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Erler, G., & Schulze, P. W. (Hrsg.) (2012). Die Europäisierung Russlands. Moskau zwischen...

Date post: 24-Jan-2017
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REZENSION Die Massenproteste auf Russlands Straßen haben gezeigt, dass das Land unter immen- sem Veränderungsdruck steht. Aber welchen Weg wird Russland gehen? Erleben wir den Beginn eines modernen, demokratischen Russlands nach dem Vorbild Westeuropas? Oder fällt Präsident Wladimir Putin zurück in autoritäre Herrschaft? Die Autoren des vorliegenden Bandes beantworten diese Frage deutlich: Russland muss sich, ja: wird sich, an die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Prinzipien Europas annä- hern. Und es wäre gut beraten, dabei „von den Erfahrungen aus der Entwicklung der Europäischen Union“ zu lernen (S. 19), d. h. nach innen die Orientierung an Rechtstaat- lichkeit, Demokratie und Menschenrechten, nach außen die friedliche Lösung von Kon- flikten, Solidarität und Wirtschaftsintegration auf der Basis wechselseitigen Vorteils. Und diese Annäherung, so Gernot Erler in der Einleitung, hat bereits begonnen. Zwar weise Russlands Verhältnis zu Europa und seinen Ordnungsprinzipien in den letzten 20 Jahren große Widersprüche auf, jedoch scheint klar zu sein: „In der realen russischen Entwicklung dominiert, was sich […] als ‚Europäisierung‘ zusammenfassen rechtfer- tigen lässt […]“ (S. 9). Und so machen sich die übrigen sechs Autoren auf die Suche nach diesen Europäisierungsschritten und ihren Folgen für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Peter W. Schulze stellt die Entwicklung des politischen Systems in Russland dar, beschreibt die Geburtsfehler der Demokratie unter Jelzin, die Herausbildung des Systems der Oligarchen sowie den beinahe Staatskollaps Ende der 1990er Jahre. Mit Putin konnte das politische System stabilisiert und die staatliche Autorität wiederhergestellt werden – wenn auch unter massivem Rückgriff auf autoritäre Herrschaftsmuster. Die innergesell- schaftliche Zustimmung zu Putin ist in den letzten Jahren einer offenen Unzufriedenheit Z Außen Sicherheitspolit (2013) 6:463–465 DOI 10.1007/s12399-013-0329-0 Erler, G., & Schulze, P. W. (Hrsg.) (2012). Die Europäisierung Russlands. Moskau zwischen Modernisierungspartnerschaft und Großmachtrolle. Frankfurt, New York: Campus-Verlag, 284 S., ISBN: 978-3593395296, € 34,90. Regina Heller Online publiziert: 08.05.2013 © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 Dr. R. Heller () Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Universität Hamburg, Beim Schlump 83, 20144 Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected]
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Rezension

Die Massenproteste auf Russlands straßen haben gezeigt, dass das Land unter immen-sem Veränderungsdruck steht. Aber welchen Weg wird Russland gehen? erleben wir den Beginn eines modernen, demokratischen Russlands nach dem Vorbild Westeuropas? oder fällt Präsident Wladimir Putin zurück in autoritäre Herrschaft? Die Autoren des vorliegenden Bandes beantworten diese Frage deutlich: Russland muss sich, ja: wird sich, an die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Prinzipien europas annä-hern. Und es wäre gut beraten, dabei „von den erfahrungen aus der entwicklung der europäischen Union“ zu lernen (s. 19), d. h. nach innen die orientierung an Rechtstaat-lichkeit, Demokratie und Menschenrechten, nach außen die friedliche Lösung von Kon-flikten, Solidarität und Wirtschaftsintegration auf der Basis wechselseitigen Vorteils. Und diese Annäherung, so Gernot erler in der einleitung, hat bereits begonnen. zwar weise Russlands Verhältnis zu europa und seinen ordnungsprinzipien in den letzten 20 Jahren große Widersprüche auf, jedoch scheint klar zu sein: „in der realen russischen entwicklung dominiert, was sich […] als ‚europäisierung‘ zusammenfassen rechtfer-tigen lässt […]“ (s. 9). Und so machen sich die übrigen sechs Autoren auf die suche nach diesen europäisierungsschritten und ihren Folgen für die europäische Außen- und sicherheitspolitik.

Peter W. schulze stellt die entwicklung des politischen systems in Russland dar, beschreibt die Geburtsfehler der Demokratie unter Jelzin, die Herausbildung des systems der oligarchen sowie den beinahe staatskollaps ende der 1990er Jahre. Mit Putin konnte das politische system stabilisiert und die staatliche Autorität wiederhergestellt werden – wenn auch unter massivem Rückgriff auf autoritäre Herrschaftsmuster. Die innergesell-schaftliche zustimmung zu Putin ist in den letzten Jahren einer offenen Unzufriedenheit

z Außen sicherheitspolit (2013) 6:463–465Doi 10.1007/s12399-013-0329-0

Erler, G., & Schulze, P. W. (Hrsg.) (2012). Die Europäisierung Russlands. Moskau zwischen Modernisierungspartnerschaft und Großmachtrolle. Frankfurt, New York: Campus-Verlag, 284 S., ISBN: 978-3593395296, € 34,90.

Regina Heller

Online publiziert: 08.05.2013 © springer Fachmedien Wiesbaden 2013

Dr. R. Heller ()institut für Friedensforschung und sicherheitspolitik, Universität Hamburg, Beim schlump 83, 20144 Hamburg, Deutschlande-Mail: [email protected]

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gewichen. Die „Präsidentenrochaden“ von 2008 und 2012 zeugten von einer erstarrung der Führungsklasse, einer Unfähigkeit zur Reform, was schließlich 2011 in einer „verita-blen politischen Vertrauenskrise“ (erler, s. 17) mündete. Hatte doch Dimitri Medwedew die Parole ausgegeben, Russland müsse sich modernisieren, die Korruption bekämpfen, eigenverantwortung fördern – und damit international und zuhause hohe erwartungen geweckt. Die stimmen aus der Gesellschaft könnten jedenfalls nicht mehr länger igno-riert werden: Die politischen Parteien hätten sich emanzipiert, eine neue Mittelklasse wolle ihre Grundbedürfnisse befriedigt sehen. Gelänge Putin eine substanzielle Verände-rung des politischen systems, dann stünde der Weg nach europa offen.

Die Ambivalenzen der Annäherung an europa werden im Verhältnis zwischen Russ-land und der NATO noch deutlicher. Hans-Joachim Spanger identifiziert hier typische „schaukelbewegungen“ zwischen Annäherung und entfremdung. immer dreht sich dabei alles um ein grundlegendes Dilemma: Die europäische sicherheit ist unteilbar, aber der Fortbestand der nATo macht dies quasi unmöglich. Die zunehmende Bedeutung der Allianz sei Russland ein Dorn im Auge und provoziere Großmachtgebaren. spanger mahnt auch die Doppelzüngigkeit der nATo an: Angebote an Russland hätten selten Substanz. Dass im NATO-Russland-Rat Konflikte systematisch ausgeblendet würden, sei ein Fehler, der die durchaus existierende Annäherungsdynamik behindere. Die „Reset“-initiative obamas habe gezeigt, dass ein Ausbrechen aus Mustern des Kalten Krieges regelrechte europäisierungsschübe hervorrufen kann.

nicht minder widersprüchlich sind laut Hans Martin sieg die eU-Russland-Bezie-hungen. Trotz einer Reihe von gemeinsamen interessen und initiativen herrscht stag-nation vor. Die eU-osterweiterung – für Russland zunächst weniger problematisch als die nATo-osterweiterung – hat den Charakter der Beziehungen verändert, insbesondere durch den Einfluss der neuen Mitglieder in Osteuropa, auch wenn Russland versucht, das historisch belastete Verhältnis zu Polen zu verbessern. ein weiterer Reibungspunkt ist die europäische nachbarschaftspolitik. Russland nimmt die eU als Konkurrent in einer „zone privilegierten interesses“ wahr. Wie erler in seiner zusammenfassung erneut treffsicher beschreibt: „europäisierung wird nicht gewünscht, wo sie mit der russischen Einflusspolitik klassischer Provenienz kollidiert“ (S. 23). Dort, wo kein Verlust des Regionalmacht-status droht, ist hingegen Kooperation möglich.

Die Alternativlosigkeit zu vertieften Beziehungen zu (eU-)europa postuliert Ger-hard Mangott eindrucksvoll in einem Beitrag zu den energiebeziehungen. „Gerade in der energiezusammenarbeit lässt sich die gegenseitige und symmetrische Abhängigkeit zwischen Russland und der eU deutlich aufzeigen“ (s. 190). Das schreckgespenst von einem Russland, das Rohstoffe zu politischen zwecken nutzt und so die energiesicher-heit europas gefährdet, sei falsch. Russland sei aufgrund der bestehenden Transportwege (Pipelines) langfristig an europa gebunden. zudem sänken seit vielen Jahren die russi-schen Gasimporte in die eU. schließlich müsse sich Russland seit dem WTo-Beitritt an verbindliche Regeln halten. Konflikte ergeben sich eher durch die Kollision strategischer Diversifizierungsinteressen im „südlichen Gaskorridor“: „Moskau will einen exklusiven oder zumindest dominanten zugriff auf die erdgasproduzentenländer in der kaspischen Region, weil deren erdgas zur Absicherung des Binnenbedarfs und der bestehenden Exportverpflichtungen noch immer deutlich billiger ist, als neue Gasfelder im Norden zu

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erschließen“ (S. 203). Letztlich berührten diese Konflikte die bestehenden Lieferbezie-hungen aber nicht.

Uwe Halbach fragt, wie die integrationsbemühungen Moskaus im postsowjetischen Raum im Lichte der europäisierungsthese zu deuten sind. 2011 hat Putin eine „eurasi-sche Union“ vorgeschlagen, kurz darauf wurde eine Freihandelszone zwischen Russland, Kasachstan und Belarus errichtet. Halbach konzediert, die Rhetorik erinnere durchaus an die Wirtschaftsintegration in der eU, doch sei Russland weit davon entfernt, ein integra-tionsmagnet im postsowjetischen Raum zu sein. zwar könne das Land kurzfristige poli-tische und wirtschaftliche Angebote an seine nachbarn machen, doch fehle es an „soft power“ – jener langfristigen Attraktivität, „mit der die europäische integration aufwar-ten konnte und die sie selbst in der gegenwärtigen eurokrise noch nicht eingebüßt hat“ (s. 222). so scheinen Moskaus Bemühungen eher davon angetrieben, sich der eigenen Großmachtstellung zu versichern. Jedoch müssten diese auch als Aufforderung an die eU verstanden werden, die Kräfte in einem gemeinsamen „Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok“ zu bündeln und gegen andere, aufstrebende Machtzentren in stellung zu bringen.

Christian Wipperfürth zweifelt jedoch an der Umsetzbarkeit des „eurasischen“ szena-rios. zu wichtig sei Russland die Weltmachtrolle. Wird sich Russland also in zukunft an China orientieren? Auch dies sei unwahrscheinlich, denn nur die Annäherung an europa könne in Russland die so dringend benötigte Modernisierung anschieben.

Wie erler selbst zugibt: „Die europäisierung Russlands wird noch viel zeit brauchen. Die Abmessung des zwischenstandes fällt gemischt aus […]“ (s. 32). so optimistisch die von den Autoren abgeleitete zukunftsperspektive auch ist, eine Bedingung bleibt: Die politische Klasse in Moskau muss sich ernsthaft für den schwierigen Weg mit europa entscheiden und sich von überkommenen Rollenvorstellungen verabschieden.


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