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Ellen Kennedy and Angela Adams - Carl Schmitt Und Die Frankfurter Schule

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Carl Schmitt und die "Frankfurter Schule". Deutsche Liberalismuskritik im 20. Jahrhundert Author(s): Ellen Kennedy and Angela Adams Reviewed work(s): Source: Geschichte und Gesellschaft, 12. Jahrg., H. 3, Wissenschaften im Nationalsozialismus (1986), pp. 380-419 Published by: Vandenhoeck & Ruprecht (GmbH & Co. KG) Stable URL: http://www.jstor.org/stable/40185387 . Accessed: 30/04/2012 17:57 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. Vandenhoeck & Ruprecht (GmbH & Co. KG) is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Geschichte und Gesellschaft. http://www.jstor.org
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Carl Schmitt und die "Frankfurter Schule". Deutsche Liberalismuskritik im 20. JahrhundertAuthor(s): Ellen Kennedy and Angela AdamsReviewed work(s):Source: Geschichte und Gesellschaft, 12. Jahrg., H. 3, Wissenschaften im Nationalsozialismus(1986), pp. 380-419Published by: Vandenhoeck & Ruprecht (GmbH & Co. KG)Stable URL: http://www.jstor.org/stable/40185387 .Accessed: 30/04/2012 17:57

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DISKUSSIONSFORUM

Carl Schmitt und die „Frankfurter Schule". Deutsche Liberalismuskritik im 20. Jahrhundert*

von Ellen Kennedy

Carl Schmitt war der einflußreichste deutsche Staatsrechtslehrer dieses Jahrhunderts, daran kann kaum ein Zweifel bestehen. Die Kontroversen um ihn entzünden sich weniger an der Qualität und dem Scharfsinn seines Werkes als an dessen Konsequenzen. Ganz allgemein stellt er auch eine un- bequeme Herausforderung für die Ideengeschichte dar, doch ist sein Fall für die Linke weit quälender als für jede andere Gruppierung deutscher In- tellektueller. Denn im Gegensatz zu ihren italienischen Genossen, die ganz unverhohlen Anleihen bei ihm machen, ist und bleibt Schmitt für die deut- sche Linke eine Quelle, aus der man nur mit schlechtem Gewissen schöpft. 1 Das Problem ist offenkundig: Mit seiner Verteidigung des „Preußen- schlags" von 1932 begann das Urteil über ihn Formen anzunehmen, die sich nach seiner Kollaboration mit den Nazis seit 1933 verfestigten. Seine Rolle in der deutschen Geschichte war danach zunächst die des Verteidigers der Reaktion und eines Theoretikers des autoritären, später die des Kronjuri- sten des totalitären Staats. Angesichts dieser Interpretation ist Schmitts Be- liebtheit bei Autoren und Kommentatoren auf der anderen Seite des politi- schen Spektrums der Weimarer Republik weitgehend in Vergessenheit ge-

* Übersetzt von Angela Adams. 1 Beispiele sind die Arbeiten der folgenden Wissenschaftler: A. Bolaffi, A. Baldassarre,

M. Luciani, M. Tronti, M. Cacciari, G. Marramao und der Sammelband „La politica olre lo Stato: C. Schmitt, Hg. G. Duso, Venedig 1981. Eine nützliche Bibliographie neuerer ita- lienischer Arbeiten über Schmitt liefert A. Campi, Sulla Fortuna Italiana di Carl Schmitt, in: La Nottola. Revista quadrimestrale di filosofia 3. 1984, S. 55-78. Die intensivste Phase der Analyse Schmitts begann 1973 und nahm von Jahr zu Jahr noch zu; 1972 erschienen nur 2 kurze Aufsätze, bereits im darauffolgenden Jahr waren es 1 0, 1 98 1 waren es 42, 1 982 dann 13, 1983 nochmal 17 und 1984 schließlich 26. Außerdem erschienen zwei wichtige Bücher über Schmitt: P. P. Portinaro, La crisi dello jus publicum europeaum. Saggio su C. Schmitt, Mailand 1982 und C. Bonvecchio, Decisionismo. La dottrine politica di C. Schmitt, Mailand 1984. Bonevecchio ist einer der Herausgeber der gesammelten Werke von Marx und Engels auf italienisch. Zur Rezeption Schmitts in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg vgl. J. W. Bendersky, C. Schmitt, Theorist forthe Reich, Princeton 1983, besonders den Epilogue und E. Kennedy, C. Schmitt in West German Perspective, in: West European Politics 7. 1984, S. 120-27. - Eine frühere Fassung dieses Aufsatzes wurde beim Symposium der Humboldt-Stiftung „Die Frankfurter Schule und die Folgen" im Dezember 1984 vorgetragen. Ich möchte der Stiftung für die Möglichkeit, daran teilzu- nehmen, danken und für die großzügige Unterstützung während der Ausarbeitung dieses Beitrags.

Geschichte und Gesellschaft 12 (1986) S. 380-419 © Vandenhoeck & Ruprecht 1986 ISSN 0340-613 X

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raten, und der Einfluß seines Antiliberalismus auf die Zeitgenossen wird leicht durch seinen späteren Ruf als faschistischer Denker verdeckt - und zwar trotz Jürgen Habermas' Verwunderung über „den starken Einfluß von Carl Schmitt sogar auf die Linke".2 Wenn die geistigen Erben Schmitts so geradlinig auf ihn zurückführbar wä- ren, wie es diese Skizze impliziert, gäbe es überhaupt kein Problem. Die Aufmerksamkeit, die Jürgen Habermas Schmitt zollt, und bereits Schmitts Einfluß auf die ältere Generation der Frankfurter Schule,3 führen jedoch zu einem vielschichtigeren Bild. Einerseits kann man von einer Rezeption sei- nes Denkens bei Habermas und früher bereits bei Walter Benjamin und Otto Kirchheimer sprechen; andererseits teilte keiner von ihnen Schmitts politische Ziele oder Wertvorstellungen. Es waren vielmehr die gemein- same Abneigung gegenüber dem Liberalismus und die Skepsis gegenüber liberaler Demokratie - als negative Gemeinsamkeiten -, die das Interesse dieser Theoretiker an Schmitts politischer und juristischer Theorie weck- ten. Der allen gemeinsame Antiliberalismus besagt jedoch noch nicht viel für Art und Folgen der Rezeption, besonders dann nicht, wenn, wie in diesem Fall, die Wertvorstellungen so weit auseinanderklaffen. Betrachtet man nicht allein letzte Werte und betont damit die unterschiedlichen Prioritäten von Schmitt und den anderen hier behandelten Theoretikern, eröffnet sich eine ganz andere Perspektive. Obwohl die Herausgeber eines neueren englischen Sammelbandes die Ur- sprünge der Kritischen Theorie an „a series of ideas" festmachen, „which emerged in Germany in the 1920s and '30s", hat die umfangreiche Litera- tur über die „Frankfurter Schule" in all ihren Phasen noch kaum versucht, die zukunftsträchtigen Ideen der Arbeiten dieser Schule über Adorno und Horkheimer hinaus zurückzu verfolgen.4 Da das zentrale Interesse von Po- litik- und Sozialwissenschaftlern an der „Kritischen Theorie" in deren An-

spruch begründet liegt, sie könne für die Analyse von Staat und Gesell- schaft einen objektiven Ausgangspunkt liefern, stellt die fehlende Beschäf- tigung mit der Diskussion über Staat und Politik in der Weimarer Republik

2 J. Habermas, Psychischer Thermidor u. die Wiedergeburt der Rebellischen Subjektivität, in: ders., Philosophisch-politische Profile, Frankfurt 1984, S. 334.

3 Zum Begriff „Frankfurter Schule" s. M. Jay, The Dialectical Imagination: A History of the Frankfurt School and the Institute of Social Research 1923-1950, London 1973, S. xv.

4 D. Held u. J. B. Thompson, Habermas: Critical Debates, London 1982, Zitat S. 2. Die be- sten Arbeiten über Schmitt und die deutsche Linke stammen von Volker Neumann und Alfons Söllner. V. Neumann, Verfassungstheorien politischer Antipoden: O. Kirchheimer u. C. Schmitt, in: Kritische Justiz 14. 1981, S. 235-54; ders., Kompromiß oder Entschei-

dung? Zur Rezeption der Theorie C. Schmitts in den Weimarer Arbeiten F. L. Neumanns, in: J. Pereis (Hg.), Recht, Demokratie u. Kapitalismus. Aktualität u. Probleme der Theorie F. L. Neumanns, Baden-Baden 1984, S. 65-78; ders., Carl Schmitt u. die Linke, in: Die Zeit Nr. 28, 8. 7. 1983, S. 32. A. Söllner, Linke Schüler der konservativen Revolution? Zur

politischen Theorie von Neumann, Kirchheimer u. Marcuse am Ende der Weimarer Re-

publik, in: Leviathan u. Parlamentarismus. Eine Kritik an J. Habermas, Stuttgart 1973.

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in der einschlägigen Literatur ein besonderes Defizit dar. Man kann diese Diskussionen nur um den Preis historischer Verzerrung ignorieren, ja viel- leicht sogar um den Preis, die Fehler und Folgen dieser Theorie mißzuver- stehen. Dieser Beitrag wird hier beide Fragen diskutieren. Zunächst soll versucht werden, Richtung und Ausmaß der Rezeption Schmitts im Werk von drei Theoretikern zu bestimmen, die in verschiedenen Phasen der Entwicklung der Frankfurter Schule zu ihr gehörten; zweitens soll ein Paradox dieser Rezeption geklärt werden, das ihre Analyse und die ihrer Folgen für die ge- genwärtige Gesellschaftstheorie und politische Theorie blockiert. Haber- mas hat in seinen Bemerkungen zur Schmitt-Bewunderung5 Benjamins be- reits formuliert, daß dieses Paradox im Kern politisch ist: Was hofften ei- nige der prominentesten Mitglieder der führenden deutschen Schule linker Gesellschaftskritik im Werk eines Mannes zu finden, der wie kaum ein an- derer deutscher Intellektueller - mit der einen Ausnahme Heideggers - für die ideologische Zerstörung der Demokratie in der Weimarer Republik verantwortlich gemacht wird? Der Schlüssel für diese Rezeption Schmitts - so lautet die These dieser Ausführungen - war die Übernahme einer spezi- fischen Argumentationsweise, bestimmter Konzepte und einer spezifischen Logik der Thesenbildung durch Kirchheimer und Habermas und weniger ausgeprägt durch Benjamin, trotz der ganz unterschiedlichen expliziten und impliziten Wertvorstellungen dieser Theoretiker. Wenn diese gemeinsame Struktur der Argumentation erst erkannt ist, weicht viel von der Verwunde- rung, die Habermas ausdrückt. Im Schlußteil werden, drittens, einige Ge- danken zu einem anderen Problem zur Diskussion gestellt: Welche Konse- quenzen eine derartige Argumentation für die Standortbestimmung gegen- über dem liberalen Staat und den liberalen Ideen mit sich bringt.

Carl Schmitt: Liberalismus contra Demokratie. Linker Theorie mangelt es nicht an radikalem Antiliberalismus, aber die zwingendste und kohärente- ste Kritik liberaler Institutionen in diesem Jahrhundert wurde von Schmitt

5 „Benjamin, der an Bachofen die Vorwelt entdeckt hat, der Schuler kannte, Klages stu- dierte und schätzte, mit Carl Schmitt korrespondierte, dieser Benjamin konnte als jüdi- scher Intellektueller im Berlin der Zwanziger Jahre dennoch nicht ignorieren, wo seine (und unsere) Feinde standen4'. Habermas bemerkt weiter, dieses politische Bewußtsein habe Benjamin nach einer „materialistischen Antwort" suchen lassen. Vgl. Anm. 19 un- ten. J. Habermas, Bewußtmachende oder rettende Kritik - die Aktualität W. Benjamins, in: S. Unseld (Hg.), Zur Aktualität W. Benjamins, Frankfurt 1972, S. 173-223, Zit. S. 206. Und L. Wiesenthal, Zur Wissenschaftstheorie W. Benjamins, Frankfurt 1973, besonders ihre Schilderung der »Fronten* in der Benjamin Literatur: „Völlig an Benjamins politik- theoretischen Gedanken vorbei geht die Abstemplung Carl Schmitts als ,Feind' Benja- mins. ... Habermas' einfache Aufteilung der intellektuellen Welt in solche, die seine Feinde sind, und solche, die für die Emanzipation eintreten -d. h. in solche, die gegenauf- klärerische Ansichten haben und solche, die für die Aufklärung sprechen -, wird der Viel- falt der Verzweigungen in Benjamins Gedanken nicht gerecht". S. 203.

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in seinen Schriften zur politischen Theorie und Rechtslehre entwickelt. Grundlage und Kern dieser Kritik waren, wie bei einem Großteil der deut- schen Opposition gegen den Liberalismus, literarisch und kulturell.6 In sei- nen Aufsätzen vor 1914 und während des Ersten Weltkrieges zog Schmitt den liberalen Glauben an Fortschritt und Innovation in Zweifel und unter- minierte mit seiner metaphysischen Analyse implizit die Rechtfertigung li- beraler Institutionen und Werte. Wenn Fortschritt und Industrialisierung und die mit ihnen einhergehende soziale und politische Transformation keine erstrebenswerten Ziele waren, unterlagen auch Institutionen, die den Fortschritt förderten oder die im Gefolge der liberalen Gesellschaft ent- standen, der Kritik. In Schattenrisse (1913), Theodor Däublers „Nordlicht" (1916) und Die Buribunken (1918) kritisierte Schmitt bürgerliche Werte, darunter den Fortschrittsglauben und bürgerlichen Geschmack. Diese Schriften waren nur im Sinn einer Kulturkritik auch politisch und bezeugten die Faszination zeitgenössischer Strömungen in Kunst und Literatur für Schmitt. Das Verbindungsglied zwischen diesen frühen Interessen und Schmitts späteren Arbeiten zu Verfassungsrecht und Politik ist seine Schrift Politische Romantik (1919), in der er seine Kulturkritik zu einer Kritik von Diskussion und Vernunft erweiterte und den deutschen Liberalismus mit Politischer Romantik gleichsetzte. In der Gestalt des Adam Müller wurde die bürgerliche Haltung, die Schmitt in seinen früheren Aufsätzen satirisch bloßgestellt hatte, als eine bloße „occasio" dargestellt und die Hauptbe- schäftigung des Romantikers, „ewige Gespräche" zu führen, erschien in Schmitts Analyse des liberalen Parlamentarismus als Diskussion und Un- entschlossenheit. Diese Konzepte prägten Schmitts Urteil über liberales Denken und liberale Institutionen bereits zu diesem Zeitpunkt negativ.7

Das Bürgertum als Subjekt und Schöpfer des Liberalismus erscheint erst in Schmitts Politische Theologie (1922) als politische Klasse und auch dort nur unter dem Einfluß gegenrevolutionärer Denker wie Bonald, de Maistres und Donoso Cortes. Gerade Donoso Cortes' Sicht des liberalen Bürger- tums als unentschlossen und inkonsequent war für Schmitts Beurteilung des Liberalismus wichtig; ebenso wichtig war Lorenz v. Steins Analyse, die den französischen Liberalen von 1848 Unfähigkeit bescheinigte und den Nie-

6 Diese Tradition erläutert F. Stern, The Politics of Cultural Despair. A Study in the Rise of German Ideology, New York 1961.

7 C. Schmitt, Schattenrisse, Berlin 1913 (pseud. „Johannes Negehnus, Mox Doctor" in Zu- sammenarbeit mit Dr. Fritz Eisler); ders., T. Däublers „Nordlicht" - Drei Studien über die Elemente, den Geist u. die Aktualität des Werkes, München 1916; ders., Die Buribunken, in: Summa 4. 1918, S. 89-106. Die Verweise auf Adam Müller und „occasio" in diesem Absatz stammen aus C. Schmitt, Politische Romantik, Berlin 19824, bes. S. 22-26 und

Kap. 2, Die occasionalistische Struktur der Romantik, S. 115-52. Vgl. Schmitt, Die gei- stesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 19795, S. 58 und Kap. 2. Die Prinzipien des Parlamentarismus, S. 41-63.

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dergang des politischen Lebens unter den Liberalen beschrieb.8 Schmitt entwickelte vor diesem ideengeschichtlichen Hintergrund seine Definition von Diskussion und Öffentlichkeit als Prinzipien des Parlamentarismus. Ein weiterer Faktor bei der Herausbildung seiner Beurteilung des Bürger- tums war die philosophisch-historische Beschreibung des Klassenkampfes durch Karl Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest (1848). Durch Marx' Weiterentwicklung der Hegeischen Philosophie, schrieb Schmitt in Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamenta- rismus (1923 u. 1926), wurde aus dem Bürger als einer Figur spitzer litera- rischer Feder (Schmitts eigenes boshaftes Bild in seinen frühen Aufsätzen) eine Figur mit welthistorischer Bedeutung.9 Bis zur Veröffentlichung von Die Diktatur (1921) gibt es nur wenige beiläu- fige Hinweise auf Marx in Schmitts Arbeiten.10 Nach dem Sieg des Bol- schewismus in Rußland und der deutschen Revolution ging er daran, seine zunächst vereinzelte Kritik des bürgerlichen Denkens und Geschmacks zu Elementen von ausschlaggebender Bedeutung für den modernen Staat um- zuformulieren. Die Erfahrung mit Kriegsrecht und Notstandsbestimmun- gen während des Krieges machte Schmitt auf diese Probleme aufmerksam, aber sein Vorwort zur ersten Auflage deutet daraufhin, daß ihm die Bedeu- tung der Diktatur als Staatsform in seiner Zeit erst voll im Kontext der mar- xistischen Kontroverse über dieses Thema bewußt wurde. Die Arbeit an Die Diktatur war im wesentlichen abgeschlossen, als Karl Kautskys Terro- rismus und Kommunismus (1919) unter den Marxisten eine Kontroverse über die Theorie der Diktatur entfachte, und trotz des Untertitels machte Schmitts Diskussion des Themas bei den Anfängen des proletarischen Klas- senkampfes halt.11 Diese politische Bewegung und ihre Ideologie stellten die stärkste Herausforderung des liberalen Staates dar, ihre Theoretiker hatten die politisch überzeugendste Kritik bürgerlicher Theorien der Herr- schaft des Rechts und der Diktatur entwickelt. Die sozialistische Lehre be- wies erstens, daß Diktatur und Demokratie nicht notwendig Gegensätze sein mußten und das Proletariat durch seine Autorisierung der Diktatur im marxistischen Sinn nicht nur die politische Herrschaft der Bourgeoisie, sondern auch den Liberalismus zerstörte. Schmitt übernahm aus dieser Diskussion die Idee, der Liberalismus negiere die Demokratie, weil er die

8 C. Schmitt, Politische Theologie, München 1922 (die Verweise sind aus der 2. Aufl. von

1934). Der „Anhang" zu L. v. Steins, Die sozialistischen u. kommunistischen Bewegun- gen, 1848, Leipzig 1850, beeinflußte Schmitts Interpretation des Liberalismus im Frank- reich dieser Zeit besonders nachhaltig; vgl. Schmitt, Parlamentarismus, S. 37.

9 Schmitt, Parlamentarismus, Kap. 3, Die Diktatur im marxistischen Denken, S. 73 f. 10 Er erwähnt Marx zum ersten Mal in einer Rezension von W. Rathenaus, Kritik der Zeit

(1912), die Schmitt für: Die Rheinlande 22. 1912, S. 323 f. schrieb. Allerdings gibt es keine Anzeichen dafür, daß sich Schmitt zu diesem Zeitpunkt bereits ausführlich mit Marx be-

schäftigt hätte. 1 1 C. Schmitt, Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis

zum proletarischen Klassenkampf, Berlin 19784.

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Anwendung der Diktatur als Mittel zum Zweck (im älteren Sinn der bür- gerlichen Staatslehre) und als legitime Form (im neueren, von Lenin vertre- tenen Sinn) nicht zulasse. Liberale Konzepte konstituierten weder eine praktische noch eine grundsätzliche Beschränkung der demokratischen Gewalt einer Nation, über ihre Verfassung zu entscheiden. Das russische Beispiel zeige, daß demokratische Verfassungen nicht notwendig liberal sein mußten. Aus seinem Verständnis der deutschen und europäischen, insbesondere aber der russischen Zeitgeschichte nach 1917 leitete Schmitt seine Definition von Verfassung als einer „Gesamtentscheidung über Art und Form der politischen Einheit" ab, die in seiner Verfassungslehre von 1928 der Ausgangspunkt für die Kritik des bürgerlichen Rechtsstaates ist. Lenins These, daß die Diktatur des Proletariats die wahre Demokratie sei, und andere politische Ereignisse seiner Zeit beeinflußten ganz wesentlich Schmitts Verständnis von Demokratie als Widerspruch zur liberalen De- mokratie. Diese Idee war die zentrale These in Schmitts Analyse des Par- laments, und noch in seinen letzten Entwicklungsstadien kann Schmitts An- tiliberalismus auf dieses früheste Element zurückgeführt werden. Große Teile seiner Kritik des Bürgertums und des Liberalismus stammten ebenso aus Diskussionen um die Mitte des 19. Jahrhunderts wie Schmitts Definition von Parlament und Liberalismus. Aber er fügte zwei charakteri- stische Punkte hinzu, als er seine Thesen in der Weimarer Republik entwik- kelte; sie sollten bis heute die zentralen formalen Merkmale der deutschen Kritik an liberalen Prinzipien und Institutionen bleiben. 12Der erste war ein Modell liberaler Institutionen in ihrer „klassischen" Form, das er aus ideengeschichtlichen Untersuchungen gewonnen hatte und nun als Maß- stab für zeitgenössische Institutionen heranzog. Diese Methode benutzte er in der Verfassungslehre, ihre bekannteste Anwendung findet sich jedoch in seiner Analyse des Parlamentarismus, wo die Folgen dieses Verfahrens in ihrer ganzen Schärfe sichtbar werden. Nachdem er die Reichweite liberaler Theorie bestimmt und das parlamentarische Regierungssystem durch die Prinzipien Diskussion, Publizität und Öffentlichkeit definiert hatte, kam Schmitt zu dem Schluß, das Parlament als Institution sei im Niedergang be- griffen, seine Prinzipien seien nicht länger glaubwürdig. Dieselbe These vertrat er in Legalität und Legitimität, kam aber im Gegensatz zu seinen Schlußfolgerungen in Parlamentarismus explizit zu dem Ergebnis, der Nie- dergang liberaler Institutionen, ihre Entfernung von den eigenen Grund- sätzen zerstöre ihren Anspruch auf Legitimität.13 Ein zweiter Aspekt seiner Argumentation unterscheidet Schmitts Thesen sowohl von der marxistischen Kritik des Liberalismus als auch von der deut- schen Rechtstheorie seiner Zeit. Die letztere ignorierte die Politik oder in- tegrierte politische Wertvorstellungen (nach Schmitts Ansicht) vielmehr in

12 Vgl. H. Kremendahl, Parlamentarismus u. marxistische Kritik, in: Aus Politik u. Zeitge- schichte 32. 1972, S. 3-30.

13 C. Schmitt, Legalität u. Legitimität, München 1932.

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eine angeblich neutrale Rechtswissenschaft, während er Verfassungsrecht und Rechtswissenschaft mit der politischen Wirklichkeit, mit der sie umgin- gen, konfrontieren wollte.14 Erstere besaß keine Theorie des Staates, ob- wohl die marxistische Theorie eine Gesellschaftskritik des Staates anbot. Marx behauptete den politischen Ursprung des Rechts und den Klassenur- sprung des Staates, aber er versuchte erst gar nicht, eine Rechts- und Poli- tikwissenschaft zu entwickeln, welche die begrifflichen Instrumente für eine Analyse des Staates unter den komplexen Bedingungen des Kapitalismus im 20. Jahrhundert hätte liefern können, und er hätte das auch gar nicht lei- sten können. Nach 1919 waren sich die europäischen Marxisten zunehmend dieses Defi- zits radikaler Theorie bewußt, da sie vor dem Hintergrund einer kommuni- stischen Bewegung arbeiteten, die in Rußland in der Tat die Staatsgewalt innehatte; erste Ansätze zu einer marxistischen Theorie des Staates in den 20er Jahren belegen das.15 Von den Rechtslehrern, die sich in den 20er Jahren mit dem öffentlichen Recht befaßten, teilten Rudolf Smend, Hermann Heller und Erich Kauf- mann Schmitts Ablehnung des Rechtspositivismus. Keiner von ihnen hatte jedoch ähnlich großen Einfluß auf die Marxisten jener Zeit wie Schmitt. Sein Werk lieferte den radikalen Kritikern der liberalen Demokratie wich- tige Prinzipien und Konzepte zur Analyse des bürgerlichen Rechtsstaates und legte einen Ansatz zur Analyse der Probleme der politischen Macht und des Rechts nahe, der dann für einen Entwurf einer linken Staatstheorie benutzt werden konnte. Schmitts Arbeiten beeinflußten nicht nur diese Entwicklung; er übernahm seinerseits wichtige Aspekte der marxistischen Kontroverse für seine eigene Theorie des Verhältnisses von Demokratie und Diktatur zu Beginn der Weimarer Republik. Angesichts wirtschaftli- cher Krisenerscheinungen übernahm er später aus der linken Kritik an Plu- ralismus und Polyarchie einiges für seine Analyse der gesellschaftlichen und verfassungspolitischen Wirklichkeit von Weimar.16

14 Schmitt, Die Diktatur, Vorwort (1927), S. IXf. 15 Z. B. M. Adler, Die Staatsauffassung des Marxismus. Ein Beitrag zur Unterscheidung von

soziologischer u. juristischer Methode, Wien 1922 ND Darmstadt 1964. Vgl. S. 193 ff. für eine ausführliche Auseinandersetzung mit Schmitts („Diktatur"), aus dem die Hauptkate- gorien (kommissarische und souveräne Diktatur) positiv verwendet werden.

16 Besonders bedeutsam erscheint Schmitts Übernahme von Kirchheimers These, daß die parlamentarische Legitimität „nur Legalität" sei und die öffentliche Meinung seiner Zeit Legalität als Legitimität betrachte. Schmitt, Legalität u. Legitimität (1932), in: ders. Ver- fassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954. Materialien zu einer Verfassungs- lehre, Berlin 1958, S. 269. Siehe auch C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931, S. 142, Anm. 1, 2; ders., Freiheitsrechte u. institutionelle Garantien (1931), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 140-73, bes. S. 167 ff.; ders., Grundrechte u. Grundpflichten (1932), in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 181-231, bes. S. 182, 192, 195. Schmitts Bewunderung für Kirchheimer wird besonders auf S. 195 ff. deutlich, wo er dessen Interpretation der Weimarer Verfassung aufnimmt und gegen die Max Webers ver- teidigt.

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Schmitts Rezeption auf der Linken beruhte auf seiner Analyse des Wider- spruchs von Liberalismus und Demokratie, dem Ausgangspunkt jeder ra- dikalen Herausforderung der parlamentarischen Demokratie und liberaler politischer Institutionen seit der Französischen Revolution. Dieser Wider- spruch war bereits in den 1840er Jahren von Marx konstatiert worden und ist bis heute eine zentrale Behauptung jeder marxistischen Kritik des Libe- ralismus geblieben. Keiner der hier behandelten Theoretiker übernahm die Wertvorstellungen der Schmittschen Argumentation als eigenen politi- schen Standort, seine These vom Widerspruch zwischen Liberalismus und Demokratie enthielt jedoch eine Logik, die zwei politische Konzepte von- einander trennte und es damit den Marxisten erlaubte, ihr Werturteil mit besonderer analytischer Prägnanz zu formulieren. Die Entwicklung dieser

Logik zu einer Staatstheorie und einer Theorie liberaler Institutionen in Schmitts Werk wurde innerhalb der „Frankfurter Schule" aufgenommen, die diese Argumentationsweise in der politischen Terminologie der Linken benutzte. Diese Rezeption macht deutlich, daß Schmitts Verfassungslehre und politische Theorie einen analytischen Kern mit mehrdeutigen Implika- tionen enthielt und von Kritikern und Gegnern der liberalen Demokratie auf der Linken wie auf der Rechten weiterentwickelt werden konnte. Seine entscheidenden Elemente lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Eine Einstellung, die das Bürgertum als „unernst" und unentschlossen betrachtet und aus dieser Charakterisierung politische Schlußfolgerungen zieht: a. die Definition der liberalen Demokratie als einer bürgerlichen po- litischen Form, die vom Kompromiß abhängt; b. stillschweigende oder ex-

plizite Umdefinierung von Kompromiß in diesem System als „Schein"- oder „Former-Kompromiß; c. eine Definition liberaler Verfassungen als in sich „nicht schlüssiger" politischer Arrangements, welche die materiellen

Ansprüche auf Gleichheit durch Kompromiß regeln, ohne sie substantiell zu lösen. 2. Die Definition von Demokratie als „Identität von Regierenden und Re-

gierten" in der Analyse der plebiszitären Elemente der modernen Massen- demokratie. Dieses Konzept ist dann im weiteren die Grundlage dafür, den

wichtigsten Institutionen eines liberalen Regierungssystems die Legitimität zu bestreiten u. a.: der Mehrheitsregel, der parlamentarischen Diskussion und der Öffentlichkeit. 3. Die Analyse der liberalen Demokratie als untrennbar verbunden mit den Institutionen des Rechtsstaates, der als funktionaler und normativer Ga- rant der liberalen Gesellschaft betrachtet wird. Gesetzgebung (Parlament), Gesetzesauslegung und Verwaltung (Gerichte und staatliche Bürokratie) bewirken in diesem System ein weiteres Auseinanderrücken des demokra- tischen Ideals und der liberalen Realität. Diese Institutionen stehen im Wi-

derspruch zur demokratischen Legitimität, indem sie die Politik „neutrali- sieren" und „formalisieren" und damit in der Praxis eine Skala abgestufter Vergünstigungen schaffen.

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4. Die Ablehnung der liberalen Identifizierung von Legitimität und Legali- tät zugunsten einer Definition dieser beiden Begriffe als Gegensätze. Der spezifische Rationalismus des Rechtssystems in der liberalen Theorie ver- wandelt Legalität in ihr Gegenteil und umgekehrt. Drei weitere Quellen von Legitimität werden benannt: ratione materiae (materielle Ansprüche auf Gerechtigkeit), ratione supremitatis (plebiszitäre Legitimität) und ra- tione necessitatis (die Maßnahme des Verwaltungsstaates).

Schmitt und Benjamin: Die ästhetische Kritik an Liberalismus und Kom- promiß. In seinen frühen Arbeiten entwickelte Schmitt seine Ablehnung des Liberalismus aus einer ästhetischen und kulturellen Kritik bürgerlicher Werte und bürgerlichen Geschmacks. Wie Donoso Cortes betrachtete Schmitt die Geschichte des europäischen Bürgertums als durch dessen Ideologie determiniert und diese wiederum determinierend. Der Libera- lismus sei, wie die Klasse, die ihn hervorbrachte, „unernst" und inkompe- tent. Als politische Theorie bestehe er auf dem Kompromiß, und die zentra- len Metaphern liberalen Denkens - Gleichgewicht und Ausgleich - expli- zierten diese grundlegende Idee. Für Schmitt war der Liberalismus not- wendigerweise eine inkonsequente politische Theorie, aus der eine „unern- ste" politische Praxis hervorging. Er konnte nur in unpolitischen Interval- len existieren - in politischen Schönwetterperioden sozusagen: „Jener Li- beralismus mit seinen Inkonsequenzen und Kompromissen lebt nur in dem kurzen Interim, in dem es möglich ist, auf die Frage: Jesus oder Barrabas? mit einem Vertagungsantrag oder der Einsetzung einer Untersuchungs- kommission zu antworten."17 Der liberale Standort war nicht nur ein Zufall der Geschichte, so Schmitt, sondern deren metaphysische Konsequenz, selbst ein Kompromiß; in seinem Zentrum ein Gott, aber kein aktiver, ein Monarch, aber kein regierender. Aus dieser Analyse liberalen Denkens zog Schmitt den Schluß, die wesent- liche politische Erfindung des liberalen Bürgertums, das Parlament, sei eine notwendige Institutionalisierung seines Stils und seiner Wertvorstellungen. Diskussion und Kompromiß seien seine Prinzipien, so wie sie das Erken- nungszeichen des Bürgertums als Klasse waren. Für Schmitt wie für Marx waren die Keime des Verfalls der parlamentarischen Demokratie in deren Klassencharakter bereits angelegt. Hatte der Liberalismus mit der Reprä- sentation des Volks im Parlament erst gesiegt, wandten sich die Klassen, mit denen gemeinsam das Bürgertum erfolgreich gegen die Monarchie ge- kämpft hatte, gegen die Vorherrschaft der Bürger. Weil der Liberalismus und die liberale Demokratie auf einem „unernsten" Begriff des Politischen beruhen und das Produkt einer unpolitischen Klasse sind, sind sie dazu be- stimmt, unterzugehen.

17 Schmitt, Theologie, S. 78.

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Walter Benjamin war bereits früher zu ähnlichen Schlüssen gekommen. In einem Aufsatz aus der Zeit, in der er der Jugendbewegung besonders nahe- stand („Das Leben der Studenten"), kritisierte er die „banale Lebensein- stellung" deutscher Universitäten als einen Widerspruch zum Geist. Seine Polemik ist nicht so sehr wegen ihrer unreifen Attacke auf das bürgerliche Dasein bemerkenswert („Weil man dem Bürgertum die Seele verkauft hat, samt Beruf und Ehe, hält man streng nur auf jene paar bürgerlichen Frei- heiten"), sondern wegen ihrer Gleichsetzung bürgerlicher Werte mit der Neutralisierung von Gefahr und damit des geistigen Lebensnervs, von Wis- senschaft und Eros. Die wenigen Jahre studentischer Freiheit vor dem Fa- milien- und Berufsleben vermochten gerade die frivole Oberflächlichkeit zu vermitteln, die auch Schmitt im Liberalismus zu erkennen glaubte. Ben- jamin urteilte: „Jene ganze irrationale Wartezeit auf Amt und Ehe mußte irgendeinen Inhalt aus sich herausgebären, und das mußte ein spielerisches, pseudoromantisches zeitvertreibendes sein".18 Nach dem Ersten Weltkrieg und der deutschen Revolution vollzog Benja- min explizit den Schritt von der Kritik bürgerlicher Werte zur Kritik bürger- licher Institutionen. Seine Schrift „Kritik der Gewalt" (1921) war als Teil einer größeren Analyse der Politik geplant. Er schrieb sie unter dem Ein- fluß von Sorel, Reflexions sur la violence (1912), die er auf Drängen von Hugo Ball und Ernst Bloch gelesen hatte, und benutzte das Kriterium des Ernstfalls, in diesem Fall des revolutionären Generalstreiks, um das Wesen der Politik zu enthüllen.19 Die Struktur seiner Argumentation kommt Schmitts Insistieren (Politische Theologie) auf der Ausnahme gleich, als ei- ner Gelegenheit, die das Wesen des Politischen und letztlich die Struktur der Souveränität offenbart. Benjamins Kritik des liberalen Parlamentarismus verdankt mit ihrem Ver- ständnis vom Kompromiß als Korruption Erich Unger und Anatole France mehr als Schmitt.20 Die Übereinstimmungen in ihrer Beurteilung des Par-

18 W. Benjamin, Das Leben der Studenten, in: ders., Ges. Schriften, Bd. 11/ 1, Frankfurt 1974, S. 75-87, Zit. S. 85, zit. als Benjamin, GS.

19 W. Benjamin, Kritik der Gewalt, in: ders., GS, H/1, S. 179-203. Vgl. G. Scholem, W. Ben- jamin - die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt 1975, S. 100 ff., über Benjamins Freundschaft zu Bloch und Hugo Ball. Im August 1919 hatte Benjamin „wohl im Verfolg seiner Gespräche mit Ball und Bloch, die Reflexions sur la violence von Georges Sorel zu lesen begonnen, die er auch mir ans Herz legte. Die Auseinandersetzung mit Sorel hat ihn dann lange beschäftigt". (S. 109 f). Ich möchte an anderer Stelle auf Habermas' Erklärung während der Diskussion meines Beitrags eingehen, Schmitt und Benjamin hätten einen fundamental unterschiedlichen und unvereinbaren „Gewalf'-begriff gehabt.

20 E. Unger, Politik u. Metaphysik, Berlin 1921. Benjamin schrieb an Scholem, dies sei die „bedeutendste Schrift über Politik aus dieser Zeit". G. Scholem u. Th. Adorno (Hg.), W. Benjamin, Briefe, Frankfurt 1966, S. 252. Benjamin scheint Le lys rouge (1894) von Anatole France in der Ausgabe „Die rote Lilie" (1919) gekannt zu haben. Benjamin, GS, II/3, S. 946. Das Zitat von France findet sich auch in O. Kirchheimers, Bedeutungswandel des Parlamentarismus (1928) als Beweis dafür, daß der Rechtsstaat entgegen seiner Be- hauptung, daß alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, in Wahrheit die Interessen der

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lamentarismus sind dennoch verblüffend. Das Parlament habe nach der deutschen Revolution, so Benjamin, den Ursprung seiner Gewalt vergessen und lasse ein Gefühl für die gesetzgebende Gewalt vermissen, die es reprä- sentiert; es sei heruntergekommen, biete ein „jammervolles Schauspiel", unfähig, Entscheidungen zu fällen, die der demokratischen Gewalt würdig wären, in der es seinen Ursprung hat: „Kein Wunder, daß (Parlamente) zu Beschlüssen, welche dieser Gewalt würdig wären, nicht gelangen, sondern im Kompromiß eine vermeintlich gewaltlose Behandlungsweise politischer Angelegenheiten pflegen". Die Entfernung parlamentarischer Institutio- nen von ihrem Ideal - friedliche Konfliktlösung - habe schließlich ebenso viele von dieser Regierungsform abgestoßen, wie das Ideal vor dem Ersten Weltkrieg viele angezogen hatte.21 Benjamins frühe Aufsätze waren Schmitts Kritik bürgerlicher Werte und liberaler Institutionen zwar ähnlich, aber nicht unmittelbar von seinen Ar- beiten beeinflußt. Erst in seinem Der Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928) widmet Benjamin der Souveränitätslehre aus Schmitts Politischer Theologie einen längeren Abschnitt. Bei den Vorarbeiten zu diesem Buch las Benjamin Schmitts Arbeit und war davon beeindruckt, wie der folgende Brief belegt: „Sie erhalten dieser Tage vom Verlag mein Buch „Ursprung des deutschen Trauerspiels". Mit diesen Zeilen möchte ich es Ihnen nicht nur ankündigen, sondern Ihnen auch meine Freude darüber aussprechen, daß ich es, auf Veranlassung von Herrn Albert Solomon, Ihnen zusenden darf. Sie werden sehr schnell bemerken, wie viel das Buch in seiner Darstel- lung der Lehre von der Souveränität im 17. Jahrhundert Ihnen verdankt. Vielleicht darf ich auch Ihnen darüber hinausgehend sagen, daß ich auch Ih- ren späteren Werken, vor allem der „Diktatur" eine Bestätigung meiner kunstphilosophischen Forschungsweisen durch Ihre staatsphilosophischen entnommen habe. Wenn Ihnen die Lektüre meines Buches dieses Gefühl verständlich erscheinen läßt, so ist die Absicht meiner Übersendung er- füllt".22

Bourgeoisie fördert. O. Kirchheimer, Von der Weimarer Republik zum Faschismus: Die Auflösung der demokratischen Rechtsordnung, Hg. W. Luthardt, Frankfurt 1976, S. 62 f.

21 Benjamin, Kritik der Gewalt, in: ders., GS, 11/ 1, S. 190f. 22 C. Schmitt, Nachlaß, Plettenberg. Nachdruck in Benjamin, GS, 1/3, S. 887. Dieser Brief

und Benjamins Zitate aus Arbeiten Schmitts scheinen die Herausgeber von Benjamins Schriften, Tiedemann und Schweppenhäuser, ebenso zu überraschen wie Scholem, den sie zitieren: „Zumindest in einem Fall scheint auch die Befassung mit einem reaktionären Theoretiker für Benjamin wichtig geblieben zu sein, als er längst zum Marxismus sich be- kannte. Im Trauerspielbuch - das nach Benjamins späterem Selbstverständnis gewiß nicht materialistisch, wenn auch bereits dialektisch war - wird mehrfach, doch eher beiläufig aus der Politische Theologie des faschistischen Staatsrechtlers Carl Schmitt zitiert". Die Her- ausgeber merken dazu an, daß Benjamins „durchweg affirmativ gebrauchte Zitate Indiz eines kaum nur Beiläufigen sind" und verweisen als weiteren Beleg auf Benjamins Lebens- lauf (1928), in dem er sein Interesse am Trauerspielbuch als Fortführung von Schmitts Analyse politischer Formen zu einer allgemeinen Analogie der Erscheinungen erklärte. Benjamin, GS, 1/3, S. 886. Vgl. auch C. Schmitt, Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der

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Man kann Benjamins Bewunderung für Schmitts Arbeiten noch zu diesem Zeitpunkt, als er sich vom mystischen Konservatismus der Jugendbewe- gung abgewandt und Brecht kennengelernt hatte, als Beispiel für seinen Eklektizismus werten. Er machte nicht nur bei Schmitt, sondern auch bei Stefan George, Ludwig Klages, Johann Jakob Bachofen und Unger Anlei- hen. Im Fall von Schmitt machte er sich dessen Gedanken tatsächlich zu ei- gen. Für Benjamins literarische Nachlaßverwalter sollte sich seine Rezep- tion Schmitts (gleich nach seiner Bewunderung für Brecht) als problema- tisch erweisen. Als Der Ursprung des deutschen Trauerspiels in der ersten Werkausgabe, den Schriften (1955), erschien, hatten Theodor und Gretel Adorno alle Verweise auf Schmitts Politische Theologie gestrichen, und in dem von Adorno und Gershom Scholem herausgegebenen Briefwechsel ist weder der oben zitierte Brief noch ein sonstiger Hinweis auf Benjamins Bewunderung für Schmitt zu finden.23 Im Rahmen des Gesamtwerks mag Benjamins Verwendung von Schmitt im Trauerspiel und die Affinität ihrer Ansichten über Liberalismus und Parla- mentarismus dem einen oder anderen trivial oder allenfalls interessant im bloß politisch-literarischen Sinn erscheinen, jedenfalls als unbedeutend in der Geschichte der „Frankfurter Schule", ganz gleich wie peinlich und pro- blematisch sie für Adorno gewesen sein mag. Derartige Einwände können

jedoch für den anderen bedeutenden Fall einer Rezeption Schmitts auf der Linken vor 1933 nicht gelten.

Schmitt und Kirchheimer: Die Kritik der Mehrheitsregel und des Rechtsstaa- tes. Folgt man Martin Jays Geschichte der „Frankfurter Schule", entwik- kelte diese bewußt keine politische Theorie - weder in Deutschland noch im Exil.24 Jay übersieht hier Schmitts Einfluß auf die beiden Männer, die

später in das Institut für Sozialforschung in New York eintraten und „die Politiktheoretiker der Kritischen Theorie" wurden: Franz Neumann und Otto Kirchheimer. Die Parallelen zwischen Kirchheimers und Schmitts Analysen sind so weitreichend, daß ein Kommentator erst jüngst Kirch- heimers Werk - zögernd - als „Links-Schmittianismus?" bezeichnet hat.25 Kirchheimer hatte persönlich ein viel engeres Verhältnis zu Schmitt als

Zeit in das Spiel, Köln 1956, bes. Über den barbarischen Charakter des Shakespearschen Dramas, S. 62-67 über Benjamins Trauerspiel.

23 Scholem u. Adorno (Hg.), Benjamin, Briefe. 24 Jay bemerkt dazu: „Even with the introduction of pohtical scientists such as Franz Neu-

mann and Otto Kirchheimer into the Institute, there was little impetus for the development of an autonomous theory of politics". (S. 118). Erst gegen Ende der 1930er Jahre stellte Pollack in seinen Analysen die These vom „Primat der Politik*' unter den Nazis auf, das In- stitut als solches „weigerte sich, eine eigenständige politische Theorie zu entwickeln"; so

Jay, S. 155. Vgl. auch M. Wilson, Das Institut für Sozialforschung u. seine Faschismusana-

lysen, Frankfurt 1982, und die Rezension von G. Brandt, Warum versagt die Kritische

Theorie?, in: Leviathan 2. 1983, S. 151-56. 25 Söllner, Linke Schüler der konservativen Revolution?, S. 222.

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Benjamin. Ihre gemeinsamen intellektuellen Interessen waren ausgepräg- ter, und sie beeinflußten sich vor 1932 gegenseitig. Aber Kirchheimer ge- hörte im Gegensatz zu Benjamin eindeutig zur Linken und war nie anfällig für die Ideen, die bei einem Linksintellektuellen wie Benjamin so proble- matisch erscheinen. Kirchheimer war Mitglied der SPD und Jungsozialist. Innerhalb der Partei war er ein Gegner der reformistischen Strömung und versuchte, wie Max Adler, eine radikalere marxistische Staatstheorie zu entwickeln. Das alles hinderte ihn jedoch nicht, bei Schmitt in Bonn zu stu- dieren und zu promovieren. Auch nach dem Studium in Bonn blieb der Kontakt zwischen beiden Männern erhalten, und als Schmitt im Sommer- semester 193 1 an der Handelshochschule in Berlin ein Seminar zur Verfas- sungstheorie abhielt, nahmen Neumann und Kirchheimer daran teil.26 Schmitt war von Kirchheimers „kleinem magnum opus", Weimar- und was dann? (1930) begeistert, und noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg be- wunderte er Kirchheimers Arbeiten zur Struktur von Parteien und Politik im Parlamentarismus. Trotz ihrer entgegengesetzten Positionen während des „Dritten Reichs" nahmen Schmitt und Kirchheimer nach 1945 den Kontakt wieder auf.27 Für Kirchheimer waren wie für Benjamin die Politische Theologie und Die Diktatur wichtige Texte. Bei der Formulierung seines eigenen Standpunk- tes waren für Kirchheimer jedoch Schmitts Arbeiten zu den rechtlichen und politischen Institutionen des Liberalismus weit wichtiger: der Parlamenta- rismus, die Verfassungslehre, frühe Fassungen vom Begriff des Politischen (1927 und 1928) und seine Schriften zum Völkerrecht und zur internatio- nalen Politik, besonders Die Kernfrage des Völkerbundes (1925). Wie sein Lehrer wollte Kirchheimer mit seinen Schriften die öffentliche Meinung beeinflussen, und so schrieb er wie Schmitt viele Gelegenheitsarbeiten, die unmittelbar tages- oder parteipolitische Themen aufgriffen. Über Kirch- heimer hatte Schmitt Zugang zu marxistischen Ideen, die er sonst vielleicht nicht zur Kenntnis genommen hätte, und durch Kirchheimers Veröffent- lichungen in Zeitschriften, die dem linken Flügel der SPD nahestanden, fanden Schmitts Ideen Eingang in politische Kreise, die ihn und seine Ar- beiten sonst wohl nicht beachtet hätten. In Zeitschriften wie Der Klassen-

26 So auch Ernst Fraenkel, dessen Urteil über Schmitt bereits kritischer als das Kirchheimers war. E. Fraenkel, Abschied von Weimar?, in: Die Gesellschaft 9. 1932, S. 110.

27 C. Schmitt, Grundrechte u. Grundpflichten (1932), in: Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 192, 195. Schmitt zitiert Kirchheimer (Vom Wandel der politischen Opposi- tion, in: Archiv für Rechts- u. Sozialphilosophie 43. 1957, S. 59-86) zustimmend, in: Ver- fassungsrechtliche Aufsätze, S. 346, 366, 488. Nach dem Krieg besuchte Kirchheimer mindestens einmal Schmitt. Vgl. Neumann, Verfassungstheorien politischer Antipoden, S. 239 Anm. 3 1 . George Schwab erklärte in einem Brief an die Autorin, »Kirchheimer visi- ted Schmitt only once, in the late 1940s. In the late 1950s he wrote Schmitt asking to be re- ceived in order to discuss my dissertation. Schmitt declined to receive him\ Brief an E. Kennedy vom 1. Juli 1985. Neumann verweist auf Rainer Erds Gespräch mit Schmitt im Juli 1980 als Beleg für häufigere Besuche.

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kämpf und Jungsozialistische Blätter entwickelte Kirchheimer seine „pecu- liar amalgamation of Schmittism and Marxism",28 wie John Herz und Eric Hula es nannten. Die Übernahme Schmittscher Ideen prägte Kirchheimers Urteil über die Weimarer Republik in dreierlei Hinsicht: der Unterscheidung der „wah- ren" oder direkten Demokratie von der „formellen" oder repräsentativen Demokratie, der Analyse der Weimarer Verfassung als der eines bürgerli- chen Rechtsstaats ohne politische Entscheidung und der Alternativen, die beide zum Liberalismus und zum Rechtsstaat sahen. Von diesen Leitmoti- ven Schmitts griff Kirchheimer als erstes in seiner unter Schmitt in Bonn verfaßten Dissertation Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus (1928) den Unterschied zwischen „wahrer" oder direkter und „formeller" oder liberaler Demokratie auf und entwickelte dieses Thema weiter. Schmitts Definition der Demokratie zeichnete sich durch klassische Schlichtheit aus: Demokratie sei die „Identität von Regierenden und Re- gierten".29 Ganz gleich, welche praktische Rechtfertigung man für eine in- termediäre Gewalt im Verhältnis von Regierenden und Regierten liefert -, argumentierte er weiter, die repräsentative Demokratie müsse den grund- legenden Anspruch des demokratischen Staates kompromittieren. Im Fall von Weimar stehe ihr verfassungstheoretisches Postulat, eine Demokratie zu sein, in der Praxis im Widerspruch zur Verfassungswirklichkeit, d. h. zur Praxis vieler einzelner Bestimmungen.30 Die entscheidende Komponente des Widerspruchs zwischen „Massende- mokratie" und „Parlamentarismus" bestand für Schmitt zwischen dem Gleichheitspostulat und der realen Ungleichheit. Wahre Demokratie be- dürfe der Homogenität, während der liberale Pluralismus von einem Inter- essen- und Wertepluralismus ausgehe.31 Kirchheimer nahm diese These in seiner Dissertation auf und versuchte zu beweisen, daß Demokratie ohne soziale und ökonomische Homogenität zu Konflikt und Krise führen müsse.

28 J. Herz u. E. Hula, Otto Kirchheimer. An Introduction to his Life and Work, in: dies.

(Hg.), Politics, Law and Social Change. Selected Essays of O. Kirchheimer, New York

1969, S. IX-XXXVIII (Zit. S. Xf.). 29 Schmitt, Parlamentarismus, S. 21. Vgl. ders., Verfassungslehre, S. 223; ders., Legalität u.

Legitimität, in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 295. Darüber hinaus C. Schmitt,

Volksbegehren u. Volksentscheid. Ein Beitrag zur Auslegung der Weimarer Verfassung u. zur Lehre von der Unmittelbaren Demokratie, Berlin 1927.

30 Siehe E. R. Huber, Verfassung u. Verfassungswirklichkeit bei Carl Schmitt, in: Huber, Bewahrung u. Wandlung. Studien zur deutschen Staatstheorie u. Verfassungsgeschichte, Berlin 1975, S. 18-36. Hubers Artikel ist eine Rezension von Schmitts Hüter der Verfas-

sung und erschien ursprünglich in: Blätter für Deutsche Philosophie 5. 1931-32, S. 302-15. Vgl. auch W. Hennis, Verfassung u. Verfassungswirklichkeit. Ein deutsches

Problem, in: ders., Die mißverstandene Demokratie, Freiburg 1973, S. 53-73. 3 1 Bis heute hat Hermann Heller am überzeugendsten Schmitt widerlegt und gleichzeitig die

anregendste theoretische Grundlage zum Verständnis der repräsentativen Demokratie ge- liefert H. Heller, Politische Demokratie u. soziale Homogenität (1928), in: ders., Gesam- melte Schriften, Bd. II, Leiden 1971, S. 421-33.

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Eben weil er zwischen „formeller" und „Wertdemokratie" unterschied, kam Kirchheimer wie Schmitt zu dem Schluß, die institutionellen Vorkeh- rungen der formellen oder liberalen Demokratie als sekundär und relativ unbedeutend anzusehen im Vergleich zu denen der wahren Demokratie, die auf sozialer und ökonomischer Gleichheit basierte. Im Gegensatz zur wahren Demokratie, in der im wesentlichen gleiche Wertvorstellungen herrschten, war die liberale Demokratie „der Nichtbesitz von Werten, ge- gen die bestimmte Gegenwerte gesetzt werden können". Sie war eine staat- liche Übergangsform für die Phase des Klassenkampfes.32 Kirchheimers Kritik der liberalen Demokratie enthielt ein marxistisches Element, das in Schmitts Analyse fehlte. Er fragte danach, welche Rolle die große gesellschaftliche Ungleichheit für die Schwächung des parlamentari- schen Regierungssystems der Weimarer Republik spielte. Kirchheimer und Schmitt gingen davon aus, daß Eigentumsrechte ein zentrales verfassungs- politisches Problem von Weimar waren, die beiden unterschieden sich aber durch ihre Interpretation, was die Verfassung in bezug auf Eigentum inten- dierte.33 Für Kirchheimer stellte das Rechtsinstitut des Privateigentums ei- nen Gegensatz zum Begriff der „sozialen Gebundenheit" dar. Für Schmitt ließ Art. 153 der Reichsverfassung dieses Problem offen. Beide meinten übereinstimmend, daß die zeitgenössische Kontroverse im Kern um die Grenzen staatlicher Intervention ging. Der Pluralismus von Weimar in dieser Frage war für Schmitt wie für Kirch- heimer das Ergebnis eines Kompromisses zwischen Bürgertum und Prole- tariat in der Nationalversammlung. Art. 153 schützte Eigentum im ersten Abschnitt, machte im zweiten Enteignung abhängig vom Gemeinwohl und erklärte Eigentum im dritten Abschnitt zu einer „Verpflichtung"; sein Ge- brauch sei an „das Wohle der Allgemeinheit" gebunden. Dieser intellektu- elle Pluralismus - und für Schmitt und Kirchheimer die Konfusion der Ver- fassung - spiegelte die reale gesellschaftliche Heterogenität wider und machte damit die Verwirklichung der „Wertdemokratie" unmöglich. Weil nichts ausgeschlossen worden war, waren selbst völlig entgegengesetzte Elemente zugelassen und machten so die gesellschaftliche Grundlage einer

32 O. Kirchheimer, Zur Staatslehre des Sozialismus u. Bolschewismus, in: Zeitschrift für Poli- tik 17. 1928, S. 593-611; wieder abgedr. in ders., Von der Weimarer Republik zum Fa- schismus. Die Auflösung der demokratischen Rechtsordnung, Frankfurt 1976, S. 32-57. Zitat S. 33 f. Kirchheimer übernahm den Unterschied „formelle" - und „Wertdemokra- tie'* von M. Adler, Politische oder soziale Demokratie. S. Kirchheimer, Zur Staatslehre des Sozialismus u. Bolschewismus, in: Von der Weimarer Republik, S. 32 Anm. 4. Seine Be-

merkungen hier zeigen den Einfluß Schmitts „Begriff des Politischen", in dem Kirchhei- mer „die notwendige Zwiespältigkeit rein sozialistischer Begriffsbildungen" sieht, „die, wenn sie in apolitischen Kategorien denken will, dennoch dazu nicht die politischen Kate-

gorien selbst entbehren kann." Ebd. 33 Vgl. Schmitt, Freiheitsrechte u. institutionelle Garantien (1931), in: Verfassungsrechtli-

che Aufsätze, S. 140-73 und O. Kirchheimer, Reichsgericht u. Enteignung. Reichsverfas-

sungswidrigkeit des preußischen Fluchtliniengesetzes (1930), in: Von der Weimarer Re-

publik, S. 77-90.

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demokratischen Gesellschaft - Homogenität - unmöglich. Ohne substan- tielle Gleichheit ihrer Mitglieder, die wiederum gemeinsame Wertvorstel- lungen erst möglich machte, mußten demokratische Entscheidungen ihre Legitimität einbüßen. „Wie ist unter solchen Umständen Regierung über- haupt möglich, und wer entscheidet darüber, wer sie in Händen haben soll?" fragte Kirchheimer in „Zur Staatslehre des Sozialismus und Bol- schewismus". Die liberale Lösung - Herrschaft der Mehrheit - war für ihn kein Ausweg, sondern bedurfte selbst der Rechtfertigung, wenn sie nicht auf gemeinsamen Wertvorstellungen basierte.34 Im liberalen Pluralismus konnte die Herrschaft der Mehrheit nur die Unterdrückung einer sozial und politisch schwächeren Minderheit bedeuten. „Democracy to him means mere 'bourgeois rule' ", erläutern Herz und Hula zu Kirchheimers Arbeiten aus der Weimarer Zeit, „unless and until it becomes the political form of a

homogeneous society after the victory of the working class".35 Der Einfluß des ihnen gemeinsamen Antiliberalismus wirkt sich auch auf Schmitts und Kirchheimers Beurteilung der Weimarer Verfassung als eines

bürgerlichen Rechtsstaates mit in sich widersprüchlichen materiell-rechtli- chen Verfassungsbestimmungen aus. Die „Grundrechte und Grundpflich- ten der Deutschen" im zweiten Teil der Verfassung hielt Schmitt in Anleh-

nung an Kirchheimers Weimar -und was dann? für das Ergebnis „dilatori- scher Formelkompromisse", Ergebnis auch des „Agnostizismus einer Ver-

fassung" - oder in Kirchheimers Worten einer , Verfassung ohne Entschei-

dung'.36 Der fundamentale Konflikt von 1918/19, den die Weimarer Ver-

fassung nicht löste, sondern nur vertagte, bestand zwischen „dem westli- chen Kapitalismus und dem östlichen Kommunismus".37 Weimars unent- schiedener Status quo im zweiten Teil der Verfassung wurde durch die Be-

34 „Bei einer durch eine gemeinsame Wertvorstellung qualifizierten Demokratie bedeutet Stimmenmehrheit den gemeinsamen Entscheid über den besten Modus der Verwirkli-

chung der gemeinsamen Wertvorstellungen. Wenn kein gemeinsamer Wert vorhanden ist, so ist es durch nicht evident, warum die Mehrheit entscheiden soll". Kirchheimer, Zur Staatslehre des Sozialismus u. Bolschewismus, in: Von der Weimarer Republik, S. 34 f.

Vgl. Schmitt, Parlamentarismus, S. 13 f. sowie Schmitts Erwiderung auf R. Thoma im Vorwort zu „Parlamentarismus", in dem er formale Demokratie und eine substantielle demokratische Ordnung einander gegenüberstellt. Schmitt erläutert dazu, daß die arith- metische Mehrheit charakteristisch für die formale Demokratie sei; die geheime Abstim-

mung sei eine liberale und keine demokratische Institution: „jede einzelne Stimme (wird) registriert und eine arithmetische Mehrheit berechnet" (Parlamentarismus, S. 22). Ebenso

ders., Legalität u. Legitimität: „Die Methode der Willensbildung durch einfache Mehr-

heitsfeststellung ist sinnvoll und erträglich, wenn eine substantielle Gleichartigkeit des

ganzen Volkes vorausgesetzt werden kann" (Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 284). 35 Herz u. Hula, S. Xf. 36 O. Kirchheimer, Weimar - u. was dann? Entstehung u. Gegenwart einer Verlassung, Ber-

lin 1930, Neudruck in: ders., Politik u. Verfassung, Frankfurt 1964, S. 9-56, S. 52ff., Die

Verfassung ohne Entscheidung. 37 Schmitt, Grundrechte u. Grundpflichten (1932), in: Verfassungsrechtliche Autsatze,

S. 195. Siehe auch Schmitts langen Verweis an dieser Stelle auf Kirchheimers, Weimar -

und was dann?

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Stimmungen des ersten, rechtsstaatlichen Teils aufrechterhalten. Was Schmitt und Kirchheimer interessierte, war das Funktionieren des bürgerli- chen Rechtsstaates als Garant der liberalen Demokratie. Beide - Rechts- staat und liberale Demokratie - waren im wesentlichen neutral und plurali- stisch im Vergleich zu den ihrer Substanz nach politischen Lehren wie So- zialismus oder Bolschewismus, befanden Kirchheimer und Schmitt über- einstimmend. Wie sein Lehrer gründete auch Kirchheimer seine Analyse des Dilemmas des liberalen Staates auf dessen unzureichenden Begriff des Politischen. Ursprünglich sei der Rechtsstaatsgedanke eine bürgerliche Theorie gewesen, erklärte Kirchheimer, aber er sei neutralisiert worden, nachdem das Bürgertum seine Rechte gegenüber Krone und Aristokratie durchgesetzt hatte. Diese Neutralisierung habe jedoch im gleichen Zug die Neutralisierung des Politischen durch das Recht zum Inhalt und die „Ver- rechtlichung" der gesellschaftlichen Beziehungen: „Man schritt auf allen Gebieten zur Verrechtlichung, jeder tatsächlichen, jeder Machtentschei- dung wird auszuweichen gesucht, ob es sich um die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten oder um die Beilegung von Arbeitskonflikten handelt; alles wird neutralisiert dadurch, daß man es juristisch formalisiert. Jetzt erst beginnt die wahre Epoche des Rechtsstaats. Denn dieser Staat beruht nur auf seinem Recht."38 Trotz der Neutralisierung und Formalisierung des politischen Lebens im Rechtsstaat konnte dieser für Kirchheimer keine legitime Ordnung sein, weil er immer noch Instrument des Bürgertums war. Für Schmitt dagegen war der liberale Staat durch seinen eigenen internen Pluralismus bedroht; weil er kein unabhängiges und übergeordnetes Organ war, konnte dieser Staat unter der Polyarchie der von ihm regulierten Konkurrenten nicht un- terscheiden, noch konnte er seine Souveränität vor der Dynamik ihrer eige- nen Neutralisierung schützen. Letztlich, und darin stimmten beide überein, mußte die Legitimität des Rechtsstaats unter liberalen Bedingungen von innen her ausgehöhlt werden und zwar gerade wegen der Formelhaftigkeit seiner Entscheidungen. Seine Politik bestand in einem Prozeß, der mate- rielle Konflikte in der Gesellschaft nicht wirklich löste, sondern nur vertag- te.39 Kirchheimers Analyse des Weimarer „Rechtsmechanismus" veranlaßte 38 Kirchheimer, Zur Staatslehre des Sozialismus u. Bolschewismus, in: Von der Weimarer

Republik, S. 36. Vgl. Schmitt, Der bürgerliche Rechtsstaat, in: Abendland 7. 1928, S. 201-03: „Dieser bürgerliche Rechtsstaat ist allgemein dadurch gekennzeichnet, daß er auf Grundrechten der Einzelnen und dem Prinzip der Gewaltenunterscheidung aufbaut. Dabei wird die Freiheit des Einzelnen als prinzipiell unbegrenzt, der Staat und seine Ge- walt als begrenzt gesetzt . . . Überall werden Kontrollorgane eingefügt und juristisch gesi- chert" S. 201. Des weiteren Schmitt, Verfassungslehre: „Als Rechtsstaat gilt nur ein Staat, dessen gesamte Tätigkeit restlos in einer Summe von genau umschriebenen Zuständigkei- ten erfaßt ist" S. 131; „Das vollendete Ideal des bürgerlichen Rechtsstaats gipfelt in einer

allgemeinen Justizförmigkeit des ganzen staatlichen Lebens" S. 133. 39 Zusätzlich zu den bereits zitierten Arbeiten siehe Kirchheimer, Verfassungswirklichkeit u.

politische Zukunft der Arbeiterklasse, in: Der Klassenkampf 3. 1929, S. 455-59; wieder

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ihn, zwei politische Alternativen zu erwägen. Die erste tauchte im Kontext seiner Kritik der politischen und verfassungspolitischen Rolle der Mehr- heitssozialdemokraten nach 1918/19 auf, deren politische Doktrin, Maß- halten und Reform durch den Staat seien sozialistische Politik, er kritisierte. Auch hier ist Schmitts Einfluß erkennbar. Denn dieser hatte den Parlamen- tarismus in seinem Kern als ein System von Vernunft und Ausgleich ge- schildert, ausgehend von der Ablehnung von Gewalt im liberalen Denken als „the way of beasts" (Locke) und der Befürwortung der Herrschaft des Rechts. Das war die intellektuelle Grundlage der Neutralität des Rechts- staats. Für dessen gefährlichsten Gegner hielt Schmitt den politischen My- thos, die organisierte Irrationalität der neuen antiliberalen Bewegungen, Faschismus und Bolschewismus. Kirchheimers Kritik der liberalen Demo- kratie und des Rechtsstaats bekräftigte Schmitts Analyse. Auch er glaubte wie sein Lehrer, daß die zeitgenössischen politischen Auseinandersetzun- gen in Europa bewiesen, wie gefährdet der Liberalismus durch seine Neu- tralität und Unentschiedenheit sei: „Der politische Mythos besitzt die Fä-

higkeit, eine politische Wertgruppierung entschiedenster Art hervorzuru- fen".40 Gegen politischen Aktivismus dieser Art konnte eine reformerische Sozialdemokratie nach Kirchheimers Meinung nur Ausdruck liberaler Neutralität sein.41 Die zweite Alternative war der Bolschewismus. Lenin hatte das liberale

Konzept der rechtsprechenden Gewalt als unabhängiger dritter Kraft, die über den Konflikten steht, verworfen und die Idee des Staates wiederherge- stellt: „Wiederhergestellt ist dafür die in Europa seit der Zeit des Libera- lismus immer mehr entschwindende, im Rechtsmechanismus der Formal- demokratie gänzlich untergegangene Vorstellung vom integralen Charak- ter des Rechts. Wo ein Staat ist, sei es in inhaltlich demokratischer, sei es in diktatorischer Form, wird Recht gesprochen im Namen bestimmter Wert-

vorstellungen."42 abgedr. in: Von der Weimarer Republik, S. 69-76 und Schmitt, Die konkrete Verfassungs- lage der Gegenwart, in: ders., Hüter der Verfassung, S. 71-131.

40 Kirchheimer, Zur Staatslehre des Sozialismus u. Bolschewismus, in: Von der Weimarer

Republik, S. 43. Vgl. Schmitt, Parlamentarismus, S. 77 ff. 41 Eduard Bernstein war dementsprechend für ihn ein „typischer Vertreter der Lehre vom

doppelten Fortschritt", gegen den Sorel und Pareto bemüht gewesen waren, „über die Re-

lativierungsversuche des Parlamentarismus hinweg die wirkliche Kampfesfront ohne Illu- sionen aufzuzeigen". Kirchheimer, Zur Staatslehre des Sozialismus u. des Bolschewismus, in: Von der Weimarer Republik, S. 43. Weimars „Verfassungsurkunde" blieb ein bloßes Dokument von Möglichkeiten, schrieb Kirchheimer im August 1929, zu deren Verwirkli-

chung sich die Sozialdemokraten sich nicht entschließen konnten. Sie waren sich aller

Möglichkeiten bewußt, wie der liberale Rechtsstaat, und gerade das machte sie unfähig, sich für die eine Möglichkeit, den Sozialismus, zu entscheiden. Kirchheimer, Verfassungs- wirklichkeit u. politische Zukunft der Arbeiterklasse, in: Von der Weimarer Republik, be- sonders die Kritik an der SPD in der Großen Koalition als Beweis für den mangelnden „Willen zur Wirklichkeit", S. 76.

42 Kirchheimer, Zur Staatslehre des Sozialismus u. Bolschewismus, in: Von der Weimarer

Republik, S. 47.

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Die Sowjetunion erscheint in Kirchheimers Untersuchung als Staat in den Kategorien Schmitts, die Analyse der sowjetischen Außenpolitik über- nimmt darüber hinaus Schmitts Analyse des Völkerbundes als einer libera- len Organisation. In diesem Rahmen handelt die UdSSR politisch, wenn sie die liberale Neutralität nicht anerkennt. Sie betrachtet die Friedensordnung nach 1918 als Waffenruhe, eine Vereinbarung über Fragen materieller In- teressen im internationalen Rahmen. Sie betritt die internationale Bühne als Wolf unter Schafen, so Kirchheimers Schilderung. Hier die politische Sowjetunion, dort der liberale Westen. Weil der Völkerbund ein Abbild der liberalen Neutralität ist, sind seine Probleme die des liberalen Staates, und auf internationaler Ebene wird die fehlende Substanz liberalen Denkens noch augenfälliger. Auch Kirchheimers Unterscheidung von Formal- und Wertdemokratie taucht wieder auf, wiederum mit der Betonung auf der Idee der substantiellen Homogenität als Voraussetzung von Demokratie. „Da die leiseste und schwächste Homogenität der Interessen und Gesichts- punkte fehlt, welche die Voraussetzung der Entscheidung im juristischen Sinn bilden könnte, muß Rußland nicht nur das Majoritätsprinzip im Völ- kerrechtsverkehr, sondern auch jede Instanz, welche eine Entscheidungs- befugnis für sich beansprucht, ablehnen."43 Bei dieser engen Verflechtung ihres Denkens in dieser Phase überrascht es nicht mehr, wie positiv Kirchheimers Analyse der Weimarer Republik in Weimar -und was dann? von Schmitt aufgenommen wurde. Allerdings ist Wolfgang Luthardts Bemerkung, Kirchheimer habe die Marxsche Bona- partismus-These weiterentwickelt, um die Regierung Brüning zu erklären, nur teilweise richtig.44 Schmitt hatte Marx' These in seine eigene Interpre- tation des Liberalismus integriert, und Kirchheimer übernahm aus Schmitts Staatslehre die so gefilterte These von Marx. Seine Analyse der politischen Ereignisse dieser Jahre in Deutschland wurde von der gleichen Skepsis über die Kompetenz des liberalen Rechtsstaats zusammengehalten, die für Schmitts Arbeiten charakteristisch war. In Weimar - und was dann? wie- derholte er seine Anklage gegen das Majoritätsprinzip noch expliziter: Die Herrschaft der Mehrheit sei die „bürgerliche Diktatur", der Kampf um die Mehrheit, ein primitives Spiel um 51 Prozent der Wählerstimmen. Der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz, der erste Grundsatz des Rechts- staates, werde damit zur Fiktion oder, noch schlimmer, zum Werkzeug der Reaktion. Solange die Demokratie nur formal war, mußten sich Staats- und Verfassungskrise der Regierung Brüning noch verschärfen. Der Ausweg war für Kirchheimer die Entscheidung zur sozialistischen Politik. Diese

43 Ebd., S. 48 f. Kirchheimer verweist direkt auf Schmitt, Die Kernfrage des Völkerbundes, Berlin 1926. Die clausula rebus sie stantibus schreibt Kirchheimer, „beherrscht ganz die russische Völkerrechtsauf fassung"; ebd., S. 48.

44 W. Luthardt, Bemerkungen zu O. Kirchheimers Arbeiten bis 1933, in: Von der Weimarer

Republik, S. 7-31, Zit. S. 24.

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Entscheidung konnte nicht von einer neutralen dritten Kraft getroffen wer- den, sondern nur Ergebnis des im Schmittschen Sinne Politischen sein. Erst nach Schmitts Rechtfertigung der Übernahme der Regierungsgewalt in Preußen durch Papen am 20. Juli 1932, der Ablösung der sozialdemokra- tischen preußischen Regierung durch eine kommissarische Geschäftsregie- rung, die im Namen des Reichs handelte, kritisierte Kirchheimer seinen Lehrer Schmitt.45 Bis in den Juli 1932 interpretierten beide die sich zuspit- zende politische Krise in Deutschland als Staatskrise, die durch den Gegen- satz von Legalität und Legitimität bestimmt wurde. In zwei Artikel mit der- selben Überschrift46 lieferten Kirchheimer und Schmitt unterschiedliche politische Interpretationen des „Preußenschlags". Für Kirchheimer hatten die Regierung Papen und das monatelange Notverordnungsregime die Le- gitimität der Verfassung zerstört, indem sie die Legalität der Regierung zer- störten; die Berufung auf die Legitimität des Reichspräsidenten war nich- tig. Demgegenüber sah Schmitt in der Fortdauer der - inzwischen weitge- hend außer Kraft gesetzten - parlamentarischen Verfahren, einschließlich des Majoritätsprinzips und der „Chancengleichheit" für alle politischen Kräfte die wahre Gefahr für die legitime Verfassungsordnung der Weima- rer Republik. In seiner überaus interessanten Analyse von Schmitts Einfluß auf Kirch- heimer versucht Alfons Söllner zu zeigen, daß gerade am Beispiel eines vermeintlichen Gegensatzes von Demokratie und Rechtsstaat der grundle- gende Unterschied zwischen Schmitt und Kirchheimer deutlich wird. Der

Übergang von der parlamentarischen Demokratie zur Notstandsdiktatur 1932 wurde von Schmitt als Bestätigung seiner „fundamental-politischen Grundannahmen" begrüßt,47 während Kirchheimer auch weiterhin auf der

Notwendigkeit beharrte, die gesellschaftlichen und politischen Kausalver-

bindungen zu begreifen, die eine Transformation erst erlaubten. Wie unter- schiedlich ihre Ansichten waren, wird für Söllner besonders deutlich an „der Differenz der Demokratiebegriffe, die in die jeweiligen Krisenanaly-

45 Kirchheimer, Bemerkungen zu C. Schmitts »Legalität u. Legitimität', in: Archiv für So- zialwissenschaft u. Sozialpolitik 68. 1932-33, S. 457-87; wieder abgedr. in: Von der Wei- marer Republik, S. 1 13-50. Kirchheimer wirft Schmitt vor, er nähre die Verfassungsreak- tion, aber seine Ausführungen stellten eine merkwürdige Mischung dar. So meint er, Schmitt betone Gleichheit und Freiheit zu sehr und messe dem liberalen Begriff der Frei- heit als Freiheit vom Staat zu große Bedeutung bei (S. 1 16). Das führe bei Schmitt zur Un-

terschätzung der sozialen Realität von individueller Freiheit und deren Rolle bei der Her-

ausbildung des Willens des Volkes. Kirchheimer erklärt an dieser Stelle auch, daß Schmitts Kritik der formalen Demokratie die Ablehnung von Demokratie per se sei (S. 118). Das ist eine merkwürdige Kehrtwendung, wenn man Kirchheimers eigene Ansichten zur Demo- kratie und seinen Aufsatz: Verfassungsreaktion, 1932, in: Die Gesellschaft 9. 1932, S. 415-27, in dem er die Elemente direkter und plebiszitärer Demokratie bei Schmitt her- vorhebt, heranzieht.

46 Kirchheimer, Legalität und Legitimität, in: Die Gesellschaft 9. 1932, S. 8-26. Schmitt, Le-

galität u. Legitimität, München 1932. 47 Söllner, Linke Schüler, S. 224.

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sen eingehen". Die zentrale Vorstellung in Schmitts Kritik der Weimarer Verfassung ist nach Söllner, „daß die Demokratie sich nicht in rechtsstaatli- chen Prozeduren erschöpfen dürfe, sondern Ausdruck des homogenen Volkswillens sein müsse".48 Sicher hatte Kirchheimer seit dem Herbst 1932 einen anderen Demokratiebegriff als Schmitt, insofern stimmt Söllners Analyse. Als Kirchheimer jedoch schließlich über diese Frage mit Schmitt brach, war das gleichzeitig ein Bruch mit seiner eigenen früheren Position. Unter dem Eindruck der autoritären Herrschaft v. Papens gab Kirchheimer seine grundsätzlichen Einwände gegenüber der parlamentarischen Demo- kratie auf. Statt seiner früheren Betonung der sozialen Homogenität sah er nun in der parlamentarischen Demokratie („moderne Demokratie") „die einzige Staatsform, die in einer Zeit wachsender sozialer und mitunter auch nationaler Heterogenität das Zusammenwirken bzw. den Wechsel ver- schiedener Gruppen verfassungsmäßig ermöglicht. Sie allein faßt durch die Garantie der politischen Freiheitsrechte das Problem einer politischen Ent- sprechung zu bestimmten sozialen Strukturveränderungen ins Auge".49

Schmitt, Marcuse und Horkheimer: Liberalismus und Faschismus. Herbert Marcuses Aufsatz „Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung" (1934) in der Zeitschrift des Instituts für Sozialforschung schien eine bestimmte Quelle des Antiliberalismus auf Dauer zu stopfen.50 Bei seinem Erscheinen war Hitler bereits Reichskanzler und das „Dritte Reich" deutsche Verfassungswirklichkeit. Marcuse und andere Wissen- schaftler der „Frankfurter Schule" waren im Exil, ihre Frankfurter Wir- kungsstätte war geschlossen, und die Aussichten für linksradikale Kritik in Deutschland waren gleich Null. Der Faschismus wurde schnell zum wichtig- sten Forschungsgegenstand des Instituts. Jay hat geschildert, wie für Kirch- heimer, Neumann, Marcuse und Horkheimer das Verhältnis vom Libera- lismus zum Faschismus zum faszinierendsten Aspekt des deutschen Wegs in die Diktatur wurde. Selbst nach 1933 blieb der springende Punkt des Di- lemmas für sie, wie antidemokratische Kräfte durch liberale Wertvorstel- lungen und Institutionen, vor allem durch den Rechtsstaat, gefördert wor- den waren. In diesem Diskussionszusammenhang wollte Marcuse mit sei- nem Aufsatz das Verhältnis von totalitärer Ideologie und Liberalismus auf- decken. Er analysierte die „Apotheose der Natur" im Totalitarismus dia- lektisch als Fortsetzung und Widerspruch des liberalen Naturrechts. Seine inneren Widersprüche zwangen den Totalitarismus, die Existenz eines „existentiellen Zustandes", der der rationalen Rechtfertigung enthoben ist,

48 Ebd. 49 Kirchheimer, Verfassungsreaktion, 1932, in: Die Gesellschaft 9. 1932, S. 419. 50 H. Marcuse, Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung, in:

Zeitschrift für Sozialforschung 3. 1934, S. 161-95; im folgenden zitiert nach dem Nach- druck in: ders., Kultur u. Gesellschaft, 2 Bde., Frankfurt 1980, Bd. 1 , S. 17-55. Vgl. J. Ha- bermas, Die Frankfurter Schule in New York, in: ders., Profile.

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zu konstatieren.51 Ursprung dieser politischen Theorie waren - laut Mar- cuse - Schmitts Freund-Feind-Kategorie und dessen These in Der Begriff des Politischen vom Krieg als der äußersten politischen Situation. Krieg ei- nerseits, „Volk und Volkszugehörigkeit" andererseits waren die beiden existentiellen politischen Beziehungen. Totalitäre Regime hatten diese Ideen in die Praxis umgesetzt.52 Angesichts von Schmitts Einfluß auf Kirchheimer und vorher auf Benjamin ist Marcuses Analyse paradox. Weder Schmitts Veröffentlichungen unter den Nazis noch seine Karriere nach 1933, sondern die Teile seines Werks, die durch Kirchheimer bereits von der „Frankfurter Schule" rezipiert wor- den waren - die politische Analyse von Recht und Rechtsstaat, die Kritik der „positivistischen" Elemente der liberalen Demokratie und die Idee der direkten Demokratie und gesellschaftlichen Homogenität - diese Vorstel-

lungen, vor allem aber Schmitts Kritik des Parlamentarismus waren nun, so Marcuse, „die beste Darstellung des Liberalismus vom Standpunkt der to- talitären Staatstheorie".53 Marcuses Aufsatz blieb nicht ohne Folgen: Schmitt verschwand als positive Quelle aus den Arbeiten der „Frankfurter Schule" in den 30er und 40er Jahren. Aber das ursprüngliche Paradox im Verhältnis von rechten und lin- ken Intellektuellen wird durch die weitere Entwicklung der „Frankfurter Schule" in dieser Phase noch unterstrichen. Horkheimer griff Themen der Weimarer Liberalismuskritik auf und erweiterte sie zu einer neuen Sicht von Rationalismus und Irrationalismus in der bürgerlichen Gesellschaft. Schmitt und Kirchheimer hatten behauptet, daß liberale Neutralisierung und formale Demokratie den politischen Konflikt nicht beseitigten, son- dern letztlich nur verschärften. Das war der Kern ihrer Analyse der Weima- rer Verfassung. In seiner 1934 unter einem Pseudonym veröffentlichten

Sammlung aphoristischer Reflexionen, Dämmerung, die Horkheimer noch zu Zeiten der Republik verfaßt hatte, baute er diese Kritik des Liberalismus noch aus. Bürgerliche Neutralität konnte sogar noch weitergehen: „Der echte Bürger hat die Fähigkeit, alles objektiv zu betrachten, im Nach-

kriegsdeutschland sogar die Revolution".54 Die für den Bürger charakteri- stische Eigenschaft ist eben diese Objektivität und Distanz zum realen poli- tischen Kampf, aus dem die bürgerlichen politischen Institutionen hervor-

gegangen sind. In „Vernunft und Selbsterhaltung" (1942) erweiterte Horkheimer die Kritik des Liberalismus und der bürgerlichen Lebensweise

51 Jay, Imagination, S. 122. 52 Marcuse, Kampf, S. 45. 53 Ebd., S. 170 Anm. 8. Marcuse verweist auf Schmitt, Begriff des Politischen (19322), und

auf: Parlamentarismus. 54 M. Horkheimer, Dämmerung. Dieses Buch wurde ursprünglich 1934 unter dem Pseudo-

nym „Heinrich Regius" veröffentlicht. Benutzt wurde eine photo-mechanische Repro- duktion des Originals von ca. 1968. Das Zitat ist aus dem Abschnitt „Nachdenken über die Revolution", S. 71.

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zu einer Kritik ihrer linguistischen Grundlage. Er verwarf den Pluralismus liberaler Demokratie als ideologisch und begann, ansatzweise seine Kritik des Rationalismus in der technisierten Lebenswelt zu formulieren, die zu einem der wichtigsten Elemente des radikalen Denkens in den späten 1960er Jahren werden sollte. Das Bindeglied zwischen Liberalismus und Totalitarismus, mit dem sich die „Frankfurter Schule" nach 1933 vor allem beschäftigt hatte, wurde schließlich von Horkheimer benannt. Die Trans- formation der bürgerlichen Gesellschaft in die unverhüllte Diktatur vollzog sich über die „technische Vernunft": „Die neue Ordnung bezeichnet einen Sprung in der Transformation der bürgerlichen in unvermittelte Herrschaft und setzt doch die bürgerliche fort".55

Schmitt und Habermas: eine Rezeption im Verborgenen? Was Marcuses Kritik begonnen hatte, sollte Schmitts Karriere und Werk während des „Dritten Reichs" vollenden: Eine direkte Rezeption seiner Arbeiten kam für die erste Generation der „Frankfurter Schule" nach 1945 nicht in Frage. Erst im Werk ihres bekanntesten neuen Repräsentanten, bei Jürgen Ha- bermas, wurde die politische Theorie Schmitts erneut zu einer Quelle für Begriffe und Kategorien der Analyse des Staates in der industriellen Ge- sellschaft. Seine Rezeption war wesentlich kritischer als die Benjamins oder die des frühen Kirchheimer. Die Rezeption Schmittscher Kategorien er- folgte zu einem Gutteil über die Arbeiten von Schülern Schmitts aus den

Nachkriegsjahren und verlief damit subtiler als die frühere Rezeption Schmitts durch die „Frankfurter Schule". Außerdem ist sie paradoxer. Zwi- schen Schmitt und Kirchheimer bestand größere Übereinstimmung in we- sentlichen Punkten ihrer Beurteilung des Liberalismus als zwischen Ha- bermas und jedem der beiden. Schmitt und Kirchheimer betrachteten die Prinzipien liberalen Denkens - Diskussion, Publizität und Öffentlichkeit - als unwiderruflich überholt, während Habermas gerade diese Prinzipien ernst nimmt und versucht, sie zum Zentrum einer politischen Philosophie und Ethik zu machen, die im Gegensatz zum alten Liberalismus eine kriti- sche Perspektive von Staat und Gesellschaft entwickelt. Diese Betrach- tungsweise enthält jedoch trotz der bedeutsamen Unterschiede in den nor- mativen Zielen und politischen Wertvorstellungen, die Habermas von Schmitt trennen, jene Elemente und jene formale Argumentation, die den Kern von Schmitts Kritik liberaler Ideen und Institutionen ausmachen: die Definition von Demokratie als einer substantiellen Identität, Kritik der li- beralen Demokratie und ihrer Institutionen (Parteien, staatliche Verwal- tung und öffentliche Meinung) als im Kern undemokratisch, Betonung der plebiszitären Legitimität als Gegensatz zur Legalität und schließlich die Konstruktion eines gespannten Verhältnisses zwischen Prinzipien und

55 Horkheimer, Vernunft u. Selbsterhaltung, in: W. Benjamin zum Gedächtnis, Privatdruck 1942, S. 34.

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Wirklichkeit der liberalen Verfassung als dem entscheidenden methodi- schen Ansatz zur Analyse des westdeutschen politischen Systems. Die Kritische Theorie behauptet damit nicht weniger und nicht mehr, so Steven Lukes, als daß sie die zentralen Fragen der politischen Philosophie stellt: Welche Gesetze sind gerecht? Welche Grenzen sind legitimer Herr- schaft gesetzt? - Habermas legt jedoch keine „action-guiding principles" als Antwort vor.56 Ob Habermas überhaupt solche handlungsleitenden Prinzipien erarbeiten will, wie Lukes meint, ist unklar. Jedenfalls will er Demokratie anders als die zeitgenössische politische Wissenschaft definie- ren und demokratische Substanz von den Methoden und Verfahren demo- kratischer Regierungssysteme in den westlichen Demokratien unterschei- den. Dieses Vorhaben - nicht seine vielschichtige Kommunikationstheorie - knüpft an die deutsche Diskussion um Liberalismus und Demokratie in der Weimarer Republik an. Hier findet auch Habermas' Rezeption der po- litischen Lehre und analytischen Kategorien Schmitts statt: als Elemente einer Kritik bestehender demokratischer Staaten. Für Habermas' Beschäftigung mit der politischen Theorie von Weimar und für seine speziell politischen, im Unterschied zu seinen linguistisch-philo- sophischen Arbeiten, sind drei Werke wichtig: Student und Politik (1961), Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) und Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus (1973). In allen drei Werken wird die zuerst von Schmitt gegen Ende der Weimarer Republik gestellte Frage aufgenommen, die Ernst Forsthoff nach 1949 in der Bundesrepublik erneut aufgriff: „Wie muß der moderne, das Sozialleben weithin gestaltende Staat rechtlich ver- faßt sein, um als Rechtsstaat gelten zu können?"57 Die Problematik des bürgerlichen Rechtsstaates als Rechts- und Sozialord- nung tauchte nach Schmitts Analyse in Der Hüter der Verfassung (1931) unter zwei Bedingungen auf. Erstens veranlassen der gesellschaftliche Plu- ralismus und die wirtschaftliche Polyarchie im 20. Jahrhundert zusammen

56 S. Lukes, Of Gods and Demons: Habermas and Practical Reason, in: Thompson u. Held, S. 1 34-48, Zit. S. 142. Lukes behandelt die drei Ebenen, auf denen das Prinzip der Univer-

salität, auf das Habermas Modell von Diskurs Bezug nimmt, vorkommen kann und kommt zu dem Schluß, Habermas gehe von der höchsten Stufe der Universalität aus. Lukes schreibt dazu: „But the problem with the third stage of universalization is that the test is so severe that it is not clear that any norms or rules will pass, and it is certainly very far from

guaranteed that unconstrained discourse between the parties will yield act-guiding princip- les of this sort". Lukes geht dann Alternativen für dieses Problem durch - Rawls theoreti- sche Beschreibung der „circumstances of justice" und Mackies Bemühungen um Prinzipi- en, „which represent an acceptable compromise between the different actual points of view" - kommt aber zu dem Schluß, daß „Habermas appears to reject a basic assumption shared by both these approaches, namely that morality is a means of solving the problem posed by the conflicts generated by limited resources and limited sympathies, with a view to

securing mutually beneficial co-operation" S. 143. Lukes weist zurecht darauf hin, daß Habermas Modell einer kommunikativen Ethik den Wertepluralismus ablehnt.

57 E. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. I, München 1955, S. VI.

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mit der Verleihung politischer Rechte an die Masse des Volkes zunehmend staatliches Handeln innerhalb der gesellschaftlichen Sphäre, die nach libe- raler Theorie außerhalb und unabhängig von staatlichen Eingriffen exi- stiert.58 Diese Transformation löst einen Konflikt zwischen den Prinzipien des liberalen Staates und seinen wirklichen Funktionen aus und führt zum zweiten Aspekt der Problematik des Rechtsstaats: der Krise der politischen Werte und des politischen Bewußtseins. Für Schmitt stellte sich diese Pro- blematik als Wesensmerkmal zeitgenössischer Theorie und politischer Pra- xis dar. Während im 17. und 18. Jahrhundert, eine politische Kultur exi- stierte, die die staatliche und öffentliche Sphäre mit normativ anthropologi- schen Begriffen erfaßte - eine Kultur, durch deren Ziele und Ideale das li- berale Konzept der Herrschaft des Rechts noch mitgetragen wurde - dege- nerierte die aufklärerische Vorstellung von Verfassung im 19. Jahrhundert zu einer technisch-legalen Theorie.59 Anstelle von Montesquieus Wunsch, „humane Vernunft" und „vernünftige Humanität" herzustellen, bot der Liberalismus des 19. Jahrhunderts die Gewaltenteilung als technisch-legale Garantie für parlamentarische Verfahren und Individualrechte an, losge- löst von der inhaltlichen moralphilosophischen Vision des 18. Jahrhun- derts. Zusammenfassend läßt sich sagen: Der liberale Staat hatte im Kon- text der Diskussion des 18. Jahrhunderts eine substantielle Bedeutung an- genommen, die heute verlorengegangen ist, in den fundamentalen Prinzi- pien liberaler Verfassungen jedoch immer noch mitgedacht wird. Schmitt definierte das Problem, das durch diesen Wandel entstand, genau wie seine radikalen und konservativen Schüler als Konflikt von Verfassungsprinzi- pien und Verfassungswirklichkeit.60 Soweit dieser Konflikt ein politisches Problem ist, betrifft er das Verhältnis von liberalen Institutionen zu demo- kratischen Prinzipien; als Problem von Rechtsprechung und Recht entsteht er aus der liberalen Idee des Staates und seiner demokratischen Legitimität.

Diese Problematik findet in die frühen Arbeiten von Habermas sowohl durch die direkte Aneignung von Schmitt Eingang als auch indirekt durch die Berufung auf konservative Schüler Schmitts wie Forsthoff, Rüdiger 58 Ebd., S. 58. Forsthoffs Darlegungen stützen sich auf Schmitt, Hüter, S. 99 ff.; Forsthoff,

Verwaltungsrecht, S. 53 Anm. 1. 59 E. Forsthoff, Zur Einführung, in: Montesquieu. Vom Geist der Gesetze, Tübingen 1951,

S. XXVII-XXIX. Habermas diskutiert die „Entwicklung des liberalen Rechtsstaats zum

Träger kollektiver ,Daseinsvorsorge* " in der Einleitung zu: Student u. Politik, Neuwied

1961, S. 18 ff. Der im wesentlichen unveränderte Neudruck: Zum Begriff der politischen Beteiligung, in: Habermas, Kultur u. Politik. Verstreute Aufsätze, Frankfurt 1 973, S. 9-60 wird zitiert als: Zum Begriff. Habermas verweist dort auf die von Forsthoff eingeleitete Ausgabe von Montesquieu; Zum Begriff, S. 15. Siehe auch Habermas Verweise auf Forst- hoffs Verwaltungsrecht in diesem Abschnitt, S. 23 ff. Der Ausdruck „Daseinsvorsorge" stammt von Forsthoff. S. auch K.-M. Kodalle, Politik als Macht u. Mythos. C. Schmitts „Politische Theologie", Stuttgart 1973, S. 15.

60 Huber, Verfassung u. Verfassungswirklichkeit bei Carl Schmitt, in: ders., Bewahrung u.

Wandlung, S. 25-29.

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Altmann und Werner Weber und deren Analyse liberaler Institutionen. Sie ist der Kern der Habermasschen Analyse der parlamentarischen Demokra- tie, der politischen Parteien und liberalen Grundrechte in Student und Poli- tik, wo Demokratie als Selbstbestimmung freier und gleicher Bürger darge- stellt und als Gegensatz zu liberalen Formen und Verfahrensweisen gese- hen wird, und erneut in Strukturwandel der Öffentlichkeit, wo die manipula- tive und „pluralistische" öffentliche Meinung mit dem klassischen Modell der opinion publique des 18. Jahrhunderts kontrastiert wird. Wie Kirchheimer geht auch Habermas bei seiner Analyse der liberalen Demokratie von der Unterscheidung der wahren von der formalen Demo- kratie aus, die von Schmitt und aus der Weimarer Kontroverse stammt. Bonn und Weimar sind denn auch für Habermas die Testfälle seiner Ana-

lyse demokratischer Partizipation, die für ihn Mittel zur Erlangung des sub- stantiellen Ziels der Selbstverwirklichung ist und kein „Wert an sich" oder

gar ein „politischer Fetisch", wobei Demokratie für ihn, wie für die an der Debatte der 20er Jahre in Deutschland Beteiligten, sowohl ein historischer Prozeß als auch ein theoretisches Problem ist. Die entscheidende Frage lau- tet für ihn wie für seine Vorgänger, was wirklich „demokratisch" ist? Ohne den Beteiligten allzusehr Unrecht zu tun, kann man den Kern dieser Kon- troverse als den Gegensatz von substantialistischen und positivistischen Vorstellungen zusammenfassen. Die Weimarer Substantialisten, auch Schmitt, erklärten die Empirie für verfehlt, weil sie Demokratie nicht als Freiheit und Gleichheit begrifflich faßte. Die Positivisten - als deren Ver- treter Habermas zurecht Richard Thoma nennt - hoben die formalen und institutionellen Aspekte demokratischer Verfassungen hervor, räumten aber gleichzeitig ein, daß ein anderes und substantielleres Konzept denkbar sei. Thomas Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff definierte Staaten als demokratisch anhand der Art ihres Wahlrechts und anderer institutioneller Merkmale. Staaten mit allgemei- nem und gleichem Wahlrecht und mit institutionellen Vorkehrungen, die dem Modell westlicher demokratischer Verfassungen entsprachen, sollten nach Thoma als demokratisch gelten. Die „Rousseauistische" Demokratie- theorie als „sich selbst regierende Genossenschaft aller erwachsenen

Staatsangehörigen" - in Thomas Nomenklatur die radikale Demokratie - wird von ihm als nicht praktikabel verworfen.61 In modernen Staaten seien Presse und politische Parteien unverzichtbare Mittler bei der demokrati- schen Willensbildung. Als politischer Prozeß habe Demokratie, erklärte

61 Habermas verweist auf Thoma, in: Zum Begriff, S. 9. R. Thoma, Der Begriff der moder- nen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff, in: M. Palyi (Hg.), Hauptpro- bleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für M. Weber, 2 Bde., München 1923, Bd. 2, S. 37-64. Zit. S. 46. Zum Unterschied zwischen ,,radikale[m] und liberale[m] Demokratis- mus" bei Thoma, ebd., S. 39-46. Auf S. 46 schreibt Thoma: „Unmittelbare [= radikale Demokratie, E. K.] ist aus wirtschaftlichen und politischen Gründen längst eine praktische Unmöglichkeit geworden."

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Thoma, nichts mit ideologischen Prinzipien, d. h. Rousseauistischen Kon- zepten, zu tun und zwar trotz ihrer Definition als Selbstregierung im sub- stantialistischen Sinn. Schmitt konterte mit dem Aufzeigen der Schwächen in Thomas Theorie. Sie könne weder die Struktur der Demokratie als einer Idee entwickeln noch die sozialen Folgen moderner demokratischer Sy- steme erklären.62 Diese wissenschaftlichen Aufgaben könnten nur dann er- folgreich gelöst werden, wenn man Rousseaus Behauptung der Demokratie als der Identität von Regierenden und Regierten nicht ausklammerte, son- dern als analytisches und normatives Prinzip ernst nahm. Das ist auch Habermas' Einwand gegen moderne Begriffsbestimmungen von Demokratie. Im Rahmen der Weimarer Kontroverse zwischen Sub- stantialisten und Positivisten entscheidet er sich für erstere. Gegen Thomas Interpretation argumentiert er wie Schmitt, in allen Systemen, die den An- spruch erheben, demokratisch zu sein, müsse das eine Prinzip verankert sein, die Identität von Regierenden und Regierten.63 Dieses Konzept von Demokratie findet sich selbstverständlich nicht allein in Schmitts Theorie, aber er entwickelte eine in ihrer Art einzigartig wirkungsvolle Formulie- rung der methodischen Bedeutung des Konzepts, die Habermas ebenfalls benutzt. Während der „klassische" Liberalismus ein genuin demokrati- sches Element besaß, war diese Verfassungsform sozial auf die Zeit bürger- licher Dominanz beschränkt; im Zeitalter des allgemeinen Wahlrechts müssen Institutionen, die auf einer besonderen Homogenität von Interes- sen und Ansichten beruhen, in immer stärkere Widersprüche geraten, wo- bei in einem liberalen Verfassungssystem der Widerspruch zwischen demo- kratischer Legitimität und repräsentativen Institutionen der wichtigste ist.

Habermas wiederholt diese These in Student und Politik und bezieht sich dabei auf Forsthoffs Analyse der Entwicklung des bürgerlichen Rechts- staats zum Träger kollektiver „Daseinsvorsorge" und über Forsthoff auch auf Schmitts These, daß diese strukturellen Veränderungen den Nieder- gang der Prinzipien politischer Organisation einschließen, die Montesquieu (und Schmitt unter Bezugnahme auf ihn) als wesentliche Merkmale des

62 C. Schmitt, Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff, in: Archiv für Sozialwissenschaft u. Sozialpolitik 51. 1924, S. 817-23.

63 Habermas, Zum Begriff, S. 31. Habermas verweist hier auf die „fiktive Identifizierung" der momentanen Parlamentsmehrheit mit dem Willen des Volkes. Seine Argumentation zieht die Legitimität dieses Anspruchs in Zweifel, den Willen des Volkes zu repräsentieren, und setzt - obwohl das an dieser Stelle nur negativ ausgedrückt ist - logischerweise eine demokratische Identität voraus, die nicht „fiktiv", sondern „wahr" ist. „Die plebiszitär- demokratische Identität des Willens der jeweiligen Parteienmehrheit in Regierung und Parlament mit dem Willen des Volkes ist in Wahrheit eine fiktive Identifizierung; sie hängt wesentlich davon ab, wer über die Zwangs- und Erziehungsmittel verfügt, den Willen des Volkes manipulativ oder demonstrativ zu bilden. Die Parteien sind Instrumente der Wil-

lensbildung, aber nicht in der Hand des Volkes, sondern derer, die die Parteiapparate be- herrschen" S. 31.

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Rechtsstaates identifiziert hatte: 1. Generalität der Normen, 2. Individual- rechte und 3. Gewaltenteilung, um beides zu schützen. Die Entstehung der sozialen und wirtschaftlichen Funktionen des Wohlfahrtsstaates stört die grundlegende Voraussetzung der Theorie Montesquieus und ganz allge- mein des Liberalismus, daß Staat und Gesellschaft getrennte Sphären bil- den. In einem direkten Kommentar zu Forsthoffs These, in dem er deren Bestimmung der zeitgenössischen Krise des Liberalismus übernimmt, stimmt Habermas ihm zu, daß insoweit der Staat in die Gesellschaft „vor- sorgend, verwaltend, verteilend" eingreift, das fundamentale Prinzip des Rechtsstaates nicht aufrechterhalten werden kann.64 Gesetze, die für be- stimmte soziale Zielgruppen gemacht werden, wie es charakteristisch für die Sozialstaatsgesetzgebung ist, können nicht allgemein sein, darin stimmt Habermas mit Forsthoff überein. Selbst wenn diese Maßnahmen ausdrück- lich als solche gefaßt werden, führen derartige Eingriffe zur Auflösung der

Abgrenzung von „Gesetzen" und „Maßnahmegesetzen", wie sie in der Theorie des Rechtsstaats vorgesehen ist. Wenn Staat und Gesellschaft der- art miteinander verflochten sind, wird der verpflichtende Charakter der Herrschaft des Rechts geschwächt. Die Individualrechte, die in der libera- len Theorie negativ als Begrenzung politischer Herrschaft konzipiert sind, werden als Folge davon in positive Forderungen an den Staat umgedeutet. Diese Entwicklung unterminiert insgesamt die Garantie von Individual- rechten im Rechtsstaat, die nach Montesquieu das Ergebnis der Gewalten-

teilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative sein sollte. Die Analyse dieses Wandels im Rahmen der Kriterien, die liberale Prinzi-

pien selber liefern, macht den Widerspruch, der schon immer zwischen Demokratie und bürgerlichem Rechtsstaat bestanden hat, nach Habermas deutlich.65 Zwar proklamiert der Rechtsstaat die Idee der Demokratie und institutionalisiert sie sogar in gewisser Weise, aber in Wirklichkeit ist die li-

64 Ebd., S. 35. Habermas stützt sich in Zum Begriff (s. den Abschnitt: Zur Alternative der au- toritären oder sozialen Demokratie) auf die Analyse Forsthoffs; er zieht die folgenden Ar- beiten häufig heran: H. Rumpf, Der ideologische Gehalt des Bonner Grundgesetzes, Karlsruhe 1958; R. Altmann, Das Problem der Öffentlichkeit u. seine Bedeutung für die moderne Demokratie, Diss. Marburg 1954; E. Forsthoff, Begriff u. Wesen des sozialen

Rechtsstaates, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 12. 1954, S. 8-33; W. Weber, Spannungen u. Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, Stuttgart 19582; ders., Gewaltenteilung als Gegenwartsproblem, in: Festschrift C. Schmitt, Berlin 1959, S. 253-72.

65 Habermas schreibt: „Der liberale Rechtsstaat setzt die Identifikation des Bürgertums mit dem Volk voraus. Der Widerspruch: Die Idee der Demokratie zu proklamieren, in gewis- ser Weise auch zu institutionalisieren; und doch eine Minoritätendemokratie auf der Basis einer sozialen Hierarchie faktisch zu betreiben - ist dem liberalen Rechtsstaat eigentüm- lich". Zum Begriff, S. 18. Er vertritt hier dann weiter die These, daß dieser Widerspruch auch die Partizipation in solchen Systemen charakterisiert - typischerweise in parlamenta- rischen Regierungssystemen. Den historischen Abriß der parlamentarischen Repräsenta- tion und ihrer politischen Bedeutung übernimmt Habermas von Schmitt, Verfassungsleh- re; vgl. Zum Begriff, S. 16 Anm. 13.

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berale Demokratie „eine Minoritätendemokratie auf der Basis einer sozia- len Hierarchie".66 Nur als Selbstbestimmung der Menschheit ist Demokra- tie nach Habermas wahre Demokratie, als Produkt oder als technisches Mittel eines Regierungssystems ist politische Beteiligung nicht genuin de- mokratisch. Wenn man Demokratie und demokratisches Regierungssy- stem als Selbstbestimmung der Menschen ernst nimmt und nicht als bloße „Spielregeln" behandelt, wird das empirisch-pragmatische Konzept von Demokratie als inhaltsleer enthüllt, hält Habermas der empirischen politi- schen Wissenschaft entgegen. Versteht man Demokratie sozialtechnisch als politische Wissenschaft bestimmter Regeln und Institutionen und nicht substantiell, wiederholt man den dem historischen Bewußtsein des Libera- lismus eigentümlichen Fehler.67 Diese strukturellen Veränderungen im Staat werden von einer Transforma- tion der politischen Institutionen begleitet. In dem Maße, in welchem dem Staat soziale Initiative und Verantwortung zuwachsen, hört das Parlament auf, das repräsentative Organ zu sein, als das es in der liberalen Theorie ge- dacht war und das es laut Habermas und Schmitt in seiner klassischen Phase auch wirklich war. Es wird stattdessen im neuen Verfassungssystem instru- mentalisiert zu einem bloßen Vermittler. Volk und Parlament haben ihre Funktion verloren.68 Die Träger der neuen Verfassungswirklichkeit sind nach Habermas die politischen Parteien und organisierte Interessengrup- pen, die über eine neue, manipulative Organisation der öffentlichen Mei- nung ihre privaten Zwecke verfolgen, auf Kosten oder sogar mit dem Mittel öffentlich erklärter Ziele. So erreichen die Parteien eine „tatsächliche Ge- waltenvereinigung", die angesichts des Verfassungsprinzips der Gewalten- teilung problematisch ist, und dieses Einvernehmen mächtiger Interessen findet im Verborgenen, nicht vor dem Forum öffentlicher Diskussion im Parlament statt.69

66 Ebd., S. 18. 67 Ebd., S. 14. 68 Ebd., S. 51. Diese Behauptung steht am Ende seiner Erörterung der veränderten Wirk-

lichkeit parlamentarischer Demokratie; die Prinzipien des Rechtsstaats stehen im Wider-

spruch zur Realität. Er stützt sich hier im wesentlichen auf Weber, Spannungen u. Kräfte; vgl. Habermas, Zum Begriff, S. 49 ff.

69 Ebd., S. 39. „Im Parteienstaat bringen die Parteien hinterrücks eine tatsächliche Gewal-

tenvereinigung zustande, der gegenüber die verfassungsrechtliche Gewaltenteilung pro- blematisch wird". Habermas verweist hier auf T. Eschenburgs Analysen der Politik der In-

teressengruppen: Herrschaft der Verbände, 1955; ders., Staat u. Gesellschaft in Deutsch-

land, 1956; ders., Der Beamte in Partei u. Parlament, 1952. Die „Problematik", auf die Habermas hier hinweist, behandelt Forsthoff ausführlich in seinem Verwaltungsrecht; vgl. Habermas, Zum Begriff, S. 38 Anm. 53. Forsthoffs Erörterung staatlicher Eingriffe im So- zialbereich als Problem des Verfassungsrechts stützt sich, wie dieser Text beweist, auf Schmitts Definition dieses Problems am Ende der Weimarer Republik. Vgl. Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 57 ff. u. S. 60ff., wo er auf Schmitts Analyse der Problematik des Rechtsstaats zurückgreift, wenn „die Sozialordnung für den Staat nicht Gegebenheit son- dern Aufgabe und Gegenstand der Gestaltung (ist)".

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Auch wenn sie legal sind, stellen derartige Machtballungen für die liberalen Prinzipien und die demokratische Substanz einen so mächtigen Wider- spruch dar, daß sie nicht legitim sind. Das Parlament versucht in seiner poli- tischen Arbeit, den Widerspruch zwischen demokratischer Theorie und li- beraler Wirklichkeit zu neutralisieren, doch Habermas kommt wie Werner Weber zu dem Schluß und folgt darin Schmitts Argumentation aus der Ver- fassungslehre, daß unter den gegenwärtigen politischen Gegebenheiten die Parteien eine Formalisierung der sozialen Widersprüche herbeiführen.70 Diese Formalisierung führt zum Ende genuiner politischer Opposition und zur „Entpolitisierung". Im Gegensatz zu einer früheren Phase tritt im gegenwärtigen Parlament der „Spielcharakter der parlamentarischen Auseinandersetzung" in den Vor-

dergrund, erklärt Habermas, und das trotz der Entstehung von Massenpar- teien und einer formal viel größeren Zahl von Wählern. Diese strukturellen Veränderungen der politischen Gestalt der Demokratie führen nach seiner

Analyse zu einer noch weiteren Diskrepanz zwischen dem Ideal der Demo- kratie und der Wirklichkeit des liberalen Staates: „Dies alles scheint, auf Massenbasis und der Basis einer Konkurrenz von Organisationen, die poli- tischen Prinzipien des liberalen Rechtsstaates zu verwirklichen, scheint das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie gegenwärtigen Stils zu

verbürgen, und die soziale Erschütterung der bürgerlichen Verfassung durch den Klassenantagonismus als historisch überwundene Übergangser- scheinung hinter sich zu lassen. All das trägt auch zu jenem objektiven Schein bei, der den alten, seit der frühliberalen Phase existierenden Wider-

spruch, den zwischen der verfassungsmäßig institutionalisierten Idee der Demokratie einerseits und der tatsächlich praktizierten andererseits, im- mer noch verkleidet."71 Habermas nimmt Schmitts Beschreibung des Par- laments als Ort, wo bereits getroffene Entscheidungen nur noch registriert werden, zustimmend auf. Unter den Bedingungen der modernen Demo- kratie haben Volk und Parlament ihre Funktionen einer Bürokratie über- antwortet, die „undurchsichtig", „autoritär und abstrakt" ist.72 Die öffentliche Meinung sollte in einem liberalen System als Kontrollorgan gegenüber staatlicher Macht und gesellschaftlichen Gruppen fungieren, aber auch sie erfüllt nicht mehr diese ursprüngliche Funktion. Dieser Wan- del wird von Habermas in Student und Politik knapp erörtert, wobei er sich auf Altmanns Analyse stützt, um die Behauptung zu belegen, „öffentlich-

70 Habermas, Zum Begriff, S. 26 ff. Seine Bemerkungen zu G. Leibholz' Theorie der moder- nen Demokratie als Parteienstaat beschließt Habermas wie folgt: „Das Parlament wird dadurch zu einer Stätte an der sich weisungsgebundene Parteibeauftragte treffen, um be- reits getroffene Entscheidungen registrieren zu lassen. Ähnliches hat schon Carl Schmitt während der Weimarer Republik beobachtet". Ebd., S. 28. Habermas verweist auf

Schmitt, Parlamentarismus, ohne Seitenangabe. 71 Habermas, Zum Begriff, S. 33. 72 Ebd., S. 28 u. 51.

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keit wird hergestellt. Es ,gibt' sie nicht mehr".73 Dies sollte das Thema von Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) werden, in dem Habermas das Problem der Implikationen von Veränderungen in Sozialstruktur und poli- tischem Bewußtsein für den Parlamentarismus und den bürgerlichen Rechtsstaat aufgreift, das Schmitt in der Geistesgeschichtlichen Lage des heutigen Parlamentarismus vorgegeben hatte. Bei Habermas werden die Folgen wie in Schmitts Arbeit als Abweichung von einer klassischen „Struktur und Funktion des liberalen Modells bürgerlicher Öffentlichkeit" behandelt.74 Das zentrale Problem der liberalen Kultur im Zeitalter der Massendemokratie ist für ihn wie für Schmitt, daß sich Öffentlichkeit als Sphäre ausdehnt und ihre Autonomie abnimmt. Die politischen Folgen die- ser Entwicklung sind für Habermas wie für Schmitt, daß „das deliberie- rende Parlament als Mitte, aber eben auch als Teil des Publikums im ganzen (die räsonnierende Diskussion - E. K.) sichern sollte, und eine Zeitlang auch tatsächlich gesichert hat, ... heute nichts dergleichen" leistet.75 Das klassische Modell von Öffentlichkeit hatte nach Schmitt und Habermas sei- nen Ursprung im 18. Jahrhundert in der Vorstellung eines aufgeklärten Pu- blikums. Seine vollendete Formulierung findet sich - und wieder folgt Ha- bermas' Darstellung Schmitt - in Guizots Histoire des origines du gouver- nement representatif en France (1851). Es waren nach Guizot die „Herr- schaft der öffentlichen Meinung" (Habermas) oder „die Prinzipien des Par- lamentarismus" (Schmitt): öffentliche Diskussion, Publizität und eine freie Presse, die zusammen sichern sollten, daß die verabschiedeten Gesetze mit

73 Ebd., S. 3 1 . Er verweist hier auf Altmann, Das Problem der Öffentlichkeit u. seine Bedeu-

tung für die moderne Demokratie. 74 J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der

bürgerlichen Gesellschaft, Darmstadt 1962, S. 8. Im folgenden wird nach der 12. Aufl.

(1981) zitiert. 75 Ebd., S. 244 f. Habermas Schilderung des Parlaments auf diesen Seiten stützt sich auf

Schmitt, Parlamentarismus; vgl. Habermas, Strukturwandel, S. 351 Anm. 69. Er wieder- holt seine Aussage aus Zum Begriff (Anm. 70 oben). Habermas Vorbehalte gegenüber diesem Wandel in der Funktion der parlamentarischen Repräsentation hängt deutlich zu- sammen mit seiner Kritik des Wandels der Öffentlichkeit als ganzem: „Der neue Status des

Abgeordneten ist nicht länger durch die Teilhabe an einem allgemein räsonierenden Pu- blikum charakterisiert", S. 244. Der Gegensatz zwischen einer früheren klassischen Zeit, in der der Abgeordnete diese Rolle wirklich spielte und der gegenwärtigen politischen Realität ist der entscheidende Aspekt der Habermasschen Schmitt-Rezeption. Vgl. zusätz- lich Habermas, Strukturwandel, S. 1 13 ff. und S. 322 Anm. 43. Auf S. 125 zitiert er densel- ben Passus von Guizot wie Schmitt, um die Funktion der Publizität im Parlamentarismus zu definieren, und die Anmerkung auf S. 322 deutet darauf hin, daß er diesen Teil seiner Ar-

gumentation von Schmitt übernahm und zwar aus Die geistesgeschichtliche Lage des heu-

tigen Parlamentarismus, S. 43 f. Anm. 3. Habermas Schilderung der parlamentarischen Realität - im Gegensatz zu den Prinzipien - auf S. 244 paraphrasiert Schmitt, Parlamenta- rismus, S. 62, und Habermas verweist in: Strukturwandel (S. 244 u. 351 Anm. 70) auf E. Friesenhahn, Parlament u. Regierung im modernen Staat, in: Veröffentlichungen der

Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 16. 1958, S. 31.

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der Wahrheit und dem Gemeinwohl übereinstimmten. Denn sie allein legi- timieren die Macht des Parlaments. Nach Habermas funktionierte dieses Modell bis ins 19. Jahrhundert tat- sächlich. Aber mit der Entstehung des „Liberalismus" machte die bürgerli- che Öffentlichkeit als Geschichtsphilosophie - als epistemologisches Sy- stem zur Wahrheitsfindung - dem „Commonsense-Meliorismus" Platz.76 Dieser Verfall der epistemologischen Überzeugungskraft ihrer Postulate wurde begleitet von wirtschaftlichen Veränderungen, die der Rechtsstaat zuließ und stabilisierte. Habermas' Einleitung zum Student und Politik (1961) behandelte das Parlament bereits als einen der Widersprüche zum bürgerlichen Rechtsstaat. Im Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) be- schreibt Habermas, wie der sozioökonomische Wandel gegen die alte Öf- fentlichkeit arbeitete: Kultur und Diskussion wurden kommerzialisiert, die freie Presse wurde zur Kapitalanlage. Mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts brachten diese Veränderungen ein Massenpublikum von „Kul- turkonsumenten" hervor, das das Räsonnement eines lesenden Publikums verdrängte. Diese Veränderungen in der Sozialstruktur von Öffentlichkeit höhlten schließlich die Prinzipien des repräsentativen Regierungssystems aus: Aus Publizität wurde gezielte Meinungslenkung, aus der Presse ein Teil eines großen manipulativen Systems, aus der Öffentlichkeit selbst wur- den „folgebereite Kunden".77 Wichtiger für die epistemologische Gültigkeit der parlamentarischen Legi- timität ist jedoch, daß der Zusammenhang zwischen öffentlicher Diskus- sion und Gesetzgebung, wie er vom Liberalismus behauptet wurde, durch Veränderungen in Publizität und Öffentlichkeit zerstört wurde.78 Wie Werner Weber und Altmann zieht auch Habermas die Schlußfolgerung, daß Parlament und Öffentlichkeit ihre klassischen Repräsentationsfunk- tionen eingebüßt hätten. Unter den früheren Bedingungen relativer Inter- essenhomogenität und relativ vernünftiger Diskussion konnten Parla- mentsentscheidungen eine gewisse Rationalität und Permanenz in einem System abstrakter und genereller Gesetze für sich in Anspruch nehmen. Heute dagegen ist das Parlament zu einem „Ausschuß von Fraktionen" ge- worden, seine Entscheidungen sind das Ergebnis von „Bargaining", und das Abgeordnetenmandat ist durch die Parteidisziplin zum imperativen Mandat dieser Partei umfunktioniert worden. Statt wie das klassisch-libe- rale Parlament Diskussionsforum zu sein, ist das Parlament von heute nur mehr ein Ort, an dem bereits getroffene Entscheidungen registriert wer- den.79

76 Habermas, Strukturwandel, S. 160. 77 Ebd., S. 202; S. 220 ff., S. 233 ff., Zitat S. 233. 78 Ebd., S. 214. Habermas These ist gleichlautend (S. 214-16) mit Schmitts, ohne daß er ihn

zitiert. Er verweist auf H. Schneider, Über Einzelfallgesetze, in: Festschrift für C. Schmitt, Berlin 1958, S. 159-78 und auf Forsthoff, Verwaltungsrecht.

79 Habermas, Zum Begriff, S. 29; ders., Strukturwandel, S. 244.

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Habermas' frühe Arbeiten stellten die klassische Öffentlichkeit als ein Sy- stem zur Wahrheitsfindung dar. Die spezifische Rationalität der öffentli- chen Diskussion war darüber hinaus der Maßstab für die von ihr geschaffe- nen politischen Institutionen: Parlament und Rechtsstaat. Durch sie sollte Aufklärung an die Stelle von Gewalt treten. Diese substantielle Rationali- tät und das Ideal eines politischen Systems, das diese Rationalität zu ver- wirklichen sucht, machen schon zu diesem frühen Zeitpunkt den Kern von Habermas' Denken aus, sie sollten später Gegenstand seiner Moralphilo- sophie und linguistischen Theorie werden. Die Ursprünge dieser positiven, wenn auch institutionell noch unvollständig bestimmten Theorie der Öf- fentlichkeit als einer kommunikativen Gemeinschaft finden sich jedoch in Habermas negativer Beurteilung der liberalen Demokratie. Seine Kritik der fehlenden demokratischen Substanz im modernen liberalen Staat faßt zwei Thesen zusammen: Werner Webers Behauptung, daß das System libe- raler Gewaltenteilung in der Massendemokratie äußerst instabil geworden ist, weil Parteien und Interessengruppen in oligarchischer Verbindung ge- meinsam handeln und Forsthoffs These, daß die Sicherheit des Staatsbür- gers in diesem System eines instabilen Pluralismus nur gewahrt werden kann, wenn die öffentliche Macht privater Gruppen einer öffentlichen Ent- scheidung in der öffentlichen Sphäre unterworfen wird.80 In diesen frühen Arbeiten sind die intellektuellen Anleihen von Habermas bei Schmitt und seinen Schülern offenkundig. Ihre Kategorien und Kon- zepte liefern Habermas die begriffliche Grundlage für seine Kritik der par- lamentarischen Demokratie und des Rechtsstaates; Habermas formale Beweisführung wiederholt die Schmitts: Die Prinzipien des Parlamentaris- mus und des liberalen Staates im klassischen Modell stehen im Widerspruch zur politischen Wirklichkeit. Die Legitimationsprobleme im Spätkapitalis- mus (1973) und neuere Beiträge von Habermas zu politischen Streitfragen in der Bundesrepublik lassen die ausdrücklichen Verweise auf Schmitt und seine Schule weg, die Student und Politik und der Strukturwandel der Öf- fentlichkeit noch enthielten. Die Beweisführung und die Kategorien, die Habermas in diesen beiden frühen Arbeiten von Schmitt übernommen hat, liefern jedoch auch die theoretischen Elemente seiner Darstellung der Pro- blematik des Staates im Spätkapitalismus. Die Legitimationsprobleme sind ein Ergebnis des Dilemmas der Massendemokratie, das er in den früheren Arbeiten behandelt hat: der Strukturwandel der Öffentlichkeit, der Schlüs- sel zur demokratischen Theorie im Habermasschen System, verhindert nunmehr die Partizipation der Öffentlichkeit im politischen System und hat den Bürger zum Objekt statt zum Subjekt der öffentlichen Meinung ge- macht. In diesem System ist der angebliche Souverän, das Volk, tatsächlich machtlos.81 Die Legitimationskrise entsteht aus dem Widerspruch zwischen

80 Ders., Zum Begriff, S. 38 ff. 81 Ders., Strukturwandel, S. 276 u. S. 358, Anm. 129. Während der Text stillschweigend

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Verfassungsprinzipien und politischer Wirklichkeit und der Desintegration der traditionellen Grundlagen der Legitimität in dem Augenblick, da neue Legitimationsforderungen im System aufkommen. Letztlich liegt den Legi- timationskrisen ein „Motivationsdefizit" zugrunde; zwischen dem, was der Staat (und das Wirtschafts- und Erziehungssystem) von den Beteiligten fordern, und dem, was das soziokulturelle System anbieten kann, klafft eine Lücke.82 Wie Schmitt ist auch Habermas skeptisch, ob die intellektuellen Fundamente des Systems noch glaubwürdige und zwingende Motivations- grundlagen liefern können. Die religiösen und philosophischen Systeme, die früher eine sinngebende Deutung der Welt lieferten, befinden sich heute auf dem Rückzug - sie erzeugen weder Glauben noch Motivation. Dies ist zwar eine der Analyse Schmitts parallele Sicht des Übergangs von einer religiösen und metaphysischen Interpretation der Welt zu einer säku- laren und rationalen,83 aber diese Vorstellung, daß demokratische Staaten zur Aufrechterhaltung ihrer Legitimitätsforderungen der Glaubwürdigkeit in den Augen ihrer Bürger bedürfen, ist in sich durchaus nicht außerge- wöhnlich. Habermas verbindet sie jedoch wie Schmitt mit einer Analyse li- beraler Institutionen und überträgt dabei das Kriterium der Legitimität aus einem angeblich klassischen Modell auf die zeitgenössische politische Pra- xis. Damit übernimmt er Schmitts formale Beweisführung. Die geistesge- schichtlichen Grundlagen der Legitimität der Vergangenheit gibt es als Re- alfaktoren in einer pluralistischen Gesellschaft nicht mehr; die bürgerliche Ideologie, die die staatliche Legitimität durch die In-die-Pflichtnahme des Staatsbürgers untermauerte, ist gegenüber früher zur bloßen Fassade ge- worden.84 In den Anfängen der Weimarer Republik trennte Schmitt in seiner Kritik des Parlamentarismus Institutionen und Verfahren von der Substanz und auch in seiner Verfassungsanalyse schied er die formalen Aspekte (Legali- tät) von ihrer Substanz (Legitimität). Legalität und Legitimität waren, be- hauptete Schmitt, nicht identisch, sie waren getrennte und sogar gegensätz- liche Prinzipien der Weimarer Verfassung. Im Kontext der parlamentari- schen Handlungsunfähigkeit nach dem September 1930 entwickelte Schmitt eine von der liberalen Ideologie des Parlamentarismus abgelöste Souveränitätslehre und lokalisierte die „demokratische Souveränität" der Republik im Amt des Reichspräsidenten. Das war eine Verfassungsinter- pretation.

Schmitts Definition des klassischen Parlamentarismus übernimmt, lehnt er Schmitts „Mo- dell des Verwaltungsstaates, dessen technische Funktionsbedingungen einer möglichen Demokratisierung entgegenstehen" ausdrücklich ab und kritisiert Schelskys Fortentwick-

lung dieses Modells in der Nachkriegssoziologie. Ebd., S. 358 Anm. 129. 82 Ders., Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt 1973, S. 103 u. 122. 83 Vgl. Schmitt, Politische Theologie und Das Zeitalter der Neutralisierungen u. Entpohtisie-

rungen, in: Der Begriff des Politischen, S. 79 ff. 84 Habermas, Legitimationsprobleme, S. 111.

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Habermas legt demgegenüber eine philosophische Analyse vor, durchsetzt mit Verweisen auf die konkreten Probleme liberaler demokratischer Staa- ten, die auch bei ihm zur Entwicklung eines Souveränitätskonzepts führt, dessen Souveränität unabhängig von liberalen, rechtsstaatlichen Institutio- nen ist. Schmitt und Habermas begreifen das Dilemma des bürgerlichen Rechtsstaates als Ergebnis von Pluralismus und Polyarchie, wobei mächtige Interessengruppen in der Privatsphäre der Öffentlichkeit gegenüberstehen. Obwohl sie es unterschiedlich begründen und auch in wesentlich anderen Begriffen fassen, gehen sowohl Schmitt als auch Habermas von der An- nahme aus, daß ein hypothetisches allgemeines oder öffentliches Interesse durch private Macht unterdrückt wird. Für Schmitt kann man dieses Di- lemma als den Gegensatz von einem schwachen Staat gegenüber mächtigen privaten Interessen charakterisieren. Bei Habermas ist es das Dilemma des schwachen Staatsbürgers gegenüber mächtigen privaten Interessen, die auf die Substanz staatlicher Autorität Einfluß nehmen. Diese Unterschiede ergeben sich aus wesentlich unterschiedlichen Begrif- fen des Gemeinwohls und unterschiedlichen politischen Wertvorstellun- gen. In einigen seiner neuesten Arbeiten liefert Habermas jedoch eine Rechtfertigung für ein plebiszitäres Konzept von Legitimität im Sinne eines Konflikts von Legalität und Legitimität. So versucht er in Ziviler Ungehor- sam - Testfall für den demokratischen Rechtsstaat (1983) den „präsumpti- ven Souverän" als den in der öffentlichen Sphäre aktiven Bürger als Mög- lichkeit wiederzugewinnen gegen sein „bleiches, eingeschüchtertes, zahn- loses Antlitz".85 In diesem Aufsatz ist der zivile Ungehorsam der Testfall für eine demokratische Souveränität, die im Sinne einer Unterscheidung von Legalität und Legitimität in der Bundesrepublik definiert wird: „Akte, die ihrer Form nach illegal sind, obwohl sie unter Berufung auf die gemein- sam anerkannten Legitimationsgrundlagen unserer demokratisch-rechts- staatlichen Ordnung ausgeführt werden".86 Schmitt wird hier nur für den „autoritären Legalismus" zitiert, den Habermas verwirft; aber die Struktur

85 Ders., Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt 1985, S. 79. Der Aufsatz „Ziviler Unge- horsam" erschien zuerst in P. Glotz (Hg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, Frankfurt 1983, einem Sammelband mit Vorträgen einer SPD-Tagung im September 1983 zum Thema Prinzip und Praxis des zivilen Ungehorsams, die angesichts der erwarteten Mas- senproteste gegen die Stationierung neuer amerikanischer Marschflugkörper in West- deutschland veranstaltet wurde. Habermas Aufsatz erschien in anderer Fassung auch in: Die Zeit Nr. 39 vom 23. September 1983 unter der Überschrift „Ungehorsam mit Augen- maß. Der Rechtsstaat braucht des Bürgers Mißtrauen". Vgl. Chr. Graf v. Krockows Kritik in der Form einer Rezension von Bendersky, Freund oder Feind. Parlamentarismus oder Diktatur: die unheimliche Aktualität C. Schmitts, in: Die Zeit Nr. 46 vom 11. November 1983. Für Schmitts Ansichten zum Widerstand vgl. Legalität u. Legitimität, wo er betont, daß das Problem des zivilen Ungehorsams und Widerstandes gegen Unrecht in allen Staa- ten auch weiterhin existiert: „jede funktionalistische-formalistische Entleerung des par- lamentarischen Gesetzgebungsstaates vermag es nicht zu lösen". Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 285.

86 Habermas, Ziviler Ungehorsam, in: Unübersichtlichkeit, S. 82.

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seiner These, Konzepte und Kategorien seiner Analyse der Souveränität wiederholen dennoch diejenigen Schmitts. Obwohl er vor dem „Unfug" warnt, der mit den Begriffen „Legalität" und „Legitimität" getrieben wor- den ist, beharrt Habermas in seiner Erörterung des Problems des zivilen Ungehorsams darauf, daß die Kontroverse um diese Begriffe kreist, und er zieht, wenn auch subtil, die Verbindung zur Diskussion am Ende der Wei- marer Republik, indem er den folgenden Abschnitt „Der Hüter der Legiti- mität" überschreibt.87 Darin werden Schmitts Definitionen auf die plebiszi- täre Demokratie angewandt, aber es wird jede institutionelle Präzisierung vermieden. Die prinzipielle Frage des zivilen Ungehorsams behandelt die Fälle, in denen illegale Handlungen aus moralischer Sicht gerechtfertigt sind. Sie tauchen nach Habermas Ansicht nicht im extremen Kontext einer „Unrechtsordnung" auf, sondern sind der Normalfall des Rechtsstaates, „wenn die Repräsentatiwerfassung versagt". Schmitts Prüfstein für die Souveränität - der „Ausnahmefall" - gilt auch für Habermas, und er legt die Entscheidung über die Ausnahme in die Hand des „imaginären Souve- räns" der liberalen Demokratie, des Staatsbürgers: „Der demokratische Rechtsstaat geht in seiner Legalordnung nicht auf. Für den Ausnahmefall des Versagens der Repräsentatiwerfassung stellt er seine Legalität denen zur Disposition, die dann noch für seine Legitimität sorgen können. Wann dieser Fall gegeben ist, kann logischerweise nicht wiederum von Feststel-

lungen eines Verfassungsorgans abhängig gemacht werden . . . Der demo- kratische Rechtsstaat ist gewiß neutral gegenüber den grundrechtlich ge- schützten subjektiven Glaubensgewißheiten seiner Bürger; keineswegs neutral verhält er sich gegenüber den intersubjektiv anerkannten morali- schen Grundlagen der Legalität und des Rechtsgehorsams. Das Gewissen des Staatsbürgers erstreckt sich auch auf das, was alle angeht. Deshalb kann es keine Instanz geben, die ultimativ dem Streit um Einhaltung oder Ver-

wirklichung der legitimierenden Verfassungsprinzipien enthoben wäre -

und dies um so weniger, je tiefer der Interventionsstaat mit seinen Politiken in die gesellschaftlichen Lebensgrundlagen eingreifen muß".88

Schlußbemerkung. Bei den hier diskutierten Fällen einer Rezeption Schmitts durch die „Frankfurter Schule" existiert eine tiefe Kluft zwischen den inhaltlichen politischen Wertvorstellungen und Zielen einerseits, und der zu ihrer Durchsetzung benutzten formalen Argumentation anderer- seits. Nirgends ist diese Kluft zwischen politischen Zielen und Argumenta- tionsstrategie so tief wie bei Habermas. Keinen der anderen Vertreter der „Frankfurter Schule" kann man mit gleicher Berechtigung als „liberal" be- zeichnen, keiner hat der Konstruktion eines Systems rationaler und dis-

87 Ebd., S. 86. Die Zwischenüberschrift erinnert an Schmitts, Der Hüter der Verfassung; vgl. auch H. Kelsen, Wer soll Hüter der Verfassung sein?, Berlin 1931.

88 Habermas, Ziviler Ungehorsam, in: ders., Unübersichtlichkeit, S. 90 f.

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kursiver sozialer Beziehungen so viel an intellektueller Anstrengung ge- widmet. Um so paradoxer sind deshalb die Parallelen zwischen der Struktur seiner und Schmitts Argumentation auf der Ebene der unterschiedlichen Prioritäten ihrer Wertvorstellungen. Was bedeuten jedoch diese Elemente formaler Übereinstimmung letztlich, angesichts einerseits des Einflusses, den Strukturen und Texte Schmitts auf Habermas hatten, angesichts ihrer tiefen Meinungsunterschiede über politische Werte und Ziele andererseits? Bedingt die Struktur der Argumentation gegen den Liberalismus die nor- mativen Möglichkeiten, die Habermas in seinem theoretischen System zur Verfügung stehen? Betrachtet man Benjamin und Kirchheimer als Vorläufer von Habermas in der „Frankfurter Schule", ist es relativ einfach nachzuweisen, daß die for- malen Elemente ihres Antiliberalismus und wie in Kirchheimers Fall, eine differenzierte politische Theorie und Rechtslehre sie der liberalen Weima- rer Demokratie entfremdeten und beide Männer blind machten für die Entwicklungsmöglichkeiten der Republik zu einer sozial gerechteren Ge- sellschaft. Indem er zentrale Institutionen des liberalen Regierungssystems nach 1919 mit dem geschlossenen System bürgerlicher Interessen gleich- setzte und damit als Widersprüche zur Demokratie bestimmte, unter- schätzte Kirchheimer die inhaltliche Bedeutung, die solche liberalen Ver- fahren haben können. Daß er das schließlich im Herbst 1932 begriff, hat Kirchheimer Schmitt voraus, aber der Zeitpunkt seiner Zustimmung zur parlamentarischen Demokratie kann angesichts der bald darauf folgenden politischen Entwicklungen nur als tragisch bezeichnet werden. In seinem Fall führten die Antipathie gegenüber Weimar und die von Schmitt über- nommenen Begriffe und Kategorien dazu, seine theoretische Phantasie einzuengen und seine Anklage gegen Weimar zu verstärken. Darüber hin- aus weist Kirchheimers Argumentation zur Weimarer Republik die Merk- male des klassischen Marxismus auf: Er lehnte ihre unvollkommene De- mokratie zugunsten einer idealerweise homogenen Gesellschaft und direk- ter Demokratie ab. Habermas schlägt etwas anderes vor: Durch rationale und friedliche Diskussion soll Übereinstimmung über die Prinzipien ethi- schen Verhaltens erzielt werden, ohne daß die materielle Identität der Klasse wie bei Kirchheimer gefordert wird. Habermas hat ein ganz anderes politisches Ergebnis im Auge als Schmitt: die Verwirklichung von Demokratie als Erziehungsprozeß, an dem demo- kratische Bürger als frei, gleich, selbstbestimmt und souverän teilnehmen und ein demokratischer Diskurs, der die rationalen Prinzipien „wiederge- winnt", auf denen politische Legitimität beruht. Aber mit dieser Argumen- tation geht eine Absage an die Legitimität von Repräsentativorganen ein- her - und eine Absage an die Legitimität des Mehrheitsprinzips, jedenfalls in besonderen Fällen. Wie Kirchheimer und Schmitt vor ihm bringt die Struktur seiner Argumentation Habermas dazu, liberale Institutionen zu unterschätzen, sie sogar - wie die Ausführungen weiter oben belegen - als

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im Widerspruch zu demokratischen politischen und ethischen Idealen hin- zustellen. Richard Löwenthal hat Habermas' Argumentation zu Recht als Ablehnung der bestehenden, auf dem allgemeinen Wahlrecht beruhenden Demokratie verstanden und ihm vorgeworfen, er verstehe nicht, was Re- formen möglich gemacht habe, noch nehme er die Macht der Wahlurne in den westlichen Gesellschaften ernst.89 Diese Institution als „bloß formelle Demokratie" abzutun, stelle Habermas in eine intellektuelle Tradition di- rekt-demokratischen Denkens in Deutschland und enthülle eine für diese Tradition typische Haltung, nämlich die Weigerung, soziale Heterogenität und Wertepluralismus zu akzeptieren. Habermas' Ideal sei nicht nur eine Demokratie ohne Parteien, sondern nach Löwenthals Ansicht „eine De- mokratie, die in komplexen Gesellschaften nicht nur niemals existiert hat, sondern die niemals konkret entworfen worden ist".90 Wie utopisch Ha- bermas' Beispiel einer kommunikativen Ethik in der Politik ist - es würde seiner eigenen Aussage nach der Diskussion in einem idealen Seminar gleichkommen91 -, wird deutlich, wenn man dieses Modell auf irgendeine politische Auseinandersetzung überträgt, sei es den Streit um bleifreies Benzin in der Europäischen Gemeinschaft, seien es die Ansprüche von Ju- den und Arabern der West Bank auf einen eigenen Staat. Das Modell führt nicht deshalb in die Irre, weil es beim Gegner eine machtpolitische Verzer- rung gibt (das ist für ihn der diametrale Gegensatz zur Aufklärung), son- dern weil unterschiedliche Wertvorstellungen in der modernen Gesell- schaft tatsächlich existieren, und weil historisch gewachsene legitime An- sprüche tatsächlich miteinander ringen. Die authentische politische Ver- nunft kann diese Ansprüche nicht einfach zugunsten „der idealen Sprechsi- tuation" ignorieren, sondern muß gerade diese Meinungsverschiedenhei- ten berücksichtigen und sie friedlich und rational zu lösen versuchen. Ha- bermas' Demokratie kann genau wie Kirchheimers Wertedemokratie nur in einem homogenen Gemeinwesen verwirklicht werden, und sein eigenes Konzept der „wahrheitsfähigen" praktischen Fragen geht davon aus, daß der Wertepluralismus an sich etwas Schlechtes ist.92 Eine Folge dieser Ar- gumentationsstruktur ist die Weigerung, wirkliche Alternativen in Betracht zu ziehen und ein Konzept von Demokratie zu erarbeiten, das deren Kom- plexität gerecht wird. Eine zweite, normative Folge der gegen den Liberalismus gerichteten Ar- gumentationsweise ist bereits oben erwähnt worden. In seinen frühen Ar-

89 R. Löwenthal, Gesellschaftliche Transformation u. demokratische Legitimität, in: W. Schulenberg (Hg.), Reform in der Demokratie, Hamburg 1976, S. 25-45, s. bes. S. 26 f. u. S. 33 ff.

90 Ebd., S. 32. 91 Ebd., S. 37 ff. Vgl. Habermas, Protestbewegung u. Hochschulreform, Frankfurt 1968,

S. 244-48. Ebenso S. Lukes Kritik an Habermas' Konzeptionen von Vernunft und Ethik in: Of Gods and Demons. Habermas and Practical Reason, in: Thompson u. Held.

92 Lukes. Aus ganz anderer Perspektive sagt das auch A. Heller, Habermas and Marxism, in:

Thompson u. Held, S. 21-41.

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beiten ging Habermas so vor, daß er die politische Wirklichkeit an einem Idealtypus gemessen hat und dabei die Abweichung bestehender Institu- tionen von ihren „geistesgeschichtlichen" Grundlagen verfolgte. Dieser Ansatz ist auch der Schlüssel zu Schmitts Radikalität, wie seine Zeitgenos- sen und spätere Beobachter erkannt haben. Gemessen am klassischen Mo- dell von Öffentlichkeit, Diskussion und Publizität muß die Realität des Par- lamentarismus „nicht bloß als empirische Abweichung, sondern als ein schier auswegloser Entartungszustand" erscheinen.93 Dieser Ansatz be- deutet heute, wie damals bei Schmitt in den 20er Jahren, daß man die Idee einer Institution gegen deren Wirklichkeit ausspielt. Vor diesem Hinter- grund verlieren die Verfahren der liberalen Demokratie zwangsläufig ihren verpflichtenden Charakter. Damit wird früher oder später Legalität als Ge- gensatz zur Legitimität aufgebaut, mit der logischen Konsequenz, daß sich der Bürger dem Problem seiner Verpflichtung gegenüber dem Staat stellen muß. Unter bestimmten historischen Gegebenheiten ist damit die Frage nach Opposition oder Widerstand gestellt. Diese Frage behandelte Haber- mas in den Legitimationsproblemen zwar nicht, doch ist sie logisch der näch- ste Schritt seiner Argumentation, und in den frühen 80er Jahren bezog er denn auch eine klarere Position zur politischen Verpflichtung des Staats- bürgers in der repräsentativen Demokratie. „Der Wert der Mehrheitsre- gel", schrieb er im Herbst 1983, „muß sich an den Ideen messen lassen, wie weit sich die Entscheidung von den idealen Ergebnissen eines diskursiv er- zielten Einverständnisses oder eines präsumptiv gerechten Kompromisses entfernen".94 Regeln stehen hier gegen Ideale, Legalität steht gegen Legi- timität: Formale politische Entscheidungen von Repräsentativorganen nach der Mehrheitsregel sind nicht identisch mit dem demokratischen We- sen des Rechtsstaates, noch erschöpft sich dessen Substanz in seinen Ver- fahren. Das demokratische Potential bleibt vielmehr als eine direkte, nicht mediatisierte Masse im politischen Leben bestehen. „Wenn die Staatsan- wälte und Richter diese Würde (die demokratische Legitimität) nicht re- spektieren, den Regelverletzer als kriminellen verfolgen und mit den übli- chen Strafen belegen, verfallen sie einem autoritären Legalismus".95 Die Ablehnung der parlamentarischen und repräsentativen Demokratie zugunsten verschiedener Modelle direkter Demokratie ist in diesem Jahr- hundert eine typisch deutsche Haltung gewesen, die nicht auf die politische Linke oder Rechte beschränkt war. Während die angloamerikanischen Demokratien in ihren Verfassungen das Prinzip der demokratischen Legi- timität mit den praktisch-organisatorischen Seiten eines repräsentativen

93 J. Fijalkowski, Die Wendung zum Führerstaat. Ideologische Komponenten in der politi- schen Philosophie C. Schmitts, Köln 1958, S. 4.

94 Habermas, Ungehorsam mit Augenmaß. S. auch ders., Ziviler Ungehorsam, in: ders., Un- übersichtlichkeit, S. 96.

95 Ders., Ungehorsam mit Augenmaß und in Ziviler Ungehorsam, S. 91, wo er auf diejenigen „Anwälte des autoritären Legalismus" verweist, die sich auf C. Schmitts Lehre berufen.

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Ellen Kennedy: Carl Schmitt und die „Frankfurter Schule" 419

Regierungssystems in Einklang bringen konnten, hat das deutsche politi- sche Denken eine solche Konstruktion immer wieder ausgeschlossen. Die Art der hier geschilderten politischen Argumentation läßt an logischer und begrifflicher Klarheit nichts zu wünschen übrig, aber ihre Konsequenz für eine Begriffsbestimmung von Demokratie unter modernen sozialen Bedin- gungen und für die demokratische Praxis ist eine gefährlich falsche Beurtei- lung der Möglichkeiten und Schwierigkeiten moderner Regierungssysteme. Das Wiederaufleben dieser Argumente beweist, wie wichtig Weimar als Fundgrube für das deutsche politische Denken ist.96 Wie wichtig Schmitts Werk für die Ausformung deutscher Ideen von Demokratie war und ist, ist ebenfalls offensichtlich. Die Theoretiker der „Frankfurter Schule" haben ihr Teil dazu beigetragen, diese Tradition deutschen politischen Denkens fortzuführen.

96 Hierfür ein Beispiel: C. Offe u. B. Guggenberger (Hg.), An den Grenzen der Mehrheits- demokratie. Politik u. Soziologie oder Mehrheitsregel, Opladen 1984. Ein Beispiel für po- pulistische deutsche Strömungen ist: Die Demokratie. Organ der Aktion Volksentschei-

dung, o.O. Mai 1984: „Unser Ziel. Nicht länger sollen die Parteien durch die Hintertüre über die gewählten parlamentarischen Organe ,alle Staatsgewalt' monopolistisch in ihren Händen konzentrieren; das Volk soll selbst -wie es das Grundgesetz in seinem Artikel 20 vorsieht - für Lebensfragen der Gesellschaft ,in Abstimmungen' direkt entscheiden kön-

nen, was Gesetz sein soll und Recht". Die Autoren betrachten das „Wechselspiel von Re-

gierung und Opposition" als unvereinbar mit dem Willen des Volkes. Sie fordern ein Refe- rendum Stationierung amerikanischer Raketen in Baden-Württemberg.


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