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Einführung in die Neurobiologie der SuchtEdelmann & Tononi 2000). „Naturalistisches Modell“ –...

Date post: 09-May-2018
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Hinweis: Vortrags- und Seminar-Unterlage, nur für Teilnehmer am Vortrag und dem Seminar „Neurobiologie der Sucht“ (Version vom 15.2.07;© Tretter und Quellenangaben) Verfasser: Prof. Dr. Dr. Dr. Felix Tretter, Suchtabteilung, Isar-Amper- Klinikum, Klinikum Ost, Haar A) ALLGEMEINE GRUNDLAGEN 2 1. Verhaltensbiologie 2 2. Das Gehirn – Strukturen, Prozesse und Funktionen 3 2.1 Anatomie (Makroanatomie) 3 2.2 Struktur hirnlokaler Netzwerke (Mikroanatomie, Histologie) 9 2.3 Die Nervenzelle und ihre Verknüpfungen 11 2.4 Die Nervenzelle – chemische Impulse 15 2.5 Innerzelluläre molekulare Signalketten 17 2.6 Neurophilosophie – das „Gehirn-Geist“-Problem und das „Mikro-Makro“-Problem 19 B) NEUROBIOLOGIE DER SUCHT 20 3. Drogen 20 4. Neurochemische Dynamik 24 5. Neuroanatomie der Sucht 28 5.1 Die zentrale Rolle des Dopamin-Systems 28 5.2 Das Gesamtbild der funktionellen Architektur des süchtigen Gehirns 30 5.3 Hirn-Schädigungen als Konsumfolge 31 C) LITERATUR 32 Einführung in die Neurobiologie der Sucht
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Hinweis:

Vortrags- und Seminar-Unterlage, nur für Teilnehmer am Vortrag und demSeminar „Neurobiologie der Sucht“ (Version vom 15.2.07;© Tretter undQuellenangaben)

Verfasser: Prof. Dr. Dr. Dr. Felix Tretter, Suchtabteilung, Isar-Amper-Klinikum, Klinikum Ost, Haar

A) ALLGEMEINE GRUNDLAGEN 2

1. Verhaltensbiologie 2

2. Das Gehirn – Strukturen, Prozesse und Funktionen 3

2.1 Anatomie (Makroanatomie) 32.2 Struktur hirnlokaler Netzwerke (Mikroanatomie,

Histologie) 92.3 Die Nervenzelle und ihre Verknüpfungen 112.4 Die Nervenzelle – chemische Impulse 152.5 Innerzelluläre molekulare Signalketten 172.6 Neurophilosophie – das „Gehirn-Geist“-Problem

und das „Mikro-Makro“-Problem 19

B) NEUROBIOLOGIE DER SUCHT 20

3. Drogen 20

4. Neurochemische Dynamik 24

5. Neuroanatomie der Sucht 28

5.1 Die zentrale Rolle des Dopamin-Systems 285.2 Das Gesamtbild der funktionellen Architektur des

süchtigen Gehirns 305.3 Hirn-Schädigungen als Konsumfolge 31

C) LITERATUR 32

Einführungin die Neurobiologie der Sucht

2

A) ALLGEMEINE GRUNDLAGEN

1. Verhaltensbiologie

Sucht ist erlerntes Verhalten und kann auch tierexperimentell erzeugt

werden (s. Wolffgramm, Spanagel; vgl. Abb. 1). Man spricht in diesem

Zusammenhang vom „Suchtgedächtnis“ als veränderungsresistente

Verhaltensbereitschaft, Drogen (= legale und illegale psychoaktive

Substanzen) zu konsumieren, auch wenn aktuell keine Drogen konsumiert

werden. Bei Konfrontation mit Drogen trotz längerer Abstinenz kann der

Antrieb bzw. Drang zu erneutem Konsum auftreten. Das entspricht dem

Rückfall, er lässt sich auch an Tieren zeigen.

Abb. 1: Entwicklung der Opiatsucht und Suchtgedächtnis – langsamerAnstieg der Opiat-Dosis bis zum 10. Monat, dann 4 MonateAbstinenzphase, dann erneute Exposition gegenüber Opiaten mit Rückfallmit sofortigem Hochdosis-Konsum sogar bei mit Chinin vergällteOpiatzubereitungen (von Wolffgramm 2003).Anmerkung: Nicht-süchtige Ratten (graue Balken) zeigen anderen Verlauf –keine Dosissteigerung und daher auch keinen Rückfall.

Aus diesen Befunden und aus der klinischen Beobachtung stellt sich die

Frage an die Neurobiologie, welche Gehirnstrukturen für die

Suchtentwicklung, das Suchtgedächtnis, die Entzugssymptomatik, das

Craving und den Rückfall zuständig sind.

3

2. Das Gehirn – Strukturen, Prozesse und Funktionen

2.1. Anatomie (Makroanatomie)

Folgende Strukturen des Gehirns sind allgemein wichtig und teilweise auch

für die Sucht bedeutsam (vgl. Abb. 2, siehe Roth 2001, Koob und Le Moal

2006):

Kortex:

Präfrontaler Kortex (PFC): Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit, auch

Impulskontrolle und Verhaltenshemmung

Thalamus: Schaltstelle und Filter für sensorische Inputs/ Wahrnehmung

Stammganglien: automatisiertes Verhalten

- Putamen

- Pallidum (P. internum, P. externum)

- Nucleus Caudatus

- Striatum = Putamen + Pallidum externum + Pallidum internum

+ Nucleus Caudatus (Definition ist in der Literatur uneinheitlich)

Limbisches System: Affekte, Gefühle

- Nucleus Accumbens: Lustzustände, Belohnung

- Amygdala: Angst und Aggression

- Hippocampus: Langzeit-Gedächtnis

Mittelhirn

- Substanzia nigra (SN): Dopamin-Zell-Zentrum mit Faserprojektion

in das Putamen; motorische, prozessorientierte Verhaltens-

organisation

- ventrales Tegmentum (VTA): Dopamin-Zell-Zentrum mit Faser-

projektion in den Nucleus acumbens mit Belohnungsfunktion

FÜR INTERESSIERTE:

Hier, im Mittelhirn, gibt es auch Zellgruppen, die als Zentrum von anderen

Transmittersubstanzen anzusehen sind (Nucleus Raphe: Serotonin, Locus

coeruleus: Noradrenalin).

4

NucleusCaudatus

Putamen

Hippocampus

Abb. 2: Einige Strukturen des Gehirns in 3D-Darstellung(Quelle: Spektrum 1988)

Präfrontaler Cortex: Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis, Planen

– bei chron THC-Konsum mehr kortikales Areal nötig !

Quelle: NIDA

Hören

Sehen

Abb. 3: Linke Gehirnhälfte von der Seite, von außen aus gesehen(Quelle: NIDA 2006)

Lokalisation von Funktionen

Aus neurochirurgischen und klinisch-neurologischen Beobachtungen weiß

man, dass die Aktivitäten einzelner Gehirngebiete mit unterschiedlichen

psychischen Funktionen einhergehen (siehe Abb. 4).

5

VORNE HINTEN

Judgement

reward

Quelle: NIDA

Bewegung Berührung

Sehen

Koordination Gedächtnis

Belohnung

Urteilen

Abb. 4: Rechte Gehirnhälfte von innen, von der Mitte aus gesehen (linkeGehirnhälfte ist weggeklappt; Quelle: NIDA 2006)

Neben Hirnverletzungen, hirnlokalen Entzündungen, Hirndurchblutungs-

störungen und Hirntumoren stellen auch bestimmte Formen der

epileptischen Anfallsaktivität, die sich im Hirnstrombild (EEG) zeigen,

Quellen für diese Informationen dar. Diese Anfälle gehen mit

Veränderungen des wachen Bewusstseins einher und lösen beispielsweise

in hinteren Gehirnregionen akustische, optische oder olfaktorische

Halluzinationen aus.

FÜR BESONDERS INTERESSIERTE:

Wichtige Schaltkreise des Gehirns

Die Verbindungen zwischen den einzelnen Gehirngebieten stellen sich als

komplexe Netzwerke von hin und her verlaufenden Fasern dar, die sich als

Schaltkreise mit einer bestimmten Verschaltungsstruktur begreifen lassen.

Die Funktionsweise der jeweiligen Verschaltungsstruktur ist durch die

Anzahl der hintereinander geschalteten Hemmungen charakterisiert: eine,

drei, fünf etc., also eine ungerade Anzahl von Hemmungen. Diese führt –

beispielsweise bei zirkulären Verschaltungen - meist zu einem

oszillatorischen Verhalten dieses Schaltkreises. Bei einer geraden Anzahl

von hintereinander geschalteten Hemmungen tritt meist eine Eskalation der

Aktivität auf (Prinzip: „Enthemmung“ bei z.B. doppelter Hemmung).

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Abb. 5: Gehirn-Geist-Beziehung: Das Gehirn und die über das EEGabgeleitete elektrische Aktivität bei komplexen lokalen epileptischenAnfällen mit Krampfpotenzialen (links unten) und gleichzeitig auftretendenErlebnissen wie optische, olfaktorische oder akustische Halluzinationen undmotorische Erscheinungen, je nachdem, wo der Herd im Gehirn lokalisiertist (rechts, unten; Quelle: Netter 1986).

a) Schaltkreise von PsychosenBei Cannabis, Ecstasy, Kokain und Amphetaminen können

schizophrenieähnliche psychotische Zustände vorkommen. Dabei spielt

chemisch betrachtet eine Überaktivität des Dopamins eine wichtige Rolle,

wenngleich dies noch nicht vollständig aufgeklärt ist. Auf Verhaltensebene

muss - ähnlich wie es die Befunde zur Epilepsie zeigen – eine kortikale

Überaktivität vorliegen. Dies lässt sich über ein Schaltkreismodell zur

Schizophrenie verstehen (siehe Abb.6).

EEG – Komplexität der Aktivitäts-MusterMusterMuster

7

Thalamus

Kortex

S.nigra/ VTA

+

Striatum

_

Sinnessysteme

GABA_

Glutamat

Dopamin

Motorisches Verhalten

1

23

Abb. 6: Schaltkreise, die nach dem Medizin-Nobelpreisträger ArvidCarlsson für psychotische Zustände (z.B. Drogenpsychose, Schizophrenie)verantwortlich gemacht werden können (Carlsson 2006): Halluzinationenkönnen als Resultat einer übermäßigen neuronalen Aktivität im Kortexaufgefasst werden. Dies beruht vermutlich auf einem zu starken Input, derüber den Thalamus (1) an den Kortex vermittelt wird. Dieser ist wiederumauf eine gestörte, zu schwache Hemmung zurückzuführen, wie sienormalerweise von dem Striatum auf den Thalamus ausgeübt wird (2).Diese pathologische Schwächung der Hemmung im Thalamus ist wiederumdurch eine verstärkte Hemmung im Striatum durch eine Überaktivität desDopaminsystems bedingt, das dort über hemmend wirksame Dopamin-Rezeptoren vom D2-Typ seine Informationen überträgt (3).

b) Netzwerk der psychiatrisch wichtigen Schaltkreise

Wenn man wichtige Schaltkreise, die bei psychischen Störungen relevant

sind, zusammenfasst, ergibt sich ein komplexes Bild, das erkennen lässt,

dass ein Funktionsverständnis schwer möglich ist (siehe Abb. 7).

Die Bedeutung der Komplexität der „Konnektivität“, wie sie in der

Gehirntheorie von Edelmann und Tononi (2002) betont wird, wird anhand

eines Schemas deutlich, dass nur 64 Gehirngebiete und ihre 1.134

Verbindungen darstellt – ein Verständnis der in diesem Netzwerk

ablaufenden Signalmuster ist ohne Mathematik und Computersimulation

nicht mehr möglich (siehe Abb. 8).

8

36

Neurochemie und Topographie der Gehirnstrukturen die für die Sucht relevant sind, hier als neuronales Schaltkreisgefüge dargestellt (nach Dworkin et al. 1993, Shepherd 1994, Gray 1995, von Tretter 2000).

? Für das „Verstehen“ benötigen wir mathematische Modelle und Computersimulationen (Tretter 2005)!

NEURONALE MAKROSCHALTKREISE

Abb. 7: Schema von 5 wichtigen Schaltkreisen (I-V), die bei Schizophrenie,Angststörungen, Depressionen und Sucht im Einzelnen und im Verbundgestört sind.Thal = Thalamus, Put = Putamen, Pal = Pallidum, Sep = Septum, EnCo =entorhinaler Cortex, Amyg = Amygdala, Hypo = Hypothalamus, N.Ac = NucleusAccumbens, Hippo = Hippokampus, V.Teg = Ventrales Tegmentum, L.Coer =Locus coeruleus, N.Raphe = NucleusRaphe, S.nig = Substanzia nigra

7

Konnektivität im Gehirn: 64 Gebiete mit 1.134 (wechselseitigen) Verbindungen (Edelmann & Tononi 2000).

„Naturalistisches Modell“ – strukturelle Komplexität

Abb. 8: Schema zur „strukturellen Komplexität“ des Gehirns im Konzept vonEdelman und Tononi, das die hohe Vernetzung (Konnektivität) hervorhebt(2002).

9

2.2 Struktur hirnlokaler Netzwerke (Mikroanatomie, Histologie)

Die lokalen Schaltkreise bzw. lokalen Netzwerke in bestimmten

Gehirngebieten, wie beispielsweise in der Rinde des Großhirns (=

zerebraler Kortex), zeigen eine komplizierte Struktur, die schon im

Lichtmikroskop erkennbar ist. Dabei ist zu beachten, dass sich die

Verbindungen über die Nervenfasern (Konnektivität) im Laufe der frühen

Entwicklung verdichten (siehe Abb. 9). Neuerdings wurde festgestellt, dass

sich Nervenzellen auch im Laufe des Lebens neu bilden (Neuroneogenese,

siehe Abb. 10). Man hat auch versucht, in der Vielzahl der Nervenzellen

und Verbindungen eine Ordnung zu finden und unterscheidet nun „Säulen“

und „Schichten“, die aus bestimmten Zellen (Pyramidenzellen, Sternzellen

und hemmenden Zellen) aufgebaut sind (siehe Abb.11).

Abb. 9: Gehirnrinde beim Neugeborenen, nach 3 Monaten, im Alter von 15Monaten und 2 Jahren – Zunahme (und Optimierung) der Verdrahtung, einProzess der bis etwa zum 20. Lebensjahr anhält (Quelle: Dia vonLiljenström 2005).

10

41

Neuroneogenese

Abb. 10: Bildung neuer Neurone = Neuroneogenese (Quelle: Bearns et al.2006)

Aus der Gegend des Seitenventrikels wandern Vorläufer-Zellen in die

Hirnrinde, wo sich die Zellen ausdifferenzieren.

Analyse des Kortex- Säulen und SchichtenSzentagothai, Mountcastle (mot.), Hubel & Wiesel (Vis.), Singer (vis), Goldman-Rakic (fro),

Abb. 11: Strukturmodell des Cortex mit Säulen (links) und Schichten(rechts)

Szentagothai

11

2.3 Die Nervenzelle und ihre Verknüpfungen (Synapsen)

Struktur

Die Nervenzellen haben Fasern als Empfangsstrukturen (Dendriten) und

Fasern, die zur Weitergabe von Signalen dienen, die Axone. Die Axone

sind auf andere Zellen aufgeschaltet. An diese Kontaktstellen (Synapsen)

werden die elektrischen Entladungen der Nervenfaser der vorgeschalteten

Zelle zunächst in chemische Signale übersetzt (siehe Abb. 12). Diese

Chemikalien sind Botenstoffe (Transmitter) wie vor allem Dopamin,

Noradrenalin, Acetylcholin, Gamma-Amino-Buttersäure (GABA), Glutamat

und Serotonin. Diese Stoffe werden in den synaptischen Spalt, der

zwischen der ankoppelnden Nervenfaser und der Zellmembran der

nachgeschalteten Nervenzelle besteht, von der Nervenfaser ausgeschüttet.

Der Transmitter kann dann an die Rezeptoren der nachgeschalteten

Nervenzelle ankoppeln (siehe Abb. 13). Auf diese Weise werden die

Rezeptoren aktiviert, die ihrerseits elektrische Austauschprozesse, die über

Ionen-Kanäle ablaufen, aktivieren: Natrium- und Kalzium-Ionen können bei

Öffnung der Ionenkanäle vom Zelläußeren in das Zellinnere strömen,

währenddem Kalium-Ionen etwas zeitversetzt dann vom Zellinneren in das

Zelläußere strömen können, je nachdem welche Ionen-Kanäle von den

Rezeptoren aktiviert werden. Andere Rezeptoren aktivieren innermolekulare

Signalketten, die vor allem über phosphathaltige Moleküle, wie Cyclo-AMP,

ablaufen und Prozesse im Zellkern ansteuern können.

12

Abb. 12: Die Nervenzelle (A) und die Synapse mit Rezeptoren (B) und denIonenkanälen (C); Quelle: Bear et al. 2006).

Rücktransporter

Überträgerstoffe

postsynaptischerD-2-Rezeptor

D-1-Rezeptor

Adenylatcyclase

Kalzium

Aktionspotenzial der vorgeschalteten Zelle

lokales D1-Rezeptor-Signal der nachgeschalteten Zellemit Membrandepolarisation

Membran des Dendriten dernachgeschalteten Zelle

PräsynaptischerD-2-Autorezeptor

Abb. 13: Die Dopamin-Synapse mit Rezeptoren an der vorgeschaltetenNervenzelle (präsynaptischer hemmender D2-Autorezeptor), dempräsynaptischen Rücktransporter und mit Rezeptoren an der

A B

C

B

13

nachgeschalteten Nervenzelle (postsynaptische Rezeptoren) in Form deraktivierenden D1-Rezeptoren und der hemmenden D2-Rezeptoren. ErstesZielmolekül in der innermolekularen Signalkaskade ist die Adenylatzyklase,die cyclo-AMP als energiereiche Phosphatverbindung synthetisiert, dasvielfältige Prozesse der Zelle aktiviert (nach Tretter und Albus 2004).

aktivierend wirkender Rezeptor

hemmend wirkender Rezeptor

Funktionen

Grundsätzlich hat eine Zelle aufgrund einer Ungleichverteilung von Ionen

zwischen Zellinnerem und Zelläußerem einen negativen Ladungszustand

(elektrisches Potenzial von -70 mV im Ruhezustand). Durch Aktivierung

von Rezeptoren, die Natrium-Ionen-Kanäle öffnen (z. B. Acetylcholin-

rezeptoren, siehe Abb. 14) wird der Ladungszustand zunächst relativ

positiver. Es kann sich ein „Aktionspotenzial“ ausbilden (siehe Abb. 15),

das über das Axon zur nächsten Nervenzelle weitergeleitet wird. Wenn

GABA-Rezeptoren aktiviert werden, öffnen sich dort Chlorid-Ionen-Kanäle,

die Chlorid in das Zellinnere strömen lassen, wodurch die Zelle dann

negativer geladen wird, so dass ihre Entladungsbereitschaft sinkt – die

Zelle ist also gehemmt. An der jeweiligen Kontaktstelle (Synapse) treten

somit lokale Potenzialveränderungen auf, die als exzitatorische

postsynaptische Potenziale (EPSP) bzw. als inhibitorische postsynaptische

Potenziale (IPSP) bezeichnet werden. Da die meisten Nervenzellen

tausende von Synapsen aufweisen, ist der Aktivitätszustand der Zelle von

den räumlichen und zeitlichen Summierungsprozessen dieser

Mikropotenziale abhängig. An einer gewissen Schwelle (-60 mV) zeigt die

Zelle dann eine starke Entladung (Aktionspotenzial). Diese Entladung wird

über das Axon an die nächste Zelle weitergeleitet.

14

Aktionspotenzial

Kalium-Ionen

Natrium-IonenZellumgebung

Membran

Zellinneres

-70 mV

-60 mV

+ 30 mV

Abb. 14: Die ungleiche Verteilung der elektrischen Ladungsträger (A, mehrNatrium-Ionen außen, mehr Kalium-Ionen innen) führt bei Öffnung vonIonenkanälen durch raschen Ausgleich der Natrium-Ionen zu einerEntladung (Aktionspotenzial, B) und gleich darauf zur Wiederherstellungdes Ruhezustandes über den Kalium-Ionen-Ausstrom aus der Zelle.

A BNatrium /

KaliumNikotin

Zellmembran

Ionenkanal

REZEPTOREN

Kalzium

Abb. 15: Acetylcholin-Rezeptor (ACh-R) als Steuereinheit von Natrium-/Kalzium-Ionenkanälen und auch mit Effekten auf die Kalium-Durchlässigkeit dieser Ionenkanäle. An den ACh-R setzt auch Nikotin an.2.4 Die Nervenzelle – chemische Inputs

Da Zellen im Prinzip die gleiche genetische Ausstattung aufweisen, können

sie auch alle Rezeptoren produzieren. Dies sind überwiegend Rezeptoren

für die Transmitter Noradrenalin (NA), Acetylcholin (ACh), GABA (Gamma-

Amino-Buttersäure), Glutamat (Glu), Serotonin (5-Hydroxytryptamin =5HT)

und Dopamin (DA). Auch Opiatrezeptoren und Cannabisrezeptoren spielen

hier eine bedeutsame Rolle. Wichtig ist auch zu berücksichtigen, dass jede

15

Zelle einige Tausend Synapsen hat, sodass das Funktionieren einer Zelle

von dem relativen Gewicht der einzelnen Transmissionssysteme bestimmt

wird, die beispielsweise durch das Einwirken von Alkohol in eine

Ungleichgewichtslage gebracht werden (siehe Abb. 16).

_+AMPA-RNMDA-RD1-Ra1NA-R5HT2A-R

Aktionspotenzial

GABA-RD2-Ra2NA-R5HT1A-R

Alkohol

Abb. 16: Das hypothetische zelluläre Gleichgewicht von Erregung (+) undHemmung (-) durch die quantitative Verteilung des Anteils der jeweiligenRezeptoren. Zusätzlich ist der auf die Zellaktivität hemmende Effekt vonAlkohol, schematisiert am Beispiel von einem Neuron mit Spines („spinyneuron“) im Striatum dargestellt.

Legende:

Aktivierende Rezeptoren (Linker Schenkel des Waagebalkens):

AMPA-R = Aminohydroxy-Methylisoxazol-Propionsäure (Glutamat-Rezeptor-Subtyp)NMDA-R = N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptor (Glutamat-Rezeptor-Subtyp)D1-R = Dopamin-D1-Rezeptor5HT2A-R = Serotonin-Rezeptor Typ 2Aa1NA-R = alpha1-Noradrenalin-Rezeptor

Hemmende Rezeptoren (Rechter Schenkel des Waagebalkens):

GABA-R = Gamma-Amino-Butter-Säure-RezeptorenD2-R = Dopamin-D2-Rezeptor5HT1A-R = Serotonin-Rezeptor Typ 1Aa2NA-R = alpha2-Noradrenalin-RezeptorDas komplizierte Wechselspiel dieser sechs Transmittersubstanzen lässt

sich schematisch in dem Bild des „neurochemischen Mobile“ erfassen, was

nicht nur das neurochemische Signalgleichgewicht der Zelle, sondern

ganzer Systeme darzustellen erlaubt (siehe Abb. 17).

16

Abb. 17: Das „neurochemische Mobile“ als Schema für die Dynamik derwichtigsten gekoppelten neurochemischen Transmissionssysteme imGehirn – das Mobile bewegt sich u.a. im 24-Stunden-Rhythmus (nachTretter 2000, Tretter u. Albus 2004).

Fast jede Gehirnregion verfügt offensichtlich über diese Rezeptoren,

wenngleich in verschiedenen Gehirngebieten unterschiedliche Häufigkeiten

der einzelnen Rezeptoren zu beobachten sind (siehe Abbildung). Dies kann

durch bildgebende Verfahren, wenn radioaktiv markierte Substanzen

angewendet werden, nachgewiesen werden (siehe Abb. 18).

17

Abb. 18: Verteilung der Opiat-Rezeptoren vom My-Typ imGehirn. Quelle: Essex Pharma 2006. Rot = hohe Rezeptordichte, blau =geringe Rezeptordichte; man sieht in den Stammganglien (Putamen,pallidum usw.) die höchste Rezeptorendichte. Obere Bildreihe: Draufsichtauf das Gehirn, mittlere Bildreihe: Gehirn von hinten, untere Bildreihe:Gehirn von links betrachtet

FÜR BESONDERS INTERESSIERTE:

2.5 Innerzelluläre molekulare Signalketten

Von den Rezeptoren – hier an den Opioid-Rezeptoren (einfacher: Opiat-

Rezeptoren) dargestellt – werden sowohl die Ionen-Kanäle wie auch

wichtige Signalmoleküle und Energieträger aktiviert oder auch gehemmt

(siehe Abb. 19). Eine besondere Rolle spielt dabei Calcium. Diese

molekularen Signalketten steuern letztlich Ableseprozesse von den Genen.

Sie haben überwiegend einen funktionsregulatorischen Charakter für die

jeweilige Zelle, insofern beispielsweise Rezeptoren aufgebaut werden

können oder deren Synthese auch geblockt werden kann (Molekulare

Neuroadaptation).

5

1

My Rezeptoren – [11C]carfentanilIn den Stammganglien

18

Zellen optimieren offensichtlich auf diese Weise ihr Aktivierungsniveau,

indem sie eine anhaltende (1) Über- und (2) Unterstimulation verhindern.

Sie verhindern (1) vor allem durch den Abbau von Rezeptoren bzw. durch

den Aufbau von weniger reagiblen Rezeptoren und sie verhindern (2) durch

verstärkten Aufbau von Rezeptoren oder durch Aufbau von stärkeren

reagiblen Rezeptoren. Diese Vorgänge sind schon nach Minuten

beobachtbar, sie können aber auch 1 – 2 Wochen bei anhaltender

Anwendung von psychoaktiven Substanzen auftreten.

Abb. 19: Intrazelluläre molekulare Prozesskaskade bei akuter undchronischer Opiat-Applikation. Den akut dämpfenden Effekten des Opiatsauf die Reagibilität des Neurons wird bei chronischer Opiatgabe durchSteigerung der Transkription und Translation entgegengewirkt, indem neueRezeptoren aufgebaut werden, die den Natrium-Einstrom und Kalium-Ausstrom steigern und damit die neuronale Reagibilität erhöhen.(nach Maldonado 2003, Tretter 2000, Nestler 2005)Anmerkung: Die kleinen Pfeile bei cAMP, Proteinkinase A und bei derTranslation vor dem Schrägstrich sind die akuten Effekte, die danach sinddie chronischen Effekte. CREB und cFos sind Transkriptionsfaktoren. R =Ribosomen, ER = Endoplasmatisches Retikulum

19

2.6. Neurophilosophie - das „Gehirn-Geist“-Problem und das „Mikro-

Makro“-Problem

Trotz der neuen Erkenntnisse der Hirnforschung (Neurobiologie) sind die

Beziehungen zwischen Gehirn und Geistigem noch nicht voll verstanden

und möglicherweise prinzipiell über eine Korrelationsbeziehung hinaus

nicht klärbar. Vor allem die Erste-Person-Perspektive des Subjekts ist mit

der Dritte-Person-Perspektive des Beobachters (z.B. Hirnforscher)

prinzipiell nicht vereinbar (Innensicht versus Außensicht). Deshalb ist die

Gleichsetzung von Geistigem und Gehirnzuständen auch nur hypothetisch,

d.h. eine – zwar wissenschaftlich fundierte – Glaubenshaltung.

MONISMUS (Gehirn = Geist) – DUALISMUS (Gehirn ? Geist)?

?

Das GEHIRN-GEIST-PROBLEM und die NEUROBIOLOGIE

Abb. 20: Das Gehirn-Geist-Problem – Das Bewusstsein als Produkt desGehirns, ähnlich wie der Urin aus den Nieren kommt?

20

Abb. 21: Die Teile und das Ganze – Vom Verhalten zum Gehirn zu denMolekülen und zurück zum Verhalten: Ein Philosophie- und Theorie-Problem der Forschung, insofern Teile das Ganze erklären sollen.

B) NEUROBIOLOGIE DER SUCHT

3. Drogen

Die molekulare Struktur der Drogen ähnelt den chemischen Strukturen der

Transmitter im Gehirn (siehe Abb. 22). Deshalb können die Drogen an den

Rezeptoren, aber häufiger noch an den Rücktransportern an der Synapse

ansetzen und so ihre Wirkungen entfalten (siehe Tabelle 1). Beispielsweise

greift der Alkohol an den erregend wirkenden Glutamat-Rezeptoren

hemmend an, an den GABA-Rezeptoren erzeugt er aber eine Wirkungs-

verstärkung (Abb. 23).

VERHALTEN

GEHIRN

NETZWERK

NERVENZELLEN

GENE

SYNAPSE

Thalamus

Kortex

Putamen

Pallidum

•Top-down Analyse bis zu den Molekülen, aber Moleküle allein Generieren kein Bewusstsein

• die Dinge zusammenzuführen ist schwierig was das geeignete Level betrifft – bewußte

Informationsverarbeitung = nachhaltige Aktivität von Millionen von Neuronen / gesamte Gehirn ?

Imaging Methoden, (CCT, MRI, PET, SPECT) und EEG, MEG

Pharmakologie, Physiologie, Genetik

Epistemologie: Das Mikro- /Makro Problem und der Reduktio-nismus und die „Erklärung“ (Emergenz-Problem)

Vgl.. Shepherd, Grillner

Top-down Analyse bis zu denMolekülen; die Moleküle alleingenerieren kein Bewusstsein.

Die Dinge zusammenzuführen,ist schwierig, was das geeigneteLevel betrifft – bewussteInformationsverarbeitung =nachhaltige Aktivität vonMillionen von Neuronen/gesamtes Gehirn?

21

Tabelle 1: Neurobiologische Drogeneffekte

DROGE MOLEKULARE EFFEKTE

Alkohol ? hemmt funktionell Glutamat-Rezeptoren

(N-Methy-D-Aspartat-Rezeptoren; NMDA-R) und

Ca-Ionenkanäle,

? verstärkt GABA-Mechanismen

Heroin ? aktiviert My-Rezeptoren des Endorphinsystems,

dieses hemmt die Folgesysteme

Amphetamine ? blockieren den Serotonin- und den Dopamin-

Rücktransporter, sodass mehr Dopamin im

synaptischen Spalt vorhanden ist

Kokain ? hemmt Rücktransporter von Dopaminneuronen

Cannabis ? aktiviert den Cannabis-Rezeptor, der die

betreffende Zelle hemmt; der Signalfluss des

endogenen Cannabis verläuft jedoch von der

postsynaptischen Membran zur präsynaptischen

Zelle!

Ecstasy ? hemmt v.a. den Serotonin-Rücktransporter

LSD ? aktiviert den Serotonin-Rezeptor vom Typ 5

HT2A

22

AmphetaminCH2 - CH- NH2

CH3

Noradrenalin

Dopamin

CH - CH2-NH2

CH2 - CH2-NH2HO

HO

OH

HO

HO

A

LSD

NH

N- CH3

H

SerotoninCH2 - CH2-NH2

NH

HO

B

Abb. 22: Die strukturelle Ähnlichkeit von Drogen wie (A) Amphetamine mitden Transmittern Noradrenalin und Dopamin und (B) LSD, das strukturelldem Serotonin ähnelt (Tretter 2000).

23

Calcium

AUSSEN

INNEN

NMDA-R

Alkohol

GABA-R

MEMBRAN

Chlorid

DARPP-32

PPI_

_

_

Abb. 23: Akut-Effekte der Alkoholbindung auf intrazellulärer Ebene:Der Akut-Effekt von Alkohol besteht in der Verstärkung der Funktion derGABA-Rezeptoren, die einen Chlorid-Einstrom in die Zelle bewirken mit derFolge einer Hyperpolarisation des Membranpotenzials. Darüber hinauswerden die Glutamat-Rezeptoren vom NMDA-Typ durch Alkohol in ihrerFunktion gemindert. Diese Rezeptoren bewirken normalerweise einenCalcium-Einstrom, aber auch einen Natrium-Einstrom und darüber hinauseinen Kalium-Auswärtsstrom (nicht abgebildet). Im nächsten Verarbeitungs-schritt werden andere Moleküle (Calcium, DARPP32 etc.) aktiviert bzw.gehemmt. Das gesamte Zusammenspiel der durch die alkoholbedingteRezeptormodulation ausgelösten Signalketten in der Zelle ist noch nichtaufgeklärt und auch nicht funktionell umfassend verstanden.

NMDA-R = N-Methyl-D-Aspartat-RezeptorGABA-R = Gamma-Amino-Buttersäure-RezeptorDARPP-32 = Dopamin and cAMP regulated Phosphoprotein of M 32.000PP-1 = Proteinphosphatase 1-/ /----I = hemmende Wirkungskette mit nicht dargestelltenZwischengliedern

FÜR BESONDERS INTERESSIERTE:

Die Besonderheiten des Cannabinoid-Signal-Systems bestehen darin, dass

der Signalfluss von der postsynaptischen Zelle zur Endigung der prä-

synaptischen Nervenfaser, also in die Gegenrichtung des üblichen

Signalflusses, verläuft.

24

Abb. 24: Endo-Cannabinoid-System (Szabo et al. 2005): Aktivierung desCB1-Rezeptors am präsynaptischen Axonterminal hemmt die Freisetzungdes Transmitters aus dem synaptischen Vesikel. Es können grundsätzlichdrei Mechanismen an dieser Hemmung beteiligt sein: Hemmung vonspannungsabhängigen Calciumkanälen (1), Aktivierung von Kaliumkanälen(2) und direkte Interferenz mit der vesikulären Freisetzungsmaschinerie (3).Der CB1-Rezeptor kann von exogenem Agonisten, aber auch von denEndocannabinoiden Anandamid (AEA) und 2-Arachidonylglycerin (2-AG),die aus dem depolarisierten postsynaptischen Neuron freigesetzt werden,aktiviert werden. Das Signal für die Endocannabinoidsynthese ist entwederein Anstieg der intrazellulären Ca2*-Konzentration (ausgelöst durch einenAnstieg des Membranpotenzials, Vm) oder die Aktivierung von Gq-Proteinen (zum Beispiel durch metabotrope Glutamatrezeptoren, mGluRezeptoren). Die Endocannabinoide gelangen durch Membrandiffusionoder mittels eines Carriers aus dem postsynaptischen Neuron.

4. Neurochemische Dynamik

Das im vorigen Abschnitt dargestellte „neurochemische Mobile“, das das

Zusammenspiel der sechs wichtigsten neurochemischen Transmissions-

systeme sinnbildlich zu erfassen erlaubt, kann zu wichtigen Aspekten der

Sucht, nämlich zur Frage psychischer Risikokonstellationen (Angst,

Depression), zur Akutwirkung, zur Adaptation bei chronischen Konsum und

für das Verständnis von Entzugssymptomen zweckmäßig sein (s. Tretter

2000, Tretter u. Albus 2004).

Zunächst ist die Risikokonstellation bei Depression zu erörtern, wo

neurochemisch betrachtet ein Defizit im Bereich Noradrenalin und

Serotonin vorzuliegen scheint (siehe Abb. 25). Wenngleich ein direkter

Mechanismus noch nicht identifiziert ist, zeigt die klinische Erfahrung, dass

25

Menschen mit depressiven Persönlichkeitsstrukturen besonders anfällig auf

Kokain sind. Das erklärt sich dadurch, dass Kokain das neurochemische

Gleichgewicht in eine günstige Konstellation überführt (Abb. 26). Kokain

dient so als medikamentöse Selbstbehandlung. Allerdings hat es im

Gegensatz zu Antidepressiva eine Vielzahl ungünstiger Nebeneffekte wie

die Toleranz- und Abhängigkeitsentwicklung.

Abb. 25: Die neurochemische Mobile-Konstellation bei Depression

(Tretter u. Albus 2004)

GABAGLUTAMAT

ACETYLCHOLIN

DOPAMIN

SEROTONIN

NORADRENALIN

26

Abb. 26: Wirkung von Drogen im Bilde des neurochemischen Mobiles:Rausch und Psychose durch Dominanz des Dopamin-Systems, Serotonins,und/oder Noradrenalins im Vergleich zu anderen Transmittersystemen

Für die Alkoholabhängigkeit können die neurochemischen Prozesse im

Mobile gut dargestellt werde (Achtung: aus darstellungstechnischen

Gründen sind GABA und Glutamat im Vergleich zu vorigen Mobile-Bildern

umgestellt!)

Abb. 27: Effekt des akuten Alkoholgebrauchs

NORADRENALIN

ACETYLCHOLIN

SEROTONIN DOPAMIN

GLUTAMAT

GABA

LSD, Kokain, Amphetamine,Ecstasy

Ketamin

Alkohol,Benzodia-zepine, THC ?

Tollkirsche

Nikotin

(Tretter u. Albus 2004)

27

Abb. 28: Chronischer Alkoholkonsum und gegenregulatorischeneurochemische Anpassungsprozesse im Noradrenalin-, GABA- undGlutamat-System

Abb. 29: Alkoholentzug mit Schieflage in Richtung Erregungs- undEnthemmungszustand mit der klinischen Symptomatik des Herzrasens undhohen Blutdrucks (Noradrenalin), der Dysphorie (wenig Dopamin) und derKrampfanfälle (viel Glutamat, wenig GABA) usw.

NORADRENALIN

ACETYLCHOLIN

SEROTONIN

DOPAMIN

GABA

GLUTAMAT

28

Abb. 30: Therapie des Alkoholentzugs mit entzugsdämpfendenSubstanzen, die das GABA-System aktivieren und das Noradrenalin-System hemmen

5. Neuroanatomie der Sucht

5. 1. Die zentrale Rolle des Dopamin-Systems

Drogen, die das Dopamin-System, das vom ventralen Tegmentum in den

Nucleus accumbens projiziert, direkt oder indirekt aktivieren, erzeugen

offensichtlich Lustzustände (bzw. Belohnungszustände) und auch

Veränderungen der kognitiven Funktionen. Dies entspricht phänomenal,

d.h. im subjektiven Erleben, einer Rauscherfahrung.

Nach einiger Zeit des wiederholten Rauschmittelgebrauchs wird eine

höhere Dosis erforderlich (Dosissteigerung aufgrund von Neuroadaptation)

und es tritt ein Automatismus auf, der zunächst als reflexartiger

Gewohnheitskonsum einzustufen ist und neurobiologisch betrachtet im

Striatum organisiert ist, wo auch alle anderen motorischen Automatismen

bzw. Verhaltensroutinen programmiert werden (Radfahren, Schifahren

usw.).

NORADRENALIN ACETYLCHOLIN

SEROTONIN

DOPAMIN

GLUTAMAT

GABA

GABAerge Psychopharmaka

Clonidin

29

STRIATUM

VTSN

KORTEX

N. ACC

VTSN

KORTEX

N. ACC

STRIATUM

A

B

I

II

II

I

Abb. 31: Systeme der Belohnung und der Sucht, schematisch dargestelltam Rattengehirn (Mediale Ansicht des Längsschnittes; nach Wolffgramm2003).(A): Das belohnende Lustsystem (System I) dominiert, die Kontrolle überden Drogenkonsum ist noch vorhanden.(B): Das automatisierende Suchtsystem (System II) dominiert, der süchtigeVerhaltensautomatismus ist eingetreten.

Ventrales Tegmentum

THC,OPIOIDE

Nucleus Accumbens

GABA-NeuroneDopamin

GABA

KOKAIN,AMPHETAMINE

ALKOHOL ?

NIKOTIN

GABA-Neurone

Cortico-fugalerInput

Cortico-fugalerInput

ALKOHOL ?

Abb. 32: Detailliertes Schema der Einwirkung wichtiger Drogen auf dasDopamin-Belohnungssystem: Kokain und Amphetamin steigern dieDopaminkonzentration in den Synapsen im Nucleus accumbens. Dort sindhemmende D2-Rezeptoren in der Überzahl, die die GABA-haltigen

30

Neurone dämpfen. Dadurch wird wiederum die Hemmung im ventralenTegmentum geringer mit der Folge der stärkeren Aktivität des Dopamin-Systems usw. (nach Spanagel und Zieglgänsberger 1996)Anmerkung: corticofugal = vom Kortex ausgehende Fasern

5.2 Das Gesamtbild der funktionellen Architektur des süchtigen

Gehirns

Angloamerikanische Autoren betonen in den letzten Jahren eine

ganzheitsorientierte neurobiologische Betrachtungsweise der Sucht. Dabei

geht es um das gestörte Zusammenspiel von verschiedenen makro-

anatomischen Schaltkreisen: neben dem hirnstammnahen „Impulssystem“,

das sich aus dem Dopamin-System und dem Serotonin-System

zusammensetzt, wird zusätzlich ein „Verhaltenssystem“ unterschieden,

dessen Zentren im Striatum liegen und dem ein zu schwaches kortikal

lokalisiertes „reflexives System“ übergeordnet ist (siehe Abb. 33).

Impuls-System

reflexives System

Verhaltens-System

Anatomische Systeme der Sucht verstanden als Zwangsstörung

„Compulsion“ -> Everitt & Robbins 2005, Bechara 2005 (NatNeuroScience )

Abb. 33: Das vom Hirnstamm aufsteigende „Impulssystem“ (DA, 5HT), das„Verhaltenssystem“ im Striatum und das „reflexive System“ im Kortex

FÜR BESONDERS INTERESSIERTE :DLPC = dorsolateraler präfrontaler Cortex, VMPC = ventromedialerprefrontaler Cortex, A = Amygdala, Hip = Hipokampus, AC = anterioresCingulum

31

5.3 Hirn-Schädigungen als Konsumfolge

Schließlich ist noch auf die Schädigungen der Großhirnrinde durch Ecstasy-

Konsum hinzuweisen (Abb. 34). Besonders eindrucksvoll ist die

Schädigung der Serotonin-Fasern nach 4-tägigem Ecstasy-Konsum bei

Affen. 14 Tage nach Konsum zeigt sich eine schwere Schädigung der

Fasern. Auch 7 Jahre nach dem Konsum ist keine vollständige

Wiederherstellung der Verdrahtung erfolgt! Bei Methamphetamin gibt es

Hinweise für noch stärkere Schäden! Allerdings: Tierstudien sind nur

begrenzt auf den Menschen übertragbar, liefern aber Indizien – Drogen

machen das Hirn nicht besser!

Abb. 34: Hirnrinde des Affen nach Ecstasy-Konsum (Quelle: NIDA 2006)

32

C.) Literatur

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