Prüfungsleistung
Klausur, eineinhalbstündig,
bestehend aus:
4 Fragen, von denen 3 beantwortet werden müssen.
Die Fragen beziehen sich auf einen in der Vorlesung behandelten
literarischen Text(auszug). Der Text wird zur Verfügung gestellt.
Ort, Zeit: 7.2.2011, 16-18h, Audimax
Die Wiederholungsklausur findet einen Monat später, am 7.3.
(ebenfalls 16-18h im Audimax) statt.
Achtung: Um Ihr Studium fortsetzen zu können, müssen Sie die
Klausur bestehen!
Welche Fragen können in der Klausur vorkommen?
Einige Beispiele:
Weisen Sie einige rhetorische Figuren und Tropen im Text nach und
erläutern Sie deren Funktion.
Erläutern Sie einige erzählanalytische Kategorien (nach Genette).
Welche dieser Kategorien lassen sich sinnvoll auf den
vorliegenden Text beziehen und inwiefern?
Was ist bei Jakobson mit 'poetischer Funktion' gemeint?
Veranschaulichen Sie dies am vorliegenden Text.
Was versteht Šklovskij unter 'Verfremdung'? Zeigen Sie, inwiefern im
vorliegenden Text Verfremdungseffekte zu beobachten sind.
Kann man im vorliegenden Text von einem 'Wirklichkeitseffekt'
sprechen? Erläutern Sie den Begriff.
Erklären Sie die drei verschiedenen Arten von Zeichen nach Peirce.
Zeigen Sie, welche dieser Zeichen im Text eine Rolle spielen.
usw.
Themenübersicht
• Literarizität: Was unterscheidet literarische Texte von
anderen sprachlichen Äußerungen?
• Zeichen und Referenz: Wie stellen literarische Texte
den Bezug sprachlicher Äußerungen auf ›Wirklichkeit‹
dar?
• Rhetorik: Was sind ›sprachliche Mittel‹?
• Narration: Wie entstehen Geschichten?
• Autorschaft und sprachliches Handeln: Wie greift
Schreiben in Wirklichkeit ein?
• Intertextualität und Intermedialität: Wie beziehen sich
literarische Texte auf andere Texte / andere Medien?
Edgar Lee Masters: »Spoon River
Anthology« (1916)
Photograph Penniwit
Ich verlor meine Kundschaft in Spoon River,
Weil ich der Kamera meinen Geist aufzwingen wollte,
Um die Seele meiner Modelle einzufangen.
Das beste Bild, das ich jemals gemacht habe,
War das des Rechtsanwalts Somers.
Er saß sehr aufrecht da und bat mich zu warten,
Bis er aufgehört habe zu schielen.
Und als er soweit war, sagte er: »Jetzt!«
Und ich rief: »Die Klage wird abgewiesen!« Darauf verdrehte er
wieder die Augen,
Und ich kriegte ihn so, wie er immer aussah,
Wenn er sagte: »Ich erhebe Einspruch!«
›Stimme‹ als Erzählkategorie: Sprechen
als Handeln
Edgar Lee Masters’ »Spoon River Anthology« läßt nicht nur ein ›Ich‹ zu
Worte kommen, sondern viele. Die Frage Wer spricht? ist für jedes
seiner Gedichte anders zu beantworten. Dabei bildet der Name des
jeweiligen Ich zugleich den Titel des Gedichts – hier: »Photograph
Penniwit«. In einem Anhang zum Gedichtzyklus findet sich ein
alphabetischer Index aller Namen, den man nutzen kann wie ein
Telefonbuch, um zu erfahren, wie man die einzelnen Stimmen erreichen
kann. Jede dieser Stimmen handelt, indem sie spricht.
Im vorliegenden Fall werden die Wirkungen der Worte »Die Klage wird
abgewiesen!« auf der Photographie festgehalten. Es wird geradezu
sichtbar gemacht, daß das Sprechen hier als Handeln fungiert.
Dabei zitiert das Gedicht zugleich Verhaltensweisen vor Gericht. Ein
Gerichtsverfahren besteht im wesentlichen aus sprachlichen
Handlungen: anklagen, verteidigen, Einspruch erheben, bezeugen,
urteilen...
Erzählen und Handeln
Genettes Unterscheidung von Geschichte (histoire),
Erzählung (discours) und Narration läßt sich
dementsprechend folgendermaßen umschreiben:
Geschichte = erzählte Handlung (Plot)
Erzählung = Erzählen der Handlung
Narration = Erzählen als Handlung
Beispiele für Narration bei Masters:
Photograph Penniwit macht eine Momentaufnahme von
seinem Leben.
Richter Somers erhebt Einspruch gegen seine Grabstätte.
John L. Austin: »How to do things with words«
Der Philosoph John L. Austin (1911-1960) ist der Begründer der
sogenannten Sprechakttheorie.
Austin geht von der Beobachtung aus, daß sprachliche Äußerungen
nicht in jedem Fall ›Aussagen‹ oder ›Feststellungen‹ sind, sondern daß
sie zu einer anderen Kategorie von Sätzen gehören können, bei der es
darum geht, mit Worten Handlungen zu vollziehen.
Entsprechend unterscheidet Austin zwischen konstativen und
performativen Äußerungen (von to perform, vollziehen).
Austin: »How to do things with words«
Als Beispiele für performative Äußerungen führt Austin an (S. 28f.):
a. »Ja (sc. ich nehme die hier anwesende XY zur Frau)« als
Äußerung im Laufe der standesamtlichen Trauung.
a. »Ich taufe dieses Schiff auf den Namen ›Queen Elizabeth‹« als
Äußerung beim Wurf der Flasche gegen den Schiffsrumpf.
b. »Ich vermache meine Uhr meinem Bruder« als Teil eines
Testamentes.
c. »Ich wette einen Fünfziger, daß es morgen regnet.«
Austin: »How to do things with words«
»Jeder würde sagen, daß ich mit diesen Äußerungen etwas
Bestimmtes tue (natürlich nur unter passenden Umständen); dabei ist
klar, daß ich mit ihnen nicht beschreibe, was ich tue, oder feststelle,
daß ich es tue; den Satz äußern heißt: es tun. Keine der angeführten
Äußerungen ist wahr oder falsch; ich stelle das als offenkundig fest und
begründe es nicht. Eine Begründung ist genauso unnötig wie dafür,
daß ›verflixt‹ weder wahr noch falsch ist. Möglicherweise dient die
Äußerung jemandem zur Information; aber das ist etwas ganz anderes.
Das Schiff taufen heißt (unter passenden Umständen) die Worte ›Ich
taufe‹ usw. äußern. Wenn ich vor dem Standesbeamten oder am Altar
sage ›Ja‹, dann berichte ich nicht, daß ich die Ehe schließe; ich
schließe sie.« (S. 29)
Bedingungen von Sprechakten
Immer wieder betont Austin, daß der Vollzug von Sprechakten von
bestimmten Begleitumständen abhängig ist:
»Das Äußern der Worte ist gewöhnlich [...] ein entscheidendes oder
sogar das entscheidende Ereignis im Vollzug der Handlung, um die es
in der Äußerung geht (des Wettens zum Beispiel); aber es ist [...] immer
nötig, daß die Umstände, unter denen die Worte geäußert werden, in
bestimmter Hinsicht oder in mehreren Hinsichten passen, und es ist
sehr häufig nötig, daß der Sprecher oder andere Personen zusätzlich
gewisse weitere Handlungen vollziehen – ob nun körperliche oder
geistige Handlungen oder einfach die, gewisse andere Worte zu
äußern. Wenn ich ein Schiff taufen will, ist es zum Beispiel wesentlich,
daß ich dazu bestimmt bin. Wenn ich (christlich) heiraten will, ist es
wesentlich, daß ich nicht bereits mit einer noch lebenden Frau
verheiratet bin, [...] und so weiter.« (S. 31)
Spielregeln der Performanz
(A.1) Es muß ein übliches konventionales Verfahren mit einem bestimmten
konventionalen Ergebnis geben; zu dem Verfahren gehört, daß be-
stimmte Personen unter bestimmten Umständen bestimmte Worte
äußern.
(A.2) Die betroffenen Personen und Umstände müssen im gegebenen
Fall für die Berufung auf das besondere Verfahren passen, auf welches
man sich beruft.
(B.1) Alle Beteiligten müssen das Verfahren korrekt
(B.2) und vollständig durchführen.
(.1)Wenn [...] das Verfahren für Leute gedacht ist, die bestimmte Meinun-
gen oder Gefühle haben, oder wenn es der Festlegung eines der Teil-
nehmer auf ein bestimmtes späteres Verhalten dient, dann muß, wer am
Verfahren teilnimmt und sich so darauf beruft, diese Meinungen und
Gefühle wirklich haben, und die Teilnehmer müssen die Absicht haben,
sich so und nicht anders zu verhalten,
(.2)und sie müssen sich dann auch so verhalten. (Austin, S. 37)
›Verunglücktes‹ sprachliches Handeln
(A.2)
»Fehberufungen«
Ich beleidige dich.(leere Berufung auf eine Konvention)
(A.2) Ich verspreche Dir, um fünf dazusein
(gesagt zu jemand Abwesendem:
Fehlanwen-dung einer Konvention).
(B.1)
»Fehlausführungen«
Ich sage nicht nein (Antwort des
Diplomaten an den Standesbeamten:
Trübung der Prozedur).
(B.2) Ich berichtige meine Behauptung, daß
der Anteil 5% ausmacht (Lücke in der
Prozedur)
(.1)
»Mißbräuche«
Ich verspreche zu kommen (gesagt
von je-mandem, der nicht vorhat zu
kommen: Unredlichkeit)
(.2) Ich verspreche zu kommen (gesagt
von je-mandem, der dann doch nicht
kommt: In-konsequenz)
Georg Christoph Lichtenberg: Aphorismus
»Wie geht’s«, sagt der Blinde zum Lahmen. »Wie Sie sehen«, sagt der
Lahme zum Blinden.
Im Lichte der Sprechakttheorie sind (mindestens) drei Lesarten möglich:
1. Der Sprechakt verunglückt. Es geht um die Konvention des Grüßens.
Der Blinde gebraucht eine Grußformel. Diese wird jedoch falsch verwendet
(A.2).
2. Der Sprechakt gelingt. Der Blinde äußert sich ironisch; er macht einen
Witz. Die Antwort des Lahmen zeigt, daß er ihn verstanden hat.
3. Der Sprechakt gelingt. Es handelt sich um die literarische Konvention
des Aphorismus. Er reflektiert die wechselseitigen Verfehlungen, durch die
Kommunikationsprozesse gekennzeichnet sind.
Performative Äußerungen, die mißglücken, sind nicht einfach wirkungslos.
Sie können in einem anderen Sinne sehr wohl gelungen sein.
Über Wiederaufstieg und schnellen
Untergang des Grillparzer-Preises
»Wie jede Nation hat auch Österreich seine umworbenen Literaten:
Handke, Jelinek, Roth und wie sie auch alle heißen mögen. Und für
diese eigentlich auch eine Ehrung, den Grillparzer-Literaturpreis.
Nachdem seit 1973 dessen Verleihung durch die österreichische
Akademie der Wissenschaften in Wien mangels Geldern eingeschlafen
war, kam es 1990 anläßlich des bevorstehenden 200sten
Geburtsjubiläums von Grillparzer zu einer von Beginn an umstrittenen
Wiederbelebung. Die Stiftung des Hamburger Mäzens und
Ehrensenators Alfred Toepfer stellte 210 000 Schilling für eine jährliche
Dotierung bereit. Weder die braune Vergangenheit des Ehrensenators,
noch die Tatsache, daß die Gründung seiner Stiftung damals von
Nazipropagandaminister Goebbels mitbetrieben worden war, stellte für
das Grillparzer-Kuratorium ein Hindernis dar. Über diesen Vorgang
setzten heftige Diskussionen ein [...]. Schließlich bildete sich eine
Vereinigung von Preiskritikern, die seit 1992 unter dem Label
›Anonyme Aktionisten‹ firmierte.«
Über Wiederaufstieg und schnellen
Untergang des Grillparzer-Preises
»Kurz vor dem Zusammentreten der offiziellen Jury zur Nominierung eines Preisträgers für 1993 erhielten mehrere Tageszeitungen sowie der ORF ein Fax, das adressatenspezifisch einen jeweils unterschiedlichen prominenten Literaten zum Auserwählten erhob und eine kurze Würdigung seines Werkes enthielt. Es war in offiziösem Stil gehalten und mit dem Briefkopf des an der Preisvergabe beteiligten Rektors der Wiener Universität versehen. Gleichzeitig erhielten viele Autoren und Dichter entsprechende Telegramme, die die Bitte um umgehende Bestätigung der Preisannahme enthielten. [...] In den Kulturrubriken fast aller angeschriebenen Zeitungen erschienen entsprechende Meldungen. Jede Region hatte ihren eigenen Preisträger. Aufgrund der Vielzahl der Nominierten, der Bestätigungen einer Preisannahme bzw. der öffentlichen Ablehnung des Preises durch mehrere Autoren, kam es zu einer Vertagung der Preisverleihung. [...] Fortan legte sich ein Mantel des Schweigens um den österreichischen Grillparzer-Preis. Die für Januar geplante Festveranstaltung fiel aus, und nur eine Strafanzeige gegen Unbekannt blieb übrig.«
(Aus: Luther Blissett/Sonja Brünzels: Handbuch der Kommunikationsguerilla. Berlin, Hamburg, Göttingen 2001, S. 212-216)
›Verunglücktes‹ sprachliches Handeln
(A.2)
»Fehberufungen«
(leere Berufung auf eine Konvention): trifft hier nicht zu, den es gibt die Konvention der Preisverleihung tatsächlich
(A.2) Die Preisvergabe wird von Leuten vorgenommen, die dazu nicht berechtigt sind (Fehlanwendung einer Konvention).
(B.1)
»Fehlausführungen«
Der Preis wird mehreren Leuten gleichzeitig zugesprochen (Trübung der Prozedur).
(B.2) Es wurde keine entsprechende Jury-
Entscheidung herbeigeführt (Lücke in der
Prozedur).
(.1)
»Mißbräuche«
Es werden Preisträger genannt, die gar nicht
geehrt werden sollen (Unredlichkeit).
(.2) Die genannten Preisträger erhalten die
Auszeichnung nicht (Inkonsequenz).
›Verunglücktes‹ sprachliches Handeln – ein
Akt der Subversion
Das Beispiel zeigt, daß verunglückte sprachliche Handlungen dennoch
Wirkungen zeigen können, daß sie dennoch Handlungen sein können.
Was Austin als verunglückte performative Äußerungen bezeichnet,
kann sogar als ein planvolles Zuwiderhandeln fungieren, in dem mit
Absicht gegen geltende Regeln verstoßen und damit eine bestimmte
Wirkung erzielt wird – hier die Verhinderung des Grillparzer-Preises.
Mit solchen ›unernsten‹, ›uneigentlichen‹ Formen sprachlichen
Handelns tut sich Austin im Rahmen seiner Theorie sehr schwer.
Sprachliches Handeln und Literatur
Austin schließt bestimmte sprachliche Äußerungsformen aus seinen
theoretischen Überlegungen aus:
»[P]erformative[] Äußerungen [sind] als Äußerungen gewissen [...]
Übeln ausgesetzt, die alle Äußerungen befallen können. [...] Ich meine
zum Beispiel folgendes: In einer ganz besonderen Weise sind
performative Äußerungen unernst oder nichtig, wenn ein Schauspieler
sie auf der Bühne tut oder wenn sie in einem Gedicht vorkommen oder
wenn jemand sie zu sich selbst sagt. Jede Äußerung kann diesen
Szenenwechsel in gleicher Weise erleben. Unter solchen Umständen
wird die Sprache auf ganz bestimmte, dabei verständliche und
durchschaubare Weise unernst gebraucht, und zwar wird der
gewöhnliche Gebrauch parasitär ausgenutzt. Das gehört zur Lehre von
der Auszehrung [etiolation] der Sprache. All das schließen wir aus
unserer Betrachtung aus. Ganz gleich, ob unsere performativen
Äußerungen glücken oder nicht, sie sollen immer unter normalen
Umständen getan sein.« (S. 43f.)
Literatur nach Austin: die Sprache ›etioliert‹
etiolieren:
im Dunkeln oder bei zu geringem Licht wachsen und
dadurch ein nicht normales Wachstum (z.B. zu lange,
dünne, bleichgrüne Stiele) zeigen (Gartenbau)
Sprachliches Handeln und Literatur
Mit seinem Ausschluß ›etiolierter‹ Formen, mit denen er sich nicht
befassen will, impliziert Austin im Grunde eine Theorie der Literatur.
Einerseits ist literarische Rede ohne Zweifel eine performative
Äußerung: auf der Bühne wird etwas ›vollzogen‹.
Andererseits ist dieser ›Vollzug‹ seltsam ›unernst‹, uneigentlich. Die
literarische Rede funktioniert weniger als sprachliches Handeln denn
als Vorführung sprachlichen Handelns. Sie macht die Bedingungen
dieses Handelns, seines Glückens und seines Verunglückens, sichtbar.
Diese Sichtbarmachung findet sich beispielhaft in dem Photographen-
Gedicht von Masters. Der Photograph ruft unernst: »Die Klage wird
abgewiesen!« und der Jurist verzieht wie üblich sein Gesicht, das der
Photograph dann ablichtet.
Wie greift Schreiben in Wirklichkeit ein?
Eine erste Antwort auf diese Frage kann lauten, daß Schreiben
insofern in Wirklichkeit eingreift, als sprachlichen Äußerungen generell
eine Handlungsdimension innewohnt.
Literarisches Schreiben scheint sich dabei aber durch besondere
Eigenschaften auszuzeichnen. Literatur vollzieht nicht nur sprachliche
Handlungen, sondern sie kann zugleich auf die Bedingungen und die
Beschaffenheit von Handlungen aufmerksam machen. Literatur stellt
sprachliches Handeln gleichsam zur Betrachtung auf der Bühne aus -
»Szenenwechsel« nennt Austin das.
Damit läßt Literatur das sprachliche Handeln in gewissem Maße
uneindeutig oder sogar unwirksam werden, es lenkt das Handeln um,
›zehrt es aus‹ (Austin).
Literatur stellt sich aus dieser Perspektive als eine ihrer eindeutigen
Handlungszusammenhänge beraubte, dekontextualisierte sprachliche
Äußerung dar.