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Entscheidungsverhalten von Kunden in Mass Customization-Systemen; Sequential choice processes in...

Date post: 23-Dec-2016
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DOI 10.1007/s11573-010-0434-7 Z Betriebswirtsch (2011) 81:7–30 Zf B-SPECIAL ISSUE 2/2011 Entscheidungsverhalten von Kunden in Mass Customization-Systemen Julia K. Stefanides Mark Heitmann Andreas Herrmann Jan R. Landwehr Zusammenfassung: Bei der Wahl zahlreicher Erzeugnisse durchlaufen die Kunden einen Entschei- dungsprozess, da sie nicht über das Produkt in seiner Gesamtheit entscheiden (wie etwa bei einem Soft Drink), sondern dieses durch die sukzessive Auswahl von Merkmalen und deren Ausprägungen konfigurieren (Mass Customization). Beispielsweise muss ein Individuum bei der Wahl eines Pkw der Mittelklasse ca. 60 Entscheidungen u. a. über die Motorisierung, die Außenfarbe, das Innenmate- rial, das Stereosystem oder die Felgen treffen, bis das Fahrzeug definiert ist. Diese Arbeit zeigt, dass Personen im Rahmen dieser Konfigurationsprozesse in Mass Customization-Systemen ermüden, und die Empfehlungen und Vorgaben der Hersteller und Händler (Defaults) eine zentrale Bedeutung für die Entscheidungen bezüglich der einzelnen Merkmale und Ausprägungen spielen. Dabei wählen In- dividuen den Default dann besonders häufig, wenn schwierige Entscheidungen zuerst zu treffen sind und die leichten später. Ist die Entscheidungssequenz hingegen umgekehrt (leichte Entscheidungen © Gabler-Verlag 2010 Dr. J. K. Stefanides () Strategy & Business Development UBS, Paradeplatz 6, 8001 Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected] Prof. Dr. A. Herrmann · Dr. J. R. Landwehr Forschungsstelle für Customer Insight, Universität St. Gallen, Rosenbergstrasse 51, 9000 St. Gallen, Schweiz E-Mail: [email protected] Dr. J. R. Landwehr E-Mail: [email protected] Prof. Dr. M. Heitmann Department für Marketing, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Westring 425, 24118 Kiel, Deutschland E-Mail: [email protected]
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DOI 10.1007/s11573-010-0434-7Z Betriebswirtsch (2011) 81:7–30

Zf B-SPECIAL ISSUE 2/2011

Entscheidungsverhalten von Kunden in MassCustomization-Systemen

Julia K. Stefanides • Mark Heitmann • Andreas Herrmann • Jan R. Landwehr

Zusammenfassung: Bei der Wahl zahlreicher Erzeugnisse durchlaufen die Kunden einen Entschei-dungsprozess, da sie nicht über das Produkt in seiner Gesamtheit entscheiden (wie etwa bei einemSoft Drink), sondern dieses durch die sukzessive Auswahl von Merkmalen und deren Ausprägungenkonfigurieren (Mass Customization). Beispielsweise muss ein Individuum bei der Wahl eines Pkwder Mittelklasse ca. 60 Entscheidungen u. a. über die Motorisierung, dieAußenfarbe, das Innenmate-rial, das Stereosystem oder die Felgen treffen, bis das Fahrzeug definiert ist. Diese Arbeit zeigt, dassPersonen im Rahmen dieser Konfigurationsprozesse in Mass Customization-Systemen ermüden, unddie Empfehlungen und Vorgaben der Hersteller und Händler (Defaults) eine zentrale Bedeutung fürdie Entscheidungen bezüglich der einzelnen Merkmale undAusprägungen spielen. Dabei wählen In-dividuen den Default dann besonders häufig, wenn schwierige Entscheidungen zuerst zu treffen sindund die leichten später. Ist die Entscheidungssequenz hingegen umgekehrt (leichte Entscheidungen

© Gabler-Verlag 2010

Dr. J. K. Stefanides (�)Strategy & Business Development UBS,Paradeplatz 6, 8001 Zürich, SchweizE-Mail: [email protected]

Prof. Dr. A. Herrmann · Dr. J. R. LandwehrForschungsstelle für Customer Insight,Universität St. Gallen, Rosenbergstrasse 51,9000 St. Gallen, SchweizE-Mail: [email protected]

Dr. J. R. LandwehrE-Mail: [email protected]

Prof. Dr. M. HeitmannDepartment für Marketing,Christian-Albrechts-Universität zu Kiel,Westring 425, 24118 Kiel, DeutschlandE-Mail: [email protected]

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zuerst und schwierige später), ist das Interesse am Default geringer. Für die Hersteller und Händ-ler ergeben sich konkrete Hinweise für die Gestaltung von Entscheidungssequenzen in MassCustomization-Systemen etwa im Hinblick auf die Reihenfolge der Präsentation von Merkmalenund Ausprägungen. Der Wissenschaftler erhält einen Eindruck über die Bedeutung von Defaultsin Entscheidungsprozessen; zudem lassen sich Erkenntnisse über den Prozess der Ermüdung vonEntscheidern ableiten.

Schlüsselwörter: Mass Customization · Konfiguration · Default · Reihenfolge von Entscheidungen

JEL Classification: M30 · M31

1 Notwendigkeit einer Analyse des Entscheidungsverhaltens von Kunden in MassCustomization-Systemen

Immer mehr Unternehmen überlassen es dem Kunden, ein Produkt nach seinen Wün-schen und Vorstellungen zu gestalten (Mass Customization). Kaplan und Haenlein (2006)definieren Mass Customization als „…a strategy that creates value by some form ofcompany-customer interaction at the fabrication/assembly stage of the operations levelto create customized products with production cost and monetary price similar to tho-se of mass-produced products …“ (S. 176 f.). Heutzutage lassen sich mit Produktkon-figuratoren oder „toolkits“ (Franke und Piller 2004, S. 406 ff.) nicht mehr nur Com-puter (www.dell.com) oder Autos (www.bmw.de) gestalten, sondern auch Wellness-Pakete von Hotels (www.starwoodhotels.com), Sportschuhe (www.nike.com), Anzüge(www.zegna.com) oder Sonnenbrillen (www.ic-berlin.de). Eine Produktgestaltung mit-tels Mass Customization-Systemen soll den individuellen Nutzen für den Kunden erhöhen(Franke und von Hippel 2003; Piller 2006), seine Zahlungsbereitschaft steigern (Frankeet al. 2009; Reichwald und Piller 2009; Schreier 2006) und die Kundenbindung stärken(Piller 2001). Zudem will man die Präferenzen der Individuen etwa durch eine Analyse desKlickverhaltens kennen lernen und Anregungen für neue Produkte sammeln (Pine 1993;Urban und Hauser 2004, S. 75 ff.; Pine et al. 1995, S. 103 ff.). Neuste Arbeiten in diesemBereich zeigen ferner wichtige Entscheidungsvariablen, die für dieAdaptionsentscheidungindividualisierter Produkte verantwortlich sind (z. B. hohe Zahlungsbereitschaft, Bereit-schaft in den Individualisierungsprozess zu investieren, vgl. Schoder et al. 2006, Konsum-häufigkeit und Zufriedenheit mit Standardprodukten in der relevanten Produktkategorie,vgl. Kaplan et al. 2007).

Charakteristisch für alle Mass Customization-Systeme ist, dass Anbieter ihre Kundenim Rahmen der Produktkonfiguration mit Empfehlungen und Vorgaben (Defaults) kon-frontieren. Goldstein et al. (2008) verdeutlichen in einem Überblick im Harvard BusinessReview die ökonomische Relevanz von Defaults. Beispielsweise konnte ein europäischesBahnunternehmen im Online-Ticketgeschäft allein durch eine einfache Setzung einesDefaults auf eine Sitzplatzreservierung ein Jahresumsatzplus von 30 Mio. € generieren.Polak et al. (2008) zeigen in einem Real-Life Experiment, dass ein Automobilherstellermit Hilfe unterschiedlicher Defaultvarianten (z. B. von einer Grundausstattung auf einemittlere Ausstattung) im Car-Konfigurator signifikante Umsatzsteigerungen von bis zu30 % erzielen konnte.

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Ein weiteres Merkmal von Mass Customzation-Systemen ist, dass der Kunde bei derKonfiguration eines Erzeugnisses einen Entscheidungsprozess durchläuft, da er nicht überdas Produkt in seiner Gesamtheit entscheidet (wie etwa bei einem Soft Drink), sonderndieses durch die sukzessive Auswahl einer variierenden Anzahl von Merkmalen und derenAusprägungen definiert (Dellaert und Stremersch 2005). Will beispielsweise eine Personein Fahrzeug der Mittelklasse konfigurieren, muss sie mehr als 60 Entscheidungen u. a.über die Motorisierung, die Außenfarbe, das Innenmaterial, das Stereosystem oder dieFelgen treffen. Selbst für die Gestaltung eines Wohlfühl-Pakets in einem Wellness-Hotelsteht der Gast vor zahlreichen Massagen, Gesichtsbehandlungen, Körperpackungen oderAromatherapien, aus denen er jeweils eine Option auswählt und damit sein individuellesPaket gestaltet. Hinter diesem Konzept steckt die Vorstellung, der Kunde habe für jedes dervielen Extras klare und eindeutige Präferenzen. Diese Sicht über die Präferenzbildung istjedoch mit wachsenderAuswahl undVerästelung der Offerten zu bezweifeln, da Individuenüber eine mehr oder weniger konstante kognitive und emotionale Kapazität verfügen (Si-monson 2005). Diese mentalen Ressourcen nehmen im Verlauf der Produktkonfigurationab, was sich im subjektiven Empfinden äußert, der Gestaltungsprozess werde zunehmendanstrengend und mühsam. Um dennoch das Ende der Konfiguration zu erreichen unddas gewünschte Produkt zu definieren, greifen die Individuen auf Entscheidungsheuristi-ken zurück, die trotz sinkender emotionaler und kognitiver Ressourcen bewältigt werdenkönnen (Bettman et al. 1998, S. 190 ff.; Levav et al. 2007).

Hierbei spielen Defaults eine zentrale Rolle, da sie das Entscheidungsverhalten der In-dividuen in Mass Customization-Systemen erleichtern und beschleunigen (vgl. Goldsteinet al. 2008; Polak et al. 2008). Obgleich einige Autoren den grundsätzlichen Einfluss so-wohl des Defaults als auch der Ermüdung auf das Entscheidungsverhalten von Individuenbereits diskutieren (vgl. Simonson 2005; McKenzie et al. 2006), ist eine wichtige Frageim Hinblick auf das Zusammenspiel dieser beiden Effekte bislang noch nicht beantwortet.Hierbei ist von Interesse, ob und inwieweit eine Ermüdung von Personen in Entschei-dungssequenzen eine Wirkung auf die Wahrscheinlichkeit für deren Default-Wahl ausübt.Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen den Variablen (Default und Ermüdung)sind für die Gestaltung von Mass Customization-Systemen von zentraler Bedeutung, dabereits geringfügige Veränderungen beispielsweise in der Reihenfolge, in der die Wahlop-tionen präsentiert sind, einen beachtlichen Effekt auf Absatz und Umsatz besitzt (vgl. dieStudie von Herrmann et al. 2007a).

Zur Bewältigung dieser Probleme soll in drei Schritten vorgegangen werden: AufBasis theoretischer Überlegungen über das Verhalten von Individuen in Entscheidungsse-quenzen und der Wirkung von Defaults auf die Herausbildung einer Entscheidung lassensich Hypothesen über das Zusammenspiel dieser beiden Variablen formulieren (Entschei-dungssequenz und Wirkung des Defaults). Diese sollen im Rahmen einer empirischenUntersuchung in zwei Märkten (Anzugsstudie und Wellness-Studie) überprüft werden.Aus den erzielten Ergebnissen resultieren Implikationen für die Gestaltung von MassCustomization-Systemen und Erkenntnisse über das Verhalten von Personen in Entschei-dungsprozessen, die durch eine sukzessive Auswahl von Merkmalen und deren Ausprä-gungen charakterisiert sind.

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2 Ansätze zur Erklärung des Entscheidungsverhaltens von Kunden in MassCustomization-Systemen

Will man das Entscheidungsverhalten von Individuen in Mass Customization-Systemenverstehen, spielen mit Blick auf die Literatur zu diesem Thema zwei theoretische Zugängeeine wichtige Rolle. Zunächst interessierenAnsätze, die dasVerhalten von Personen in Ent-scheidungssequenzen erklären (Kap. 1). Daraufhin gilt das Augenmerk den Defaults undihrer bereits in einigen Arbeiten dokumentierten Wirkung auf das individuelle Entschei-dungsverhalten (Kap. 2). Aus einer Verknüpfung der Erkenntnisse über diese Phänomenelassen sich Hypothesen über das Zusammenwirken von Ermüdung und Default-Wahl inEntscheidungssequenzen ableiten (Kap. 3).

2.1 Individuelles Verhalten in Entscheidungssequenzen

Nahezu allen Forschungsansätzen zur Analyse individuellen Entscheidungsverhaltens(insbesondere im Marketing) gemeinsam ist die Vorstellung, Entscheidungen von Per-sonen entsprechen einem „Schnappschuss“. Daher richtet sich die Analyse des individu-ellen Entscheidungsverhaltens zumeist auf eine singuläre Entscheidung, die eine Personzu einem bestimmten Zeitpunkt trifft.

Die Konfiguration eines Erzeugnisses in einem Mass Customization-System (z. B.ein Pkw) ist jedoch dadurch gekennzeichnet, dass Personen mehrere aufeinanderfolgendeEntscheidungen (über den Motor, die Felgen, das Stereosystem etc.) vornehmen. Häufighängen diese Teilentscheidungen zusammen (z. B. wünscht der Kunde zu einer bestimm-ten Außenfarbe die passende Innenausstattung), so dass die Beschaffenheit der Sequenzfür das Entscheidungsverhalten eine Rolle spielt. Ein Blick in die Literatur zeigt zweialternative theoretische Erklärungsansätze, die sich mit Interaktionen zwischen aufeinan-derfolgenden Teilentscheidungen beschäftigen. Zudem liefern diese Ansätze Aufschlussüber Mechanismen und Heuristiken, die in Entscheidungssequenzen zum Einsatz kommen.

2.1.1 Kontextspezifische Entscheidungsheuristik

Der deskriptiven Entscheidungstheorie zufolge verfügen Individuen in der Regel nicht überkonsistente Präferenzen bezüglicher aller Merkmale und Ausprägungen eines Produkts.Vielmehr konstruieren sie ihre merkmals- bzw. ausprägungsspezifischen Präferenzen inAbhängigkeit des Entscheidungskontexts (Bettman et al. 1998; Slovic 1995). Hoeffler undAriely (1999, S. 116 ff.) zeigen, dass Personen durch wiederholte Wahlhandlungen in einerProduktgattung (z. B. Soft Drinks) immer sicherer, zufriedener und konsistenter bezüglichihrer Präferenzen werden (Präferenzkonstruktion). Offenbar tragen Wahlwiederholungendazu bei, die subjektive Wichtigkeit der einzelnen Attribute und deren Ausprägungenimmer besser beurteilen und auf diesem Wege konsistent entscheiden zu können.

Neusten Erkenntnissen von Amir und Levav (2008, S. 148 ff.) zufolge erlernen In-dividuen in Entscheidungssequenzen (etwa bei der Konfiguration eines Pkw) hingegennicht nur Präferenzen für Attribute und Ausprägungen (wie etwa im Fall von Soft Drinks).Vielmehr konstruieren sie aus dem Entscheidungskontext auch Regeln, nach denen Ent-scheidungen getroffen werden können. Die Autoren konfrontierten Individuen mit meh-

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reren aufeinanderfolgenden Entscheidungen, wobei die Anzahl der Auswahloptionen ent-sprechend der experimentellen Konditionen variiert wurde. Während Probanden in einerEntscheidungssequenz mit zwei Auswahloptionen das Entscheidungsproblem durch eineattributsspezifische Bewertung lösten, lernten Personen in der Sequenz mit jeweils dreiAuswahloptionen die Entscheidungsheuristik „folge der attraktivsten bzw. der mittlerenOption“ und adaptierten diese unabhängig von den merkmalsspezifischen Präferenzen füreine bestimmte Option. Die Autoren schlussfolgern, dass die Interaktion in wiederholtenEntscheidungen im Lernen einer kontextspezifischen Heuristik besteht und Personen da-zu neigen, kontextuelle „cues“ zu nutzen, um Entscheidungen in Sequenzen schnell undeinfach zu bewältigen.

Diese Erkenntnisse legen den Gedanken nahe, dass Empfehlungen und Vorgaben inKonfigurationssystemen das Erlernen der Entscheidungsheuristik „folge der empfohlenenbzw. vorgegebenen Option“ auslösen und Kunden die hervorgehobene Option unabhängigvon ihrer Beschaffenheit präferieren.

2.1.2 Ermüdung der individuellen Selbstkontrolle

Der zuvor berichtete Befund gilt ohne Zweifel bei der Wahl vieler Erzeugnisse des täg-lichen Bedarfs. Es sind jedoch Entscheidungen über Produkte vorstellbar, die auf einerintensiven und bewussten Auseinandersetzung mit aus Kundensicht bedeutsamen Pro-duktinformationen beruhen. Bei diesem komplexen, mehrstufigen Verarbeitungsprozessüberprüft das Individuum die Produktmerkmale und deren Ausprägungen im Hinblick aufihre Wünschbarkeit, fasst die Teilurteile zu einem Gesamturteil zusammen und nähert sichauf diesem Wege dem persönlichen Idealprodukt. Nach dieser Phase des Abwägens mussdie Person eine Handlung realisieren, d. h. sie verpflichtet sich für eine Alternative. BeidePhasen beinhalten eine exekutive Komponente und erfordern ein hohes Maß an menta-ler Anstrengung und kognitiver Selbstkontrolle (Vohs et al. 2008). Neuste Studien zeigen,dass eine (Teil-)Entscheidung im Sinne der Auswahl einer Option (wie im Konfigurations-prozess erforderlich) weitaus mehr Selbstkontrolle erfordert als die Herausbildung einerPräferenz für ein Produkt aus einer verfügbaren Gütermenge (Novemsky et al. 2007).

Die Selbstkontrolle bildet der „depletion“-Theorie zufolge (Muraven und Baumeister2000, S. 251 ff.) eine flexible, jedoch äußert begrenzte und temporär erschöpfbare Res-source (Baumeister et al. 2000, S. 137 ff.). Jede mental anstrengende Aktivität (z. B. dasTreffen einer Entscheidung) braucht Selbstkontrolle und führt dazu, dass diese Ressourcefür folgende Aufgaben nur noch in begrenzter Menge zur Verfügung steht. Den Zustandeiner reduzierten Kapazität an entscheidungsrelevanter Selbstkontrolle erleben Individuenals mentale Erschöpfung („depletion“). Dies hat zur Folge, dass nachfolgende Aktivitätenmit geringerer kognitiver und emotionaler Kontrolle ausgeführt werden.

Personen im „depletion mode“ nehmen eine verzerrte Informationssuche und-verarbeitung vor (Fischer et al. 2008, S. 386 ff.) und sind kaum noch in der Lage, ihrWahlverhalten gezielt zu steuern. Dies äußert sich beispielsweise in einer höheren Zah-lungsbereitschaft für langlebige Erzeugnisse und einer stärkeren Tendenz zu Impulskäufenbei kurzlebigen Gütern (Vohs und Faber 2007, S. 540 ff.). Erschöpfte Individuen orien-tieren sich bei der Auswahl von Produkten vor allem an verfügbaren Ankern (Wang et al.2008, S. 6 ff.), präferieren die auf den ersten Blick attraktivste Option (Hamilton et al.

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2007, S. 189 ff.; Pocheptsova et al. 2009) oder lassen sich bei der Produktwahl von affektivkommunizierten Merkmalen bzw. Ausprägungen leiten (Bruyneel et al. 2006, S. 220 ff.).Im Kern zeigen erschöpfte Individuen eine Tendenz zur Entscheidungsvereinfachung undeiner intuitiven bzw. heuristischen Entscheidungsfindung.

2.2 Wirkung von Defaults auf das Entscheidungsverhalten

Defaults lassen sich als jene Optionen kennzeichnen, die der Kunde automatisch erhält,sofern er sich nicht ausdrücklich für eine andere entscheidet (Brown und Krishna 2004,S. 529 ff.). Damit bilden sie Voreinstellungen bei jeweils einer Ausprägung der einzel-nen Produktmerkmale. Empirischen Untersuchungen zufolge kann aus Defaults ein Au-tomatismus im Entscheidungsprozess resultieren, da der Kunde lediglich die Vorgabe desHerstellers oder Händlers bestätigen muss (Polak et al. 2008). Dies äußert sich beispiels-weise durch einen Klick auf die O.K.-Taste im online-Konfigurator oder durch eine Unter-schrift auf einem Formular (z. B. für einen Kredit-, Spar- oder Versicherungsvertrag) in der„offline-Welt“.

Goldstein et al. (2008) zeigen zahlreiche Anwendungsbeispiele von Defaults und nen-nen drei Gründe für die Attraktivität dieser Vorgaben aus Kundensicht (McKenzie undNelson 2003, S. 598 ff.; McKenzie 2004, S. 879 ff.; Schkade und Kahneman 1998, S.342 ff.): Zunächst lässt sich ein Default als Aufforderung zur Auswahl („endorsement“)auffassen. Kunden interpretieren einen präsentierten Default als Ratschlag des Herstellersoder Händlers, genau diese Merkmalsausprägung zu wählen (McKenzie et al. 2006, S.415 ff.). Der zweite Grund für die Wahl eines Defaults liegt in einer Reduktion der mit derEntscheidung verbundenen emotionalen und kognitiven Anstrengungen („laziness“, vgl.hierzu auch Payne et al. 1993). Der Hersteller oder Händler entlastet den Nachfrager somitvom oft mühsamen Prozess der Beurteilung der einzelnen Ausprägungen eines Merkmals.Der dritte Grund für die Wahl von Defaults resultiert aus dem von Kahneman und Tvers-ky (1979, 1991) beschriebenen Befund der Verlustaversion („loss aversion“) (Novemskyund Kahneman 2005a, 2005b). Individuen beurteilen vorliegende Alternativen (auch Aus-prägungen eines Produktmerkmals) bezüglich eines Referenzpunkts (Schweitzer 1994,S. 460 ff.; Samuelson und Zeckhauser 1988, S. 14 ff.), wobei sie negative Abweichungenvom Ankerpunkt stärker gewichten als positive. Da Defaults als Referenzpunkte fungieren(Polak et al. 2008), müssen Alternativen, die bei einem Merkmal eine schlechtere Aus-prägung aufweisen, bei einem anderen deutlich besser sein, um für die Wahl in Betrachtzu kommen. In Mass Customization-Systemen kommt hinzu, dass die zum Default erho-bene Option das Gefühl des Besitzes vermittelt, da sie bereits vorselektiert ist und in derKalkulation des Gesamtpreises erscheint.

2.3 Hypothesen über das Entscheidungsverhalten von Kunden in MassCustomization-Systemen

Mass Customization-Systeme sind dadurch gekennzeichnet, dass Kunden bei der Produk-tauswahl eine Vielzahl von Entscheidungen in Folge treffen. Der „depletion“-Theorie zu-folge (Baumeister et al. 2000, S. 132 ff.; Muraven und Baumeister 2000, S. 252 ff.) könnenEntscheidungen in Sequenzen nicht isoliert betrachtet werden; vielmehr ist zu erwarten,

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dass erste Entscheidungen auf nachfolgende wirken (Baumeister et al. 1998, S. 1255 ff.;Novemsky et al. 2007; Vohs et al. 2008). Je mehr Entscheidungen nacheinander zu treffensind, desto stärker verfallen Kunden in den „depletion mode“ und desto weniger Ressour-cen verbleiben, um die letzten Entscheidungen zu treffen (Muraven und Baumeister 2000,S. 248 ff.). Eine Studie von Pocheptsova et al. (2009) zeigt, dass Individuen aufgrundmentaler Ermüdung einen Wechsel von einer analytisch-systematischen zu einer intuitiv-heuristischen Verarbeitung vornehmen. Personen, die aufgrund einer anfänglich anstren-genden Aktivität mental erschöpfen, sind kaum noch in der Lage, sorgfältig zwischenkonkurrierenden Merkmalsausprägungen abzuwägen (Hamilton et al. 2007, S. 190 ff.).

Der Effekt mentaler Erschöpfung im Konfigurationsprozess ist in zweierlei Hinsichtkumulativ. Zunächst ist das Ausmaß mentaler Erschöpfung umso stärker, je mehr aufein-anderfolgende Entscheidungen zu treffen sind (Vohs et al. 2008, S. 887 ff.). Ferner variiertder Grad mentaler Erschöpfung in Abhängigkeit der Schwierigkeit der ersten Entschei-dungen (Novemsky et al. 2007; Shanteau und Thomas 2000). Man stelle sich etwa dieWahl der Außenfarbe für einen Pkw mit bis zu 60 Farboptionen vor. Hier sind eine Reihevon „trade off“-Entscheidungen zu treffen, d. h. der Kunde muss zwischen konkurrieren-den Optionen abwägen. Diese Entscheidungssituation ist belastend und verschärft sich, jemehr Ausprägungen pro Merkmal zur Verfügung stehen (Herrmann et al. 2007a; Novems-ky et al. 2007). Daher ist zu erwarten, dass Entscheidungssequenzen, die mit schwierigenEntscheidungen beginnen (hohe Anzahl an Auswahloptionen), stärker erschöpfen und we-niger Ressourcen für nachfolgende Entscheidungen übrig lassen als Sequenzen, die miteinfachen Entscheidungen beginnen (geringe Anzahl an Auswahloptionen). Im ersten Fallerweisen sich auch einfache Entscheidungen gegen Ende als belastend; sind diese simplenEntscheidungen hingegen am Anfang zu treffen (zweiter Fall), können lediglich die nach-folgenden komplexen Entscheidungen zur Belastung werden. Folglich sollten Individuenin einer Sequenz mit anfänglich schwierigen Entscheidungen über alle Entscheidungenhinweg häufiger zu vereinfachenden Heuristiken neigen als Personen in der Sequenz mitanfänglich einfachen Entscheidungen. In Anbetracht dieser Überlegungen lässt sich fol-gende Hypothese formulieren:

H1: Individuen, die zu Beginn der Sequenz mit schwierigen Entscheidungen konfron-tiert sind, wählen über den gesamten Entscheidungsprozess hinweg häufiger die zumDefault erhobenen Optionen als jene Personen, die zu Beginn der Sequenz vor ein-fachen Entscheidungen stehen.

Die diskutierten Theorien der kontextspezifischen Entscheidungsheuristik und der Ermü-dung individueller Selbstkontrolle machen unterschiedliche Vorhersagen zur Wirkung derDefault-Wahl auf später folgende Zielentscheidungen. Der ersten Theorie zur Folge soll-ten Individuen eine spezifische Heuristik wie die Default-Wahl „erlernen“, die bei späterfolgenden Entscheidungen besonders oft zur Anwendung gelangt (Amir und Levav 2008,S. 149 ff.). Die Zielentscheidung müsste daher unabhängig von der Reihenfolge der zu-vor präsentierten Optionen getätigt werden. Lediglich die Anzahl der zuvor gewähltenDefaults kommt als erklärende Größe in Betracht.

Erklärt hingegen die Ermüdung das Auswahlverhalten (zweite Theorie), sollten beieinem Kunden, der die Konfiguration mit einfachen Entscheidungen beginnt, mehr ent-scheidungsrelevante Ressourcen zum Ende der Konfiguration verbleiben und sich kein

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Erschöpfungseffekt einstellen. Folglich dürfte mit zunehmender Anzahl getroffener Ent-scheidungen die Häufigkeit der Default-Wahl nicht ansteigen, und auch eine allerletzteEntscheidung (im Sinne einer Zielentscheidung) sollte durch keine besonders häufigeWahl dieses Ankers auffallen.

Ist das Individuum aber durch schwierige Entscheidungen zu Beginn der Konfigura-tion mental stark belastet, verliert es bereits am Anfang viel an entscheidungsrelevantenRessourcen, so dass weniger Kapazität für nachfolgende Entscheidungen verbleibt. Indieser Sequenz determiniert der Erschöpfungseffekt („depletion“) das individuelle Ent-scheidungsverhalten; der Default bietet Kunden mit nur noch geringen mentalen Ressour-cen die Möglichkeit, die Entscheidungen zu vereinfachen. Eine vermehrte Default-Wahlsignalisiert folglich ein besonderes Maß an Erschöpfung. In diesem Fall sollte sich eineintensive Wahl des Defaults gegen Ende des Entscheidungsprozesses, insbesondere beider letzten Entscheidung (der Zielentscheidung) zeigen. Daher lassen sich aus den beidenTheorien konkurrierende Hypothesen formulieren.

Gemäß der Theorie der kontextspezifischen Entscheidungsheuristik gilt:

H2a: Unabhängig von der Sequenz der Entscheidungen (von leicht zu schwierig oder um-gekehrt) wählt ein Individuum eher den Default in der Zielentscheidung, je häufigerder Default zuvor selektiert wurde.

Der Theorie der Ermüdung individueller Selbstkontrolle („depletion“) zufolge, lässt sichFolgendes postulieren:

H2b: Bei anfänglich schwierigen Entscheidungen hat die Häufigkeit, mit der ein Individu-um bei diesen anfänglich Entscheidungen den Default wählt einen starken Einflussauf die Häufigkeit, mit der es für den Default in der Zielentscheidung votiert. Be-ginnt die Sequenz mit leichten Entscheidungen, übt die Häufigkeit, mit der einIndividuum den Default bei diesen anfänglichen Entscheidungen wählt, nur einengeringeren Einfluss auf die spätere Default-Wahl aus.

Eine Aufarbeitung der Literatur verdeutlicht, dass bislang kein direktes Maß zur Erfassungvon „depletion“ existiert. Sofern jedoch die Vermutung zutrifft, dass „depletion“ nur ineiner Entscheidungssequenz mit anfänglich schwierigen Wahlhandlungen auftritt, lässtsich dieses Konstrukt durch die kumulierte Häufigkeit, mit der ein Individuum in einerEntscheidungssequenz den Default wählt, erfassen.

Neben der direkten Wahl des Defaults lassen sich aus den beiden konkurrierendenTheorien auch unterschiedliche Aussagen zum indirekten Einfluss des Defaults auf dasEntscheidungsverhalten in der Zielentscheidung ableiten (Kahneman et al. 1990; Kah-neman und Tversky 1979; McKenzie und Nelson 2003; Hamilton et al. 2007). SelbstPersonen, die sich willentlich gegen den Default entscheiden, sind durch seine Existenz be-einflusst, was in einer Studie von Polak et al. (2008) am Beispiel einer Pkw-Konfigurationgezeigt werden konnte. Defaults ziehen die Aufmerksamkeit der Betrachter auf sich undfungieren als Referenzpunkte (McKenzie et al. 2006; McKenzie und Nelson 2003). In-dividuen evaluieren zunächst Merkmalsausprägungen, die sich in der Präsentation derAusprägungen neben dem Default befinden, bevor das Interesse den davon weiter entferntpräsentierten Optionen gilt (Chapman und Johnson 1999, S. 118 ff.). Sind z. B. siebenMotoren aufsteigend nach ihrer Leistung dargestellt (1.6, 2.0, 2.3, 2.5, 2.7, 3.2., 3.7 l) und

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der 2.5 Liter-Motor bildet den Default, so interessieren sich die Individuen zunächst fürden 2.3 und 2.7 Liter-Motor, bevor sie ihrAugenmerk auf den 1.6, den 2.0 bzw. den 3.2 und3.7 Liter-Motor richten. Im Sinne einer sprachlichen Vereinfachung sollen im FolgendenItems wie der 2.3 und der 2.7 Liter-Motor als Merkmalsausprägungen „in der Nähe“ bzw.„rund um den Default“ bezeichnet werden. Nach der Theorie der Ermüdung individuellerSelbstkontrolle ist deshalb zu vermuten, dass besonders erschöpfte Kunden in der Ziel-entscheidung nicht nur eine höhere Akzeptanz für den Default aufweisen, sondern auchverstärkt Optionen „in der Nähe“ des Defaults präferieren.

Neben der direkten Default-Wahl mag aber eine gelernte Entscheidungsheuristik auchdarin bestehen, lediglich eine begrenzte Anzahl von besonders prominent platzierten Op-tionen zu prüfen (Hamilton et al. 2007). Dies könnte ebenfalls zu einer vermehrten Wahlvon Optionen in der Umgebung des Defaults in der Zielentscheidung führen. Wiederumsollte dieser Zusammenanhang gemäß der Theorie der kontextspezifischen Entscheidungs-heuristik aber unabhängig von der Reihenfolge der zuvor getätigten Entscheidungen zubeobachten sein. Hieraus ergeben sich wiederum zwei konkurrierende Hypothesen.

Aus der Theorie der kontextspezifischen Entscheidungsheuristiklässt sich Folgendesableiten:

H3a: Die zum Default erhobene Merkmalsausprägung wirkt als Ausgangspunkt für dieSuche nach attraktiven Optionen. Unabhängig von der Sequenz anfänglicher Ent-scheidungen wählt ein Individuum vermehrt eine Option „in der Nähe“ des Defaults,sofern dieser zuvor häufig gewählt wurde.

Die Theorie der Ermüdung individueller Selbstkontrolle („depletion“) besagt:

H3b: Die zum Default erhobene Merkmalsausprägung wirkt bei erschöpften Individuenals Referenzpunkt. Bei anfänglich schwierigen Entscheidungen hat die Häufigkeit,mit der ein Individuum bei diesen anfänglich Entscheidungen den Default wählteinen starken Einfluss auf die Häufigkeit, mit der es in der Zielentscheidung füreine Option „in der Nähe“ des Defaults votiert. Beginnt die Sequenz mit leichtenEntscheidungen, übt die Häufigkeit, mit der ein Individuum den Default bei diesenanfänglichen Entscheidungen wählt, nur einen geringeren Einfluss auf das spätereWahlverhalten.

3 Eine empirische Untersuchung

3.1 Experimentelles Design

Zwei Studien dienen dazu, die fünf zuvor formulierten Hypothesen zu überprüfen. In Stu-die 1 sollten die Probanden einen Maßanzug konfigurieren, in Studie 2 ging es um dieKomposition eines Wellness-Erlebnisses in einem Luxushotel. Die experimentelle Mani-pulation der mentalen Erschöpfung wurde über die Schwierigkeit zur Bewältigung derersten Entscheidungen bei der Konfiguration eines Anzugs bzw. eines Wellness-Paketsoperationalisiert.1 Alle Probanden bekamen in beiden Studien identische Merkmale undAusprägungen vorgelegt; die Variation im experimentellen Design bestand lediglich im

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zweifach gestuften Faktor „Reihenfolge der präsentierten Wahlmöglichkeiten“, der in ei-nem „between subjects“-Design realisiert wurde. Die in beiden Studien bedeutsame ab-hängige Variable bildet die Häufigkeit, mit der die Probanden den Default wählen, die alsEmpfehlung des Anbieters präsentiert wurde. Daneben lassen sich aus Studie 2 Erkennt-nisse über die indirekte Wirkung des Defaults auf das Auswahlverhalten „in der Nähe“des Defaults (im Sinne einer weiteren abhängigen Variablen) gewinnen.

3.2 Studie 1

Ablauf: Im Rahmen derAnzugsstudie wurden 73 männliche Studierende einer Universitätunter dem Vorwand einer Analyse der kulturellen Unterschiede im Kleidungsstil zwischender Schweiz und den USA aufgefordert, einen Maßanzug zu konfigurieren (Levav et al.2010). Diese Probanden stellen für die vorliegende empirische Untersuchung eine idealeZielgruppe dar, da sie in ihrer beruflichen Laufbahn immer wieder mit der Wahl einesAnzugs konfrontiert sind. Um bei dieser Aufgabe ein starkes persönliches Engagementsicherzustellen, wurde ihnen mitgeteilt, dass man unter allen Teilnehmern zwei der maß-geschneidertenAnzüge im Wert von je 1.400 € mit einer Selbstbeteiligung von 50 € verlost.Die Schutzgebühr für die Inanspruchnahme des Gewinns stellt sicher, dass sich die Teil-nehmer über die realen finanziellen Konsequenzen ihrer Entscheidungen bewusst sind.Mit dieser Prozedur lässt sich ein hoher Realitätsbezug der Studie gewährleisten.

Die Studie fand unter Anleitung eines exklusiven regionalen Herstellers maßgeschnei-derter Anzüge in einer Räumlichkeit der Universität statt. Für jede Auswahlstufe stellteder Hersteller einen separaten Katalog mit zahlreichen Stoff- und Materialmustern bereit.Insgesamt lagen 100 Anzugsaußenstoffe, 5 Anzugsinnenstoffe, 50 Hemdenstoffe, 42 Kra-wattenstoffe, 20 Anzugsknöpfe sowie 8 Anzugsgürtel vor. Zu Beginn der Untersuchungwurden die Teilnehmer gebeten, einen Fragebogen zu bearbeiten. Damit erfasste man denGebrauchszweck des Anzugs (verschiedene Anlässe wie etwa geschäftlich oder privat),den persönlichen Kleidungsstil (7-stufige Ratingskala mit den Polen 1 = eher klassischund 7 = eher modern) sowie die Häufigkeit, den Anzug zu tragen.

Anschließend erfolgte eine randomisierte Zuweisung der Teilnehmer zu einer der bei-den experimentellen Bedingungen. Probanden in der absteigenden Sequenz (n = 34) wähl-ten zu Beginn aus 100 verschiedenen Mustern ihren persönlichen Anzugsaußenstoff (ge-folgt von Entscheidungen über ein Hemd mit 50 Optionen, eine Krawatte mit 42 Optionenetc.) und beendeten dieAuswahl mit einer Entscheidung für einen der 5Anzugsinnenstoffe.Diese Anordnung der Attribute (von Merkmalen mit vielen Ausprägungen zu Merkmalenmit wenigen Ausprägungen) hat zur Folge, dass eine Person die ersten Entscheidungenals schwierig empfindet, während spätere Entscheidungen (aufgrund abnehmender An-zahl Ausprägungen pro Merkmal) als leichter gelten. Der Entscheidungsprozess in deraufsteigenden Sequenz (n = 39) erfolgte in umgekehrter Reihenfolge; d. h. es sind zu-nächst leichte Entscheidungen (über Merkmale mit wenigen Ausprägungen) und späterschwierige Entscheidungen (über Merkmale mit vielen Ausprägungen) zu treffen.

Jeder Proband erhielt insgesamt sieben Kataloge (für jede Option einen Katalog) nach-einander dargeboten. Den Individuen wurde vorgetäuscht, dass der Hersteller auf Basisstandardisierter Auswertungen des zuvor ausgefüllten Fragebogens Empfehlung abgibt.Diese Empfehlungen wurden für jede Person durch Post-its in den einzelnen Katalogen

Entscheidungsverhalten von Kunden in Mass … 17

kenntlich gemacht und sollten die Funktion von Defaults übernehmen. Tatsächlich stammt(im Sinne einer forschungsökonomischen Durchführung der Studie) die Empfehlung beijeder Option aus einem zuvor festgelegten Set von drei Ausprägungen. Per Zufallsauswahlwurde für jedes Individuum (ohne es jedoch darüber zu informieren) jene optionsspezi-fische Ausprägung bestimmt, die die Empfehlung und damit den Default darstellt. Es istzu betonen, dass die Unabhängigkeit der Auswahlentscheidungen nicht gewährleistet ist,was eine Limitation der Studie darstellt.

Ergebnisse: Es zeigt sich ein Muster der Default-Akzeptanz in Abhängigkeit der experi-mentellen Kondition (Levav et al. 2010). Dabei fällt auf, dass in der absteigenden Sequenz(von schwierigen Entscheidungen zu leichten Entscheidungen) die Default-Wahlhäufigkeitim Entscheidungsprozess deutlich ansteigt. In der aufsteigenden Sequenz zeigt sich hin-gegen über den Entscheidungsprozess eine stabile relative Präferenz für den Anker. Of-fenbar hängt die Wirkung des Defaults auf das individuelle Entscheidungsverhalten vomAusmaß mental verfügbarer Ressourcen ab, die Individuen für die Entscheidungsfindungbenötigen. Dieser Befund wird besonders deutlich, sofern man das Verhalten bei relativeinfachen Entscheidungen mit nur wenigen Auswahloptionen (z. B. über den Anzugsin-nenstoff) betrachtet. Bei diesen Entscheidungen benötigen Individuen allen Erkenntnissenzufolge kaum mentale Ressourcen, um zu einer optimalen Auswahl zu gelangen. Aller-dings tun sich die mit einer absteigenden Sequenz konfrontierten Probanden selbst beieiner relativ einfachen Entscheidung etwa über den Innenstoff des Anzuges mit nur 5 Al-ternativen schwer und erleichtern als Folge zu 53 % ihre Entscheidung durch die Wahl desDefaults. Bei Personen, deren mentale Ressourcen unverbraucht sind, beträgt die prozen-tuale Default-Wahlhäufigkeit beim Anzugsinnenstoff hingegen nur 28 %. Selbst die letztekomplexe Entscheidung über den Anzugsaußenstoff mit 100 Alternativen bereitet jenenProbanden, die Schritt für Schritt an den ansteigenden Schwierigkeitsgrad der Entschei-dungen herangeführt wurden, kaum Probleme; lediglich 26 % akzeptieren die vorgegebeneDefault-Option.

Ein t-Test für zwei unabhängige Stichproben bestätigt im Hinblick auf die kumulierteDefault-Wahlhäufigkeit über alle 6 Entscheidungen Hypothese 1: Probanden in der abstei-genden Sequenz wählen im gesamten Entscheidungsverlauf deutlich häufiger die vorge-gebene Default-Option (MAbsteigend = 2,30) als Individuen in der aufsteigenden Sequenz(MAufsteigend = 1,49, t(71) = 2,76, p = 0,007).

Die identischen Attribute führen offenbar in Abhängigkeit der Reihenfolge ihrer Prä-sentation zu einem unterschiedlichen Entscheidungsverhalten. Dieser Befund steht imWiderspruch zu der Vorstellung, dass die Dynamik in sequenziellen Entscheidungen le-diglich im „Lernen“ einer kontextspezifischen Heuristik besteht. Würden die Probandendurch die Wiederholung von Entscheidungen nur die Faustregel „folge der empfohlenenOption“ adaptieren, sollte sich kein Unterschied in der Anzahl der gewählten Defaults inAbhängigkeit der dargebotenen Reihenfolge ergeben. Vielmehr sprechen die erzielten Er-gebnisse dafür, dass der Erschöpfungsmechanismus die Dynamik bzw. die wechselseitigeAbhängigkeit zwischen Entscheidungen reguliert.

18 J. K. Stefanides et al.

3.3 Studie 2

Ablauf: Der Fokus dieser Studie gilt einer Analyse des Entscheidungsverhaltens in derfinalen, von der manipulierten Sequenz unabhängigen Entscheidung. Hier ist zu klären,inwieweit das Verhalten bei dieser Entscheidung durch das Lernen einer kontextspezi-fischen Heuristik oder aber durch den Grad der mentalen Erschöpfung erklärt werdenkann (Hypothesen 2a/2b und 3a/3b). Die Daten hierzu wurden über das Internet erhoben;85 männliche und 139 weibliche Probanden eines nicht-kommerziellen Panels im Alterzwischen 20 und 65 Jahren nahmen an der Untersuchung teil. Die Individuen wurden perEmail mit einem Link zur Studie mit dem Titel „Untersuchung individueller Präferenzenfür Wellness-Angebote eines Luxushotels“ eingeladen. Um den Realitätsbezug der Studiezu gewährleisten, passte man das gesamte Layout der Online-Befragung an die Websi-te eines typischen Wellness-Hotels an. Jeder Teilnehmer wurde gebeten, ein Wellness-Wochenende zusammenzustellen, das seinen persönlichen Präferenzen entspricht. DerEntscheidungsprozess hatte auch in dieser Studie reale Konsequenzen für die Teilnehmer;allen Probanden wurde zu Beginn der Studie mitgeteilt, dass sie die Chance haben, dasvon ihnen ausgewählte Wochenende für zwei Personen im Wert von 1.600 € in einemSchweizer Wellness-Hotel zu gewinnen.

Nach einer Instruktion wies man jeden Probanden per Zufall einer der beiden Kondi-tionen zu. Die experimentelle Manipulation bestand in der Variation der Reihenfolge von 8aufeinanderfolgenden Entscheidungen: Massage (36 Auswahloptionen), Gesichtsbehand-lung (27), Stimmungsbad (25), Sauna (20), Körperpeeling (15), Körperpackung (8), Aro-matherapie (6) sowie Wellness-Küche (4). Personen in der absteigenden Sequenz (n = 116)wurden zu Beginn mit einer komplexen Auswahl zwischen 36 verschiedenen Massagenkonfrontiert und beendeten die manipulierte Sequenz mit einer relativ einfachen Entschei-dung zum Ernährungsprogramm mit nur 4 Auswahloptionen. Der Entscheidungsprozessin der aufsteigenden Sequenz (n = 108) erfolgte entsprechend in umgekehrter Reihenfol-ge. Die finale Entscheidung bildete die Auswahl des Sport-Programms mit 9 möglichenAlternativen. Diese Zielentscheidung wurde in beiden Konditionen auf der letzten Aus-wahlstufe erfasst und verkörpert eine von der experimentellen Manipulation unabhängigeEntscheidung. Jede Entscheidungsstufe präsentierte man auf einer separaten Seite mit ei-nem kurzen Einleitungstext über den Zweck der jeweiligen Behandlung bzw. Anwendung.Um die wahrgenommene Qualität der einzelnen Leistungen konstant zu halten, folgtendie Beschreibungen sämtlicher Auswahloptionen einem standardisierten Format mit demNamen der jeweiligen Auswahloption sowie eine einzeilige Erläuterung. Auf die Angabenzu den Preisen wurde verzichtet, da diese Informationen einen bedeutsamen Anker im Ent-scheidungsprozess bilden und folglich mit vorgegebenen Defaults konfundieren könnten.

Die als Default markierte Option auf jeder Entscheidungsstufe wurde als Empfeh-lung des Hotels mit umfassender Wellness-Erfahrung vorgestellt und mit dem Stichwort„Tipp“ gekennzeichnet. Die einzelnen „Tipps“ zog man in der manipulierten Sequenzzufällig aus einem Set von drei möglichen Alternativen. Bei der von der Manipulationunabhängigen Entscheidung über das Sport-Programm erfolgte eine vollständige Rando-misierung. Die Entscheidungen jedes Individuums bezüglich der einzelnen Attribute undderen Ausprägungen konnten automatisch protokolliert werden (Klick-Protokolle). Ausden Klicks ließen sich sowohl die Distanzen zum Default als auch die Dauer des Konfigu-

Entscheidungsverhalten von Kunden in Mass … 19

rationsvorgangs erfassen. Ein möglicher Einwand gegen die bislang erzielten Ergebnissekönnte darin liegen, dass Kunden bei realen Kaufentscheidungen ein höheres Involvement(und damit höhere Motivation zur Informationsverarbeitung) aufweisen als bei Entschei-dungen, in denen zwar eine Chance auf den Erhalt der ausgewählten Konfiguration besteht,jedoch keine Gewissheit. Um die externe Validität der Befunde zu untersuchen, wurde da-her in der zweiten Studie mittels der etablierten Itembatterie von Van Trijp et al. (1996, S.285 ff.) eine Involvementmessung vorgenommen. Sollte diese Variable einen Einfluss aufdie beobachteten Effekte haben, wäre die externe Validität in Frage zu stellen.

Ergebnisse: Ein Blick auf die Zeit, die die Teilnehmer für die Konfiguration desWellness-Pakets benötigten, offenbart, dass die Motivation zur Durchführung des Online-Experimentes offensichtlich bei einigen Probanden lediglich durch die Chance auf den at-traktiven Gewinn begründet werden kann. Eine Bearbeitungszeit von weniger als 2,45 minbei einer durchschnittlichen Bearbeitungszeit von 9,83 min legt nahe, dass in dieser Zeitnicht einmal die verfügbaren Informationen gelesen werden konnten. Um systematischeVerzerrungen der Ergebnisse aufgrund von mangelnder Motivation zu vermeiden, erfolgteeine Bereinigung der Stichprobe um die 10 % schnellsten „Durchklicker“ (durchschnitt-liche Bearbeitungszeit <2,45 min). Die Analyse basiert auf einem Datensatz von 224 In-dividuen (116 in der absteigenden Sequenz und 108 in der aufsteigenden Sequenz). EineSensitivitätsanalyse mit einer Stichprobenreduktion um 8 bzw. 12 % der Schnellsten führtezu ähnlichen Ergebnissen.

Ein t-Test für zwei unabhängige Stichproben zeigt im Hinblick auf die kumulierteDefault-Wahlhäufigkeit, dass Probanden in der absteigenden Sequenz über den gesam-ten Entscheidungsprozess (neun Entscheidungen) signifikant häufiger den Default wäh-len (MAbsteigend = 2,54) als Probanden in der aufsteigenden Sequenz (MAufsteigend = 2,18,t(222) = 1,61, p = 0,05, einseitige Testung2).

Der Fokus dieser Studie geht jedoch über die Replikation der in der Anzugsstudieerzielten Resultate hinaus und richtet sich auf die Zielentscheidung „Sport-Programm“,die Probanden in beiden experimentellen Bedingungen an letzter Position präsentiertwurde. Hier ist zu untersuchen, inwieweit das Entscheidungsverhalten in dieser von derReihenfolge der Attribute unabhängigen Entscheidung über das Lernen der Heuristik „fol-ge der vorgegebenen Option“ (Theorien der kontextspezifischen Entscheidungsheuristik)oder aber über den Grad der mentalen Erschöpfung (Theorien der Ermüdung individuellerSelbstkontrolle) erklärt werden kann. Sofern Personen lediglich eine Heuristik derDefault-Wahl erlernen, sollte die Zielentscheidung unabhängig von der Kondition durchdie Anzahl der zuvor gewählten Defaults prognostiziert werden können (Hypothese 2a).Kommt hingegen die mentale Ermüdung als erklärende Größe in Betracht, sollte sich nurin der Sequenz absteigenden Schwierigkeitsgrads eine zunehmende Präferenz für denSport-Default in Abhängigkeit der Anzahl der zuvor getätigten Default-Entscheidungenzeigen (Hypothese 2b).

Die Wahl für bzw. gegen den Default bildet eine diskrete „entweder oder“-Entsch-eidung. Der empirische Test der konkurrierenden Hypothesen 2a und 2b basiert daher auf

20 J. K. Stefanides et al.

einem binären logistischen Regressionsmodell mit der folgenden Schätzgleichung:

Pr(Sport-Default) = α + β1Reihenfolge + β2Kumulierte Default-Wahlhäufigkeit

+ β3Reihenfolge ∗ Kumulierte Default-Wahlhäufigkeit + e (1)

Mit:Pr(Sport-Default) = Zielentscheidungen der einzelnen Individuen mit 0 = Nicht-Wahl

des Defaults und 1 = Wahl des Defaults.

Reihenfolge = Indikatorkodierte Dummy-Variable mit 0 = absteigende Sequenzund 1 = aufsteigende Sequenz.

Kumulierte = Summe aller Default-Entscheidungen vor der Zielentscheidung„Sport-Default-Wahlhäufigkeit Programm“ im Wertebereich 0(kein Default gewählt) bis 8 (maximale Anzahl Defaults gewählt).

Erweist sich der Haupteffekt „kumulierte Default-Wahlhäufigkeit“ als statistisch signi-fikant, übt die Anzahl der gewählten Defaults als Maß für die Erschöpfung in Ab-hängigkeit der Reihenfolge der präsentierten Attribute einen unterschiedlichen Einflussauf die Default-Wahlwahrscheinlichkeit beim Sport-Programm aus. Da das logistischeRegressionsmodell einen Interaktionsterm enthält (Reihenfolge × kumulierte Default-Wahlhäufigkeit), wurde im Sinne der besseren Interpretation der kontinuierliche Prädiktor„kumulierte Default-Wahlhäufigkeit“ am Stichprobenmittelwert (M = 2,2) zentriert.3

Die Erklärungskraft des Modells beträgt nach McFadden 0,082 (NagelkerkeR2 = 0,120; Cox-Snell R2 = 0,071); die geschätzte Varianzaufklärung von 12,40 % er-weist sich als signifikant (Likelihood-Ratio-χ2 = 16,52 bei 3 Freiheitsgraden). Die Datendes Modells zeigen keine Hinweise auf Multikollinearität (die VIF-Werte aller Prädiktorenim Modell bewegen sich weit unter dem kritischen Wert von 10, vgl. Chatterjee und Price1977, S. 182).4

Die Anzahl der gewählten Defaults als Maß für die Erschöpfung übt einen positi-ven Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit zur Wahl des Defaults beim Sport-Programmaus. Probanden, die eine absteigende Sequenz durchlaufen, entscheiden sich umso häu-figer für den Sport-Default, je mehr Defaults sie in vorherigen Entscheidungen wählten(β2 = 0,475, z(224) = 3,42, p < 0,001). Würde das Erlernen einer Heuristik das Wahl-verhalten entsprechend Hypothese 2a erklären, sollte lediglich die Häufigkeit der zuvorgewählten Defaults das Entscheidungsverhalten bei der Zieloption erklären, nicht jedochdie Reihenfolge der zuvor präsentierten Optionen. Entscheidend für die vorliegende Un-tersuchung ist daher der Befund, dass dieser Haupteffekt durch eine deutlich von Nullabweichende Interaktion (Reihenfolge × kumulierte Default-Wahlhäufigkeit) qualifiziertwurde (β3 = −0,760, z(224) = −2,87, p = 0,004). Hypothese 2a lässt sich somit nichtbestätigen, während das Vorliegen der Interaktion für Hypothese 2b spricht. Eine Umko-dierung der Dummy-Variable „Reihenfolge“ (0 = aufsteigende Sequenz; 1 = absteigendeSequenz) erlaubt eine Aussage über den Einfluss der kumulierten Default-Wahlhäufigkeitauf das Entscheidungsverhalten in der aufsteigenden Sequenz (vgl.Aiken et al. 1991). Hiergeht von der Anzahl vorheriger Default-Entscheidungen kein Effekt auf die Wahrschein-lichkeit der Default-Wahl bei der Sportentscheidung aus (β2 = −0,285, z(224) = −1,27,p = 0,206). Dieser Vergleich stützt den postulierten Zusammenhang in Hypothese 2b.

Entscheidungsverhalten von Kunden in Mass … 21

0,0

0,1

0,2

0,3

0,4

0,5

0,6

0,7

0,8

0,9

1,0

Pr(S

port-

Def

ault)

0 1 2 3 4 5 6 7

Kumulierte Default-Wahlhäuf igkeit

Geschätzte Wahrscheinlichkeit der Default-Wahl in Zielentscheidung „Sport-Programm“ nach kumulierter Default-Wahlhäufigkeit und Reihenfolge

Absteigende SequenzAufsteigende Sequenz

Abb. 1: Geschätzte Wahrscheinlichkeit der Default-Wahl in der finalen Zielentscheidung „Sport-Programm“in Abhängigkeit der kumulierten Default-Wahlhäufigkeit sowie der Reihenfolge der präsentierten Attributein der Wellness-Studie. Hypothetisch sind in der Entscheidungssequenz 8 Default-Entscheidungen möglich;im Experiment lag der Wertebereich kumulierter Default-Wahlhäufigkeit zwischen 0 bis 7. Abgebildet sinddie geschätzten Werte der Default-Wahl in der finalen Zielentscheidung „Sport-Programm“ nach kumulierterDefault-Wahlhäufigkeit und Reihenfolge der Attribute. Die tatsächlichen relativen Häufigkeiten sind schema-tisch identisch. Aufgrund einer zu geringen Stichprobengröße pro Entscheidungsstufe wird auf eine Darstellungverzichtet

Die Reihenfolge erweist sich als nicht statistisch signifikant, d. h. die Wahrscheinlichkeitsich für den Sport-Default zu entscheiden, ist keine Funktion der absteigenden versus auf-steigenden Sequenz bei durchschnittlicher Default-Wahlhäufigkeit im Entscheidungsver-lauf (β1 = −0,371, z(224) = −0,89, p = 0,374). Das negativeVorzeichen weist jedoch dar-auf hin, dass Probanden bei durchschnittlicher kumulierter Default-Wahlhäufigkeit in deraufsteigenden Sequenz eine geringere Tendenz zur Default-Wahl zeigen als Personen in derabsteigenden Sequenz. Abbildung 1 stellt die geschätzte Wahrscheinlichkeit der Default-Wahl beim Sport-Programm in Abhängigkeit der kumulierten Default-Wahlhäufigkeit undder Reihenfolge der präsentierten Attribute dar.

Die Grafik veranschaulicht dieWirkung der Ermüdung auf das Entscheidungsverhaltenin einer von der Reihenfolge der präsentierten Attribute unabhängigen Entscheidung. Jehäufiger sich Individuen in der absteigenden Sequenz für den Default entscheiden, d. h. jestärker die mentale Ermüdung ist, desto höher ist die geschätzte Wahrscheinlichkeit in derZielentscheidung, den Default zu wählen. In der aufsteigenden Sequenz hat die Anzahl derDefaults in vorherigen Entscheidungen dagegen keinen Einfluss auf das Entscheidungs-verhalten. Aus dem negativen Vorzeichen der Interaktion und Abb. 1 ist sogar ein negativerTrend zu entnehmen. Offenbar spielt Ermüdung in einer Sequenz, in der Individuen lang-

22 J. K. Stefanides et al.

sam an schwierige Entscheidungen herangeführt werden, keine Rolle für die Präferenzbil-dung. In einer absteigenden Sequenz dagegen kann das tatsächliche Entscheidungsverhal-ten für eine von der experimentellen Manipulation unabhängige Entscheidung vorherge-sagt werden. Dieser Effekt bleibt auch dann bestehen, wenn das Produktinvolvement oderdas Geschlecht als weitere Kontrollvariablen in das Modell aufgenommen werden. Diedrei Items zur Erfassung der Kontrollvariablen „Involvement“ wurden durch Mittelwerts-bildung zu einem Index aggregiert (Cronbach’s α = 0,87). Die Analyse zeigt weder einensystematischen Einfluss des Geschlechts (β = −0,030, z(224) = −0,07, p = 0,945) nochder Höhe des Involvements auf das Entscheidungsverhalten (β = −0,126, z(224) = −0,87,p = 0,386). Hoch involvierte Probanden weisen offenbar dasselbe Maß an mentaler Er-schöpfung auf wie niedrig involvierte Nachfrager, was für die externeValidität der Befundespricht.

Um die Bedeutung des Defaults als Referenzpunkt umfänglich zu untersuchen, sollnicht nur die Anzahl der Entscheidungen für bzw. gegen den Default in der Zielentschei-dung betrachtet werden. Vielmehr interessiert auch, inwieweit das Auswahlverhalten „inder Nähe“ des Defaults in der unabhängigen Zielentscheidung über die kumulierte Default-Wahlhäufigkeit als Maß für mentale Erschöpfung antizipiert werden kann. Hypothese 3bpostuliert in diesem Zusammenhang in der absteigenden Sequenz eine positive Beziehungzwischen der kumulierten Default-Wahlhäufigkeit und der Auswahl von Optionen „in derNähe“ des Defaults. Die Hypothese lässt sich mit der folgenden linearen Regressionsglei-chung überprüfen:

(Distanz Sport-Default) = α + β1Reihenfolge + β2Kumulierte Default-Wahlhäufigkeit

+ β3Reihenfolge ∗ Kumulierte Default-Wahlhäufigkeit + e(2)

Mit:Distanz Sport-Default = Distanz gewählter Option zum Default der einzelnen Individuen

in der Ziel-entscheidung „Sport-Programm“ im Werteberiech 0(Wahl des Defaults) bis 8 (maximale Distanz zum Default).

Reihenfolge = Indikatorkodierte Dummy-Variable mit 0 = absteigendeSequenz und 1 = aufsteigende Sequenz.

Kumulierte = Summe aller Default-Entscheidungen vor der Zielentscheidung„Sport-Default-Wahlhäufigkeit Programm“ im Wertebereich 0(kein Default gewählt) bis 8 (maximale Anzahl Defaultsgewählt).

Die Distanz zum Sport-Default zSportj wurde als Absolutwert der Differenz der gewähltenOption eSportj zum Default dSport operationalisiert und liegt im Wertebereich 0 (Wahl desDefault) bis 8 (maximale Distanz zum Default):

zSportj = |eSportj − dSport| (3)

Ein Beispiel verdeutlicht dieses Distanzmaß: Entscheidet sich ein Individuum j bei derSportentscheidung mit insgesamt 9 Auswahloptionen für eine Option auf Position 1 und

Entscheidungsverhalten von Kunden in Mass … 23

0

1

2

3

4

5

6

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Dis

tanz

Spo

rt-D

efau

lt

0 1 2 3 4 5 6 7

Kumulierte Default-Wahlhäufigkeit

Geschätzte Distanz der Wahl „in der Nähe“ des Defaults in Zielentscheidung„Sport-Programm“ nach kumulierter Default-Wahlhäufigkeit und Reihenfolge

Absteigende SequenzAufsteigende Sequenz

Abb. 2: Geschätzte Distanz der Wahl einer Option „in der Nähe“ des Defaults in der finalen Zielentscheidung„Sport-Programm“ in Abhängigkeit der kumulierten Default-Wahlhäufigkeit sowie der Reihenfolge der präsen-tierten Attribute in der Wellness-Studie. Abgebildet ist die geschätzte Distanzeiner Wahl „in der Nähe“ des Sport-Defaults nach kumulierter Wahlhäufigkeit sowie Reihenfolge der Attribute. Die tatsächlichen durchschnittlichenDistanzen sind schematisch identisch. Aufgrund einer zu geringen Stichprobengröße pro Entscheidungsstufewird auf eine Darstellung verzichtet

liegt der Default auf Position 9, so ergibt sich für j eine maximale Distanz zum Defaultvon 8; entscheidet sich j hingegen für eine Option auf Position 5 und der Default liegt aufPosition 7, so beträgt die Distanz zum Default für j 2.5

Zudem ging der Faktor „Reihenfolge“ als dummykodierte Variable in das Modellein (0 = absteigende Sequenz; 1 = aufsteigende Sequenz), und die kumulierte Default-Wahlhäufigkeit wurde wiederum am Stichprobenmittelwert (M = 2,2) zentriert. Die Er-gebnisse zeigen, dass die Tendenz einer Auswahl „in der Nähe“ des Defaults in der abstei-genden Sequenz umso stärker ist, je mehr Defaults in vorherigen Entscheidungen gewähltwurden (β2 = −0,267, t(224) = −2,13, p = 0,035). Dieser Haupteffekt wurde durch ei-ne signifikante Interaktion (Reihenfolge x kumulierte Default-Wahlhäufigkeit) qualifiziert(β3 = 0,532, t(224) = 2,75, p = 0,006). Wiederum sprechen die Ergebnisse gegen Hypo-these H3a (das Erlernen einer Heuristik) und für Hypothese H3b (die Erschöpfung). DasMuster der Interaktion ist in Abb. 2 dargestellt.

Die Abbildung verdeutlicht die Funktion des Defaults als Orientierungsanker für Kun-den, deren mentale Ressourcen aufgrund von mehreren aufeinanderfolgenden Entschei-dungen verbraucht sind. Je häufiger sich Individuen in der absteigenden Sequenz für denDefault entscheiden, d. h. je höher der Grad der mentalen Ermüdung ist, desto stärkerist die Bedeutung des Defaults als Referenzpunkt. In der aufsteigenden Sequenz hat dieAnzahl der Defaults in vorherigen Entscheidungen dagegen keinen Einfluss auf das Ent-

24 J. K. Stefanides et al.

scheidungsverhalten. Probanden neigen eher dazu, in der finalen Entscheidung Optionenmit einer größeren Distanz zum Default zu präferieren. Dieser empirische Befund stütztHypothese 3b.

4 Implikationen für Wissenschaft und Praxis

Diese Arbeit zielte darauf ab, die Wirkung der Reihenfolge, in der man schwierige undleichte Entscheidungen darbietet, auf die Intensität der Default-Wahl zu untersuchen. Inzwei Studien zeigte sich, dass die Beschaffenheit der Sequenz (von schwierigen Entschei-dungen zu leichten oder umgekehrt) die Wahl des Defaults entlang des Entscheidungspro-zesses deutlich beeinflusst und auch einen Effekt auf die Default-Wahl in einer Zielent-scheidung (der letzten Entscheidung einer Sequenz) ausübt. Hieraus ergeben sich prakti-sche Implikationen für die Gestaltung von Mass Customization-Systemen und Hinweisefür ein tieferes Verständnis über das Verhalten von Individuen in Entscheidungssequenzen.

Theoretische Implikationen: Offenbar betrachten Kunden die von Unternehmen präsen-tierten Defaults nicht nur als „gute Wahl“ aufgrund von „endorsement“, „laziness“ oder„loss aversion“, sondern weil dieseVorgaben als Hilfestellung fungieren, um den Entschei-dungsprozess zu bewältigen. Müssen Individuen eine Reihe von bewussten Entscheidun-gen treffen, tritt Ermüdung ein mit der Folge einer bevorzugten Wahl des Defaults. Folglichlässt sich neben den bereits postulierten Determinanten der Entscheidung für eine Vorgabe(„endorsement“, „laziness“, „loss aversion“) insbesondere in sequenziellen Entscheidun-gen auch „depletion“ als weiteren Faktor hinzufügen. Zur Verdeutlichung sei angemerkt,dass im Einklang mit der Literatur „laziness“ als generelle „Entscheidungsfaulheit“ gilt,während man unter „depletion“ die kontextbedingte Ermüdung versteht.

Aus der Wellness-Studie geht hervor, dass das Verhalten in einer von der Manipulationder Sequenz unabhängigen Entscheidung über das Ausmaß an Erschöpfung vorhergesagtwerden kann. Je mehr Defaults ein Individuum im Rahmen der Konfiguration wählt (ku-mulierte Default-Wahlhäufigkeit), desto stärker ist die Neigung zur Default-Wahl bzw. zurWahl einer Alternative „in der Nähe“ des Defaults bei der finalen Entscheidung. Da dieserBefund nur in einer Sequenz mit anfänglich schwierigen Entscheidungen auftritt, lässter sich als klares Indiz für die Existenz von „depletion“ in einer Entscheidungssequenzwerten.

Theoretischer Kern dieser Arbeit bildet die Gegenüberstellung zweier alternativer An-sätze zur Erklärung des Verhaltens von Individuen in Entscheidungssequenzen – Kon-textspezifische Entscheidungsheuristik versus Ermüdung der individuellen Selbstkontrol-le. Aufgrund einer systematischen Variation der Schwierigkeit der ersten Entscheidungenin Konfigurationsprozessen lassen sich die beidenAlternativerklärungen testen. Würde dasErlernen einer Entscheidungsheuristik in sequenziellen Entscheidungen wirken, solltenProbanden in beiden Bedingungen (aufsteigende und absteigende Sequenz) die Heuristik„folge der empfohlenen Option“ lernen und in beiden Bedingungen ein ähnliches Ent-scheidungsverhalten zeigen. Die beiden Studien zeigen jedoch, dass sich Unterschiede imEntscheidungsverhalten zwischen den Bedingungen ergeben. Probanden konfrontiert mitanfänglich schwierigen Entscheidungen wählen im gesamten Konfigurationsprozess si-

Entscheidungsverhalten von Kunden in Mass … 25

gnifikant häufiger die zum Default erhobene Merkmalsausprägung oder eine Ausprägung„in der Nähe“ des Default-Ankers als Probanden in der Sequenz mit anfänglich einfachenEntscheidungen. Offenbar ist die Ermüdung der individuellen Selbstkontrolle die zentraleGröße zur Erklärung der Default-Wahl in Entscheidungssequenzen.

Es ist anzumerken, dass „depletion“ die Bereitschaft zu einer zumindest rudimentärenAuseinandersetzung mit dem Angebot voraussetzt. Wenngleich dies im realen Konsumen-tenkontext gegeben ist, wurde es im experimentellen Untersuchungsrahmen durch die Ver-wendung von ausschließlich nominalskalierten Attributen gewährleistet. Nominalskalier-te Attribute (wie z. B. verschiedene Anzugsstoffe oder Gesichtsbehandlungen) „zwingen“den Versuchsteilnehmer, das Angebot zumindest rudimentär zu prüfen. OrdinalskalierteAttribute (z. B. Festplattengröße) dagegen würden es Probanden unter Umständen durchihre Eigenart ermöglichen, die Entscheidung extrem zu simplifizieren (vgl. Gourville undSoman 2005). So könnten die Probanden beispielsweise die Entscheidung auf einen ver-kürzten Suchvorgang nach dem für sie relevanten Preis-/Leistungsverhältnis reduzieren,so dass „depletion“ per se nicht zu erwarten ist.

Im Hinblick auf zukünftige Forschung ist zu konstatieren, dass sich beide präsentier-ten Studien durch sequenzielle Auswahlprozesse bei Produkten mit hoher persönlicherRelevanz auszeichnen. Obgleich diese Prämisse für die meisten kundenindividuellen An-fertigungen zutrifft, ist denkbar, dass Individuen auch mit geringer persönlicher Relevanzkonfigurieren. Beispielsweise finden sich immer mehr Konfiguratoren für Güter des täg-lichen Bedarfs (z. B. Biomüsli bei www.mymuesli.com), oder Personen agieren als Ent-scheidungsagenten für andere Kunden (etwa bei der Buchung einer Reise für Dritte oderbeim Kauf eines Geschenks). In beiden Fällen ist vorstellbar, dass es dem Entscheiderdarauf ankommt, möglichst schnell und einfach durch die Konfiguration zum endgültigenProdukt zu gelangen. Da sich das Involvement nicht als signifikanter Moderator erwiesenhat, erscheint insbesondere die Beantwortung der Frage nach dem Verhalten von Entschei-dungsagenten bedeutsam. Immer mehr Unternehmen (vor allem im B-to-B-Sektor) setzenKonfiguratoren zur Unterstützung der Vertriebs- und Außendienstmitarbeiter ein, die inihrer Agentenrolle den eigentlichen Kunden Produktvorschläge mittels dieser Systemeunterbreiten.

Darüber hinaus sind im Zusammenhang mit der Konfiguration eines individuellenGuts auch Produktkategorien denkbar, die Kunden durch die Möglichkeit des Co-Design-Prozesses einen zusätzlichen Nutzen in Form eines hohen Gefühls von Stolz vermitteln(z. B. technisch komplexe Produkte). Dieser in der Mass Customization Literatur als„pride-of-authorship“ (Franke und Piller 2004, S. 412; Schoder et al. 2006, S. 15; Schreier2006, S. 317) diskutierte Stolzeffekt könnte abschwächend auf den „depletion“-Effekt wir-ken. Im Hinblick auf die Validität der Studienergebnisse sei zu konstatieren, dass zwar inder Literatur Einigkeit über die Wirkung von Defaults als Hilfestellung besteht (Goldsteinet al. 2008; McKenzie und Nelson 2003; McKenzie 2004), deren relativer Einfluss jedochnach Produktkategorie, Attribut und vorgeschlagener Attributstufe variiert. Goldstein et al.(2008) geben in diesem Zusammenhang einen detaillierten Überblick zur Wirkung unter-schiedlicher Defaults unter expliziter Berücksichtigung verschiedener Produktkategorienund Attribute. Zukünftige Forschung zum „depletion“-Effekt sollte ferner die subjektivwahrgenommene relative Wichtigkeit der einzelnen Attribute berücksichtigen. So ist zuvermuten, dass die Tendenz zur Default-Wahl mit der relativen Wichtigkeit eines Attri-

26 J. K. Stefanides et al.

buts abnimmt. Eine explizite Berücksichtigung dieser Variable in den Modellen könnteAufschluss darüber geben, inwieweit „depletion“ den Wunsch nach einer präferenzkonsi-stenten Auswahl bei einer subjektiv wichtigen Entscheidung „überkompensiert“.

Mit Blick auf die methodischen Limitationen der vorliegenden Forschung sind ins-besondere die relativ geringen Gütemaße der statistischen Modelle in der zweiten Studiekritisch. In diesem Zusammenhang ist es wichtig anzumerken, dass das Ziel der bei-den Studien darin bestand, den Effekt einer sehr einfachen Manipulation der Reihenfolgeder Konfiguration ohne Eingriff in die Produktbeschaffenheit auf das Wahlverhalten zuuntersuchen. Hierbei ging es weniger um eine umfassende Erklärung des Entscheidungs-verhaltens, was auf eine vergleichsweise geringe Erklärungskraft der Modelle hindeutet.Eine Messung und Aufnahme weiterer entscheidungsrelevanter Kontrollvariablen (z. B.eindeutige Präferenzen) in die Modelle wäre daher erstrebenswert.

Praktische Implikationen: Hier ist zu betonen, dass die beiden dargebotenen Studiendurch eine sehr hohe externe Validität charakterisiert sind (insbesondere im Vergleich zuanderenArbeiten zu diesem Thema wie etwaAmir und Levav 2008), da sich die Probandenin Entscheidungssequenzen befanden, die nahezu den realen Gegebenheiten entsprachen.Die von den Personen getroffenen Entscheidungen waren zudem mit beachtlichen Kon-sequenzen verbunden (der/die Gewinner(in) erhielt den von ihm/ihr konfigurieren Anzugbzw. das spezifizierte Wellness-Paket), so dass sich aus den erzielten Ergebnissen wichtigeAnhaltspunkte für die Gestaltung von Mass Customization-Systemen ableiten lassen.

Es bleibt zu konstatieren, dass die Ermüdung der Individuen deren Entscheidungsver-halten im Konfigurationsprozess determiniert. Da die Defaults randomisiert wurden (d. h.sie sind unabhängig von den Merkmalen und deren Ausprägungen), spielt die Beschaffen-heit eines Produkts bei der Ermüdung keine Rolle. Befindet sich eine Person im „depletionmode“, ist sie bestrebt, durch die Wahl von Defaults die im Verlauf der Konfiguration alsimmer mühsamer erlebten Entscheidungen über Merkmale und Ausprägungen zu verein-fachen. Will ein Unternehmen sein Mass Customization-Systemen erfolgreich (im Sinneeiner Steigerung von Absatz und Umsatz) gestalten, liegen die folgenden Maßnahmen aufder Hand:

1. Die Bereitschaft der Kunden, die zum Default erhobenen Merkmalsausprägungen zuwählen, lässt sich steigern, sofern zu Beginn der Konfiguration Merkmale mit einer ho-hen Anzahl an Ausprägungen vorgelegt werden. Obgleich bei vielen Erzeugnissen dietechnische Spezifikation die Reihenfolge determiniert, in der über Merkmale und Aus-prägungen zu befinden ist, sind zumindest innerhalb von Bandbreiten Veränderungen inder Sequenz möglich. Ohne Zweifel muss eine Person bei der Konfiguration eines Pkwden Motor vor den Reifen bzw. Felgen bestimmen, weil eine bestimmte PS-Zahl unddie damit verbundene Höchstgeschwindigkeit eine spezifische Gummimischung derReifen erfordert. Allerdings ist bei den meisten Herstellern und Modellen erst spät imKonfigurationsprozess über die Reifen zu entscheiden. In Anbetracht der bei allen Pkw-Modellen beachtlichen Zahl von Reifenmodellen (abhängig vom Modell sind es bis zu15 Varianten), könnte man dieses Merkmal deutlich früher bei der Pkw-Konfigurationpräsentieren.

2. „Depletion“ wurde in den vorliegenden Studien über den Schwierigkeitsgrad der erstenEntscheidungen manipuliert. Allerdings tritt Ermüdung allein schon mit zunehmen-

Entscheidungsverhalten von Kunden in Mass … 27

der Anzahl von Entscheidungen (die konstant schwierig bzw. konstant leicht sind) ein(Vohs et al. 2008). Insofern sollten Merkmale mit besonders profitablen Ausprägun-gen zum Ende des Konfigurationsprozesses präsentiert werden. Einerseits lassen sichbei den zum Default erhobenen Ausprägungen erhebliche Absatz- bzw. Umsatzstei-gerungen erzielen, andererseits befriedigt man das Bedürfnis des Kunden nach einerEntscheidungserleichterung. Eine solche Strategie sollte jedoch nicht ohne eine Prüfungder Konfigurationsabbrüche erfolgen. Erwarten Kunden eine frühzeitige Präsentationprofitabler (und in der Regel bedeutsamer) Optionen, könnte die Gefahr bestehen, Nach-frager zu verlieren, die nicht mehr bereit sind, den gesamten Konfigurationsvorgang zuvollziehen (Herrmann et al. 2007b).

3. Die Wellness-Studie zeigt, dass der Absatz in einer von der Reihenfolge der präsentier-ten Attribute unabhängigen Entscheidung (der Zielentscheidung) durch die kumulierteDefault-Wahlhäufigkeit prognostiziert werden kann. Je mehr Defaults von Anfang angewählt werden, desto höher ist die Default-Wahl bzw. die Wahl einer Ausprägung „inder Nähe“ des Defaults bei der Zielentscheidung. Folglich könnte man Individuen even-tuell über finanzielle Anreize dazu veranlassen, bereits bei den frühen Entscheidungenden Default zu wählen, um dessen Auswahl in späten Entscheidungen zu evozieren.Sind die ertragreichen Merkmalsausprägungen am Ende der Sequenz angeordnet undmit einem Default versehen, könnten sich die möglichen Preisnachlässe zu Beginnauszahlen.

Anmerkungen

1 Die Anzahl der Auswahloptionen stellt eine Facette der Entscheidungsschwierigkeit dar. Darüberhinaus können auch z. B. die Komplexität der Attribute oder das Ausmaß an negativer Korrelationzwischen den einzelnen Ausprägungen eines Attributs wichtige Facetten der Schwierigkeit einerEntscheidung sein. Die Relevanz der einzelnen Facetten variiert nach Erfahrung und persönlichemInvolvement mit dem Produkt. Anknüpfend an die bestehende Forschung (Herrmann et al. 2007a;Novemsky et al. 2007) wird die Schwierigkeit einer Entscheidung in den vorliegenden Studienüber die Zahl der Wahloptionen operationalisiert.

2 Die Testung wurde einseitig durchgeführt, da die Richtung von Hypothese 1 auf Basis der An-zugsstudie bekannt ist.

3 Bei den Logit-Schätzern für „Reihenfolge“ und „kumulierte Default-Wahlhäufigkeit“ handelt essich im Modell mit einem Interaktionsterm (Reihenfolge x kumulierte Default-Wahlhäufigkeit)um bedingte Steigungskoeffizienten, die den Einfluss des betreffenden Prädiktors unter der Be-dingung erfassen, dass alle anderen an der Interaktion beteiligten Prädiktoren den Wert Nullannehmen. Der bedingte Logit-Schätzer für „Reihenfolge“ erfasst somit den Reihenfolgeeffektder aufsteigenden im Vergleich zur absteigenden Sequenz für den Fall, dass Probanden in keinerder vorherigen Entscheidungen den Default wählten. Da dieser Gruppenvergleich nicht sinnvollerscheint, wurde der kontinuierliche Prädiktor „kumulierte Default-Wahlhäufigkeit“ am Stichpro-benmittelwert (M = 2,2) zentriert. Diese lineare Transformation hat zur Folge, dass der bedingteHaupteffekt der Reihenfolge unmittelbar die Differenz der geschätzten Logits zwischen der ab-steigenden und aufsteigenden Sequenz bei durchschnittlicher Default-Wahlhäufigkeit ausdrückt.

28 J. K. Stefanides et al.

4 Die einzelnen VIF-Werte für die drei Prädiktoren lauten:

VIFReihenfolge = 1,01VIFKumulierte Default-Wahlhäufigkeit = 1,74VIFReihenfolge ∗ Kum. Default-Wahlhäufigkeit = 1,73

5 Da bei dieser Operationalisierung die maximal mögliche Distanz von der Position des Defaultsabhängt, bietet es sich an, ein separates Modell zu schätzen, das die mögliche Distanz als Kovariateenthält. Da diese Schätzung zu den gleichen Ergebnissen führt wie das oben dargestellte Modell,lässt sich eine Verzerrung aufgrund der Operationalisierung ausschließen.

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Sequential choice processes in mass customization systems

Abstract: Sequential choice processes are ubiquitous in consumer decision making. In each attributedecision, consumers are often faced with different numbers of options which they must trade off inorder to make the best possible choice. Thereby, complicated high variety choices at the beginningof a choice process produce a larger trade-off conflict and, thus, initially a greater mental depletionthan more simple low variety choices. We examine the strength of mental depletion in sequentialchoices on individuals’ perceived attractiveness of the firm’s recommended default option at a targetchoice. We show that consumers who are confronted with difficult high variety choices early inthe decision sequence followed by low variety choices initially deplete more than consumers whoencounter exactly the same attribute decisions in reverse. As a result, depleted consumers are morelikely to fall prey to the recommended default or some perceptually focal options close to the defaultanchor at target choice succeeding a sequence of decisions.

Keywords: Sequential choice processes · Mass customization · Default · Product configuration


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