinstellungen, bekommt diese Zielsetzung eine besondere Brisanz: Nach den von
Löwisch explizierten Prämissen eines Gesinnungshandelns würde die konsequente
Realisierung von Brezinkas Konzept zur Etablierung einer Vielzahl kleiner Gruppen
führen, die unabhängig von einander ihre unterschiedlichen Gesinnungseinstellungen
kultivieren, wobei deren friedliche „Ko-Existenz“ allein durch die Androhung staatlicher
Gewalt gesichert werden könnte. Die Unzulänglichkeit einer solchen Art Friedens-
sicherung ist hinreichend bewiesen. Bedenklich erscheint in diesem Zusammenhang, daß
viele Beispiele im täglichen Leben zeigen, wie nahe wir bereits einer solchen Art der
Lebensgestaltung sind.
Die Berufung auf einen überzeitliche Geltung beanspruchenden Wertekatalog, durch die
das Subjekt die Legitimation gewinnt, für jeweilige Handlungsfolgen die Verantwortung
399 Ebd. S. 68.
167
abzulehnen, stellt für Löwisch den entscheidenden Kritikpunkt an der gesinnungsethisch
ausgerichteten Lebensführung dar. Wie oben erörtert, führt dies zur Ignoranz gegenüber
Konflikten und verhindert eine gemeinsame Weltbewältigung. Mit Blick auf die Anforde-
rungen der lebensweltlichen Gegebenheiten, deren Bewältigung wesentlich abhängig ist
von dem Erfolg beabsichtigter Handlungsweisen einerseits und der Verantwortungsüber-
nahme für die Handlungsfolgen andererseits, plädiert Löwisch für eine nach verantwor-
tungsethischen Gesichtspunkten ausgerichtete Lebensführung und verweist darauf, daß
Verantwortungsethik nicht den Gegenpol, sondern die notwendige Ergänzung, d. h. eine
„kritische Fortführung der Gesinnungsethik“400 darstellt. Mit Karl Jaspers ist für Löwisch
„Verantwortungsethik [...] die wahre Gesinnungsethik, die ihren Weg in der Welt sucht,
weder am bloßen Maßstab des Erfolges noch an dem bloß rationalen Grundsatz einer
Gesinnung, sondern im offenen Raum der Möglichkeiten, gebunden an das Unbedingte,
das sich nur durch Form des Gedankens im Handeln, nicht durch einen materialen Inhalt
kundgibt“401.
Ausgehend von der dem Subjekt durch die Vernunft eignende Willensfreiheit als „Voraus-
setzung für Autonomie, für Mündigkeit, für Selbstbestimmung“ 402, verpflichtet die Verant-
wortungsethik zur kritischen Auseinandersetzung mit Wertvorstellungen und normativen
Ansprüchen und fordert vom Menschen „die Bereitschaft und die Fähigkeit zur
Rechenschaftsablegung [...] für sein Handeln und Verhalten [...]“403. Eine Verpflichtung
durch das Prinzip Verantwortung meint mithin „das personale Aufsichnehmen der
erkennbaren Folgen und der abschätzbaren Nebenfolgen des eigenen Handelns“404.
Eine sich solcher Art vollziehende Verantwortung ist an Voraussetzungen gebunden, die
notwendig erfüllt sein müssen, um situative Anforderungen angemessen bewältigen zu
können. Hierzu zählen Sach- und Methodenwissen, wie die Fähigkeit zur Abwägung der
Handlungsfolgen und „das Bedenken der Auswirkungen von Handlungen auf die direkt
und indirekt davon Betroffenen“405.
400 Löwisch, Dieter-Jürgen: a.a.O. (1995), S. 29. 401 Jaspers, Karl: Kant – Leben, Werk, Wirkung. München 1975, S. 105, zit. nach Löwisch, Dieter-Jürgen:
a.a.O. (1995), S. 29. 402 Löwisch, Dieter-Jürgen: a.a.O. (1995) S. 17. 403 Ebd. S. 19 f. 404 Ebd. S. 29. 405 Ebd. S. 20.
168
Mithin ist Verantwortungswahrnehmung nach Löwisch abhängig von:
�� „[der] Fähigkeit zum Analysieren und Reflektieren,
�� [der] Fähigkeit, Urteile fällen zu können,
�� [der] Fähigkeit, Urteil und Gegenurteil kritisch abwägen zu können, also argumentieren zu
können, und
�� [der] Fähigkeit, mit sich selbst und mit anderen sich darüber auseinandersetzen zu können,
also Diskurse betreiben zu können.“406
Erst wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, dann ist von einer Zurechnungsfähigkeit
des Handelnden für sein Handeln zu sprechen, erst dann ist er für sein Handeln und
dessen Folgen haftbar zu machen. „Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, dann
sprechen wir von Unzurechnungsfähigkeit mit der Folge der moralischen Nichthaftbarkeit
des Handelnden für sein Handeln. Wir stehen dann in der Aufgabe, je nach Entwicklungs-
stand der Reflexivität des Handelnden für die Ausbildung der genannten reflexiven
Voraussetzungen zu sorgen.“407 Mit der Bindung der Verantwortung an Handlungs-
zurechenbarkeit, d.h. an Sach-, Methoden- und Reflexionskompetenz, die zur Situations-
bewältigung notwendig sind – mit Löwisch gesprochen, den Handelnden als handlungs-
mächtig ausweisen – wird eine notwendige Begrenzung vorgenommen, die eine
„Überdehnung des Verantwortungsbegriffes“ verhindert.408
Aus verantwortungsethischer Perspektive also wird die subjektgebundene Handlung in
ihrer Komplexität wahrgenommen, denn es findet sowohl die Handlungsabsicht, die
Handlungsmächtigkeit in Form von Sach-, Methoden- und Reflexionskompetenz
Berücksichtigung als auch die mit der Handlungsmächtigkeit verknüpfte Überprüfung der
Realisierung des Handlungszieles. Hier wird nicht, wie in der Gesinnungsethik, das
Subjekt allein, unabhängig von lebensweltlichen Gegebenheiten in seiner Verantwortung
für die Prämissen seiner Handlungswilligkeit, d.h. der Handlungsabsicht, in den Blick
genommen. Vielmehr wird hier der Mensch ernstgenommen als mittels seiner
Handlungen notwendig bezogen auf die Umwelt, mithin als durch seine Tätigkeit aktiver
Mitgestalter der Lebenswelt.
Die Einbindung der subjektiven Verantwortlichkeit in die Lebenswelt aber verweist einmal
mehr auf die methodische Grundvoraussetzung für verantwortungsethisches Handeln:
denn die Bestimmung sittlich richtigen Handelns ist abhängig von der Abwägung kon-
406 Ebd. 407 Ebd. S. 21. 408 Vgl. ebd. S. 30.
169
kurrierender Werte, wobei die Wertentscheidungen im Diskurs intersubjektiv legitimiert
werden müssen. Nach Löwisch ist Verantwortungsethik insofern sie gebunden ist „an
Reflexivität, an Diskussion, an Dialog, an Diskurs [...] [eine] Diskursethik“409. Denn mit ihr
ist das Anliegen verbunden, Entscheidungen „in einen Prozeß der Kommunikation
einzubringen und dadurch zur Konstitution gemeinsam geteilter normativer Ansprüche
beizutragen, die auf ihre Richtigkeit befragt werden können. Und sie fragt nach den
Handlungsbedingungen und den Handlungsfolgen in der objektiven äußeren Welt, an
welche die Verwirklichung solcher normativer Ansprüche gebunden ist“410.
Wie die nachstehenden Ausführungen zeigen werden, basieren Höffes Vorschläge zu der
inhaltlichen Gestaltung für einen Ethikunterricht in einer pluralistischen Gesellschaft411 auf
den Grundlagen der von Löwisch explizierten Verantwortungsethik. Höffe entwickelt seine
Vorschläge in kritischer Auseinandersetzung mit der Zielsetzung und den Lehrinhalten für
den bayerischen Ethikunterricht.
In Anbetracht des hauptsächlich auf theoretische Wissensvermittlung angelegten Curricu-
lums untersucht er zunächst kritisch die Realisierbarkeit der an das Fach geknüpften
Lernziele: “Anleitung zum sittlichen Handeln, Bildung eines sittlichen Bewußtseins und
sittlicher Haltung sowie die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und sozialer Verantwor-
tung”412. Die Sichtung der Lehrinhalte zur Umsetzung dieser Zielsetzung zeigt nach
Höffe, daß der Lehrplan von einer dem „aufklärerischem Optimismus“ entsprechenden
These getragen ist, sittliche Kompetenz lasse sich vornehmlich in theoretisch orientierten
Lernprozessen vermitteln. „Nach einem mißverstandenen Muster ’Tugend durch Wissen’
wird zwischen den sittlichen und den theoretischen Fähigkeiten kein wesentlicher Abstand
gesehen, die sittliche Kompetenz intellektualistisch verkürzt“413. Die Annahme, daß
Wissen direkt in ein entsprechendes Handeln einmündet, mag für andere Unterrichts-
fächer wie bspw. dem Sprachen- oder dem Mathematikunterricht in beträchtlichem Maße
Geltung haben. Dagegen wird mit dem Lernen der Ethiklektionen jedoch nicht gleichzeitig
die Fähigkeit und Bereitschaft erzeugt, sittlich verantwortlich zu handeln, denn für Hand-
lungsentscheidungen sind kognitive Aspekte allein nicht ausschlaggebend, sondern diese
409 Ebd. S. 33. 410 Huber, Wolfgang: Konflikt und Konsens. Studien zur Ethik der Verantwortung. München 1990, S. 156, zit.
n. Löwisch, Dieter-Jürgen: a.a.O. (1995), S. 33. 411 Höffe, Otfried: a.a.O. (1979). 412 Vgl. KWMBl I So. Nr. 3/1990, hrsg. v. Bayerischen Staatsministerium für Unterricht, Kultus, Wissenschaft
und Kunst, S. 148. 413 Höffe, Otfried: a.a.O. (1979), S. 459.
170
werden im wesentlichen mitbestimmt von der emotionalen und sozialen Befindlichkeit des
Subjekts. „Beispiele für die Machtlosigkeit des kognitiven Wissens sind Legion.“414
Höffe betont, daß sowohl ein Handeln in sozialer Verantwortung, also ein das Wohl und
die Rechte anderer mitberücksichtigendes Handeln, welches nicht ohne „Triebverzicht
und Sublimierung”415 möglich ist, als auch die sittliche Kompetenz verstanden als
Bereitschaft zur Selbstbestimmung, mit der Maßgabe, soziale Erwartungen nicht fraglos,
sondern unter Berücksichtigung eigener Wert- und Zielvorstellungen zu befolgen,
eingeübt werden muß. „Ohne die Fähigkeit und Bereitschaft, sich von seinen Neigungen
und den sozialen Erwartungen zu distanzieren und aus der doppelten Distanz heraus eine
Kritik, eine Kontrolle und gegebenenfalls eine Veränderung der gewohnten Verhaltens-
muster und spontanen Handlungsintentionen durchzuführen, ist sittliche Kompetenz nicht
möglich. Man bildet aber sittliche Kompetenz nicht schon durch Analyse und theoretische
Kritik von menschlichen Verhaltensformen, sondern erst durch ein Einüben in Selbst-
Distanz und Sozial-Kontrolle, durch eine kritische Aneignung von Kommunikations- und
Interaktionsmustern und durch die dabei immer wieder neu zu vollziehende Anerkennung
seiner selbst und seiner Mitmenschen im Sinne von Vernunftwesen.”416
Im Hinblick darauf, daß diese Gesichtspunkte im bayerischen Ethiklehrplan wenig
Berücksichtigung finden und auch die Möglichkeit einer vor allem handlungsorientierten
Unterrichtsgestaltung u.a. aufgrund der in diesem Falle erforderlichen stark normativen
Ausrichtung wenig Erfolg verspricht, stellt Höffe die grundsätzliche Frage, ob im
Ethikunterricht darauf verzichtet werden soll, sittliche Kompetenz zu vermitteln. Seiner
Ansicht nach läßt sich hierauf weder eine eindeutig positive noch eine eindeutig negative
Antwort geben. Während durch den Verzicht auf dieses Lernziel der Unterricht seinen
ursprünglichen Zweck verlieren würde, wäre es andererseits zu dessen strenger
Verfolgung erforderlich, „den Unterricht auf Aktion und Interaktion nach sittlichen
Prinzipien festzulegen; denn der Unterricht vermittelt nur so viel an sittlicher Kompetenz
als er in seiner Praxis sittliche Qualität hat und herausfordert”417. Die Lösung dieser
Problematik findet Höffe in der Eigenart des Ethikunterrichts. Für ihn liegt dessen
Hauptaufgabe in der kognitiven Aufarbeitung sittlichen Handelns. Hier geht es also vor
allem darum, die Schüler zu unterstützen, die in ihrem engeren und weiteren Lebensum-
feld auftretenden sittlichen Probleme wahrzunehmen, sie zu thematisieren und auf der
414 Ebd. S. 460. 415 Ebd. 416 Ebd. S. 461. 417 Ebd. S. 463.
171
Grundlage von allgemein verbindlichen Normen und Werten zu beurteilen und zu
bewältigen. Mit dem „methodischen - und natürlich auch altersgemäßen - Einüben in die
Wahrnehmungs-, die Sprach- und die Argumentationskompetenz angesichts sittlich-
praktischer Gehalte”418 ist das Lernziel des Ethikunterrichts „sittliche Reflexion (mit
Information, Interpretation etc.), das heißt eine Reflexion, die nicht um des Wissens,
sondern um der Sittlichkeit von Praxis willen durchgeführt wird; Lernziel ist Reflexion als
Moment sittlicher Kompetenz”419.
In Verbindung mit dieser Zielsetzung eines Ethikunterrichts setzt sich Höffe weiterhin mit
der Frage auseinander, ob und welche sittlichen Grundwerte in einer pluralistischen
Gesellschaft vermittelt werden sollen. Während ein einseitig werteorientierter Unterricht im
Widerspruch zu dem Verfassungsauftrag steht, droht bei der Alternative, sich nur auf die
Vermittlung von Wissen über Normen und Wertvorstellungen zu beschränken und sich
jeder Stellungnahme zu enthalten, dagegen die Gefahr, dem ethischen Relativismus
Vorschub zu leisten. Der bayerische Lehrplan für den Ethikunterricht wie die Lehrplankon-
zepte anderer Länder zu diesem Fach weisen daher die im Grundgesetz und in den
Länderverfassungen festgeschriebenen sittlichen Grundsätze als Orientierungsgrundlage
ihrer Lehrplankonzepte aus. Diese Grundlegung würdigt Höffe zwar als „geschickt[e] und
pragmatisch auch nicht falsch[e]”420, letztendlich jedoch unzureichende Lösung. Pragma-
tisch ist die Zugrundelegung des gesetzlich festgeschriebenen Wertekanons insofern, als
es sich hier um „einen politisch geltenden Konsens über fundamentale Grund- und
Rahmennormen handelt”421. Dies betrifft jedoch nur ein Handeln, das entsprechend dieser
Vorgaben gesetzlich einklagbar und mit Hilfe von Strafandrohung durchsetzbar ist, also
das legale Handeln. Das sittliche Handeln meint aber gerade nicht das durch Sanktionen
erzwungene Tätigsein, sondern das Handeln, das aus Einsicht heraus Richtlinien aner-
kennt und befolgt, auch wenn keine Strafe droht. Dies begründet die Notwendigkeit, diese
gesetzlichen Rahmennormen auch zu analysieren und kritisch auf ihre Verbindlichkeit hin
zu hinterfragen.
Darüber hinaus sind für den Ethikunterricht Themenbereiche vorgesehen, die durch den
gesetzlich festgelegten Handlungsrahmen nicht oder nur unzureichend gefaßt werden.
Höffe nennt hier aus dem bayerischen Lehrplan unter anderem den Themenbereich:
418 Ebd. S. 464. 419 Ebd. 420 Ebd. S. 470. 421 Ebd.
172
„Konflikte und ihre Bewältigung” (Jahrgangsstufe 7, Gymnasium)422. Hier seien als weitere
Beispiele genannt: die „Förderung von Hilfsbereitschaft gegenüber Notleidenden” (Jahr-
gangsstufe 7 Gymnasium)423, „Verantwortung für sich und andere” (Jahrgangsstufe 8
Gymnasium)424. Diese Unterrichtsinhalte gehen deutlich über die gesetzlich vorge-
gebenen Maßgaben für sittliches Handeln hinaus.
Doch dürfen in einer pluralistischen Gesellschaft über den gesetzlich vorgegebenen
Handlungsrahmen hinaus sittliche Normen zur Handlungsleitung grundgelegt werden?
Höffe macht deutlich, daß, unter dem Gesichtspunkt der Entfaltungs- und Gestaltungs-
freiheit des Lebens „der pluralistischen Qualität der Gesellschaft ein eigener sittlicher Wert
zu[kommt]”425, dieser zur Wahrung seiner sittlichen Qualität jedoch nur eingeschränkt
Gültigkeit haben darf426. Damit wird grundgelegt, daß zur Realisierung eines gleichbe-
rechtigten Nebeneinanders unterschiedlicher Sinn- und Wertinterpretationen und
Lebensgestaltungsmöglichkeiten im Sinne der Selbstbestimmung elementare allgemein
verbindliche Normen notwendig sind. Höffe unterscheidet hier zwischen „der im Prinzip
einen Ethik elementarer Verbindlichkeiten und der Pluralität von Ethiken eines optimalen
Lebens, den christlichen, marxistischen, buddhistischen und anderen Deutungen von
Humanität”427.
Nach Höffe lassen sich diese elementar verbindlichen Normen aus unserer ethischen
Tradition sowie den täglich realisierten Kommunikations- und Interaktionsbezügen
ableiten, die er in drei Gruppen aufgliedert:
1. Die „Grundnormen, die Kommunikation in jeder Form erst möglich machen”428 und
insofern „sowohl für Personen innerhalb von homogenen Gruppen als auch für das
Verhältnis heterogener Gruppen zueinander gültig [sind]. Hierzu zählt vor allem der
Schutz fremden Lebens im Sinne des Verbots von Tötung und Mord und von Verge-
waltigung, dann – wenn auch weniger elementar – des Verbots von Lüge und Betrug.”429
422 Ebd. 423 KWMBl a.a.O. 1990, S. 248. 424 Ebd. S. 268. 425 Höffe, Otfried: a.a.O. (1979), S. 471. 426 Vgl . hierzu auch Topitsch, Ernst: Pluralismus und Toleranz. In: Pluralismus: Legitimationsprobleme im
Interessenwandel, Veröffentlichung der Walter-Raymond-Stiftung, Band 21. Köln 1983, S. 9 - 28. 427 Höffe, Otfried: a.a.O. (1979), S. 472. 428 Ebd. S. 473. 429 Ebd.
173
2. Die Rahmennormen, die das Verhältnis heterogener Gruppen untereinander regeln und
damit deren gleichberechtigtes Nebeneinander sichern. Toleranz gilt Höffe in diesem
Zusammenhang als zentrale Norm, da deren Einhaltung Konfliktsituationen gar nicht erst
aufkommen läßt. „Toleranz gründet in der Einsicht, daß kein Mensch schlechthin irrtums-
und vorurteilsfrei ist, besonders aber in der Anerkennung anderer als freier und
ebenbürtiger Personen, die das Recht haben, die eigenen Vorstellungen zu äußern und
nach ihnen zu handeln, soweit sie nicht dasselbe Recht anderer beeinträchtigen.”430 Hier
ist Toleranz nicht bloße Duldung sondern als Aufgabe zu betrachten, denn sie erfordert
die grundsätzliche Anerkennung der Interessen anderer als mit den eigenen gleichbe-
rechtigt, sowie die Bereitschaft, sich mit anderen Ansichten auseinanderzusetzen.
„Vollendet wird die Toleranz in der Bereitschaft und Fähigkeit, sich in die Anschauungen
und Lebensweisen des anderen einzufühlen.”431 Durch den Rückbezug auf die
Menschenrechte, findet Toleranz ihre Grenzen dort, wo Würde und Freiheit anderer
verletzt werden.
3. Die Normen, die eine humane sozial verträgliche Konfliktbewältigung beim
Zusammentreffen konkurrierender Interessensbereiche ermöglichen. Dies erfordert von
Vertretern unterschiedlicher Interessengruppen „die Bereitschaft, in die Situation des
Konfliktes nicht ausschließlich nach Maßgabe von Vorteil, Geschicklichkeit und Macht
einzutreten, vielmehr eigene Interessen partiell aufzugeben und eine gemeinsame
Handlungsbasis zu suchen”432. Grundlage ist auch hier Toleranz, die sich einerseits in
dem Bemühen zeigt, sich für andere verständlich auszudrücken, sowie andererseits in
dem Bestreben, andere Denkweisen und Sprachcodes zu verstehen und anzuerkennen.
Höffe betont, daß die von ihm vorgeschlagenen Haltungen und Normen eines gemeinsam
haben: „Sie betreffen die Voraussetzungen von Kommunikation bzw. die Basisbedingun-
gen einer vernünftigen Konfliktbewältigung“433, für die nicht allein im Ethikunterricht,
sondern auch in allen anderen Unterrichtsfächern eingetreten werden sollte, zumal der
Ethikunterricht nur den Teil der Schüler erreicht, die nicht am konfessionell gebundenen
Unterricht teilnehmen.
430 Ebd. 431 Höffe, Otfried: Ethikunterricht in einer pluralistischen Demokratie: In: Treml, Alfred K. (Hrsg.): a.a.O. 1994,
S. 30-35, hier S. 35. 432 Höffe, Otfried: a.a.O. (1979), S. 475. 433 Ebd.
174
In seinen vor dem Hintergrund des bayerischen Lehrplans für den Ethikunterricht
angestellten Überlegungen geht Höffe nicht nur der Frage nach, welche Werte in einem
Staatsgefüge, welches bezüglich weltanschaulich gebundener Werthaltungen Neutralität
wahren muß, vermittelt werden sollten und dürfen, sondern setzt sich auch mit dem
methodischen Gesichtspunkt auseinander, indem er untersucht, ob mit den im Schul-
unterricht zur Verfügung stehenden Mitteln die anvisierte Zielsetzung realisierbar ist.
Hinsichtlich der Zielsetzung des Lehrplanes: „Hinführen zu sozialverantwortlichem
Handeln und Bildung einer sittlichen Haltung in Selbstbestimmung“, merkt er kritisch an,
daß mit einem allein auf theoretische Wissensvermittlung angelegten Unterricht diese
Zielsetzung nicht realisiert werden kann. Höffe stellt fest, daß der Annahme, mit den zur
Verfügung stehenden Mitteln, diese Zielsetzung realisieren zu können „eine Vorstellung
von menschlichem Handeln zugrunde liegt, in dem die fundamentale Differenz von
Einsicht und der Bereitschaft, der Einsicht zu folgen, unbeachtet bleibt“434 und weist in
diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hin, daß eine sittliche Haltung, als ein
selbstbestimmtes und selbstverantwortliches Tätigsein unter Anerkennung und Wahrung
der Rechte anderer, handelnd erworben wird. Im Hinblick auf die auf theoretische
Wissensvermittlung ausgelegte Unterrichtsgestaltung muß deshalb die Zielsetzung des
Faches eine Einschränkung erfahren auf einen wesentlichen Teilbereich der sittlichen
Kompetenz: die sittliche Reflexion. Ein Ethikunterricht, so die konkreten Vorschläge zur
Umsetzung der sittlichen Reflexion, sollte die Schüler dazu anleiten, die im schulischen
und außerschulischen Leben auftretenden sittlichen Probleme „zu erkennen, zu
artikulieren und nach allgemein verbindlichen Kriterien und Verfahren zu bewältigen. [...]
Die Aufgabe des Ethikunterrichts liegt im methodischen – und natürlich auch altersge-
mäßen Einüben – in die Wahrnehmungs-, die Sprach- und die Argumentationskompetenz
angesichts sittlich-praktischer Gehalte.“435
Mit der Begrenzung der Zielsetzung des Ethikunterrichts und der für diese Begrenzung
angeführten Begründung, Wissen und Einsicht allein würden nicht notwendig zu einem
der Einsicht gemäßen Handeln führen, sondern ein solches Handeln müsse – vor allem,
wenn es einer gewohnten Handlungsweise entgegensteht oder den Verzicht auf die
Verfolgung eigener Ziele und Wünsche bedeutet – eingeübt werden, entspricht Höffe dem
Leventhalschen Verhaltensmodell. Nach Leventhal dient die durch die Tätigkeit gewon-
nene Erfahrung zur Etablierung der emotionalen Erinnerungsstrukturen, die eine
434 Ebd. S. 460. 435 Ebd. S. 463 f.
175
Situationsbewältigung entscheidend mitbestimmen. Praktische Erfahrung aber ist in
einem auf theoretische Wissensvermittlung ausgelegten Unterrichtsgeschehen nur ganz
bedingt und zwar, wie Höffe deutlich macht, nur im Rahmen der Unterrichtsgestaltung
möglich.
Wichtig ist, daß die von Höffe vorgenommene Begrenzung der Zielsetzung des
Ethikunterrichts keineswegs seinen Stellenwert mindert, sondern vielmehr durch die
Präzisierung der Aufgabenstellung: sittliche Probleme und deren Lösungsmöglichkeiten
zu erarbeiten und aufzuarbeiten, dessen Möglichkeiten und Notwendigkeit erst deutlich
hervortreten läßt. Denn die Änderung von Handlungsweisen setzt das Wissen um andere
als die gewohnten Bewältigungsstrategien voraus. Und erst die argumentativ gewonnene
Einsicht über die Notwendigkeit und den Nutzen einer anderen als der gewohnten
Handlungsweise wird zu einer Anwendung des Wissens führen. Die Voraussetzung für
die Anwendung gewaltloser Konfliktbewältigungsstrategien ist das Wissen darum, daß
und wie sich Konflikte auch gewaltfrei lösen lassen und die Einsicht in die Notwendigkeit
und den Nutzen einer gewaltfreien Konfliktlösung. Zur Bildung der sittlichen Haltung aber
muß, wie oben ausdrücklich betont wird, die Erprobung dieses Wissens in der Praxis
hinzukommen, denn ebenso wie erst die Erfahrung, daß das Zeigen von Unsicherheit und
Angst nicht notwendig zu Diffamierung und Ausgrenzung führt, sondern durch Verstän-
dnis und Hilfestellungen aufgefangen werden kann, Vertrauen stiftet, bietet die Erfahrung,
daß Konfliktsituationen nicht nur im schulischen, sondern auch im außerschulischen
Bereich tatsächlich argumentativ statt mit Gewalt zu lösen sind, die Möglichkeit zur
grundlegenden Akzeptanz einer gewaltfreien Konfliktlösestrategie.
Die Entwicklung einer sittlichen Haltung, mit Höffe gesprochen: die Bildung von sittlicher
Kompetenz, wird hier also abhängig gemacht von Wissen und Einsicht, der Erfahrung der
Anwendung des Wissens im Handlungsvollzug und der kritischen Reflexion über die
jeweiligen Handlungserfahrungen. Genau diese Komponenten: das Wissen, die
Handlungserfahrung und die eigene Bewertung der Handlungserfahrung sind auch
wesentlich in Leventhals Modell des adaptiven Verhaltens, in dem die Situations-
bewältigung, wie oben mehrfach ausführlich erläutert, abhängig ist von der emotionalen
Einschätzung, dem problemorientierten Wissen und der Bewertung der Situations-
bewältigung, die wiederum rückwirkt auf emotionale Einschätzungen und problemorien-
tierte Bewertungen von Situationen.
Mit der Bindung der sittlichen Kompetenz an das Wissen um sittliche Anforderungen, eine
durch bewußte rationale Auseinandersetzung mit divergierender Wertanforderungen
176
gewonnene Werteinsicht, die Erprobung und Einübung dieser rational gewonnenen
Einsichten im Handeln und deren Bewertung, wird verhindert, daß wie bei der Methode
der indirekten Erziehung, die abzielt auf die Erzeugung normgerechten Verhaltens, das im
Sinne von Reiz-Reaktions-Schemata durch Sanktionen modifizierbar ist, eine Tätigkeit
allein über die von außen gesteuerten Sanktionen bewertet wird. Vielmehr wird durch die
Methode der rationalen Auseinandersetzung mit konkurrierenden Wertvorstellungen
verbunden mit der Forderung, selbstbestimmt Handlungsentscheidungen zu fällen, ein
Bewußtsein dafür geweckt, daß die Werthaftigkeit in der eigenverantwortlich getroffenen
Handlungsentscheidung liegt. Die Bedeutung, die darüber hinaus dem Handlungsvollzug
unter den eigenverantwortlich erworbenen Prinzipien für die Stabilisierung der sittlichen
Haltung zukommt, wurde oben mehrfach erwähnt. Angesichts der in einer werteplura-
listischen Gesellschaft vorfindbaren unterschiedlichen Wertangebote, mit denen Kinder
und Jugendliche tagtäglich konfrontiert werden, bietet eine in kritischer Auseinander-
setzung mit konkurrierenden Werten gewonnene Werthaltung in Verbindung mit dem
Wissen darum, daß die Konsequenzen für subjektive Wertentscheidungen eigenverant-
wortlich getragen werden müssen, eine sicherere Orientierung- und Entscheidungshilfe
bei Wertfragen als eine über Sanktionen erzeugte Wertbindung, denn letztere hilft wenig
bei Wertentscheidungen, in denen, wie das obige Beispiel zeigt, die Entscheidungsalter-
nativen jeweils mit ähnlichen Sanktionen, seien sie positiver oder negativer Natur (in dem
obigen Beispiel handelte es sich um negative Sanktionen) belegt sind.
In bezug auf die Frage, ob über den durch das Grundgesetz legitimierten Wertekatalog
hinaus in der Schule für allgemein verbindliche Normen einzutreten sei, verweist Höffe
darauf, daß gerade zur Wahrung der Pluralität der Wertvorstellungen elementare
Verbindlichkeiten gelten müßten. Da für ihn die Wahrung der Pluralität abhängig ist von
der Kommunikationsfähigkeit und der Möglichkeit einer gewaltlosen Konfliktbewältigung,
beziehen sich die von ihm vorgeschlagenen elementaren Verbindlichkeiten auf „die
Voraussetzungen von Kommunikation bzw. die Basisbedingungen einer vernünftigen
Konfliktbewältigung“436. Damit tritt Höffe für die Anerkennung elementarer Normen ein,
die in Brezinkas Werteerziehungskonzept, welches unter Anerkennung der Bedingungen
einer wertepluralistischen Gesellschaft die Vermittlung von normativen Verbindlichkeiten,
die nicht durch das Gesetz legitimiert sind, als Aufgabe der familiären Erziehung ausweist,
keinerlei Berücksichtigung finden. Die Problematik, die mit der selbstverständlichen An-
nahme, eine im familiären Umfeld erzeugte Wertbindung würde notwendig zur Stützung
des Gemeinwohls beitragen, wurde oben ausführlich erörtert. Die genauere Betrachtung
436 Höffe, Otfried: a.a.O. (1979), S. 475.
177
der von Höffe vorgeschlagenen „elementaren Verbindlichkeiten“ zeigt, daß sie genau die
Aspekte betreffen, die nicht in allen „Glaubensquellen“ als verbindlich anerkannt werden.
Die Anerkennung dieser Normen jedoch erst sichert, gerade angesichts der in
unterschiedlichen Glaubensrichtungen begründeten differierenden Wertschätzungen
menschlichen Lebens zum einen und differierenden Vorstellungen bezüglich der
Anerkennung anderer als der eigenen Werthaltungen zum anderen, ein friedliches
Nebeneinander und ist mithin die Grundvoraussetzung für ein verständnisvolles
Miteinander.
Die kritische Erörterung der beiden unterschiedlichen Auseinandersetzungen mit der
Zielsetzung und der Realisierbarkeit der Wertevermittlung hat verdeutlicht, daß eine den
Gegebenheiten einer wertepluralistischen Gesellschaft angemessene Werteerziehung
spezifische Anforderungen stellt, von deren Berücksichtigung die Verwirklichung des
grundlegenden Anliegens: den zu Erziehenden zur Entwicklung einer Werthaltung als
Orientierungshilfe für Wertentscheidungen in einer von pluralen Wertvorstellungen
geprägten Lebenswelt zu verhelfen, entscheidend abhängig ist. Wie sich zeigen lies, ist
das von Brezinka vorgeschlagene Werteerziehungskonzept sowohl im Hinblick auf die
Zielsetzung, die Erzeugung einer Gesinnungseinstellung, als auch im Hinblick auf die
Methode: die durch Sanktionen unterstützte indirekte Erziehung für die Realisierung der
Zielsetzung unter den Bedingungen einer wertepluralistischen Gesellschaft unzureichend.
Die methodische Unzulänglichkeit zeigt sich darin, daß durch die Vernachlässigung einer
kritischen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Wertvorstellungen zwar ein an
Sanktionen orientiertes Verhaltensmuster im Sinne eines Reiz-Reaktions-Schemas
erzeugt wird, jedoch kaum die Fähigkeit, zwischen den konkurrierenden Wertangeboten
der pluralen Lebenswelt zu entscheiden. Die Zielsetzung ist insofern kritisch zu
betrachten, als durch die einer Gesinnungseinstellung eignenden realitätsunabhängig
Geltung beanspruchenden Handlungsprinzipien die Eigenverantwortlichkeit bei einer
situativen Handlungsentscheidung auf die Handlungsabsicht reduzierbar wird, womit nicht
nur eine kritische Auseinandersetzung mit den Handlungsfolgen, sondern damit
einhergehend auch eine kritische Betrachtung der situativen Gegebenheiten für eine
adäquate Handlungsentscheidung überhaupt unnötig wird. Nach Löwisch ist eine
gesinnungsethische Haltung aus diesen Gründen „unkommunikativ“ und führt nicht nur
zur Ignoranz gegenüber Konflikten, mithin verhindert sie eine gemeinsame
Weltbewältigung, da Gemeinsamkeit an Kommunikation gebunden ist.
Diese in einer gesinnungsethischen Haltung keine Berücksichtigung findenden Gesichts-
punkte: die Ausrichtung der Handlungsentscheidungen an der kritischen Beurteilung der
178
situativen Gegebenheiten ebenso wie an den Handlungsfolgen sowie die Verantwortungs-
übernahme sowohl für Handlungsentscheidung und Handlungsfolgen sind die von
Löwisch ausgemachten Kriterien der Verantwortungsethik, die oben nicht nur in bezug auf
die Zielsetzung, sondern auch hinsichtlich der Methode für eine den Anforderungen einer
wertepluralistischen Gesellschaft angemessene Werteerziehung ausgewiesen wurde.
Die Methode wird deutlich an den Voraussetzungen, an die Löwisch die Realisierung
einer verantwortungsethischen Haltung bindet: die Kommunikationsfähigkeit als Fähigkeit
zum Analysieren und Reflektieren, zum Fällen von Urteilen, zum Argumentieren,
verstanden als die als Fähigkeit, Urteil und Gegenurteil kritisch abwägen zu können,
sowie Diskursfähigkeit, als Fähigkeit sich mit sich selbst und anderen auseinandersetzen
zu können. Hier geht es nicht, wie bei der für die gesinnungsethischen Wertbindung
empfohlenen Methode, um eine unreflektierte Übernahme ganz bestimmter Wertvor-
stellungen durch Einübung und Gewöhnung, sondern um eine in kritischer Auseinander-
setzung mit konkurrierenden Wertvorstellungen gewonnene Werthaltung. Für die Ver-
mittlung und Förderung der Fähigkeiten, die für eine kritische Auseinandersetzung nötig
sind, Sorge zu tragen, ist nach Höffe die Hauptaufgabe des Ethikunterrichts. Durch die
Reduzierung der Zielvorstellung des Ethikunterrichts auf die Vermittlung der Fähigkeiten
zur sittlichen Reflexion als wesentlichen Bestandteil der sittlichen Kompetenz macht Höffe
jedoch auch deutlich, daß die rein rationale Er- und Aufarbeitung von sittlichen Problemen
und deren Lösungsmöglichkeiten allein nicht ausreicht für die Entwicklung einer sittlichen
Haltung. Vielmehr ist für ihn die Realisierung der Zielsetzung notwendig gebunden an das
Einüben des Handelns unter den Prinzipien des rational erworbenen Wissens und der
Einsicht. Durch die Bindung der Entwicklung einer sittlichen Haltung an das
Zusammenwirken von Wissen und das Einüben der rational gewonnenen Einsicht im
Handlungsvollzug finden die beiden von Leventhal für das adaptive Verhalten ausge-
machten Prozeßverarbeitungsstränge Berücksichtigung: der problemorientierte, der von
Wissen und Einsicht gespeist wird und der emotionale, der durch die Bewertung der
Situationsbewältigung modifiziert und ausdifferenziert wird. Während bei der Methode der
sanktionsunterstützten indirekten Erziehung durch die Einübung immer gleichen Ver-
haltens unter gleichen Bedingungen, nicht nur die Ausdifferenzierung der Schemata
verhindert, sondern auch der rationale Aspekt, und das heißt nach Leventhal die
problemorientierte Prozeßverarbeitung, kaum Beachtung findet, ist bei Höffe durch die
Verbindung der in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Wertangeboten diskursiv zu
erarbeitenden reflexiven sittlichen Kompetenz mit dem Handlungsaspekt die Voraus-
setzung für die Erweiterung beider Prozeßverarbeitungsstränge gegeben: die Aus-
differenzierung der Schemata und die Verbreiterung des Wissens um problemorientierte
179
Situationsbewältigungsmöglichkeiten. Die Bedeutung des Zusammenwirkens beider
Aspekte gerade in bezug auf eine stabile Werthaltung in den Gegebenheiten einer werte-
pluralistischen Gesellschaft, wurde oben ausführlich erörtert.
In direktem Zusammenhang mit der Methode ist auch die Zielsetzung der Verantwor-
tungsethik, die Verpflichtung durch das Prinzip Verantwortung zu sehen. Da die
Werthaltung auf diskursivem Wege in Auseinandersetzung mit den lebensweltlichen
Gegebenheiten unter Berücksichtigung des handelnden Umgangs mit situativen
Gegebenheiten zu erarbeiten ist, ist dem Subjekt nicht nur die Übernahme der Verant-
wortung für die Handlungsentscheidung, sondern auch das „personale Aufsichnehmen
der erkennbaren Folgen und der abschätzbaren Nebenfolgen des eigenen Handelns“437
aufgegeben. Nur durch die Anerkennung des einzelnen als durch sein Tun verantwort-
licher Mitgestalter der Lebenswelt und die dadurch gegebene Verpflichtung zur
Verantwortungsübernahme für Handlungsabsicht und Handlungsfolgen läßt sich ein
Miteinander von pluralen Lebensformen sozial verträglich gestalten.
Die Verpflichtung durch das Prinzip Verantwortung ist, wie mehrfach deutlich wurde, nicht
nur an die Fähigkeit, sondern auch an die Möglichkeit zur Kommunikation gebunden. In
diesem Sinne sind Höffes Vorschläge für über die verfassungsrechtlich grundgelegten
hinaus im Ethikunterricht zu vertretenen Normen, die er als Sicherung der Voraus-
setzungen von Kommunikation bzw. der Basisbedingungen einer vernünftigen Konflikt-
bewältigung verstanden wissen will, legitimierbar. Das Zentrum bildet hier die “positive
Toleranz”438, die sich zeigt in der Anerkennung aller Menschen als ebenbürtig und
gleichberechtigt, in der Achtung anderer Überzeugungen und durch die Bereitschaft
andere Überzeugungen diskursiv zu erörtern. Ziel ist hier die aktive Gestaltung eines
gleichberechtigten Miteinanders. Wie oben deutlich geworden ist, impliziert verant-
wortungsethisches Handeln die Anerkennung dieser Prämissen und macht, insofern es
notwendig gebunden ist an Kommunikation, gemeinsame Weltbewältigung erst möglich.
Durch die Untersuchungen der Methoden und Zielsetzung von Werteerziehung im
Hinblick auf die Gegebenheiten in einer von pluralen Lebensentwürfen gekennzeichneten
Gesellschaft konnte nicht nur deutlich gemacht werden, wie sehr die Zielvorstellung die
437 Löwisch, Dieter-Jürgen: a.a.O 1995, S. 29. 438 Höffe, Otfried: a.a.O. (1979) S. 467.
180
Wahl der Mittel bedingt, sondern auch, welcher Stellenwert dem Gefühl bei der
moralischen Erziehung zukommt. An Brezinkas Erziehungskonzept, in dem der
Schwerpunkt auf der Bildung des Herzens, oder wie er es auch bezeichnet auf der
Gemütsbildung oder Gesinnungsbildung439, mit der expliziten Forderung die „Liebe zu
bestimmten Kulturgütern, die als besonders wertvoll gelten“440 zu fördern, also auf der
Gefühlserziehung liegt, lassen sich sowohl die Möglichkeiten als auch die Gefahren einer
allein auf die Gefühle gerichtete Erziehung ganz klar aufzeigen.
Im Zentrum steht hierbei die durch die indirekte Erziehung ermöglichte Gewöhnung an
und Einübung von bestimmten Verhaltensregeln, deren Einhaltung durch die Anwendung
von Sanktionen gewährleistet wird. Demgemäß soll durch die Erzeugung von Gefühlen,
denn genau darauf zielen die Belohnung und Sanktionen ab, deutlich gemacht werden,
welche Verhaltensweisen angemessen, gewünscht, also richtig und welche unange-
messen, unerwünscht also falsch ist. Nach Leventhals Modell manifestiert sich eine
solche gefühlsvermittelte unbewußte emotionale Situationseinschätzung durch die
Methode der indirekten Erziehung, also der Möglichkeit, ähnliche Situationskonstella-
tionen immer wieder aufs neue zu erleben, in sehr stabilen Erinnerungsstrukturen, den
sogenannten Schemata.
Durch die genauere Betrachtung lassen sich die oben bezüglich der Beziehung zur
Werteerziehung in der pluralistischen Gesellschaft angesprochenen Unzulänglichkeiten
dieser Erziehungsmethode, die sich aus der Bewertung von Tätigkeiten über Sanktionen
ergeben können, noch klarer herausarbeiten: so ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzu-
nehmen, daß im Falle einer über Sanktionen vorgenommenen Tätigkeitsbewertung die
auf bestimmte Situationskonstellationen abgestimmten Verhaltensweisen von verschiede-
nen Instanzen unterschiedlich sanktioniert werden, das Verhalten entweder der jeweiligen
Sanktion entsprechend bewertet oder die Bewertung der Instanz übernommen wird, die
als die maßgebende angesehen wird, d.h. die Art der Sanktion bestimmt die Bewertung
der Tätigkeit. Damit in engem Zusammenhang zu sehen ist die Gefahr, daß in den Fällen,
in denen die emotionalen Schemata nach den Sanktionen ausgerichtet sind, die Inhalte
jederzeit austauschbar sind. Wenn das Verhalten also nach dem Ergebnis, sei es Angst
vor der Bestrafung oder Stolz und Freude über die Belohnung ausgerichtet ist, die
Tätigkeit an sich ohne Bedeutung bleibt. Im Vordergrund steht vor allem die Vermeidung
439 Vgl. Brezinka, Wolfgang: a.a.O. (1993), S. 61. 440 Ebd. S. 62.
181
der negativen Sanktionierung bzw. das Erhalten der Belohnung. Hinzu kommt, daß beim
Fehlen der sanktionierenden Instanz die hohe Wahrscheinlichkeit besteht, daß ursprüng-
liche Verhaltensweisen wieder auftreten, d.h. wenn Tätigkeiten nicht kontrolliert werden
(können), werden durch Belohnung oder Bestrafung initiierte Verhaltenregeln nicht
eingehalten.
Zusammengefaßt führt die von Brezinka empfohlene auf die Gefühle gerichtete
Erziehungsmethode nicht, wie intendiert, zur Etablierung einer gefühlsmäßigen Bindung,
die an dem Wert der Tätigkeit oder dem Wert des Modells ausgerichtet ist, denn Liebe
und Wertschätzung entwickelt sich nicht durch Zwang, sondern aufgrund der an über die
Sanktionierung etablierten emotionalen Situationseinschätzung werden an Belohung und
Bestrafung ausgerichtete Verhaltensdispositionen geschaffen. Dabei besteht die größte
Problematik darin, daß diese in relativ stabilen Gedächtnisstrukturen gespeicherten
emotionalen Einschätzungen unbewußt und daher durch rationale Argumentation nur
schwer zu beeinflussen sind. Wie wenig eine solche Konditionierung zu einer stabilen
Werthaltung führt, sondern vielmehr der Manipulation menschlichen Verhaltens dient,
bestätigt ein Blick in die Geschichte.
Zweifellos ist eine Erziehung ohne Sanktionen nicht vorzustellen, denn das würde
wiederum bedeuten, daß die Gefühle vollkommen außer Acht gelassen werden könnten.
Aber auch Höffe betont ausdrücklich, daß ein Handeln in sozialer Verantwortung, das
heißt ein Handeln, welches die Rechte anderer und die Anerkennung anderer als
ebenbürtig berücksichtigt, einzuüben ist, da eine solche Handlungsweise Triebverzicht
und Sublimierung erfordert, d.h. auch hier müssen Sanktionen als notwendiger
Bestandteil der Erziehung akzeptiert werden. Wie oben deutlich geworden ist, geht es
jedoch wesentlich darum, wie und in welchem Kontext Sanktionen angewendet werden.
Denn Höffe räumt der mit der Einübung einhergehenden rationalen Er- und Aufarbeitung
der Werthaftigkeit der Handlung in kritischer Auseinandersetzung mit konkurrierenden
Wertansprüchen im Sinne der „sittliche[n] Reflexion als Moment der sittlichen
Kompetenz“441 einen zentralen Stellenwert ein. Hier wird beides notwendig zusammen
gesehen, der rationale Aspekt des Wissens, kritischen Bewertens und selbstver-
antwortlichen Entscheidens und der sich in der aktiven Situationsbewältigung und deren
Bewertung entwickelnde emotionale Aspekt und damit verhindert, daß Tätigkeiten allein
über die Sanktionen bewertet werden. Und erst dann, wenn Handlungen eigenverant-
441 Höffe, Otfried: a.a.O (1979) S. 464.
182
wortlich und unabhängig von Sanktionen als werthaft erkannt werden, reduziert sich die
Gefahr der Manipulation.
Eine Erziehung, die eine Zielsetzung mit den Maßgaben, wie sie im Curriculum für den
bayerischen Lehrplan formuliert sind: nämlich zum sittlichen Handeln anzuleiten, ein
sittliches Bewußtsein und eine sittliche Haltung sowie die Fähigkeit zur Selbstbestimmung
und sozialer Verantwortung zu bilden, tatsächlich ernst nimmt, eine Erziehung also, die
ihre Aufgabe in der Förderung der Entwicklung eines mündigen, selbstbestimmten und
selbstverantworteten Handelns sieht, muß in diesem Sinne sowohl Gefühl als auch
Verstand und die Vernunfttätigkeit fördern.
183
5 Resümee
Die in dieser Arbeit vorgenommene Untersuchung der „Natur“ der Gefühle im Hinblick auf
ihren Stellenwert im Rahmen der menschlichen Lebensgestaltung hat die Unwägbar-
keiten, die mit den Gefühlen als Forschungsgegenstand verbunden sind, deutlich
hervortreten lassen. Dennoch konnten gerade hinsichtlich der philosophischen Frage
nach dem Wesen des Menschen, deren Beantwortung auch jede pädagogische Tätigkeit
grundlegend bestimmt, wichtige Sachverhalte herausgearbeitet werden.
Die Problematik der Gefühle als Forschungsgegenstand liegt darin, daß sie als privater,
persönlicher Zustand über das Ausdrucksgeschehen hinaus nicht sichtbar und daher nur
schwer meßbar sind. Diesem Umstand ist es auch zu verdanken, daß es trotz intensiver
Bemühungen bis heute nicht gelungen ist, eine allgemeingültige, exakte Begriffsbe-
stimmung für Gefühl oder Emotion vorzunehmen, ein Grund dafür, daß auch für die hier
angestellte Untersuchung von einem eher wagen Verständnis der Gefühle als Verbindung
aus einer sowohl geistigen oder seelischen Komponente wie auch einer physischen oder
leiblichen Komponente ausgegangen wurde. Dieses weite Verständnis hat es erlaubt, aus
mehreren Perspektiven an den Untersuchungsgegenstand heranzugehen, aber auch
dazu geführt, einige Herangehensweisen auszuschließen. Letzteres betrifft Peter Bieris
Zuordnung der Gefühle zu den mentalen Phänomenen, wobei die körperliche Kompo-
nente vollkommen unbeachtet bleibt, ebenso wie die phänomenologische Betrachtung
Hermann Schmitz’, der durch die Gleichsetzung der Gefühle mit dem Wetter ähnlichen
Atmosphären, die sich unabwendbar des Körpers bemächtigen, die geistige Komponente
ausschließt.
Dagegen hat die Erörterung maßgeblicher emotionspsychologischer Theorien gezeigt,
daß hier sowohl der geistige als auch der leibliche Aspekt Berücksichtigung finden, jedoch
gemäß der jeweiligen Ausgangsprämissen in unterschiedlicher Gewichtung. Dabei ließen
sich grob drei Richtungen unterscheiden: zum einen diejenigen Emotionstheorien, für die
die Emotionsgenerierung auf vermittels genetischer Determination hervorgerufene Reiz-
Reaktions-Schemata zurückgeht, zum anderen diejenigen, die einen kognitiven
Bewertungsprozeß – sei er bewußt oder unbewußt – als Bedingung für die Emotions-
generierung ausmachen und zuletzt die dritte Gruppe, die die Entstehung von Emotionen
zwar auf eine genetische Disposition zurückführen, jedoch einerseits die Zuordnung eines
Reizes zu einer bestimmten emotionalen Einschätzung entscheidend von Lernprozessen
abhängig machen und andererseits zwischen bewußten (kortikalen) und unbewußten
(subkortikalen) Lernprozessen unterscheiden.
184
Die kritische Prüfung der jeweiligen Positionen und ihrer Grundprämissen im Hinblick auf
die für diese Arbeit gewählte Ausgangsfragestellung: die Klärung des Verhältnisses
zwischen Denken und den Gefühlen hat ergeben, daß bei der erstgenannten Position,
Denk- und Lernprozessen keinerlei Einfluß auf die Emotionsgenerierung zugesprochen
wird, da diese allein von genetisch determinierten körperlichen Reaktionsmustern
abhängig macht wird. Die kritische Prüfung dieser Annahme hat gezeigt, daß zum einen
die empirischen Nachweise für die Existenz spezifischer körperlicher Reaktionsmuster für
alle unterschiedlichen Emotionen fehlen, zum anderen, daß Unklarheit darüber besteht,
wie allein durch die genetische Determination die emotionale Einschätzung der vielen
unterschiedlichen Reize vonstatten gehen kann. Konsequent zuende gedacht müßten bei
dieser Art der Emotionsgenese bei der Mehrzahl der Menschen spezifische Reize immer
zumindest sehr ähnliche körperliche Reaktionsmuster hervorrufen. Allein die Tatsache,
daß jedoch derselbe Reiz bei einem Menschen abhängig von seiner körperlichen und
geistigen Verfassung, Alter und den übrigen situativen Gegebenheiten unterschiedliche
Reaktionen hervorrufen kann, läßt diese Position zweifelhaft erscheinen.
Eine ganz andere Problematik ergibt sich vor allem hinsichtlich der Fragestellung dieser
Arbeit aus der Ausgangsprämisse der Emotionstheorien, die die Emotionsgenese
undifferenziert auf bewußte und unbewußte kognitive Bewertungsprozesse zurückführen.
Aus dem hier zugrundeliegenden weiten Verständnis des Begriffes Kognition verstanden
als Informationsverarbeitungsprozeß folgt, daß die unterschiedlichen Vorgänge des
Fühlens und Denkens durch das gleiche Prozeßsystem gesteuert werden, insofern sie
beide als Informationsverarbeitungsprozesse anzusehen sind. Vor diesem Hintergrund
lassen sich durch diese Emotionstheorien kaum Aussagen zum Verhältnis zwischen
Denken und Gefühl treffen. Eben diese Fassung des Kognitionsbegriffs und die daraus
resultierende These, Emotionen entstünden in Abhängigkeit von Kognitionen unbewußter
und bewußter Art, hat eine intensive Debatte zwischen einzelnen psychologischen
Emotionsforschern ausgelöst, bezüglich der eine Untersuchung der Ausgangsprämissen
aufgedeckt hat, daß die Kontroverse allein auf das den beiden Positionen
zugrundeliegende unterschiedliche Verständnis des Begriffes Kognition zurückzuführen
sei. So ist man der Ansicht, daß der einen Position das Verständnis von Kognition als
bewußter Denkprozeß (Zajonc) unterliege, demgegenüber die andere Position die
Auffassung verträte, ein jeder Wahrnehmungsprozeß sei als Kognition zu verstehen
(Lazarus).
185
Ein wesentlicher Punkt dieser Debatte, der aufgrund der Diskussion um das Begriffsver-
ständnis auch bei den beiden Kontrahenten weniger Beachtung findet, ist die durch das
weite Verständnis von Kognition als Informationsverarbeitungsprozeß ausgeschlossene
Möglichkeit, bewußte und unbewußte Verarbeitungsprozesse auf zwei verschiedene Pro-
zeßsysteme zurückführen zu können. Genau an dieser Stelle setzen Leventhal und
Scherer an. Mit dem Wissen darum, daß die auf semantischer Ebene geführte Debatte
nicht lösbar ist und darüber hinaus den Blick verstellt für weitergehende notwendige
Untersuchungen zur Emotionsgenese und -generierung, entwickeln sie ein Erklärungs-
modell (integratives Prozeßmodell), in dem einzelne Komponenten der sich gegen-
überstehenden Positionen integriert werden. Denn ausgehend von getrennten Prozeß-
systemen für subkortikale (unbewußten) und kortikalen (bewußten) Reizbewertungs-
prozessen, mit der Prämisse, daß Emotionen zwar hauptsächlich von subkortikalen Reiz-
bewertungsprozessen generiert werden, diese jedoch in enger Interaktion mit den
kortikalen Reizbewertungsprozessen operieren, wird die Wechselwirkung zwischen
Denken und den Gefühlen deutlich gemacht.
Das Herzstück dieses integrativen Modells bildet die von Leventhal entwickelte Theorie
zur Ontogenese der Emotionen, die eingebunden ist in ein Modell für adaptives Verhalten.
Für das adaptive Verhalten werden zwei Prozeßverarbeitungsstränge postuliert, der
emotionale und der problemorientierte, wobei die Situationsbewältigung abhängig
gemacht wird von der auf beiden Prozeßverarbeitungssträngen stattfindenden Reizbe-
wertung. Diese Voraussetzungen sind gebunden an die Option, daß die beiden getrennt
arbeitenden Prozeßverarbeitungsstränge miteinander interagieren, in der Form, daß
zunächst die jeweiligen Reizbewertungen eine spezifische Herangehensweise an die
Situationsbewältigung initiieren und die Bewertung der Situationsbewältigung jeweils
zurückwirkt auf die Reizbewertungen beider Verarbeitungsstränge. Für die Emotions-
genese, die die Grundlage für die Reizbewertung auf dem emotionalen Prozeßver-
arbeitungsstrang bildet, wird ein Modell postuliert, welches sich zusammensetzt aus drei
hierarchisch angeordneten Ebenen, der senso-motorische Ebene, der Ebene der
Schemata und der begrifflichen Ebene. Die auf eine genetische Disposition zurück-
gehende senso-motorische Emotionsgenerierung, die zunächst allein körperliche
Befindlichkeiten signalisiert, bildet nach Leventhal die Basis der Emotionsentwicklung.
Durch die Verbindung der körperlichen Befindlichkeit mit je situationstypischen Gegeben-
heiten, d.h. dem Emotionsauslöser, dem Emotionserleben, den Ausdruckserscheinungen
und den autonomen Reaktionen, erfolgt sehr früh in der individuellen Entwicklung die
Etablierung von emotionalen Schemata, die als relativ stabile Erinnerungsstrukturen
vorzustellen sind. Das besondere dieser unbewußt gespeicherten emotionalen Schemata
186
besteht darin, daß die Aktivierung einer der Komponenten der Speicherung die
Aktivierung aller anderen Komponenten auslöst. Die emotionale Verarbeitung auf
begrifflicher Ebene schließlich, die bewußte Auseinandersetzung mit emotionalen
Erlebnissen, erfolgt über den Rückgriff auf gespeicherte Informationen vergangener
Emotionen. Wenn auch die Emotionsentwicklung abhängig gemacht wird von dem
Zusammenwirken aller drei Verarbeitungsebenen, der senso-motorischen, der schema-
tischen und der begrifflichen Ebene, so postulieren Leventhal und Scherer, daß die
situationsabhängige Generierung von Emotionen auf der Basis von emotionalen
Schemata erfolgt.
Wie sich hat zeigen lassen, bietet Leventhals durch empirische Forschungsergebnisse
gestützte Theorie der Ontogenese der Emotionen in Verbindung mit den für das adaptive
Verhalten postulierten zwei getrennt arbeitenden aber interagierenden Prozeßverarbei-
tungssträngen für die emotionale und die problemorientierte Situationsbewältigung, die
wiederum von neuesten neurobiologischen Forschungsergebnissen gestützt wird,
zunächst einen Erklärungsansatz für mit Emotionen verbundene Beobachtungen. Zu den
wichtigsten emotionsspezifischen Beobachtungen, die durch die Generierung von
Emotionen durch unbewußt gespeicherte emotionale Schemata erklärt werden können,
gehören, daß emotionale Einschätzungen sehr rasch erfolgen und nicht letztendlich
rational nachvollziehbar sind und daß die situationsspezifische Generierung von
Emotionen nur bedingt durch rationale Argumentation beeinflußbar ist.
Darüber hinaus lassen sich aus diesem Modell und seinen Voraussetzungen wichtige
Hinweise für die pädagogische Arbeit ableiten. Auszugehen ist hier von dem in Leventhals
Theorie fundierten, durch das integrative Modell von Leventhal und Scherer gestützten,
für die Pädagogik folgenreichsten Postulat: emotionale Bedeutungszuweisungen werden
gelernt. Diese Ausgangsvoraussetzung erhält ein besonderes Gewicht dadurch, daß die
emotionalen Bedeutungszuweisungen die Herangehensweise an eine Situationsbe-
wältigung wesentlich mitbestimmen. Hinzu kommt, daß die emotionale Bedeutungszu-
weisung vornehmlich über unbewußt gespeicherte emotionale Schemata erfolgt, deren
Modifikation und Ausdifferenzierung entscheidend von Handlungserfahrungen abhängig
ist. Diese Kernaussagen bezüglich der Genese der emotionalen Verfaßtheit des
Menschen betreffen die für die pädagogische Praxis notwendig zu berücksichtigenden
Ausgangsvoraussetzungen, die Natur des Menschen, und weisen darauf hin, daß die dem
Menschen eignenden „emotionalen Fähigkeiten“ ebenso förderungsbedürftig sind wie die
ihn auszeichnenden intellektuellen Fähigkeiten.
187
Die Notwendigkeit, bei der Erziehung die emotionalen Fähigkeiten zu berücksichtigen und
dabei bedachtsam eine einseitige Ausrichtung der Erziehung auf die Förderung der
Gefühle zu vermeiden, konnte am Beispiel zweier Vorschläge für eine Werteerziehung in
einer wertepluralistischen Gesellschaft expliziert werden. Vorgestellt wurden Brezinkas
Werteerziehungskonzept, in dem er auf die gefühlsbedingte Wertbindung abzielt und in
diesem Sinne für eine Gesinnungserziehung plädiert, für deren Realisierung er die
sanktionsunterstützte indirekte Erziehung empfiehlt, und Höffes Vorschläge für die in
einem Ethikunterricht grundzulegenden argumentativen Fähigkeiten zur „sittlichen
Reflexion“ als wesentlichen Bestandteil und Grundvoraussetzung für verantwortliches
Handeln. Die vor dem Hintergrund der Bedingungen einer durch plurale Wertvor-
stellungen und demgemäß vielfältigen Lebenskonzepten gekennzeichneten Gesellschaft
vorgenommene Prüfung beider Konzepte bezüglich Zielsetzung und Methode hat
ergeben, daß Brezinkas Zielvorstellung: die Erzeugung einer Gesinnungshaltung ebenso
wie die zur Realisierung empfohlene hauptsächlich auf die Gefühle gerichtete Methode
nur in höchst beschränktem Maß zur Erfüllung des beiden erörterten Positionen gleicher-
maßen unterliegenden Anspruchs, bei den Edukanden eine sichere Basis für eine
Wertorientierung in einer wertepluralistischen Gesellschaft zu erzeugen, beitragen kann.
Die Prüfung der Methode vor dem Leventhalschen Emotionsmodell hat eine grund-
sätzliche Problematik ergeben, die vor dem Hintergrund einer durch plurale Lebensent-
würfe gekennzeichneten Sozialisationsumfeld erheblich an Brisanz gewinnt. Denn nach
Leventhals Modell zur Emotionsgenese führt die Methode der indirekten Erziehung, und
das heißt über die Bereitstellung eines der angestrebten Wertbindung entsprechenden
Umfeldes für stringente Erlebnismöglichkeiten zu sorgen, in Verbindung mit der durch
Sanktionierung anzuregenden Regelbefolgung für die Etablierung von an den Sanktionen
ausgerichteten, relativ stabilen emotionalen Schemata. Dadurch daß die Begegnungen
mit Wertvorstellungen, die den der intendierten Werthaltung entgegenstehen, möglichst
vermieden werden sollen, wird zusätzlich verhindert, daß die emotionalen Schemata
ausdifferenziert werden. Viel gravierender ist jedoch, daß die Werthaftigkeit einer Tätigkeit
gemessen wird an den der Aktivität folgenden Sanktionen. Insofern somit die Sanktionen
die Handlungsmotivation bilden und nicht die einer Handlung zugrundeliegende
Werthaftigkeit, sind durch eine solcher Art vollzogene „Wertbindung“ der Manipulation
menschlichen Handelns, vor allem im Hinblick auf die unterschiedlichen Wertkonzepte
einer pluralen Gesellschaft, Tür und Tor geöffnet.
Daß neben der Erziehungsmethode zudem die von Brezinka intendierte Zielsetzung: die
Bildung einer Gesinnungshaltung, erhebliche Schwierigkeiten birgt, macht Löwischs Kritik
188
an Gesinnungshaltungen deutlich. Die Hauptproblematik liegt darin, daß Gesinnungs-
haltungen ausgerichtet sind an überzeitliche Geltung beanspruchende Handlungsprin-
zipien, wodurch eine Auseinandersetzung mit realen Bedingungskonstellationen
verhindert wird. Darüber hinaus ermöglicht Gesinnungshandeln den Abweis der
Verantwortungsübernahme für jeweilige Handlungsfolgen. Wie problematisch eine solche
nicht fundamentale, sondern fundamentalistische Werthaltung ist, zeigen die Ereignisse
der jüngsten Vergangenheit.
Im Gegenteil zu Brezinkas Erziehungskonzept, dessen zentrales Manko in der eklatanten
Vernachlässigung der reflexiven Fähigkeiten besteht, betont Höffe die Notwendigkeit der
Förderung der reflexiven und argumentativen Fähigkeiten als eine Grundvoraussetzung
der sittlichen Kompetenz. Für ihn bildet die kritische Auseinandersetzung mit unterschied-
lichen Werthaltungen die Grundlage für eine fundamentale und das heißt argumentativ
begründete Werthaltung. Die Kriterien, die nach Höffe sittliche Kompetenz ausmachen,
entsprechen den von Löwisch explizierten Anforderungen an eine Werthaltung, von der er
eine gemeinsame Bewältigung der Herausforderungen einer wertepluralistischen Gesell-
schaft abhängig macht: die an dem Prinzip Verantwortung ausgerichtete Werthaltung. Bei
aller Bedeutung, die Höffe der kritischen Reflexionsfähigkeit zumißt, betont er jedoch die
Notwendigkeit, die rational gewonnenen Einsichten im Handeln zu erproben.
Allein dadurch, daß Höffe die Entwicklung einer sittlichen Haltung abhängig macht von
argumentativ gewonnener Einsicht, wird nach diesem Konzept bereits die Ausdifferen-
zierung emotionaler Schemata vorbereitet, denn eine Grundvoraussetzung für argumen-
tativ gewonnene Einsichten ist Wissen um und die Fähigkeit zu kritischer Auseinander-
setzung mit konkurrierenden Wertangeboten, wozu die Konfrontation mit anderen
Wertvorstellungen eine Grundvoraussetzung bildet. Die zweite wesentliche Voraus-
setzung ist die Einübung eines Tätigseins gemäß des Wissens und der argumentativ
gewonnenen Einsicht, denn vor allem im Handeln vollzieht sich die Modifikation und
Ausdifferenzierung der emotionalen Schemata. Und allein die Verknüpfung von
Handlungsforderungen mit Wissen und Einsicht bietet die Möglichkeit, die Werthaftigkeit
einer Tätigkeit nicht nur an den ihr folgenden Sanktionen auszurichten und vermindert die
Gefahr der Manipulation.
Die sich in Zielsetzung und Methode erheblich unterscheidenden Werteerziehungskon-
zepte ermöglichten eine kritische Prüfung auf mehreren Ebenen, die gleichzeitig die Ver-
schränkung dieser Ebenen aufdeckte. So steht die Erzeugung einer Gesinnungshaltung,
da sie rekurriert auf eine gefühlsgetragene Wertbindung, in enger Verbindung mit der
189
sanktionsunterstützten indirekten, also einer vornehmlich auf die Gefühle ausgerichteten
Erziehung. Dabei muß aufgrund des der Gesinnungshaltung eignenden apodiktischen
Geltungsanspruchs vorgegebener Prinzipien die kritisch reflexive Auseinandersetzung mit
konkurrierenden Wertvorstellungen möglichst vermieden werden. Demgegenüber ist für
eine an der Verantwortungsethik orientierte Werthaltung, insofern deren Grundvoraus-
setzung in Selbstbestimmung gewonnene und im Diskurs mit anderen legitimierte
Handlungsprinzipien bildet, die Argumentationsfähigkeit und die Fähigkeit zur kritischen
Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Wertvorstellungen unerläßlich.
Wie sich mit Hilfe des Leventhalschen in ein Modell zum adaptiven Handeln eingebun-
denen Modell zur Emotionsgenese hat zeigen lassen, führt gerade im Hinblick auf die
Bedingungen einer wertepluralistischen Gesellschaft, die zur Erzeugung einer Gesin-
nungshaltung notwendige vornehmlich auf die Gefühle ausgerichtete Erziehungsmethode
nicht zu der gewünschten Wertbindung, sondern zu einem an Belohnung und Bestrafung
ausgerichteten normenkonformen Verhalten. Anders dagegen die Methoden zur Förde-
rung einer verantwortungsethischen Werthaltung: hier werden in der Verbindung von
Wissen, Reflexion und Handlungspraxis die Grundlagen geschaffen für sanktionsunab-
hängige Wertentscheidung in Selbstverantwortung.
Ist es einerseits die mit der Gesinnungshaltung verknüpfte Methode, die die Förderung
einer Orientierung bietenden Werthaltung in einer Gesellschaft mit pluralen Lebensent-
würfen zweifelhaft erscheinen läßt, ist es andererseits die Zielsetzung selbst. Wie Löwisch
betont, erweist sich eine an einer Gesinnungsethik ausgerichtete Lebensführung aufgrund
der spezifischen Ausgangsprämissen als unkommunikativ und demgemäß als untauglich
für ein der zeitgenössischen Realität angemessenes soziales Handeln. Demgegenüber
fordert die verantwortungsethische Lebensführung eine Orientierung an den Gegebenhei-
ten der Realität ebenso wie die kommunikative Auseinandersetzung mit den Hintergrün-
den jeweiliger Spezifika der Entscheidungssituation und die Verantwortungsübernahme
der Handlungsfolgen. Gerade die Bedingungen einer wertepluralistischen Gesellschaft,
durch die das Subjekt immer wieder mit neuen Situationskonstellationen, mit divergieren-
den Wertvorstellungen und Handlungsnormen konfrontiert wird, erfordern nach Löwisch
Handlungsentscheidungen, die an der jeweiligen spezifischen situativen Gegebenheit
ausgerichtet und das heißt realitätsbezogen sind, ebenso wie die Verantwortungsüber-
nahme nicht nur für die jeweilige Handlungsentscheidung, sondern auch für die Folgen
der Handlungsentscheidung.
190
Die kritische Prüfung der Werteerziehungskonzepte vor der durch die vorangehende
Untersuchung der Gefühle und deren Verhältnis zum Denken erarbeiteten Erkenntnis,
daß mit Gefühlen verbundene Bedeutungszuweisungen gelernt werden und diese
emotionalen Bedeutungsweisungen einen entscheidenden Einfluß auf die rationale
Situationsbewältigungen haben, hat aufgedeckt, wie wichtig die Förderung sowohl der
rationalen als auch der emotionalen Fähigkeiten ist. Wie sich an den Implikationen der
Werteerziehung zur Erzeugung einer Gesinnungshaltung eindrucksvoll zeigen lies, birgt
die einseitig emotionale Erziehung die Gefahr, die Grundlagen zur Verhaltensmani-
pulation zu schaffen. Wohlbemerkt ist sich die Autorin der Möglichkeit einer vor ihrem
Menschenbild aus mißbräuchlichen Anwendung der hier erarbeiten Erkenntnis durchaus
bewußt. Dennoch unterstützt – wie sich an Höffes Konzept hat zeigen lassen – eben
diese Erkenntnis bei entsprechender Berücksichtigung die Förderung der sittlichen
Kompetenz oder nach Roth und Zdarzil die Entwicklung zum mündigen, selbstbestimmten
Menschen. Unerläßlich ist das Bewußtsein dafür, daß jede Art von Erziehung mit
Sanktionen arbeitet und somit jede Art von Erziehung immer auch durch die Erzeugung
von Gefühlen Regelbefolgung erwirkt, d.h. aber auch, daß bei jeder Art von Erziehung die
Erzeugung von Werthaltungen durch Gefühle unterstützt wird. Um der Gefahr einer
ausschließlich manipulativen Erziehung zu entgehen, ist gemäß der Forderung von Höffe
und Löwisch notwendig, so früh als möglich die jeweilig eingeforderte Verhaltensweise zu
begründen, und die Zöglinge zur kritischen Auseinandersetzung und zu eigenverant-
wortlichen Entscheidungen anzuregen.
Da gemäß der vorstehenden Ausführungen die moralische Entwicklung des Menschen in
einem von ihm selbst geschaffenen differenzierten sozialen Erlebnisumfeld abhängig ist
von der Ausdifferenzierung seiner sich wechselseitig beeinflussenden Fähigkeiten zur
rationalen Situationsbewältigung und zur emotionalen Situationsbewältigung, läßt sich mit
Goller zu Recht sagen: der Mensch ist von Natur aus das rationalste und das
emotionalste Lebewesen.
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