Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
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Einführung in die ökonomische Theoriengeschichte
I. Definitorische Vorbemerkungen
1. Als Grobdefinition (Arbeitsdefinition) können wir festhalten:
a) Die ökonomische Theorie (Wirtschaftswissenschaften - Volkswirtschaftslehre - Politische
Ökonomie) umfasst alle Versuche, wirtschaftliche Erscheinungen (Phänomene) - z.B. Preis,
Verteilung, Beschäftigung - systematisch zu erklären. Im Prinzip können wirtschaftliche
Phänomene auf zwei verschiedene Arten erklärt werden.
Ein erster Ansatz stützt sich auf die Beobachtung der historischen Realität. 'Systematisch
erklären' bedeutet hier das Erforschen von Ursachen, die das Zustandekommen einer bestimmten
Erscheinung (Preis, Beschäftigungsniveau) bewirken (z.B. mangelnde effektive Nachfrage als
Ursache von Arbeitslosigkeit). In einem ersten Schritt sollen Kausalbeziehungen in reiner Form
herausgearbeitet werden, die darstellen, wie die Kausalkräfte im Prinzip wirken. Die Keynessche
Multiplikatorgleichung Q = (1/s) (a+I) ist eine solche Kausalbeziehung (Q = Sozialprodukt, s =
marginale Sparneigung, a = autonomer Konsum, I = Investitionen).
Ein zweiter Ansatz stellt die Beschreibung eines Idealzustandes in den Vordergrund. Dieser ist in
der Regel ein Gleichgewichtszustand, z.B. ein allgemeines Gleichgewicht im Sinne von Walras,
verbunden mit einem Pareto-Optimum (Grundmodell des Liberalismus, der Neoklassik). Die
Realität wird als Abweichung vom Idealzustand aufgefasst, z.B. starre Löhne, die hoch angesetzt
sind, führen zu Arbeitslosigkeit. Die Beschreibung eines Gleichgewichtszustandes hat in der
Regel normative Implikationen.
b) Die Geschichte der ökonomischen Theorie ist damit die Geschichte des systematischen
Denkens über wirtschaftliche und soziale Probleme, also der wirtschaftlichen und sozialen Ideen
im weitesten Sinne. Probleme wären z.B. die Probleme des Preises, der Einkommensverteilung,
der Beschäftigung und Arbeitslosigkeit.
Systematisch Denken heisst mit Denkmodellen arbeiten; diese Denkmodelle sind Theorien:
Ausgehend von bestimmten Prämissen werden Beziehungen zwischen den Modellelementen
(z.B. Variable und Parameter in einem mathematischen Modell) hergestellt und
Schlussfolgerungen gezogen. Entscheidend ist natürlich welche Elemente in ein Denkmodell
eingehen, und welche Beziehungen zwischen diesen Elementen hergestellt werden.
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c) Die beiden oben erwähnten Erklärungsansätze (Kausalfaktoren ermitteln und Abweichungen
vom Idealzustand feststellen) führen zu zwei grossen Theoriengruppen, positive und normative
Theorien.
Positive Theorien beinhalten Ursache - Wirkung - Beziehungen. Es geht um systematische
Erklärungen von ökonomischen Phänomenen, ausgehend von den grossen Fragestellungen (Wie
erfolgt die Preisbestimmung? Welche Kräfte regeln die Einkommensverteilung, was bestimmt
das Ausmass der Arbeitslosigkeit?). Beispiele für positive Theorien sind die Systeme von
Ricardo, Marx und Keynes sowie die Klassisch-Keynesianische Politische Ökonomie.
Normative Theorien beschäftigen sich mit der Frage, wie eine Wirtschaft aussehen sollte. Es
wird das 'Idealbild' einer Wirtschaftsgesellschaft gezeichnet. Konkret: Wie sollten die grossen
Probleme gelöst werden? (in welche Richtung sollte man gehen, mehr Markt oder mehr Staat?)
Normative Theorien geben damit Auskunft über Ziele, die anzustreben sind. Prinzipiell gibt es
drei grosse normative Theoriensysteme: die Neoklassik (ökonomische Theorie des Liberalismus)
und die Politische Ökonomie des (zentralgeplanten) Sozialismus. Eine drittes System, die
politische Ökonomie des Sozialen Liberalismus, d.h. die Klassisch-Keynesianische Politische
Ökonomie ist wesentlich positiv (N = N* < Nv !), weist aber auch eine normative Dimension
auf. Das wichtigste normative Element ist die Vollbeschäftigung: N = N* = Nv. Allgemein
stehen normative Theorien bei allen positiven Theorien im Hintergrund, als Norm und Referenz
(z.B. Walras-Pareto als normativer Hintergrund für positive neoklassische Modelle).
Aus dem Auseinanderklaffen von Ideal und Wirklichkeit ergibt sich die Problematik der
Wirtschaftspolitik: welche Mittel sind einzusetzen, um eventuell bestimmte Ziele zu erreichen,
um die Kluft zwischen Realität und Norm (Sein und Sollen) – systembedingte Entfremdung! - zu
verringern.
Je nach Theorie werden die entsprechenden Vorschläge verschieden sein. Bei Arbeitslosigkeit
würde ein Neoklassiker eher auf Lohnsenkungen drängen (Arbeit wird billiger, und die
Unternehmer stellen zusätzliche Arbeiter ein). Ein klassisch-Keynesianischer Politischer
Ökonom würde, was die lange Frist angeht, Lohnsteigerungen vorschlagen, um die Kaufkraft
und damit die effektive Nachfrage zu steigern. Dies wurde zu zusätzlicher Beschäftigung führen.
Die Unterscheidung 'positiv - normativ' ist analytisch. In der Wirklichkeit treten positive und
normative Elemente auf. Das Normative ist eine ethisch gute Form des Positiven, z.B.
Unterbeschäftigung (Arbeitslosigkeit) ist positiv und Vollbeschäftigung wäre normativ.
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2. Die grossen Problemkreise
Den wichtigen wirtschaftlichen Erscheinungen (Phänomenen) entsprechen die grossen
Problemkreise
a) Wert und Preis (Preis : Wert in Geld ausgedrückt)
Das älteste ökonomische Problem ist das Problem des Wertes oder des Preises. Was bestimmt
den Wert oder den Preis eines Produktes. Dabei wird unterschieden zwischen absolutem und
relativem Preis.
Der absolute Preis ist der Geldwert einer Gütereinheit, Wert eines Gutes in Geld ausgedrückt: x
SFr pro Gütereinheit: p1, p2, ...pn, wenn n Güter in einer Wirtschaft vorhanden sind. Der relative
Preis beinhaltet einen Wertvergleich zwischen zwei Gütern, die - in einer Tauschwirtschaft
zwischen zwei Produzenten getauscht werden - in einer monetären arbeitsteiligen
Produktionswirtschaft in zwei verschiedenen Produktionsbereichen hergestellt wurden.
In Geld ausgedrückt wird Gleiches mit Gleichem getauscht:
Absoluter Preis: pl xl = p2 x2
Relativer Preis: p2 / p1 = x1 / x2 , der Wert des Gutes 2 wird in Einheiten des Gutes 1
ausgedrückt.
Zahlenbeispiel:
Absoluter Preis : 2 . 6 = 4 . 3
Relativer Preis : 4 / 2 = 6 / 3 = 2 / 1
Der relative Preis p2 / p1 bestimmt das Austauschverhältnis, das den relativen Wohlstand der
Produzenten determiniert. Steigt in einer Tauschwirtschaft aus irgendeinem Grunde das
Preisverhältnis p2 / p1 , erhält der Produzent des Gutes 2 mehr Einheiten des Gutes 1 für eine
Einheit des Gutes 2: Der Produzent des Gutes 2 wird wohlhabender. In einer monetären
Produktionswirtschaft erhalten die Produzenten des Gutes 2 höhere Geldeinkommen, wenn der
Preis 2 höher ist. Entsprechend sind die Produzenten 2 in der Lage, grössere im Sozialprodukt
enthaltene Gütermengen zu kaufen.
Im Zusammenhang mit dem relativen Preis wurde auch immer wieder die ethische Frage nach
dem gerechten Preis- und Austauschverhältnis auf. Dies ist die Frage nach der
Tauschgerechtigkeit.
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Auch im internationalen Handel sind die relativen Preise pj / pi wichtig. Sie werden in diesem
Zusammenhang terms of trade genannt. Auch hier taucht das Problem des gerechten Tausches
auf. So ist es z.B. nicht gleichgültig, ob ein rohstoffproduzierendes Land 2 oder 5 Tonnen Kupfer
ausführen muss, um einen Lastwagen einführen zu können.
b) Verteilung
Das Problem ist die Verteilung des realen Sozialprodukts Q oder des Volkseinkommens Y
(konstante Preise!) unter Bevölkerungsgruppen und Individuen.
Q = p1 x1 + p2 x2 + .... (die Mengen xi sind Endprodukte; die Preise pi sind gegeben (in der
Regel die Preise eines bestimmten Basis- oder Referenzjahres); Veränderungen von Q
widerspiegeln deshalb Mengenveränderungen).
Das reale Volkseinkommen Y = W + P + R enthält die Lohnsumme W (wages), die Profitsumme
P und den Rentensumme R (bei gegebenen Preisen). Das Verteilungsproblem kann in zwei
Schritten angegangen werden:
1) Die Bestimmung der Faktoranteile W/Y, P/Y und R/Y,
2) Die Festlegung der Einkommensstrukturen: Lohnstruktur, Profit- und Rentenstruktur. Die
Bestimmung dieser grossen Einkommenskategorien, die den grossen gesellschaftlichen Klassen
zukommen, ist nach David Ricardo das grundlegende Problem der Volkswirtschaftslehre. Für
ihn ist die Einkommensverteilung ein soziales und politisches Problem. Die moderne
neoklassische Theorie sieht dagegen die Verteilung der Einkommen in erster Linie als ein
Marktproblem.
c) Preis- und Mengenstrukturen
Es geht hier um die Bestimmung der relativen Preise (pi / pj) und Mengen (xi / xj)
(Proportionen), bei jeweils gegebenem Beschäftigungs- und Outputniveau (Skala der
Produktion).
- Gemäss der Neoklassik werden Preis- und Mengenstrukturen auf Märkten durch Angebot und
Nachfrage (Walras, Marshall) bestimmt.
- Die Physiokraten, Ricardo, Marx und die Klassisch-Keynesianischen politischen Ökonomen
sehen die Festlegung von relativen Preisen in der Produktion, d.h. im sozialen und zirkulären
Produktionsprozess (im Prinzip festgehalten im Sraffa - Leontief -Modell). Die absoluten und
relativen (Produktions-) Preise sind abhängig von den Produktionskoeffizienten (aij, ni) und der
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Einkommensverteilung (wn, r). Die absoluten und damit auch die relativen Mengen werden
durch Nachfragekoeffizienten festgelegt (Bruchteile des Volkseinkommens, die für bestimmte
Güter ausgegeben werden – Engel-Kurven).
Das Proportionenproblem hängt natürlich eng zusammen mit den Problemen des Wertes und der
Verteilung, und auch mit der Natur des Produktionsprozesses, die als nächstes andeutet wird.
d) Natur des Produktionsprozesses
Ist der Produktionsprozess ein linearer oder ein zirkulärer Prozess?
- Gemäss der modernen liberalen (neoklassischen) Wirtschaftstheorie ist der Produktion ein
linearer Prozess: bestimmte Faktormengen (N, K, B) werden über sogenannte Faktormärkte in
das Sozialprodukt (Endprodukte) transformiert. Die Zwischenprodukte werden ebenfalls durch
Produktionsfaktoren hergestellt. Der lineare Produktionsprozess ist individualistisch und
resultiert aus dem optimierenden Verhalten der Produzenten (Profitmaximierung,
Minimalkostenkombination) und der Konsumenten (Nutzenmaximierung).
- Physiokratische und klassische Politische Ökonomen, vor allem François Quesnay und David
Ricardo, aber auch Karl Marx und moderne neo-Ricardianische und klassisch-Keynesianische
Ökonomen sehen die Produktion als zirkulären und sozialen Prozess: Industrien beliefern sich
gegenseitig mit Primär- und Zwischenprodukten (Sraffa-Leontief) und Sektoren beliefern sich
mit Endprodukten (C und I – Quesnay, Marx) um Q herzustellen. Die direkte und indirekte
Arbeit (N) ist bei der Produktion dabei und wird darin von Kapital (K) und Boden (B)
unterstützt.
Die Optimierung besteht im Prinzip in der Minimierung des Arbeitseinsatzes, um eine bestimmte
Produktmenge herzustellen. Dies drückt sich in der ökonomischen Wirklichkeit durch die
Durchschnittskosten-Minimierung aus.
e) Beschäftigung
Welche Kräfte bestimmt die Skala der wirtschaftlichen Aktivität? Wieso sind beispielsweise nur
90% der Erwerbsbevölkerung beschäftigt und 10% sind unfreiwillig arbeitslos? (Grosse
internationale Organisationen schätzen, dass weltweit gesehen etwa ein Drittel der Bevölkerung
im erwerbsfähigen Alter arbeitslos oder unterbeschäftigt ist.)
Die neoklassische (liberale) Wirtschaftstheorie sagt, dass bei genügender Konkurrenz eine
Tendenz besteht, die gegebenen Faktorausstattungen von Arbeit (N), Boden (B) und Kapital (K)
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voll auszulasten: Mit Nv, Kv und Bv (v = vollbeschäftigt, voll ausgelastet) kann deshalb ein
maximales Sozialprodukt Qmax produziert werden, das Vollbeschäftigung N = Nv impliziert. Es
gilt das Saysche Gesetz: jedes Angebot schafft sich seine eigene Nachfrage (W – G – W’) ;
deshalb sei allgemeine Überproduktion (unfreiwillige Arbeitslosigkeit) unmöglich. Diese
klassische Form des Sayschen Gesetzes wird in anderer Form von den modernen liberalen
(neoklassischen) Ökonomen vertreten: hier schaffen die Faktormärkte eine Tendenz zur
Vollbeschäftigung.
Im Gegensatz dazu hat aber Maynard Keynes (1883-1946) festgehalten, dass in einer
Geldwirtschaft die effektive - Geld ausgedrückte - Nachfrage nicht ausreicht, um das maximale
Vollbeschäftigungssozialprodukt zu kaufen:
G-W .....P ....W'-G' (W’ = Q* < Qv).
Das Problem der effektiven Nachfrage tritt auf bei der Umwandlung von W' in G'. Dieses ist das
Grundproblem von Maynard Keynes. Es ist kein Zufall, dass Keynes sein Hauptwerk, "Die
allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes" mitten in der grossen Krise
der 30er Jahre geschrieben hat (1936 veröffentlicht). Mit diesem Werk hat Keynes das Saysche
Gesetz widerlegt: Ein Unterbeschäftigungs-Gleichgewicht bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit ist
möglich. Im einfachsten Fall gilt: Q* = (1/s) I .
Im Zusammenhang mit der Beschäftigung stehen zwei weitere Probleme : Wachstum und
Konjunktur.
f) Wachstum
Die Wachstumstheorie beschäftigt sich mit den Gründen, die eine Zunahme des Sozialproduktes
Q im Zeitablauf t bewirken. Eine mögliche Grundfrage in der Wachstumstheorie: wieso wachsen
einige Volkswirtschaften schneller als andere?
Q
t
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Von 1950-90 hatten GB und die USA (Gewinner des Zweiten Weltkrieges) relativ schwaches
Wachstum. Dagegen wiesen Deutschland und Japan relativ hohe Wachstumsraten auf.
Seit etwa 1990: Schwaches Wachstum und hohe Arbeitslosigkeit im Westen, sehr hohe
Wachstumsraten in Asien, vor allem in China.
g) Konjunktur
Vier Phasen: I Aufschwung, II Hochkonjunktur, III Abschwung und IV Krise; alle vier Phasen
zusammen ergeben die Spannweite des Zyklus. Drei verschiedene Arten von Zyklen mit
unterschiedlichen Spannweiten:
Kondratiev-Zyklen (50 - 60 Jahre)
Juglar-Zyklen (8 - 10 Jahre)
Kitchin - Zyklen (um die 3 Jahre)
h) Entwicklungstheorie
Die Entwicklungstheorie fragt nach den tieferen Ursachen des Wachstums. Welche
ökonomischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen müssen vorhanden sein, damit
Wachstum überhaupt zustande kommen kann? Also, welche sozialen Institutionen und welche
Verhaltensweisen der Individuen führen zu wirtschaftlichem Wachstum? Die wirtschaftliche
Entwicklung wird hervorgebracht durch ein komplexes Ursachenbündel von subjektiven und
objektiven Faktoren:
Q
t I II III IV
Qv
Q
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Angebotsfaktoren & Nachfragefaktoren
Unternehmertum Absatzmärkte (interne, externe)
Erfindertätigkeit Beschaffungsmärkte
Erziehungssystem
Rechtssystem
Politisches System (Stabilität)
Kapitalstock und Produktionstechnik
i) Geld und Zins
Frage nach dem Wesen von Geld und Zins:
- Neoklassik: Monetarisierte Wirtschaft (W – G – W’) ; monetäre Theorie des Tausches (G – W
… MP … W’ – G’) ; Geld ist hier neutral und ist Transaktionsmittel. Der Zins ist in der
Neoklassik eine Belohnung für das Sparen.
- Keynes: Geld ist nicht neutral (Transaktionsmittel und Wertaufbewahrungsmittel). Der Zins ist
eine Belohnung für die Aufgabe von Liquidität. (In der Theorie von Keynes ist eine monetäre
Theorie der Produktion impliziert.)
- Klassisch-Keynesianische Politische Ökonomie:
Enthält eine monetäre Theorie der Produktion: G – W …. P …. W’ – G’
Die Wirtschaft kann ohne Geld überhaupt nicht funktionieren. Geld (und der Finanzsektor) G
stehen am Anfang des monetären Produktionsprozesses; in der Schlusssequenz werden die
Endprodukte W’ in Geld G’ umgetauscht. Von zentraler Bedeutung ist, dass in einer monetären
Produktionswirtschaft immer Geld gegen Güter getauscht wird, nie Güter gegen Güter, direkt
oder indirekt (W – W’ oder W – G – W’), wie das in der Klassik (Say) und in der modernen
Neoklassik der Fall ist. Die effektive Nachfrage G’ beschränkt den Output W’(Q* < Qv). Eine
ungleiche Einkommensverteilung ist die wichtigste Ursache für die Arbeitslosigkeit. Geld ist
deswegen nicht neutral. Geld ist auch endogen: ‘ Die Geldmenge’ passt sich passiv an die
wirtschaftliche Aktivität an.
Der Zins ist ein Anteil am sozialen Überschuss (P + R).
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j) Aussenhandel
- Klassisch und neoklassische (liberale) Aussenhandelstheorie:
Beschäftigung gegeben; in der Regel wird Vollbeschäftigung postuliert. Der inernationale
Handel (Exporte X, Importe M) wird geregelt durch das Prinzip der komparativen Kosten.
Veränderungen der Wechselkurse, relative Preise für Gelder von je zwei Ländern und der
entsprechenden Güter, bewirken eine Tendenz zu einem Leistungsbilanzgleichgewicht: X = M
(Elastizitätsoptimismus: eine einprozentige Preissenkung bewirkt Mengenveränderungen von
viel mehr als einem Prozent!).
- Merkantilistisch-Keynesianische Theorie:
Der langfristige Entwicklungsstand und das langfristige Beschäftigungsvolumen hängen von der
Aussenhandelsstruktur eines Landes ab.
Eine günstige Aussenhandelsstruktur ist verbunden mit einem hohen Beschäftigungsvolumen
und in der Regel hohem Wohlstand (Schweiz, Deutschland und Japan ; alle drei sind sehr
rohstoffarm !):
- Export von hochwertigen (Manufaktur-) Industrieprodukten;
- Import von Rohstoffen, landwirtschaftlichen Produkten und Standardindustrieprodukten.
Und – in der Regel - umgekehrt für Länder, die vorwiegend Primärprodukte und
Standardindustrieprodukte exportieren.
3. Untersuchungsobjekt der Dogmengeschichte
Untersuchungsobjekt (Materialobjekt) der Dogmengeschichte sind die die Denksysteme, die von
den grossen Autoren erarbeitet wurden. In diesem Zusammenhang ergeben sich fünf Fragen, die
uns helfen, tiefer in ein Denksystem einzudringen und dieses besser zu begreifen.
1) Womit (mit welchen Problemen) beschäftigt sich ein Autor? Welche Phänomene
(Erscheinungen) will er erklären: Wert, Verteilung oder Beschäftigung? Welche Probleme
betrachtet er als unwichtig? Z.B. Klassiker und Neoklassiker vernachlässigen das Problem der
unfreiwilligen Arbeitslosigkeit, das im Zentrum der Betrachtungen der Merkantilisten und von
Keynes steht.
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2) Was macht den materiellen Gehalt, den Inhalt eines theoretischen Systems aus? Was sagt ein
Autor zu einem bestimmten Problem? Hier spielt der gewählte Ansatz (der gewählte Modelltyp)
eine entscheidende Rolle: welche Grössen (Variable und Parameter) und welche Beziehungen
zwischen Grössen finden sich im Modell vor? Z.B. arbeitet Keynes mit einem
gesamtwirtschaftlichen Modell, das auf dem Prinzip der effektiven Nachfrage basiert; die
Neoklassiker (Liberalen) mit stellen den Angebots-Nachfrage-Mechanismus in der Vordergrund.
Dies impliziert, dass bei Keynes unfreiwillige Arbeitslosigkeit möglich ist, nicht aber bei den
Neoklassikern.
3) Wie, mit welcher formalen Methode geht ein Autor an Probleme heran? Wählt er ein
theoretisches Modell (verbal oder mathematisch formuliert) oder die historisch- beschreibende
Methode? Oder arbeitet er mit dem historisch-philososphischen Ansatz (philosophisch heisst,
eine (ökonomische, soziale oder politische) Theorie, die auf einer Vision von Mensch und
Gesellschaft basiert. Dabei sollte der Wahl des Ansatzes eine Prinzipiendiskussion vorangehen:
Unter verschiedenen möglichen Ansätzen, ist der bestmögliche, der plausibelste, zu ermitteln.
Z.B. soll zur Erklärung der Güterpreise ein (klassisch-Keynesianischer) Produktionsansatz
(Preise werden im sozialen Produktionsprozess gebildet) oder ein (neoklassischer) Tausch- oder
Marktansatz (die grundlegenden Preise sind die Marktpreise) zugrunde gelegt werden.
4) Wozu? Was will ein Autor wirtschaftspolitisch erreichen? Z.B. wollten die Physiokraten der
Landwirtschaft eine dominierende Rolle sichern (Industrie von sekundärer Bedeutung); Keynes
wollte über die Steigerung der effektiven Nachfrage eine Verminderung der unfreiwilligen
Arbeitslosigkeit bewirken.
5) Warum stehen in bestimmten Zeitepochen bestimmte Probleme, Ansätze (Modelltypen) und
Methoden im Vordergrund? Warum gibt es sogenannte klassische Zeitperioden, in denen ein
bestimmtes theoretisches System dominiert? Warum gibt es in anderen Zeitperioden eine
(verwirrende) Vielfalt von Theorien, ohne dass eine bestimmte Theorie dominiert? Welche
Theorie ein Autor entwickelt, hängt von objektiven und subjektiven Faktoren ab. Objektive
Faktoren: Wirtschaftliche, soziale und politische Lage; geistiges Klima (Zeitgeist). Subjektive
Faktoren: soziale Herkunft und spezifische Charakterzüge.des Autors.
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II. Zweck des Studiums der Theoriengeschichte
1. Nutzen des Studiums der Theoriengeschichte (Schumpeter)
a) Durch das Studium der Theoriengeschichte – vor allem der grossen Autoren – ergibt sich eine
Vertrautheit mit den grossen Problemen auf der Ebene der Prinzipien, d.h. der reinen Theorie
(Wert und Preis, Verteilung, Beschäftigung, Geld).
b) Vertrautheit mit den Lösungsansätzen, die die grossen Autoren vorgelegt haben. Ermöglicht
den Vergleich verschiedener Theorien. Besonders aufschlussreich ist der Versuch, Widersprüche
abzuklären. Wieso bestehen entgegengesetzte Auffassungen zum gleichen Problem? Zum
Beispiel postulieren neoklassische Ökonomen eine Tendenz zu Vollbeschäftigung, wenn
Wettbewerbsbedingungen vorherrschen ; Keynesianer und vor allem Post-Keynesianer
behaupten, dass es in einer Geldwirtschaft überhaupt keine Tendenz zur Vollbeschäftigung gibt ;
im Gegenteil : kumulative Kräfte können bewirken, dass sich eine Wirtschaft immer weiter vom
Vollbeschäftigungszustand entfernt.
Ein Überblick über Probleme und unterschiedliche Lösungsansätze ist besonders wichtig, um
sich eine eigene Meinung zu bilden.
Maynard Keynes sagte einmal: ‘Das Studium der Dogmengeschichte ist Emanzipation des
Geistes.’ Man lernt selbständig denken und ist nicht Sklave eines bestimmten Autors oder einer
bestimmten Theorie, oder einer Modeströmung.
c) Kreativität
Aus dem Studium der grossen Autoren kann man neue Ideen gewinnen und grössere
Zusammenhänge sehen. Das ist heute, in einer Zeit der Spezialisierung, sehr wichtig. Es geht
darum, das Ganze zu sehen (in einem gewissen Sinn sind der Mensch und die Gesellschaft
strukturierte Ganzheiten, sogar organische Ganzheiten ; das heisst nicht, dass die Individuen in
der Gesellschaft aufgehen ; im Gegenteil, die geistige Prägung des einzelnen durch die
Gesellschaft, im Unterricht, durch Lesen, Diskutieren sowie durch die Eingebundenheit in das
Soziale, in Vereinen und Unternehmungen zum Beispiel, bereichert die Individuen, die damit zu
einzigartigen Personen, vielleicht sogar Persönlichkeiten werden).
Man muss also den Menschen und die Gesellschaft als Ganzheiten sehen. Man kann den
Menschen und die Gesellschaft nicht in Stücke schneiden und dann diese analysieren im Rahmen
von speziellen Sozialwissenschaften: Ökonomie, Recht, Politikwissenschaft, Soziologie. In der
ganzheitlichen Sicht beschäftigen sich die einzelnen sozialen und politischen Wissenschaften
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nicht mit weitgehend autonomen Bereichen (Wirtschaft, Recht, Politik) , sondern mit integrierten
Aspekten (Dimensionen, Teilen) der Gesamtgesellschaft.
d) Die Theoriengeschichte schärft den Sinn für das Verständnis von geschichtlichen Situationen
und geschichtliche Entwicklungen, vor allem im ideengeschichtlichen Bereich. In diesem
Zusammenhang gibt es aufschlussreiche Fragen: Wieso gibt es Zeitperioden, in den eine Theorie
dominiert, und Zeitperioden, in denen Theorienvielfalt besteht? Wieso wird ein lange
dominierender theoretischer Ansatz (Keynesianismus in 1950er und 1960er Jahren) durch einen
anderen abgelöst (Neoklassik und Monetarismus ab den frühen 1970er Jahren bis jetzt). Damit
im Zusammenhang steht die Dominanz von bestimmten Problemen in der einen Zeitepoche, die
abgelöst werden von anderen. So dominierte das Problem der Beschäftigung die
merkantilistische Epoche, ungefähr 1550 bis 1750). Das Beschäftigungsproblem verschwindet
seit Adam Smith (1776) von der Agenda, um mit Keynes (1936) wieder aufzutauchen ; in der
klassischen und neoklassischen Ära, vor allem im 19. Jh. und weitgehend auch im 20. Jh.
dominiert die Theorie der Wettbewerbsmärkte, die eine Tendenz zu Vollbeschäftigung
implizieren ; die Wirtschaftspolitik wird Wettbewerbspolitik).
e) Durch den Vergleich verschiedener, sich zum Teil widersprechender theoretischer Ansätze
soll die Theoriengeschichte kritisch lesen lernen und mit der Zeit einen annähernden Überblick
über die Primär-Literatur vermitteln (die grossen Probleme und die alternativen Lösungsansätze).
2. Überblick über unterschiedliche theoretische Ansätze gewinnen:
Es gibt verschiedene theoretische Ansätze betreffend die grossen Probleme. Diese Problematik
soll anhand der Fragen des Wertes, der Verteilung und der Beschäftigung angedeutet werden.
a) Wert und Preis
Im Prinzip gibt es zwei grundlegend verschiedene Preistheorien, die objektive und die
subjektive. Die Werttheorie ist das Schlüsselproblem der Wirtschaftstheorie (Luigi Pasinetti): Je
nach gewähltem Ansatz (objektive oder subjektive Werttheorie) ergeben sich bestimmte
Theorien in anderen Bereichen: Verteilung, Beschäftigung, Geld.
Gemäss der objektiven Werttheorie werden die Preise im sozialen Produktionsprozess bestimmt.
Die Preise werden bestimmt durch die Produktionskosten, d.h. direkte und indirekte
Arbeitskosten (Maschinen und Zwischenprodukte werden letztlich auch durch Arbeit
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hergestellt). Die Arbeitskosten oder Arbeitswerte (Arbeitszeit multipliziert mit dem
entsprechenden Lohnsatz) stellen sozusagen das Wesentliche am objektiven Preis dar. Die
Arbeitswerte werden durch die Produktionspreise operabel gemacht (im Prinzip implizieren die
Produktionspreise gleiche Profitraten in allen Sektoren ; die Produktionspreise weichen von den
Arbeitswerten ab, weil die Produktionsbedingungen – die Verhältnisse von fixem zu variablem
Kapital – in den verschiedenen Produktionsbereichen verschieden sind). Die Produktionspreise
wiederum werden durch die Normalkostenkalkulation und dem damit verbundenen normalen
Preis annähernd realisiert.
Gemäss der objektiven Werttheorie sind die Preise bestimmt, bevor die Güter auf den Markt
kommen: In einem Preis-Mengen-Diagramm ist die Angebotskurve eine horizontale Linie, und
die Nachfragekurve bestimmt die Menge, die zum normalen oder dem Produktionspreis
abgesetzt werden kann.
Die subjektive Werttheorie besagt, dass die Preise letztlich durch die Nutzenvorstellungen der
Konsumenten bestimmt sind.
Dies ist am besten ersichtlich aus der Preistheorie der österreichischen Neoklassik: In jedem
Moment (sehr kurzen Zeitraum, z.B. ein Tag) ist die produzierte Menge gegeben (aber natürlich
längerfristig nicht unveränderlich). Die momentane (sehr kurzfristige) Angebotskurve ist deshalb
eine vertikale Linie, und die durch die Wertschätzungen der Konsumenten bestimmte
Nachfragefunktion legt den Preis fest. Nimmt die Wertschätzung der Konsumenten zu,
verschiebt sich die Nachfragekurve nach rechts und nach oben, und der Preis steigt.
Beide Theorien stimmen für sich genommen in einem gewissen Sinn. Die objektive Preistheorie
ist langfristig; konstante oder sich langsam verändernde Faktoren (Technologie und
Institutionen) bestimmen die Produktionspreise. Die rein subjektive Werttheorie ist dagegen
extrem kurzfristig. Die Frage ist: welche Theorie ist grundlegender?
b) Verteilung
Es gibt zwei grundlegende verschiedene Ansätze, um die Verteilung zu erklären: den klassischen
und den neoklassischen Ansatz. Der klassische Verteilungsansatz wächst aus der objektiven
Werttheorie heraus, der neoklassische aus der subjektiven.
Klassik im Sinne von Ricardo (inklusive heutige Post-Keynesianische und Klassisch-
Keynesianische Politische Ökonomie):
Hier steht das Verteilungsproblem in direktem Zusammenhang mit der objektiven Werttheorie
und ist ein gesellschaftlich-politisches Problem*, basierend auf dem Überschussprinzip**.
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* Institutionen sind für die Verteilung von zentraler Bedeutung: Gewerkschaften,
Arbeitgeberverbände, Staat (Minimallöhne), Gesetze, Sitten und Gebräuche (Frauenlöhne);
Institutionen haben sich geschichtlich entwickelt. Die Verteilung ist ein Problem der
Proportionen: W/Y, P/Y und R/Y: Verhältnis von Teil (Klasse) zum Ganzen (Gesellschaft).
Dazu kommen Strukturen, z.B. die Lohnstruktur.
** Alles was über den lebensnotwendigen Lohn hinausgeht (Ricardos natürlicher Lohn) ist
Überschuss (Überschusslohn, Profite und Zinsen sowie Renten: Landrenten und Arbeitsrenten,
z.B. Renten für besondere Fähigkeiten).
Das Überschussprinzip zeigt sich auch in der Preisbildung (mark-up pricing: der
Produktionspreise ergibt sich aus den variablen Stückkosten plus einem Zuschlag, der die
Fixkosten deckt und eine angestrebten Gewinn erbringt ; full cost pricing, Vollkosten-
Preisbildung : Produktionspreis gleich totale Durchschnittskosten plus Gewinnzuschlag). Das
Überschussprinzip steht damit in direktem Zusammenhang mit der objektiven Preistheorie.
Marktlöhne, -profite, -renten können von den institutionell festgelegten Grössen abweichen.
Gemäss der Neoklassik ist die Verteilung ist ein Marktproblem. Es gibt Faktormärkte, d.h.
Märkte für Boden, Kapital und Arbeit. Institutionen bestimmen die Lage von Angebots- und
Nachfragefunktionen.
Die neoklassische Verteilungstheorie ergibt sich aus der subjektiven Werttheorie : Weil die
Konsumgüter wegen der (subjektiven) Wertschätzung der Konsumenten einen Wert haben,
haben auch die Produktionsfaktoren und Zwischenprodukte, mit deren Hilfe die Konsumgüter
produziert werden, einen Wert.
c) Beschäftigung
Es gibt zwei grundlegende Ansätze in der Beschäftigungstheorie: - die angebotsorientierte
klassische und neoklassische Theorie und die nachfrageorientierte merkantilistisch-
Keynesianische Theorie.
1) Gemäss der klassischen politischen Ökonomie schafft sich jedes Angebot seine eigene
Nachfrage: W – W’ ; die Produktion einer Ware W führt automatisch zu einer Nachfrage nach
einem anderen Gut. Deshalb ist allgemeine Überproduktion – die Überproduktion aller Güter –
unmöglich (Saysches Gesetz – von Jean-Baptiste Say, einem Anhänger von Adam Smith, der in
der ersten Hälfte des 19. Jh. schrieb). Im Prinzip besteht immer Vollbeschäftigung.
Arbeitslosigkeit ist nur strukturell. Dies ist ein Problem der Proportionen zwischen Sektoren :
einige Sektoren sind zu ‘gross’ (es wird zuviel vom entsprechenden Gut produziert), anderseits
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wird entsprechend in den zu ‘kleinen’ Sektoren zuwenig produziert; dies vermindert die
Nachfrage nach anderen Gütern, und so entsteht strukturelle Arbeitslosigkeit.) – Das Geld spielt
eine sekundäre Funktion; vor allem erleichtert es die Tauschvorgänge: W – G – W’. Geld ist in
klassischer Sicht nur ein Schleier, der die realen Vorgänge überdeckt.
In der neoklassischen Theorie (Alfred Marshall) wird Vollbeschäftigung durch ein reibungsloses
Ineinandergreifen der Märkte bewirkt: Bei Arbeitslosigkeit sinkt der Lohnsatz und die Profitrate
(Grenzproduktivität des Kapitals) steigt und übersteigt den Zinssatz. Die Unternehmer
investieren mehr, was neue Arbeitsplätze schafft (kurz- und mittelfristiger Effekt der
Lohnsenkung). Mittel- und langfristig werden neue Arbeitsplätze geschaffen, weil die
Unternehmer nun relativ mehr Arbeit und weniger Kapital einsetzen; durch die Lohnsenkung ist
die Arbeit relativ zum Kapital billiger geworden (Minimalkostenkombination!). Diese Prozesse
dauern an, bis Vollbeschäftigung erreicht ist. In der Neoklassik drückt sich das Saysche Gesetz
anders aus : Alles Gesparte wird immer investiert. Das Sparen bestimmt die Investitionen.
Gemäss der neoklassischen Theorie ‘löst’ also das selbstregulierende Marktsystem das Problem
der Beschäftigung.
2) Die nachfrageorientierte merkantilistisch-Keynesianische Beschäftigungstheorie geht nun
nicht von einer Marktwirtschaft aus, sondern von einer monetären Produktionswirtschaft. Dabei
ist mit Produktion der soziale Produktionsprozess gemeint [Bezugs- und Lieferungsgeflecht
zwischen Industrien (Primär- und Zwischenprodukte) und Sektoren (Endprodukte)]. Das
Grundschema der ‘monetary theory of production’ wurde von Marx und Keynes entwickelt und
explizit bzw. implizit verwendet (Keynes 1933 (A Monetary Theory of Production), basierend
auf Marx 1885 (Das Kapital, Band II, p. 31):
G - W ... P .... W' - G' G:
Geld und finanzielle Eigen- und Fremdmittel, mit denen die Unternehmer Produktionsmittel
kaufen (Fixkapital und umlaufendes Kapital) und Arbeiter einstellen (W). Diese werden im
sozialen Produktionsprozess in Endprodukte W’ umgewandelt, die gegen die in Geld
ausgedrückte effektive Nachfrage G’ abgesetzt werden müssen.
Das Problem von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit tritt bei W' - G' auf: wegen mangelnder
effektiver Nachfrage kann die Vollbeschäftigungsproduktion (W’v)nicht abgesetzt werden.
Systembedingte unfreiwillige Arbeitslosigkeit kommt zustande. Die effektive Nachfrage - und
damit Output und Beschäftigung - ist abhängig von einer Vielzahl von Faktoren:
Einkommensverteilung, Staatsausgaben, Investitionsdynamik, Exporten, Importkoeffizienten
und den Austauschverhältnissen.
Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
16
3. Theoriengeschichte als Orientierungshilfe in einer Flut von Informationen
Wir haben heute eine Theorienvielfalt, die für Studenten und Professoren verwirrend ist. Diese
Theorienvielfalt wird begleitet von einer ungeheuren Informations- oder Literaturflut. Die
Theoriengeschichte soll nun helfen, Übersicht zu gewinnen, zu klassifizieren, alternative
Theorien (aufbauend) kritisch zu beurteilen und kritisch lesen zu lernen.
a) Theorienvielfalt und Informationsflut
Der heutige Student der Wirtschaftswissenschaften steht vor keinen leichten Aufgabe: Er wird
von einer wahren Informationsflut überschwemmt. Hunderte von Büchern und tausende von
Artikeln werden jährlich über wirtschaftliche Probleme geschrieben, über Preisbildung,
Einkommensverteilung, Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche Unterentwicklung und so weiter. Einige
Autoren gehen rein theoretisch an diese Probleme heran, andere eher historisch-beschreibend,
wieder andere verbinden Theorie und Empirie/Geschichte (methodisches Problem: Verhältnis
von Theorie und Geschichte).
Besondere Schwierigkeiten bietet die Tatsache, das die Vertreter unterschiedlicher ökonomischer
Schulen in ihren Veröffentlichungen die verschiedensten Meinungen vertreten: Monetaristen,
Keynesianer, Post-Keynesianer und Marxisten äussern sich z.B. in diametral entgegengesetzter
Art und Weise zum Problem der Arbeitslosigkeit. Die neuen Möglichkeiten der Textverarbeitung
werden sicher die Informationsflut noch verstärken. Dazu kommt, dass die meisten
Wissenschafter gezwungen sind, regelmässig zu veröffentlichen. Ausgehend von den
Vereinigten Staaten setzt sich das 'publish or perish' immer mehr auch in Europa durch.
Wie soll sich nun der Student angesichts der Masse an Informationen und der Vielfalt der sich
zum Teil widersprechenden Meinungen verhalten? Es ist ja unmöglich, auch nur einen winzigen
Bruchteil der vorhandenen und neu anfallenden Literatur zu lesen. Dies selbst dann, wenn man
sich auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt. Zudem wird das Lesen erschwert durch die zum Teil
unnötig hochabstrakte, mathematische Ausdrucksweise in vielen Büchern und Zeitschriften.
Mathematische Methoden sind sicher angebracht bei klar definierten Partialproblemen in der
ökonomischen Theorie, oder um sich einen Überblick über komplexe Probleme zu verschaffen
und um formallogische Probleme abzuklären. Dazu wird Mathematik am besten als Kurzschrift
gesehen. In diesem Sinne hat Alfred Marshall, ein hervorragender Mathematiker, auf dem
Gebiete der ökonomischen Theorie gearbeitet. Im Haupttext seiner ‘Principles of Economics’
findet sich keine einzige Formel. Gleichzeitig sagte Marshall auch, dass ungemein komplexe
Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
17
organische Ganzheiten wie der Mensch, die Wirtschaft und die Gesellschaft nicht auf Formeln
reduziert werden können.
b) Meisterung der Theorienvielfalt und Informationsflut
Ein erster Schritt zur Meisterung der Informations- und Meinungsflut ist getan, wenn man sich
vor Augen hält, dass die neueste Literatur nicht immer die beste ist. Zum Teil besteht diese aus
Vereinfachungen und Verwässerungen der grundlegenden Werke. Zum Beispiel hat sich Adam
Smith ausdrücklich bemüht, seine volkswirtschaftliche Theorie auf ein ethisches Fundament zu
stellen. Letzteres wurde jedoch in der modernen Theorie lange vernachlässigt und wird jetzt
allmählich wieder entdeckt.
Ein zweiter, entscheidender Schritt, um die Literaturflut meistern zu können, ist gegeben in einer
Klassifikation der Literatur nach ihrer Wichtigkeit. Dies ist weniger arbiträr als man auf den
ersten Blick glauben möchte. Im grossen und ganzen ist man sich darüber einig, dass es
verhältnismässig wenige klassische Werke gibt, in denen die grossen ökonomischen Probleme
definiert und die grundlegenden Ansätze zur Lösung dieser Probleme dargestellt sind. Dieses ist
die sogenannte Primärliteratur, die sich also mit Prinzipien, d.h. mit reiner Theorie, die mehr
oder weniger umfangreich mit historischen Beispielen illustriert sein können. Die
Sekundärliteratur setzt sich mit der Primärliteratur auseinander; sie beschäftigt sich
beispielsweise mit Interpretationsproblemen, gibt vereinfachende Einführungen, stellt
Zusammenhänge her. Die Autoren, die sich im Rahmen der Sekundärliteratur mit der
Primärliteratur auseinandersetzen sollten diese natürlich eingehend kennen. Das ist nicht immer
der Fall – es wurde vieles über Marx und Keynes geschrieben, ohne dass die Autoren die
Originale jemals von innen gesehen hatten. Aber es gibt glücklicherweise sehr viele
ausgezeichnete Bücher der Sekundärliteratur, ohne die ein Einstieg in die Primärliteratur
meistens gar nicht möglich wäre, weil diese meistens nicht leicht zu lesen ist. Dies gilt etwa für
die Frühschriften und Das Kapital von Karl Marx sowie einige der Weiterentwicklungen der
Marxschen Theorie; dazu gibt es eine Unmenge von ausgezeichneter Sekundarliteratur. Hier nur
zwei repräsentative Beispiele: Der sozio-ökonomische Aspekt des Werkes von Marx ist
hervorragend dargestellt von Paul M. SWEEZY: Theorie der kapitalistischen Entwicklung.
Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1970; amerik. Orig. 1942; die philosophische Dimension ist
ausgezeichnet behandelt von Leszek KOLAKOWSKI: Die Hauptströmungen des Marxismus,
drei Bände. München-Zürich (Piper – Verlag); Band I: Entstehung (1977), Band II: Entwicklung
(1978), Band III: Zerfall (1979). Eine ausgezeichnete Einführung in das Hauptwerk von
Maynard Keynes (Die allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes; engl.
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18
Orig. 1936) ist Alvin H. HANSEN: Keynes’ ökonomische Lehren – Ein Führer durch sein
Hauptwerk. Stuttgart und Düsseldorf (Ring-Verlag) 1959.
Auf der Grundlage der Primär- und Sekundarliteratur beschäftigt sich die Tertiärliteratur mit der
Weitergabe von Wissen (Lehrbücher) und mit theoretischen und empirisch/historischen
Spezialproblemen ; hier findet man natürlich die grosse Masse der Literatur. Davon kann der
einzelne natürlich nur jeweils einen winzigen Bruchteil lesen. Wegen der überwältigenden
Literaturfülle ist es unmöglich, ein Buch aus der Tertiärliteratur (aufbauend) kritisch zu
beurteilen, indem man versucht, innerhalb der Tertiärliteratur einen Überblick über Probleme
und Lösungsansätze zu finden. Das kann nur auf der Basis der Primärliteratur (und natürlich
guter Sekundärliteratur) geschehen.
Was gehört nun zur ökonomischen Primärliteratur? Auf das Risiko hin, einigen Autoren Unrecht
zu tun, zählen wir nur die nachstehenden Werke dazu (siehe auch das Übersichtsschema zur
Entwicklung der ökonomischen Theorie):
1) James Steuart: An Inquiry into the Principles of Political Economy (1767)
Dieses Buch stellt eine Synthese der merkantilistischen Literatur dar. Es kann als Vorläufer der
"Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes" von Maynard Keynes
betrachtet werden. Das Beschäftigungsproblem steht im Vordergrund.
2) François Quesnay: Tableau économique, mit Erklärungen (um 1758)
Sozialer Produktionsprozess, Kreislauf von Geld und Gütern, Proportionen zwischen Sektoren,
Beschäftigung, natürlicher und Marktpreis. Ausgezeichnete Darstellung in August ONCKEN:
Geschichte der Nationalökonomie. 1.(einziger) Band, Leipzig (Hirschfeld) 1902; II. Buch, Die
Nationalökonomie als Wissenschaft: Das Physiokratische System, pp. 314ff.
3) Adam Smith: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776).
Grundlegendes Werk der liberalen Nationalökonomie; die heutige liberale Theorie ist eine
vereinfachte und weiterentwickelte Version des Smithschen Systems. Grosse Problemkreise:
Produktion, Wert, Verteilung, Wachstum und wirtschaftliche Entwicklung. Adam Smith wischt
das grosse merkantilistische Problem der Beschäftigung unter den Tisch.
4) Jean-Baptiste Say: Traité d’Economie Politique, ou simple exposition de la manière dont se
forment, se distribuent et se consomment les richesses (1803).
Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
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J.-B. Say ist ein (begeisterter) Anhänger von Adam Smith. Allgemeine Überproduktion und
damit unfreiwillige Arbeitslosigkeit ist unmöglich: «Jedes Angebot schafft sich seine eigene
Nachfrage» (Saysches Gesetz). Das Saysche Gesetz ist ausführlich dargestellt und begründet in
der 6. Auflage des Traité, pp. 138-48 (Livre premier, chapitre XV – Des Débouchés [Über die
Absatzwege].
5) David Ricardo: On the Principles of Political Economy and Taxation (3. (erweiterte) Auflage
1821)
Das erste logisch einwandfreie System der theoretischen Nationalökonomie. Ricardos Werk ist
aus einer Kritik von Adam Smith entstanden. Probleme: Verteilung, Wert, Geld, Aussenhandel,
Besteuerung. Ricardo vertritt kompromisslos das Saysche Gesetz.
6) Thomas Robert Malthus: Principles of Political Economy considered with a view to their
practical application (1820).
Versucht das Saysche Gesetz zu widerlegen (gilt deshalb als Vorläufer von Keynes). Scheitert
aber an Ricardos ausgezeichneter Verteidigung des Gesetzes (niemand produziert ein Gut, ohne
ein anderes kaufen zu wollen).
7) J. Ch. L. Simonde de Sismondi: Nouveaux Principes d’Economie Politique (1819).
Vorläufer von Keynes; scheitert – wie so viele andere – am Sayschen Gesetz.
8) Karl Marx: Das Kapital, 3 Bände (1867, 1885, 1894)
Umfassende Darstellung der Entwicklungsgesetze von kapitalistischen Wirtschaften in einem
weiteren philosophischen und historischen Umfeld (Produktion, Wert Verteilung, Akkumulation,
Krise; Methode: Einwandfreie Verbindung von Theorie und Geschichte.) Die grosse
Kapitalismuskritik des 19. Jh., mit Auswirkungen bis heute; wird auch im 21. Jh. hochaktuell
bleiben. Der grosse Politische Ökonom des 19. Jh.
9) William Stanley Jevons: Principles of Political Economy (1871)
Leitet die marginalistische (neoklassische) Revolution ein.
10) Léon Walras: Eléments d'Economie Politique Pure ou Théorie de la Richesse Sociale (1874)
Allgemeine Gleichgewichtstheorie (verbunden mit dem Pareto-Optimum): Grundmodell der
Neoklassik.
Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
20
11) Alfred Marshall: Principles of Economics (1890)
Lag als Manuskript schon um 1870 herum vor. Operationalisierung des (inoperablen)
allgemeinen Gleichgewichtsmodells von Walras. Neoklassisches Partialmodell, das über die
neoklassische Synthese lange die heutigen Lehrbücher dominierte und überhaupt die Grundlage
für die heutige Lehrbuch-Literatur ist. Nicht erstaunlich: Marshalls Principles sind didaktisch
hervorragend und mit grösster Klarheit geschrieben. Marshall ist deshalb vielleicht der
einflussreichste Autor in den Wirtschaftswissenschaften. Er verlieh der marginalistischen
Revolution Dauer.
12) Carl Menger: Grundsätze der Volkswirtschaftslehre (1871)
Begründung der österreichischen Neoklassik (diese ist heute vor allem wegen zwei grossen
‘Österreichern’ – Joseph Alois Schumpeter und Friedrich von Hayek – als Austrian Economics
hochaktuell).
13) Knut Wicksell: Geldzins und Güterpreise (1898); Vorlesungen über Nationalökonomie
(1901)
Mit diesen beiden Büchern bereitet Wicksell die Doppelrevolution der ‘Years of High Theory
1926-1939’ (G.L.S. Shackle) vor: Maynard Keynes revolutionierte die Beschäftigungstheorie
(ein Gleichgewicht bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit ist möglich) und Piero Sraffa bewirkte
eine Revolution in der Wert- und Verteilungstheorie (Produktionspreise – objektive Werttheorie
und Überschussprinzip der Verteilung: Verteilung als soziales und politisches Problem).
14) Maynard Keynes: The General Theory of Employment, Interest and Money (1936)
Das Grundlagenwerk der modernen Beschäftigungs- und Geldtheorie: eine monetäre Theorie der
Produktion. Widerlegt das (selbstverständliche) Saysche Gesetz, eine der grössten intellektuellen
Leistungen der ökonomischen Theoriengeschichte. Keynes war viel mehr als ein grosser
Ökonom. Er war auch Philosoph (Erkenntnistheoretiker und Staatsphilosoph) und Staatsmann
und so nebenbei ein glänzender Publizist, Unternehmer und Finanzmann. Maynard Keynes ist
der Begründer des Sozialen Liberalismus, des Mittelweges zwischen Liberalismus und
Sozialismus.
15) Piero Sraffa: Production of Commodities by Means of Commodities (1960)
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21
Mit diesem kleinen Buch von 99 Seiten, sein einziges Buch, an dem er 34 Jahre lang schrieb,
leitete Piero Sraffa die Renaissance der Klassik (im Sinne von Ricardo) in die Wege
(Produktionspreise – objektive Werttheorie und Überschussprinzip der Verteilung: Verteilung als
soziales und politisches Problem). (Allerdings schrieb Piero Sraffa an seinem Buch mit langen
Unterbrüchen: Zwischendurch gab er nämlich die Vollständigen Werke von David Ricardo
heraus, zu denen er im ersten Band eine glänzende Einleitung schrieb. Sraffas Ricardo-
Herausgabe gilt als die grösste editorische Leistung des 20. Jahrhunderts.)
16) Luigi Pasinetti: Theory of Value – A Source of Alternative Paradigms in Economic Analysis.
In: Foundations of Economics – Structures of Inquiry and Economic Theory, edited by Mauro
Baranzini and Roberto Scazzieri. Oxford (Basil Blackwell) 1986, pp. 409-31
Gestützt auf sein bisheriges Werk, schuf Pasinetti mit diesem Aufsatz die Grundlage für die
(schwierige) Synthese von Ricardo (Sraffa) und Keynes, auf der die Klassisch-Keynesianische
Politische Ökonomie aufbaut, die Politische Ökonomie des Sozialen Liberalismus.
Es wurde bereits angedeutet, dass die Kenntnis der grossen Autoren (Probleme, Inhalt der
Theorie, methodisches Vorgehen) grundlegend sei. Die Primärliteratur ist zahlenmässig sehr
klein, die Sekundärliteratur nicht sehr umfangreich, währenddem die Tertiärliteratur heute
unabsehbar ist.
Die in der Sekundärliteratur enthaltenen Bücher und Aufsätze stehen in direkter Beziehung zu
den Originalen, also der Primärliteratur. Die Tertiärliteratur dagegen stützt sich auf
Sekundärliteratur oder auf andere Tertiärliteratur. Weil die direkte Beziehung zum Original nicht
mehr gegeben ist, ist hier die Gefahr von Missverständnissen oder sogar Verfälschungen
besonders gross. So sind in der heutigen Tertiärliteratur sehr viele Bücher über Keynes und Marx
irreführend oder sogar irrelevant, weil jeglicher Bezug zum Original fehlt.
Zutreffende Beispiele für irreführende Tertiärliteratur bieten auch viele ökonomische
Lehrbücher. So wird etwa die ökonomische Theorie von Marx völlig losgelöst von seinen
philosophischen Ansichten dargestellt. Dies ist unzulässig, weil die ökonomischen Theorien von
Marx aus seiner Geschichts- und Gesellschaftsphilosophie herauswachsen und untrennbar damit
verbunden sind. Oder die Lehrbuchdarstellungen von Keynes stützen sich meistens auf das IS-
LM-Modell, das von J.R. Hicks im Jahre 1937 entwickelt wurde (Mr Keynes and the Classics).
Das IS-LM-Modell gehört damit zur Sekundärliteratur. Hier wird eine Gleichgewichts-
Interpretation von Keynes gegeben. Dabei hat Keynes ökonomische Gleichgewichtszustände als
Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
22
irrelevant betrachtet, weil sich die Wirtschaftssubjekte (Unternehmer und Haushalte) permanent
einer unsicheren Zukunft gegenübersehen.
Diese Bemerkungen deuten an, wie das oben angeschnittene Problem der Informationsflut
wenigstens annähernd gelöst werden kann: Die Kenntnis der in der zahlenmässig sehr geringen
Primärliteratur enthaltenen Probleme und Lösungsansätze ermöglicht es, zu irgendeinem Buch
oder Artikel aus der Sekundärliteratur oder aus der ungeheuren Masse der Tertiärliteratur kritisch
Stellung zu beziehen. Dies ist möglich, weil in Sekundär- und Tertiärliteratur wenig
grundsätzlich Neues vorhanden ist. In dieser Literatur werden vorwiegend Lösungsansätze und
Methoden für grundlegende Probleme weiterentwickelt, die in der Primärliteratur bereits
enthalten sind. Aus diesem Grunde ist oft lohnender, sich sehr ausführlich mit einer wichtigen
Textstelle aus der Primärliteratur auseinanderzusetzen, als zehn Bücher aus der Sekundär- und
Tertiärliteratur zu lesen. Der Zweck einer dogmengeschichtlichen Vorlesung ist es nun,
Studentinnen und Studenten mit der ökonomischen Primärliteratur ein wenig vertraut zu machen
und ihm damit einen ersten groben Überblick über die ökonomische Literatur zu verschaffen.
III. Theorien und ihre historische Entwicklung
1. Gegenwärtig bestehende Theorien
Die untersten Blöcke im Übersichtsschema deuten die heutige Lage an. Es können drei grosse
Theoriengruppen gebildet werden:
a) Polit-Ökonomische Theorien des Sozialismus (Politische Ökonomie des Sozialismus),
inklusive Kapitalismuskritik (humanistischer Sozialismus und Sozialismus mit zentraler
Planung). Grosse Autoren: Karl Marx (Hauptwerk: Das Kapital – Kritik der Politischen
Ökonomie), Friedrich Engels, Maurice Dobb, Oskar Lange, Paul Sweezy (Theorie der
kapitalistischen Entwicklung), Rudolf Bahro.
b) Neoklassische Theoriengruppe (Neoklassik als ökonomische Theorie des Liberalismus)
aa) Allgemeine Gleichgewichtstheorie von Léon Walras (Grundmodell der Neoklassik; ist
normativ – direkter Zusammenhang mit dem Pareto-Optimum). Theorie der Rationalen
Erwartungen (Wir sind immer Gleichgewicht: Gleichgewichts-Arbeitslosigkeit; Gleichgewichts-
Konjunkturschwankungen: Das Positive und das Normative fallen zusammen. Das statische
Gleichgewichtsmodell von Walras wird dynamisiert, über Erwartungen wird die Zeit eingeführt.
Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
23
Die Schule der Rationalen Erwartungen projeziert damit das Allgemeine Gleichgewichts-Modell
von Walras auf eine höhere Ebene (es war immer das Bestreben Schumpeters das statische
Modell von Walras zu dynamisieren). Die Theorie der Rationalen Erwartungen wird heute
‘Neuklassische Theorie’ (New Classical Theory) genannt. Aus dem Walrasianischen
Gleichgewichtsmodell haben sich zwei grosse Gruppen von Ungleichgewichtstheorien
herausgebildet. (Siehe zu diesen Ungleichgewichtstheorien sowie zur Neuklassischen Theorie
das ausgezeichnete Lehrbuch von Bernhard Felderer und Stefan Homburg: Makroökonomik und
neue Makroökonomik. 8. Auflage, Berlin-Heidelberg (Springer-Verlag) 2003; erste Auflage
1984). Einmal, die Neokeynesianische Theorie: Zu kleine effektive Nachfrage kann zu einer
Beschränkungen der absetzbaren Mengen führen und somit zu Arbeitslosigkeit
(Felderer/Homburg, Kapitel IX). Dann die Neukeynesianische Theorie: Starrheiten von Preisen
und Lohnsätzen verhindern, dass einige oder alle Güter- und Faktormärkte ins Gleichgewicht
kommen (Felderer / Homburg, Kapitel X).
bb) Die Theorie des partiellen Gleichgewichts von Alfred Marshall. Mit seiner Theorie von
Angebot und Nachfrage hat Marshall das (inoperable) Allgemeine Gleichgewichts-Modell von
Walras operationalisiert. Durch Kombination von Partialmodellen kann eine Art von
‘aggregierter allgemeiner Gleichgewichtstheorie’ geschaffen werden, z.B. das IS-LM-Diagramm
von J.R. Hicks. Das IS-LM-Diagramm ist Teil der Neoklassischen Synthese von Paul A.
Samuelson (Synthese von Neoklassik (Marshall) und Keynes). Dank Samuelsons berühmtem
Lehrbuch ‘Economics – Volkswirtschaftslehre’ hat die Neoklassische Synthese die theoretische
Szene von etwa 1950 bis 1970 fast vollkommen beherrscht.
cc) ‘Supply-side economics’ und ‘Austrian Economics’ (J.A. Schumpeter, F.A. von Hayek) sind
angebotsorientierte neoklassische Theorien. Die ‘Österreichische Schule’ besagt, dass
dynamische Unternehmer bewusst Ungleichgewichte schaffen (Neue Produkte und
Produktionsverfahren), wobei allerdings das allgemeine Gleichgewicht von Walras immer im
Hintergrund steht.
c) Die ökonomische Theorie des Sozialen Liberalismus: Klasssisch-Keynesianische Politische
Ökonomie und damit verbundene Theorien
Die Klassisch-Keynesianische Politische Ökonomie ist im wesentlichen eine Synthese von
Ricardo und Keynes und stellt die ökonomische Theorie des Mittelweges zwischen Liberalismus
Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
24
und Sozialismus – des Sozialen Liberalismus - dar. Es handelt sich um eine Ergänzung,
Weiterentwicklung und des Post-Keynesianismus, der drei Theorienströmungen enthält: die
Keynesianischen Fundamentalisten, die Robinsonian-Kaleckians: Anhänger von Joan Robinson
und Michal Kalecki (bringen Keynes und Marx, damit auch Ricardo, zusammen) sowie die Neo-
Ricardianer.
Der Post-Keynesianismus ist, wie die Bezeichnng andeutet, aus dem Keynesianismus
herausgewachsen, der immer in Lehrbüchern auftritt (z.B. in Felderer/Homburg, Kapitel V). In
einem weiteren Sinne gehören auch die Amerikanischen Institutionalisten und die Vertreter der
Deutschen Historische Schulen und ihre Nachfolger zur sozialliberalen Theoriengruppe.
2. Historische Entwicklung von ökonomischen Theorien
Diese ist angedeutet anhand des Übersichtsschemas und des Überblicks über die
Gesamtvorlesung:
1. Teil: Vorgeschichte
A. Griechenland:
I. Platon (Der Idealstaat)
II. Aristoteles (Der Mensch als soziales Individuum; realistische Staatsauffassung;
Gerechtigkeit und Preisbildung; Oikonomia und Chrematistik)
B. Rom: Keine Grundsatzüberlegungen zum Wirtschaftlichen. Dagegen Römisches Recht
(Privatrecht)
C. Mittelalter: (Thomas von Aquin: Das Gemeinwohl; verteilende und ausgleichende
Gerechtigkeit; der gerechte Preis)
I. Geistige Grundhaltung (Einbettung der Wirtschaft in die Ethik)
II. Modifikation der Grundhaltung (Lockerung des Zinsverbots)
III. Vom Mittelalter zur Neuzeit (Die Wirtschaft wird selbständig)
2. Teil: Die Entstehung des klassischen Systems
A. Merkantilismus und Kameralismus (Die Wirtschaft im Dienste des Staates: Finanzierung
nationalstaatlicher Machtpolitik; Monopole - Privilegien; industrie- und aussenhandelsorientiere
Wirtschaftspolitik)
Liberalismus (Reaktion gegen den Merkantilismus; Wirtschaftsfreiheit; Konkurrenz):
Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
25
B. Physiokratie (Landwirtschaft als Grundlage der Wirtschaft; Produktion als sozialer und
zirkulärer Prozess; Kostentheorie des Preises; politische Verteilungstheorie)
C. Klassik ('Arbeitswerttheorie')
I. Adam Smith: Optimistischer Liberalismus;
II. Jean Baptiste Say (Saysches Gesetz)
III. Malthus (Bevölkerungstheorie; Furcht vor Überakkumulation);
IV. Ricardo: Höhepunkt der klassischen Theorie - Pessimismus - Kritik an Adam Smith;
reine Arbeitswerttheorie; soziologische Verteilungstheorie; der stationäre Zustand;
Produktion primär, Tausch sekundär.
V. J.St. Mill (Synthese der klassischen Ideen): Komplementarität, Produktion als sozialer
Prozess; institutionelle Verteilungstheorie.
3. Teil: Von der Klassik ausgehende Entwicklungen - Die Herausbildung der heutigen
Schulen
A. Die neoklassische Entwicklungslinie (Liberalismus) (Lit.: Napoleoni; Screpanti-Zamagni,
pp.145-212)
I. Reale Theorie:
1. Vorläufer
2. Die marginalistische Revolution 1870 (Jevons, Walras, Marshall, Menger):
Subjektivismus, Vorrang des Tausches, Produktion als Anwendungsgebiet des
Tausches (Faktormärkte); zentrale Rolle des Substitutionsprinzips
3. Der Neoliberalismus (von Mises, Hayek, Eucken)
II. Geldtheorie (vor allem von Wicksell eingeleitete Entwicklungen)
B. Der Sozialismus (vorwiegend Kapitalismuskritik)
I. Vorläufer und Frühsozialismus;
II. Karl Marx - Frühschriften und Das Kapital (Humanistische und deterministische
Marxinterpretation. Marx hat sehr wenig mit dem Sowjetsystem zu tun, das eine
konsequente Fortsetzung der russischen Geschichte ist. Marx ist vorwiegend Kritiker des
Kapitalismus)
III. Weiterentwicklungen des Marxismus (Paul Sweezy: Theorie der kapitalistischen
Entwicklung)
C. Elemente 'Dritter Wege' zwischen Sozialismus und Liberalismus
I. Frühe Kritik an Liberalismus und Sozialismus
1. Die Romantiker (Adam Müller: Elemente der Staatskunst, Berlin 1809)
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2. Friedrich List (zentrale Rolle der Nation; Reaktion gegen Kosmopolitismus;
Erziehungszölle);
3. Die Deutsche Historische Schule (Institutionen, Theorie aus Geschichte
abgeleitet); der Universalismus von Othmar Spann als Abschluss.
4. Der Institutionalismus (Veblen, Commons);
5. Christliche Soziallehre (Die soziale Frage; Fragen der Organisation von
modernen Industriegesellschaften: Gemeinwohl, Subsidiaritäts- und
Solidaritätsprinzip – Individual- und Sozialethik; Weiterentwicklung und
Ergänzung der aristotelisch-thomistischen Tradition)
II. Die 'merkantilistisch-Keynesianische' Entwicklungslinie
1. Sir James Steuart (Der letzte Merkantilist; Politische Ökonomie: Die Wirtschaft
im Dienste von Mensch und Gesellschaft)
2. Malthus, Sismondi und andere Vorläufer von Keynes (Angst vor
Überproduktion)
3. Die Keynesianische Revolution (Monetäre Theorie der Produktion; das Prinzip
der effektiven Nachfrage; Zins und Liquidität); Keynes sucht ausdrücklich einen
'Dritten Weg' zwischen Kapitalismus und Sozialismus.
III. Die Nachfolger Ricardos (Lit.: Dobb, Napoleoni)
1. Untergang der ricardianische Schule nach Ricardos Tod;
2. Piero Sraffa: Begründer der modernen neoricardianischen Schule (1926, 1960)
4. Teil: Ausblick auf zeitgeschichtliche Vorgänge in der ökonomischen Theorie (Siehe
Abschnitt III.1 oben)
A. Die neoklassischen Schulen - ökonomische Theorie des Liberalismus
B. Varianten der ökonomischen Theorie des Sozialismus
C. 'Dritte Wege' zwischen Liberalismus und Sozialismus:
I. Institutionalismus und Historismus (z.B. Galbraith)
II. Keynesianismus
III. Post-Keynesianische Strömungen
IV. Die Neo-Ricardianer
V. Die Klassisch-Keynesianisische Politische Ökonomie als Synthese der Strömungen
C.I bis IV, spezifisch von David Ricardo/Piero Sraffa (Überschussprinzip der Verteilung
und objektive Werttheorie - Proportionenaspekt) und Maynard Keynes (Prinzip der
effektiven Nachfrage - Skalenaspekt). Die gemeinsame Plattform ist das vertikal
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integrierte Modell von Luigi Pasinetti. Methodisch enthält die Politische Ökonomie eine
Verbindung von Theorie und Geschichte (reine und angewandte Theorie).
IV. Sozialphilosophie und Wirtschafts- und Sozialwissenschaften
1. Das Problem
a) Visionen und Theorien
Joseph Alois Schumpeter (1883-1950):
Hinter jeder Theorie steht eine Vision des Menschen und der Gesellschaft, die sich auf die Natur,
das Wesen von Mensch und Gesellschaft bezieht (History of Economic Analysis, p. 41). Diese
Visionen legen die Prämissen fest, auf denen Theorien aufgebaut werden, und damit auch die
Grössen (Variable und Parameter) und Beziehungen zwischen Grössen, die in eine Theorie
eingehen. Die Vision bestimmt also den theoretischen Ansatz. Z.B. kommt der Liberale fast
zwangsläufig zur neoklassischen Theorie.
Im Prinzip gibt es drei Visionen von Mensch und Gesellschaft (Menschen- und
Gesellschaftsbilder):
Liberale Vision (Werte: Privateigentum, Handels- und Gewerbefreiheit; Demokratie; Glaubens-
und Gewissensfreiheit (Laizismus), Freiheit der Betätigung im Rahmen des Gesetzes).
Sozialistische Vision (Werte (des Sowjetkommunismus): Gemeineigentum, Planung der
wirtschaftlichen Aktivitäten, selbst künstlerische Tätigkeit staatlich gesteuert; Ausschaltung der
Religion; Diktatur der Arbeiterpartei – des Politbüros, letztlich des Generalsekretärs). (In einem
Land wie Russland kann Gemeineigentum durchaus sinnvoll sein, weil es der Mentalität –
vermutlich des grösseren Teils – seiner Einwohner entspricht. Das Problem des
Sowjetkommunismus war die zentrale Planung, die jegliche unternehmerische Initiative
erstickte.)
Sozialliberale Vision des Mittelweges zwischen Liberalismus und Sozialismus. Grundwert ist
das Gemeinwohl der sozialen Individuen; das Soziale hat eine doppelte Dimension: einmal, die
sozialen und ökonomischen Grundlagen, so dass sich die Individuen entfalten können.
Vollbeschäftigung und sozial akzeptable Einkommensverteilung sind die wichtigsten
Komponenten des materiellen Gemeinwohls. Zum anderen bereichern sich die Individuen durch
soziale Tätigkeiten in verschiedenen Bereichen, z.B. im wirtschaftlichen, kulturellen und
intellektuellen Bereich; (sinnvolle) Arbeit in einer Unternehmung und studieren (lesen,
Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
28
diskutieren) sind soziale Tätigkeiten. Der soziale Überschuss kann für den Aufbau eines
rechtlichen, politischen, sozialen und kulturellen Überbaus verwendet werden.
b) Visionen und Sozialphilosophien
Visionen führen zu entsprechenden Sozialphilosophien (Liberalismus, Sozialismus und Sozialer
Liberalismus). Eine Sozialphilosophie ist eine analytisch artikulierte Vision, eine systematisch
dargestellte Vision. Sozialphilosophien stellen die Grundfrage: Was ist eine Gesellschaft? Auf
diese Frage werden verschiedene Antworten gegeben, im Prinzip die liberale Antwort, die
sozialistische und die sozialliberale.
Im Sozialismus ist die Gesellschaft primär und das Individuum sekundär. Das Individuum ist
sozusagen Teil der gesellschaftlichen Maschine, gesellschaftlicher Funktionsträger und ist ohne
Eigenwert. Analogie: Die einzelnen Teile eines Automotors haben für sich allein genommen
keinen Wert, nur zusammengesetzt – als Ganzes – ergeben sie einen Sinn.
Liberalismus: Das Individuum ist primär. Die Gesellschaft ist sekundär; d.h. die verschiedenen
gesellschaftlichen Formationen – Vereine, Unternehmungen, sogar der Staat – sind etwas
Abgeleitetes und entstehen durch implizite und explizite Verträge. Die Individuen werden in
verschiedenen Bereich tätig, etwa in Wirtschaft oder Politik. Die Koordination der individuellen
Handlungen erfolgt letztlich durch automatische Mechanismen (Markt, Abstimmungen).
Der Soziale Liberalismus betrachtet den Menschen als ein soziales Individuum (Aristoteles:
soziales Wesen). Der Einzelne verwirklicht sich in und durch die Gesellschaft.
Das einzelne Individuum ist einerseits innerhalb eines gesellschaftlichen Institutionensystems
tätig, z.B. Arbeit in einer Unternehmung, Tätigkeit in einer Non-Profit-Organisation oder in der
staatlichen Administration; dadurch über das einzelnen Individuum soziale Funktionen aus. Das
bedeutet, dass der Einzelne zusammen mit andern soziale Ziele anstrebt. Andererseits bereichert
sich das einzelne Individuum durch soziale Tätigkeiten: sinnvolles Arbeiten in einer
Unternehmung, intellektuelle Tätigkeiten (Lesen als Interaktion zwischen Autor und Leser ist ein
sozialer Vorgang, ebenso studieren an einer Universität).
Damit die Einzelnen sich möglichst voll verwirklichen können, muss der Staat in
Zusammenarbeit mit der Gesellschaft entsprechende soziale Grundlage schaffen (die Märkte
sind nicht selbstregulierend!): hohes Beschäftigungsvolumen, sozial akzeptable
Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
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Einkommensverteilung und ein staatliches, für alle frei zugängliches Erziehungssystem. Diese
sozialen Grundlagen sind Ausdruck des Solidaritätsprinzips.
Allerdings ist auf der Grundlage der sozialen und politischen Theorie, vor allem der Politischen
Ökonomie, die Gesellschaft so zu organisieren, damit für die Individuen und Kollektive
grösstmögliche Freiheitsräume zustande kommen. Der Staat soll nur das machen, was die
Individuen und Kollektive selber nicht machen können (Subsidiaritätsprinzip).
Dem Sozialen Liberalismus liegt eine ganzheitliche Betrachtungsweise von Mensch und
Gesellschaft zugrunde. Beide sind in einem gewissen Sinne organische Ganzheiten, die in
bestimmten Proportionen stehen müssen, wenn sich das gute Leben oder die gute Organisation
der Gesellschaft ergeben. Die ganzheitliche Betrachtungsweise bedeutet keinen Totalitarismus.
Im Gegenteil, soziale Tätigkeiten – sinnvolle Arbeit in einer Unternehmung, einer Non-Profit-
Organisation oder beim Staat, kulturelle und intellektuelle Tätigkeiten in Interaktion mit anderen
– bereichern das einzelne Individuum und machen es so zu einer unverwechselbaren,
einzigartigen Person, eventuell sogar zu einer Persönlichkeit.
2. Allgemeiner Zusammenhang zwischen Sozialphilosophie und den sozialen und
politischen Wissenschaften
Ein System, z.B. das liberale System, der sozialen und politischen Wissenschaften (Politik,
Recht, Politische Ökonomie, Soziologie) beruhen also auf einer Sozialphilosophie (und
impliziert eine Sozialethik), die ihrerseits aus einer Vision von Mensch und Gesellschaft
hervorgeht.
Das Materialobjekt (das Untersuchungsobjekt) der sozialen und politischen Wissenschaften ist
die menschliche Gesellschaft (im weiteren Sinn, also einschliesslich des Staates).
Gesellschaft kann System von Institutionen aufgefasst werden. Die Institutionen – z.B. die
staatliche Administration, die Unternehmungen, das Erziehungssystem – ermöglichen, dass die
Individuen und Kollektive (zielgerichtet) handeln können. Die klassischen Ökonomen (und vor
allem Marx) haben angedeutet, dass man das ungeheuer komplexe gesellschaftliche
Institutionensystem mit einem ganz einfachen Schema sinnvoll strukturieren kann: Die
Wirtschaft kann nämlich als Materielle Basis aufgefasst werden, auf der sich ein
Gesellschaftlicher Überbau erhebt. Die materielle Basis produziert einen gesellschaftlichen
Überschuss, der den Aufbau und das Funktionieren der Institutionen des Überbaus finanziert.
Diese enthalten verschiedene Komponenten : eine staatliche Komponente (Administration,
Parlament, Regierung, Erziehungssystem, äussere Sicherheit), eine rechtliche Komponente
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(innere Sicherheit, Rechtssystem), eine soziale (Vereine, Non-profit-Organisationen, Sport) und
eine kulturelle Komponente (Musik, Theater, Literatur, Malerei, Architekture, Plastik). Innerhalb
dieser Institutionen handeln nun Individuen und Kollektive.
Die gesellschaftlichen Institutionen sind verbunden mit Werten, die permanent angestrebt
werden. Die sozialen und politischen Wissenschaften unternehmen nun die systematische
Erklärung der gesellschaftlichen Realität (Funktionsweise des Gesamtsystems, Funktionieren
von Teilsystemen, z.B. Kultur, das Verhalten von verschiedensten sozialen Gruppierungen).
Jede dieser Wissenschaften beschäftigt sich mit einem Aspekt der sozialen Realität, betrachtet
also die Gesellschaft aus einem bestimmten Blickwinkel (Formalobjekt). Analog könnte man
sagen, das jede einzelne soziale und politische Wissenschaft (also: Politik, Recht, Politische
Ökonomie, Soziologie), die Gesellschaft im weitesten Sinn (also inklusive Staat) mit einem
speziellen Röntgengerät durchleuchtet, so dass jedes Mal bestimmte Elemente der
gesellschaftlichen Struktur sichtbar werden: Der Rechtswissenschafter lässt die rechtlichen
Strukturen hervortreten (Gesetze) und versucht z.B., das Verhalten von Anwälten und Richtern
zu erfassen, der politische Ökonom versucht die Funktionsweise des Gesamtsystems z.B. im
Hinblick auf die Bestimmung von Output und Beschäftigung in einer monetären
Produktionswirtschaft und strebt an, das Verhalten von Produzenten und Konsumenten zu
erklären.
Dies führt zu bestimmten Theorien zur Erklärung von Phänomenen, z.B. der Erklärung der
Phänomene des Wertes, der Verteilung und der Beschäftigung.
Das Problem ist nun, dass es mehrere Theorien zur Erklärung eines Phänomens geben kann, z.B.
subjektive und objektive Werttheorie. Um die obige Analogie weiterzuführen: Das Röntgengerät
des liberalen Ökonomen lässt die wirtschaftlichen Strukturen und das Verhalten der
Wirtschaftssubjekte anders hervortreten als das Gerät des keynesianischen oder des
sozialistischen Ökonomen. Die gewählte Theorie wird jeweils vom Erklärungsansatz (bestimmte
Prinzipien, die aus einer Vision herauswachsen) abhängen. Ein liberaler, ein humanistischer oder
ein sozialistischer Ökonom wird jeweils einen anderen Erklärungsansatz wählen.
Wieso dominieren in bestimmten Zeitperioden bestimmte Erklärungsansätze der ökonmischen
Theorie?
Die Lage der ökonomischen Theorie (Theorienvielfalt, eine Theorie dominiert) hängt in erster
Linie von objektiven Faktoren ab, vor allem vom Zeitgeist (dominierende Vision von Mensch
und Gesellschaft, herrschende Werte) und, vor allem, von der wirtschaftlichen, sozialen und
politischen Lage. Im Zusammenhang damit stellen Screpanti / Zamagni (Lit.verz.) eine
aufschlussreiche These auf: In Krisenzeiten gibt es mehr oder weniger grosse Theorienvielfalt
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31
(Shackles Years of High Theory 1926-1939 : Sraffa, Keynes, Harrod – Weltwirtschaftskrise der
1930er Jahre), in Zeiten der Hochkonjunktur dominiert eine Theorie (die neoklassische Synthese
von Hicks und Samuelson in den Jahren 1948 bis etwa 1972).
Subjektive Faktoren bestimmen warum ein Theoretiker einer bestimmten Schule angehört und
nicht einer anderen. Dabei spielt die soziale Herkunft eine Rolle (Söhne und Töchter von
Gewerkschaftern sind eher Keynesianer, aus Unternehmerkreisen gehen eher (liberale
Ökonomen) Neoklassiker hervor. Dabei gibt es immer zahlreiche Ausnahmen : Karl Marx
entstammte dem höheren Bürgertum, seine Frau war eine Adelige ; Paul Sweezy (ein sehr
bedeutender Marxist) war Sohn eines eminenten und einflussreichen Bankiers. Die Erziehung
spielt eine Rolle, auch rein persönliche (psychologische) Faktoren.
3. Spezifischer Zusammenhang zwischen Sozialphilosophie und ökonomischen Theorien
Es gibt also im Prinzip drei grosse Sozialphilosophien: Liberalismus, Sozialismus und Sozialer
Liberalismus. Diese treten in verschiedenen Varianten auf; auch gibt es Überschneidungen. Die
dazugehörigen ökonomische Theoriengruppen sind die Neoklassik, die ökonomische Theorie des
Sozialismus sowie die Klassisch-Keynesianische Politische Ökonomie.
Wesentliche Kennzeichen der Neoklassik:
Ausgangspunkt sind der Tausch (Märkte) und optimierende Individuen (nutzen- und
gewinnmaximierende Individuen und Kollektive). Die Koordination der individuellen
Handlungen erfolgt durch Güter- und Faktormärkte. Dabei werden die individuellen Optima in
ein soziales Optimum übergeführt: Das allgemeine Gleichgewicht von Walras ist auch ein
Pareto-Optimum. Zentrales Problem ist die Allokation von gegebenen Ressourcen. Der Markt
steht im Zentrum, umgeben vom (rechtlichen, politischen, sozialen und kulturellen) Rahmen.
Grundschema ist ein Realtauschwirtschaft (Walras) : W – W’ oder eine monetarisierte
Wirtschaft : W – G – W’. Marshall arbeitet mit einer monetären Theorie des Tausches: G-W …
MP … W’ – G’ (wobei G = G’). (MP ist Sraffas ‘mysteriöser Prozess’, der besagen will, dass der
Weg von den Faktormärkten G-W zu den Endproduktmärkten W’-G’ im Marshallschen-
neoklassischen System nicht erklärt ist.)
Die ökonomische Theorie des Sozialismus:
In den sozialistischen Wirtschaften des 20. Jahrhunderts bestand Gemeineigentum an
Produktionsmitteln, und es erfolgte eine zentrale Planung von Preisen und Mengen; es wurden
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direkt Gebrauchswerte produziert, ohne über den Markt zu gehen (dafür entstanden
Schwarzmärkte!). Es wurden niedrige Preise für Rohstoffe und für landwirtschaftliche Produkte
sowie für Kapitalgüter festgelegt, was zu einer Ressourcenverschwendung führte. Damit einher
ging ein Raubbau an der Umwelt (der zum Teil auch im kapitalistischen Westen stattfand). Die
zentrale Planung lähmte den technischen Fortschritt in der Konsumgüterindustrie (technischer
Fortschritt stört den Plan).
[Erhebliche sozialistische Elemente gab es aber auch in den alten Hochkulturen Mesopotamiens,
Ägyptens und in Zentral- und Südamerika: Gemeineigentum, vor allem an Land und Planung,
vor allem bei der landwirtschaftlichen Produktion. Siehe z.B.: Louis Baudin: L’Empire socialiste
des Inka. Paris (Institut d’Ethnologie) 1928]
Sozialer Liberalismus und Klassisch-Keynesianische Politische Ökonomie:
Ausgangspunkt sind der soziale Produktionsprozess und die Gesellschaft als Ganzes. Das
institutionell-technische System (materielle Basis – gesellschaftlicher Überbau) bestimmt Preise
und Mengen (p*, Q* - Systemgleichgewicht). Die Einkommensverteilung ist ein komplexes
soziales Problem bei dem es um Proportionen geht (die grossen Quoten: W/Y, P/Y, R/Y, und
Strukturen, z.B. die Lohnstruktur). Geld spielt eine entscheidende Rolle: es besteht eine
monetäre Produktionswirtschaft, die durch eine monetäre Theorie der Produktion skizziert wird :
G – W …. P … W’ – G’ (mit G’ > G: Überschuss). In einer monetären Produktionswirtschaft
gibt es im Prinzip keine Tendenz zur Vollbeschäftigung: Die in Geld ausgedrückte effektive
Nachfrage G’ reicht in der Regel nicht aus, um den Endprodukt-Output W’ bei
Vollbeschäftigung, d.h. das Vollbeschäftigungs-Sozialprodukt Qv aufzukaufen.
V. Einige dogmengeschichtliche Spezialprobleme:
Werturteilsproblematik, Methode, Frage des Fortschritts in den Wirtschaftswissenschaften
(ungeheuer komplexe Probleme, die nur angedeutet werden sollen)
1. Die Werturteilsproblematik
a) Die dazu dominierende Meinung
Viele, vielleicht sogar die meisten Ökonomen sind der Auffassung, dass ökonomische Theorie
unabhängig von Visionen von Mensch und Gesellschaft sein müsse, damit auch unabhängig von
Sozialphilosophien und Werten. Das heisst, dass im Extremfall der liberale und der
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keynesianische Ökonom die gleiche ökonomische Theorie haben sollten, wenn sie rein
wissenschaftlich arbeiten würden.
Die ökonomische Theorie ist demzufolge neutral und frei von (liberalen, sozialistischen oder
christlichen) von Werten.
Das Postulat der Wertfreiheit impliziert, dass rein wissenschaftlich gearbeitet werden soll, d.h.
unabhängig von Vorurteilen, metaphysischen Voraussetzungen und Implikationen (wie Visionen
von Mensch und Gesellschaft und darauf aufbauende Sozialphilosophien). Rein wissenschaftlich
arbeiten heisst, bestimmte Prämissen setzen, davon ausgehend eine Theorie entwickeln, diese im
weitesten Sinn testen: sich fragen, ob die Theorie plausibel, vernünftig ist; am besten ist
natürlich der empirische Test, was wiederum impliziert, dass man aus einer Theorie testbare
Hypothesen gewinnen kann. Verläuft der Test positiv, ist die Theorie etabliert, sonst muss eine
neue entwickelt werden. (In diesem Zusammenhang sagt allerdings Karl Popper : Man kann eine
Theorie nie beweisen, es kann nur nicht gelingen, sie zu etablieren (onc can never prove a
theory, one can only fail to establish it). Nach Popper bleibt also eine Theorie solange etabliert,
bis sie falsifiziert ist (Poppersches Falsifikationskriterum).
b) Kritik
Ein rein wissenschaftliches Vorgehen ist nur bei einfachen Sachverhalten möglich, z.B. den
Erfolg einer Marketing-Kampagne testen.
Bei komplexen Sachverhalten, z.B. welche Erklärung der Arbeitslosigkeit, die liberale oder die
keynesianische, ist besser?, ist das rein wissenschaftliche Vorgehen aus verschiedenen Gründen
unmöglich:
- Der Hauptgrund ist, dass zuviele Parameter geschätzt werden müssen, wenn ein komplexer
Sachverhalt statistisch signifikant erklärt werden soll (für zwei Parameter und einer unahängigen
Variablen, braucht es 15-20 gute Beobachtungen; drei Parameter (zwei unabhängige Variable)
erfordern bereits 30-35 Beobachtungen; vier Parameter (drei unabhängige Variable) schon 100-
120 Beobachtungen. Diese steigen also exponentiell mit der Anzahl der zu schätzenden
Parameter.
- Damit im Zusammenhang: Daten sind nicht voll erhältlich oder sind zweifelhaft; (die
Rechenkapazität der heutigen Computer würde die Schätzung von sehr komplexen Modellen
problemlos ermöglichen – das Problem liegt heute bei der Datenerhebung!).
- Erhebungen sind zeit- und kostenaufwendig!
- Bei einem komplexen System gibt es keine abhängigen und unabhängigen Variablen mehr. Die
Sache wird noch komplexer, wenn das System eine Art Organismus ist. Marshall war dieser
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Auffassung. Angesichts der organischen Komplexität eines sozio-ökonomischen Systems, könne
man nur bestimmte Teile der Realität annähernd erklären, wenn man in einem Modell darstelle,
wie die Kausalkräfte im Prinzip wirken (reine Theorie). Dies führt Marshall zur Partialanalyse,
d.h. der Betrachtung von einzelnen Märkten (Angebots-Nachfrage-Diagramm). (Aus solchen
Partialmodellen können dann eventuell testbare Hypothesen abgeleitet werden.) Aber dabei steht
für Marshall, wie bei allen Neoklassikern die Vision des allgemeinen Gleichgewichts von Walras
im Hintergrund. Und dieses kann nicht getestet werden.
- Aus Nicht-Testbarkeit des Walrasschen Modells scheint es einen Ausweg zu geben. Komplexe
Sachverhalte, z.B. Arbeitslosigkeit oder Inflation, können auch mit aggregierten, im Extremfall
makroökonomischen Modellen, erklärt werden, die dann zu testen wären. Ein neues Problem
taucht auf: ein bestimmtes komplexes Phänomen kann verschieden interpretiert werden. Ein
Standardbeispiel ist der statistisch sehr gut gesicherte Zusammenhang zwischen Preisniveau und
Geldmenge im Rahmen der sogenannten Quantitätsgleichung (MV = PQ). Die Monetaristen
sagen, dass die Kausalität im Prinzip von der Geldmenge zu den Preisen verläuft (dies erfordert
die Konzeption einer exogen gegebenen Geldmenge). Die Post-Keynesianer dagegen sind der
Ansicht, die Kausalität verlaufe prinzipiell von den Preisen (Lohn-Preis-Spirale bei
Verteilungskonflikten) zur Geldmenge, die sich anpasst, weil sie endogen ist (Kredite!); ein
exogenes Geldelement kommt allerdings auch hier durch die Basis-Geldmenge ins Spiel; bei
Inflation ist die Zentralbank gezwungen, die Basis-Geldmenge zu erhöhen, um zu verhindern,
dass die Realzinssätze übermässig ansteigen.
- Die Geschichte ist einmalig (Im Prinzip können vielleicht die grossen Krisen mit dem gleichen
(klassisch-keynesianischen) Grundmodell erklärt werden; die Art und Weise, die Krise der Jahre
1870-96 zu erklären, wird aber sicher von der Erklärung der Krise der 1930er Jahre abweichen).
c) Werturteilsfreiheit ist unmöglich
Aus den obigen Gründen ist Werturteilsfreiheit nicht möglich. Jedes Denkmodell, das auf die
Erklärung einer komplexen Situation ausgerichtet ist, beruht implizit auf einer bestimmten
Vision von Mensch und Gesellschaft, auch wenn das nicht explizit klar gemacht wird. Weil es
nicht möglich ist, komplexe Theorien zu falsifizieren, werden verschiedene Erklärungsversuchen
von bestimmten Phänomenen immer koexistieren, z.B. die neoklassische oder die keynesianische
Erklärung der Arbeitslosigkeit ; die Frage: « Welche Preise sind fundamentaler, die Marktpreise
oder die Produktionspreise? » wird immer auf eine endgültige Antwort warten. Das ist eigentlich
immer das Problem: Was ist fundamental (wesentlich, primär), was ist ‘oberflächlich’
(akzidentell, sekundär)? Bei der Beantwortung dieser Frage stützt sich der Theoretiker in der
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Regel auf seine Vision und die damit verbundenen (theoretischen und empirischen)
Implikationen ab.
Werte dringen über zwei Kanäle in die ökonomische Theorie ein:
1) einmal über die Vision (Sozialphilosophie, Werte). Die Vision dringt sozusagen in die
Prämissen von Theorien ein und bestimmt somit welcher Ansatz gewählt wird: z.B. der
neoklassische oder der Klassisch-Keynesianische Erklärungsansatz in der Werttheorie
(subjektive oder objektive Werttheorie). Der gewählte Ansatz für die Werttheorie impliziert
einen bestimmten Ansatz in der Verteilungstheorie, in der Beschäftigungstheorie, der
Geldtheorie und so weiter. So führt die objektive Werttheorie zum (klassischen, ricardianischen)
Überschussprinzip in der Einkommensverteilung, zum (Keynes’schen) Prinzip der effektiven
Nachfrage für die Festlegung von Output und Beschäftigung sowie zu einer Theorie des
endogenen Geldes im Zusammenhang mit einer monetären Theorie der Produktion. Dagegen
führt die subjektive Werttheorie zum (neoklassischen) Marginalprinzip der
Einkommensverteilung, zu Faktormärkten, auf denen die Probleme der funktionalen
Einkommensverteilung und der Beschäftigung gelöst werden. Geld ist in neoklassischer Sicht im
Prinzip neutral und von sekundärer Bedeutung.
2) Werte dringen auch über die wirtschaftspolitischen Zielsetzungen in die
Wirtschaftswissenschaften ein. Was hat Priorität? Was ist dringender? Ein hohes
Beschäftigungsvolumen oder Preisstabilität.
d) In Deutschland gab es Ende des 19., anfangs des 20. Jh. einen Methodenstreit:
Der Soziologe Max Weber und der Wirtschaftshistoriker Werner Sombart vertraten das Postulat
der Werturteilsfreiheit (also keine Werturteile in der Theorie). In der Zeit vor dem Ersten
Weltkrieg war der Glaube an die Allmacht der Wissenschaft noch voll intakt!
Dagegen argumentierten die Vertreter der deutschen historischen Schule, vor allem Gustav
Schmoller, dass angesichts der Komplexität von historischen Situationen die Werturteilsfreiheit
unmöglich sei.
Auch über wirtschaftspolitische Zielsetzungen flössen Werturteile in die
Wirtschaftswissenschaften ein: sozialethische Überlegungen würden festlegen, welche
wirtschafts- und sozialpolitischen Ziele angestrebt werden sollen. So war gegen Ende des 19. Jh.
Deutschland das erste Land, das ein allgemeines Sozialversicherungssystem einführte.
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2. Die Frage der Methode
(von ungeheurer Komplexität; hier nur einige Andeutungen zur Problematik)
a) Welche Methode in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften?
1) Ist die theoretische oder theoretisch-erklärende (analytische, formale) Methode die
richtige Methode in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (Marshallsche
Partialmodelle oder Walrasianische Allgemeine Gleichgewichtsmodelle als Beispiele)?
2) Oder ist es die historisch-beschreibende Methode?
3) Oder ist eine Synthese, nämlich die historisch-verstehende oder historisch-
philosophische Methode, die in den Sozialwissenschaften (im weitesten Sinn)
angebrachte Methode?
b) Vereinfachend gesagt spitzte sich Ende des 19., anfangs des 20. Jh. die Methodendiskussion
unter den liberalen Sozialwissenschaftern und den Sozialwissenschaftern eines – noch wagen –
‘Mittelweges zwischen Liberalismus und Sozialismus’, auf zwei Antworten zu:
1) Sehr viele liberale (neoklassische) Ökonomen betrachteten die Theorie und damit die
Deduktion als eindeutig primär in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Es
entstand sogar um Léon Walras, Francis Edgeworth u.a. herum, eine eigentliche
mathematische Schule der Nationalökonomie. Die Theorie sollte dann wenigsten in
bestimmten Bereichen zu testbaren Hypothesen führen.
2) Dazu in krassem Gegensatz standen die Vertreter der Deutschen Historischen Schule
(Gustav Schmoller als zentrale Figur) sowie des Amerikanischen Institutionalismus
(Thorstein Veblen). Vor allem Schmoller und seine ‘Verbündeten’ vertraten die Ansicht,
dass zuerst historischen Studien zu betreiben seien. Daraus seien dann Theorien
abzuleiten. Dies ist reine Induktion.
Diese methodologischen Grundpositionen führten Ende des 19. Jh. zu einem eigentlichen
Methodenstreit zwischen dem österreichischen Neoklassiker Carl Menger, der den Standpunkt
der Theorie vertrat, und der führenden Gestalt der Historischen Schule, Gustav Schmoller, der
für das Primat der Geschichte einstand. Zwei berühmte Veröffentlichungen stellen den
Höhepunkt des Methodenstreites dar:
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*Carl Menger: Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften un der politischen
Ökonomie insbesondere. Leipzig (Duncker & Humblot) 1883
*Gustav Schmoller: Zur Methodologie der Staats- und Sozialwissenschaften. Jahrbuch für
Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, Band 7, 3. Heft, 1883, pp.
239-258.
c) Synthese: die historisch-philosophische Methode
Theorie und Geschichte sind untrennbar miteinander verbunden. Historische Beschreibungen
von komplexen Phänomenen implizieren immer Theorien. Oder noch schärfer ausgedrückt:
Ohne Theorie kann man gar nicht an ein komplexes historisches Problem herangehen. Die
Theorie sagt uns, auf welche Grössen (und welche Beziehungen zwischen Grössen) das
Augenmerk gerichtet werden muss. Die Prinzipien und die darauf aufbauenden reinen Theorien
sagen uns, wie die Kausalkräfte im Prinzip, in reiner Form und unabhängig von historischen
Realisationen wirken. Zum Beispiel ist der logische Multiplikator von Keynes
Q* = AN = [1/(1-c)] I
eine reine Output- und Beschäftigungstheorie, die auf dem Prinzip der effektiven Nachfrage
beruht.
Kausalkräfte wirken aber immer in der historischen Zeit. Das Bestreben, historische Situationen
zu erklären, führt zur Bildung von angewandten Theorien und Modellen. So stellt der
Multiplikator eines der theoretischen Instrumente dar, das eingesetzt werden kann, um z.B. die
Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre zu erklären. In anderer Form kann das Instrument des
Multiplikators auch verwendet werden, um andere Krisensituationen zu erklären, z.B. die grosse
Krise im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts.
Weil eine Theorie immer einen (sozial-)philosophischen Hintergrund hat, kann man also von
historisch-philosophischer Methode sprechen. Fast alle grossen Autoren haben sie angewandt.
Adam Smith verbindet seine Theorie der ‘unsichtbaren Hand’ (Produktion, Wert, Verteilung und
Wachstum und Entwicklung führen unter Konkurrenzbedingungen zu einem
Vollbeschäftigungs-Gleichgewicht, also einem sozialen Optimum, das maximal möglichen und
stetig wachsenden Reichtum impliziert) mit einer Stufentheorie der Geschichte. Karl Marx will
mit Hilfe seiner Wert- und Mehrwerttheorie den natürlichen Entwicklungsprozess von
kapitalistischen Wirtschaften erklären; das zyklische Wachstum des Kapitalstocks endet
schlussendlich im Zusammenbruch des Systems. Maynard Keynes präsentiert seinen Treatise on
Money in zwei Bänden, Band I: The Pure Theory of Money, Band II: The Applied Theory of
Money. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe der General Theory of Employment, Interest and
Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
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Money sagt Keynes ausdrücklich, dass seine Theorie Grundlage für historische Untersuchungen
sein solle. Er wolle damit den Vertetern der Deutschen Historischen Schule Werkzeuge für
geschichtliche Analysen in die Hand geben.
3. Die Frage des Fortschritts in den Wirtschaftswissenschaften
Zwei grosse Positionen werden in verschiedenen Varianten vertreten:
Absolutismus und Relativismus
a) Die ‘Absolutisten’ (meistens Liberale und Sozialisten) vertreten die Auffassung, dass wir im
grossen und ganzen einen geradlinigen Fortschritt in den Wirtschaftswissenschaften haben.
Dabei wird ökonomische Theorie mit wertfreien Techniken gleichgesetzt, meistens
mathematische Modelle.
Diese Ansicht impliziert, dass die neuesten Theorien auch immer die besten sind, natürlich auch
die neueste Literatur. Diese Ansicht wird besonders ausgeprägt von liberalen (neoklassischen)
Ökonomen vertreten – der neoklassische ‘Theoriengeschichtler’ Mark Blaug ist ein
repräsentatives Beispiel (Joseph Schumpeter ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt). Aber
auch die meisten sozialistischen Ökonomen gingen in diese Richtung. Das Studium der
Theoriengeschichte (Dogmengesschichte) wird dadurch überflüssig: Wieso sich mit veralteten
und zudem noch mehr oder weniger falschen Theorien auseinandersetzen? Die absolutistische
Ansicht hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg sukzessive durchgesetzt. Deshalb ist
Theoriengeschichte nur noch an wenigen Universitäten obligatorisch, vor allem im deutschen
Sprachraum. In den ‘lateinischen’ Ländern Europas hat sich dagegen die Theoriegeschichte –
vielfach als Kulturfach – besser gehalten.
b) Gemäss den ‘Relativisten’ koexistieren verschiedene theoretische Ansätze. Im Zeitablauf kann
ein theoretischer Ansatz zeitweise an Bedeutung verlieren, um dann später wieder in den
Vordergrund zu rücken. So dominierte Keynes in der Form der neoklassischen Synthese von
etwa 1950-72. Zu Beginn der 1970er Jahre wurde die Keynessche Theorie vom Monetarismus
von Friedman abgelöst, in den 1980er Jahren von der Theorie der rationalen Erwartungen
(Lucas). Der Keynesianismus hat aber in der Form des Post-Keynesianismus überlebt. Dabei hat
er allerdings ein Untergrunddasein geführt. Vielleicht wird der Keynesianismus in unbestimmter
Zukunft allmählich in der Form der Klassisch-Keynesianischen Theorie wieder an Bedeutung
gewinnen.
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Die relativistische Sicht impliziert, dass menschliches Denken an die absolute Wahrheit nicht
herankommen kann, dass die Ergebnisse unseres systematischen Denkens im ökonomischen
Bereich, also unseren ökonomischen Theorien immer mehr oder weniger ‘wahrscheinlich –
probable’ (Keynes) sind; auf der Ebene der Prinzipien kann man durch Prinzipiendiskussionen
vielleicht der Wahrheit noch am nächsten kommen. Die relativistische Position impliziert auch,
dass jede Theorie etwas Richtiges an sich hat; die Frage ist jeweils, welche Theorie
grundlegender (fundamentaler) ist. Schliesslich hängt mit der relativistischen Position auch die
Tatsache zusammen, dass komplexe Theoriensysteme – das liberale neoklassische oder das
sozialliberale klassisch-Keynesianische – nicht schlüssig getestet werden können.
Screpanti/Zamagni (Lit.verz.) haben eine besonders interessante Variante der relativistischen
Position entwickelt: In wirtschaftlich guten Zeiten dominiert eine Theorie, in Krisenzeiten gibt es
Theorienvielfalt. Eine besonders gute Illustration dafür ist die neuere Theoriengeschichte. Die
Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre war für die Wirtschaftstheorie eine Zeit beeindruckender
Theorienvielfalt (G.L.S. Shackle’s Years of High Theory 1926-1939): Der Marshallschen
Neoklassik im Verein mit Walras und Pareto, standen die neuen Theorien der unvollkommenen
Konkurrenz (Joan Robinson, Edward Chamberlin), die Renaissance der ricardianischen Klassik
von Sraffa, die Widerlegung des Sayschen Gesetzes durch Keynes in seiner General Theory
sowie die Begründung der modernen Wachstumstheorie durch Roy Harrod gegenüber; die
humanistischen Marxisten lieferten bedeutsame Beträge zur Kapitalismuskritik, z.B. Paul
Sweezy und Maurice Dobb. Gleichzeitig feierte ein zum Teil verfälschter Marxismus seine
Triumphe: das System der zentralen Planung in der Sowjetunion war mit sehr hohen
Wachstumsraten verbunden, währenddem der Westen in der Weltwirtschaftskrise versank. Ganz
im Gegensatz dazu war die einmalige Hochkonjunktur von 1950-73 durch die fast
ausschliessliche Domination der neoklassischen Synthese von Hicks / Samuelson (IS-LM-
Diagramm) gekennzeichnet.
Teilfortschritte sind natürlich im Rahmen der relativistischen Position möglich. Dieses Bestehen
in der Ausarbeitung und vor allem Klarstellung von theoretischen Ansätzen. So hat Gérard
Debreu in den 1950er Jahren das Allgemeine Gleichgewichtsmodell von Walras verbessert – die
Existenz von positiven Preisen und Mengen wurde garantiert - und das Modell wurde eleganter
dargestellt. Oder Piero Sraffa hat im Zuge seiner Edition der Werke Ricardos in den Jahren
1935-53 eine eindeutige Interpretation der Wert- und Verteilungstheorie von David Ricardo
erarbeitet (Einleitung zu Ricardos ‘Principles of Political Economy and Taxation’) und hat damit
eine Renaissance der Klassischen Politischen Ökonomie eingeleitet. Diese kulminierte in seinem
berühmten Buch Production of Commodities by Means of Commodities (1960). Zur Klarifikation
Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
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der Wert- und Verteilungstheorie von Ricardo hat auch der italienische Ökonom Luigi Pasinetti
(Mailand) beigetragen. Er hat auch den Zusammenhang zwischen Ricardo und Sraffa klargestellt
und eine Brücke zu Keynes geschlagen. Mit seinem Gesamtwerk hat Luigi Pasinetti die
analytische Grundlage für die Klassisch-Keynesianische Politisiche Ökonomie geschaffen.