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EINFACH - querspur.at fileWas ist der Lotus-Eff ekt? Lotus- oder Lotos-Eff ekt wird die geringe...

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Querspur Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC Ausgabe 07/2015 EINFACH ≠ EINFACH
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Page 1: EINFACH - querspur.at fileWas ist der Lotus-Eff ekt? Lotus- oder Lotos-Eff ekt wird die geringe Benetzbarkeit einer Oberfl äche bezeichnet, wie sie bei der Lotospfl anze vorkommt.

1EINFACH ≠ EINFACH

Querspur Das Zukunftsmagazin des ÖAMTCAusgabe 07/2015

EINFACH ≠ EINFACH

Page 2: EINFACH - querspur.at fileWas ist der Lotus-Eff ekt? Lotus- oder Lotos-Eff ekt wird die geringe Benetzbarkeit einer Oberfl äche bezeichnet, wie sie bei der Lotospfl anze vorkommt.

Was ist der Lotus-Eff ekt?

Lotus- oder Lotos-Eff ekt

wird die geringe Benetzbarkeit einer

Oberfl äche bezeichnet, wie sie bei der

Lotospfl anze vorkommt. Das Prinzip der sich

selbst reinigenden Lotosblume wurde schon

1972 vom deutschen Botaniker und Bioniker

Wilhelm Barthlott beschrieben:

Wasser perlt ab und nimmt dabei auch alle

Schmutzpartikel auf der Oberfl äche mit.

Erst 27 Jahre später brachte die Sto AG 1999

die Fassadenfarbe Lotusan® auf den Markt,

die mit diesem Prinzip arbeitet.

Sie hält das Patent am

Lotus Eff ekt®.

Gibt es geniale Erfi nder wirklich?

„Genie ist zu einem Prozent Inspiration

und zu 99 Prozent Transpiration“, sagte

Erfi nder und Unternehmer Th omas Alva Edison.

Und der Tausendsassa wusste, wovon er sprach:

Mehr als 1000 Erleichterungen des Alltags gehen

auf den Amerikaner und seine zahlreichen Partner

und Mitarbeiter zurück. Mit dem Kohlekörner-

mikrofon bereiteten seine Labors beispielsweise

den Weg für das Telefon, die 35-Millimeter-

Filmtechnik und auch die Erfi ndung der

Glühbirne wird ihnen zugeschrieben.

Edison gilt als Erfi nder der

industriellen Forschung, er war

kein Einzeltäter.

Wie viele E-Mails erhält der

durchschnittliche User?Dass E-Mails einmal den Brief ersetzen

werden und damit schnelle (meist kostenlose)

Kommunikation möglich machen, hätte bis vor

ein paar Jahrzehnten niemand gedacht. Die US-

amerikanische Marktforschungsagentur Radicati

hat erhoben, dass ein Nutzer durchschnittlich

74 E-Mails pro Tag erhält, 13 davon sind

nicht gewollte. 75 % der E-Mails sind private Mails,

der Rest geschäft liche. Die schrift liche

Kommunikation hat somit enorm

zugenommen: Ein durchschnittlicher

Postkunde kam wohl zu keiner Zeit

auf 74 Briefe pro Tag

im Postkasten.

Wohin reisen die meisten Menschen?

Laut der Welt Tourismus

Organisation UNWTO verreisen jährlich

935 Millionen Menschen. Die am

meisten besuchten Länder sind Frankreich

und die USA. Bis 2030 werden die meisten

internationalen Reisenden jedoch nicht

mehr in den Industrieländern, sondern

in den heute als Schwellenländer

bezeichneten Destinationen

unterwegs sein.2

Lexikon oder Such-

maschinen-Abfrage?Wie viele Menschen heute (noch)

ein Lexikon aufschlagen, ist unbekannt,

die Suchauft räge auf Google werden

hingegen genau gezählt:

2,9 Milliarden sind es täglich.

Pro Sekunde verzeichnet Google

33 564 Anfragen. Google ist damit die

am meisten genutzte Suchmaschine. Um

an Spezialinformationen zu gelangen,

bleibt das Buch bis heute jedoch

unumstritten.1

Komplex oder kompliziert?

Das Wort „kompliziert“ stammt vom

lateinischen complicare, und bedeutet

soviel wie „verwickelt, undurchsichtig“.

Komplexität kommt von complexus – „fl echten,

umfassen“. Der Unterschied der beiden Wörter

wird vor allem auf der subjektiven Ebene klar:

Etwas erscheint als kompliziert, wenn man

nicht über das Wissen oder das Können

verfügt, eine Sache zu verstehen, die

möglicherweise einen hohen Grad

an Komplexität, also

Vielschichtigkeit,

aufweist.

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Mitarbeiter dieser Ausgabe Dipl.-Bw. Maren Baaz, Catherine Gottwald, Ulrich Herbst,

Margit Hurich, Mag. (FH) Christian Huter, Mag. Claudia Kesche, Mag. Astrid Kuffner,

Dr. Gertraud Leimüller, MMag. Ursula Messner, Dr. Ruth Reitmeier, Katrin Stehrer, BSc,

MSc, Theresia Tasser, Mag. Christina Tropper, DI Anna Várdai,

Silvia Wasserbacher-Schwarzer, BA, MA

Fotos Karin Feitzinger; Umschlag: Karin Feitzinger

Grafi k Design, Illustrationen Drahtzieher Design & Kommunikation, Barbara Wais, MA

Korrektorat Mag. Christina Preiner, vice-verba

Druck Hartpress

Blattlinie Querspur ist das zweimal jährlich erscheinende Zukunftsmagazin des ÖAMTC.

Ausgabe 07/2015, erschienen im Juni 2015

Download www.querspur.at

Impressum und Offenlegung

Medieninhaber und Herausgeber

Österreichischer Automobil-, Motorrad- und Touring Club (ÖAMTC),

Schubertring 1-3, 1010 Wien, Telefon: +43 (0)1 711 99 0www.oeamtc.at

ZVR-Zahl: 730335108, UID-Nr.: ATU 36821301

Vereinszweck ist insbesondere die Förderung der Mobilität unter

Bedachtnahme auf die Wahrung der Interessen der Mitglieder.

Rechtsgeschäftliche Vertretung

DI Oliver Schmerold, Verbandsdirektor

Mag. Christoph Mondl, stellvertretender Verbandsdirektor

Konzept und Gesamtkoordination winnovation consulting gmbh

Chefredaktion Mag. Gabriele Gerhardter (ÖAMTC),

Dr. Gertraud Leimüller (winnovation consulting)

Chefi n vom Dienst Silvia Wasserbacher-Schwarzer, BA, MA

EINFACH ≠ EINFACHEinfach ≠ einfach?

Oft mals ist hohe Komplexität Grundlage

der Einfachheit von Prozessen oder

Produkten. Beispielsweise kommt der

große Erfolg von Apple’s iPad auch daher,

dass das Tablet für den User einfach zu bedienen

ist. Dahinter steckt jedoch ein hochkomplexes,

intelligentes Computersystem. Einfach ≠ einfach

steht für einfache bzw. einfach erscheinende

Lösungen (Produkte, Prozesse), die einen

hochkomplexen Unterbau besitzen, woraus

wiederum die hohe Qualität für den User

entsteht. Albert Einstein formulierte es so:

„Alles sollte so einfach wie

möglich gemacht sein,

aber nicht einfacher.“

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HeuteEinfach komplexHeute ist der Alltag hoch komplex.

Dennoch war das Leben früher nicht

leichter.

Von Ruth Reitmeier

Alltag mit HürdenWie Einkaufen mit Zwillingen zur Heraus-

forderung wird und warum ein Italiener

nicht in der Wiener Vorstadt parkt.

Von Christina Tropper und Ruth Reitmeier

Architektur darf nicht nur Kunst seinDie Architektin Elke Delugan-Meissl über

reduziertes Design und Nutzererlebnisse.

Von Catherine Gottwald

Keine einfache KopiervorlageBionik ist nicht die eierlegende

Wollmilchsau.

Von Astrid Kuffner

Gutes Design führt durch komplexe ProzesseService-Design hat sein Ziel erreicht,

wenn die User keine Beschreibung lesen

müssen. Das New Yorker Designduo

antenna im Interview.

Von Ruth Reitmeier

Wenn der Strom ausfälltWarum ein großfl ächiger Stromausfall ein

realistisches Szenario ist.

Von Ulrich Herbst

Vernetzt in alle RichtungenWelche Services werden uns in 20 Jahren

das Leben erleichtern?

Von Gertraud Leimüller

Einfach unterwegsEin einfacher Service kann in

der Entwicklung ganz schön

herausfordernd sein.

Von Theresia Tasser

Ich bin, was ich erlebeNeo-Individualtouristen inszenieren sich

an den Urlaubsorten. Internet sei Dank.

Von Catherine Gottwald

Start-UpsSpannende Ideen zum Thema

Einfachheit und Komplexität.

Von Katrin Stehrer

Was hinter den Dingen des Alltags stecktDie Wissenschaft beweist, was

der Hausverstand vermuten lässt.

Von Silvia Wasserbacher-Schwarzer

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Morgen

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5EINFACH ≠ EINFACH

Was ist Einfachheit? Machen wir es

uns doch einfach und geben diese

Frage in die Suchmaschine ein.

Wikipedia bietet folgende Defi nition:

Einfachheit, auch Schlichtheit, ist

ein Zustand, der sich dadurch aus-

zeichnet, dass nur wenige Faktoren

zu seinem Entstehen oder Bestehen

beitragen, und dadurch, dass das Zu-

sammenspiel dieser Faktoren durch

nur wenige Regeln beschrieben wer-

den kann. Damit ist Einfachheit das

Gegenteil von Komplexität. Nun, der

letzte Satz dieser Defi nition sollte

gestrichen werden.

Einfachheit ist nicht das Gegenteil

von Komplexität, zumal auch das Ein-

fache hochkomplex sein kann. An-

schauliche Beispiele dafür gibt es zu-

hauf, etwa aus der Diagnostik, wenn

Patienten im plötzlich auftretenden

gesundheitlichen Ausnahmezustand

von Facharzt zu Facharzt pilgern. Am

Ende solcher Leidensgeschichten ist

dann oft bereits der Termin beim Psy-

chiater ausgemacht, doch dann er-

kennt endlich jemand, dass die höl-

lischen Schmerzen etwa von einer

Borreliose in Folge eines Zeckenbis-

ses herrühren – einer simplen und

häufi gen Infektion also.

Wer komplex denkt, sieht das große

Ganze. Doch das ist gar nicht so ein-

fach. Denn das menschliche Gehirn

bevorzugt eher lineares, analoges

Denken, was einem schrittweisen

Vorgehen entspricht. Der Mensch

passt sich also nach und nach an seine

Umwelt an und macht sie so begreif-

und nutzbar. Komplexität bedeutet

aber nicht zuletzt, dass der nächste

Schritt bereits in eine ganz andere

Richtung weisen kann. Denn es liegt

in ihrer Natur, dass immer etwas

nachkommt. Das gilt es zu begreifen.

Wer Komplexität meistern will, muss

ihr mit ebensolcher begegnen. Iris

Bosich, engagierte Unternehmerin

aus Wien, betreibt seit dem Vorjahr

unter der Marke Vitolerance ein Ge-

schäft samt Online-Shop für Men-

schen mit Nahrungsmittelunverträg-

lichkeiten. Die Businessidee kam

Bosich, als sie beobachtete, wie All-

ergiker ratlos vor den Supermarktre-

galen standen. Sie dachte, dass man

ihnen den Einkauf erleichtern sollte.

Vitolerance tut genau das, bietet eine

große Auswahl an Lebensmitteln, die

Regale sind klar organisiert, und je-

des Produkt ist umfassend gekenn-

zeichnet. Im Geschäft fi nden sich

mehrere Meter Regalfl äche mit glu-

tenfreien Lebensmitteln, außerdem

führt Vitolerance laktose-, fruktose,

hefe- und weizenfreie Lebensmittel.

Doch kaum hatte das Geschäft eröff-

net, war klar, dass diese Kundschaft

mehr als ein perfekt durchdachtes

Warenangebot benötigte, sie braucht

fundierte ernährungswissenschaftli-

che Beratung. „Einige Kunden kom-

men mit ihren Befunden zu uns ein-

kaufen“, sagt Bosich. Sie engagierte

umgehend eine Diätologin, die an den

starken Einkaufstagen direkt im Ge-

schäft berät. Dieser besondere Ser-

vice rundet das Geschäftsmodell ab

und sorgt für Kundenbindung.

Kennzeichnung und Gütesiegel bieten

Konsumenten Orientierung in einer

immer komplexer werdenden Waren-

welt. Diese Lösung ist zwar einfach,

aber nicht perfekt und hinterlässt ih-

rerseits Lücken im System, die wiede-

rum zu neuen Produkt- und Geschäfts-

ideen führen können. Jeder kennt

Bio-Marmelade, doch der vielleicht

ökologisch konsequenteste süße Brot-

aufstrich ist Zero Waste Jam. Trägt

Marillenmarmelade ein Bio-Güte-

siegel, so muss der ökologische An-

bau der Früchte kontrolliert werden.

Die Marillen werden zumeist angelie-

fert, denn Früchte, die etwa in den zur

Marmeladenfabrik nahegelegenen pri-

vaten Obstgärten wachsen, werden

zwar fast immer pestizidfrei angebaut,

doch sie sind nicht zertifi ziert und

qualifi zieren sich deshalb nicht für ein

Produkt mit Bio-Garantie. Im schlimm s -

ten Fall verrotten diese lokalen Früchte

unverzehrt, während teures, weitge-

reistes Obst verarbeitet wird.

Das Sozialunternehmen Zero Waste

Jam, das sich dem Ziel der Abfallver-

meidung und optimalen Ressourcen-

nutzung verschrieben hat, schließt

diese Lücke. Wer etwa einen Garten

im Raum Wien, Graz oder im Wald-

viertel besitzt, wo mehr Früchte

gedeihen als er verbraucht, kann

sein Obst einfach spenden und so-

mit einen Beitrag gegen die Lebens-

mittelverschwendung leisten. Die

Fruchtspende wird abgeholt, von den

Zero-Waste-Jam-Produktionspartnern

zu Konfi türe verarbeitet und schließ-

lich professionell vertrieben.

Der moderne Alltag ist ein komplexes

System. Mit Patentlösungen kommt

man da nicht weiter, zumal sich Lebens-

entwürfe immer unterschiedlicher

DAS LEBEN WAR ZWAR FRÜHER NICHT LEICHTER, ABER EINFACHER. VERÄNDERUNGEN VOLLZOGEN SICH NUR LANGSAM. DER MODERNE ALLTAG HINGEGEN IST HOCHKOMPLEX. UND DAS IST GUT SO. Von Ruth Reitmeier

ZERTIFIZIERUNG SCHAFFT LÜCKEN

DAS GEHIRN BEVORZUGT LINEARES DENKEN

INDIVIDUELLE LÖSUNGEN SCHAFFEN DURCHBLICK

HINTER EINFACHEN ERGEBNISSEN STEHEN OFT KOMPLEXE PROZESSE

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gestalten. Werden heute bei einem

Maturatreffen von Mitvierzigern die

Kinderfotos herumgereicht, so sind

dies Bilder von Menschen zwischen

zwei und zwanzig Jahren. Arbeit, Kin-

der und andere (familiäre) Verpfl ich-

tungen unter einen Hut zu bringen ist

alles andere als einfach, verlangt nach

Multitasking und Improvisations kunst.

Steigen die Anforderungen im System

Familie, so muss wie in einem Unter-

nehmen eine entsprechend gute

Organisationsstruktur und faire

Arbeits aufteilung unter Einbeziehung

freiwilliger und eventuell auch bezahl-

ter Hilfe her. Das „Familienprogramm“

wird zudem regelmäßige Updates

brauchen, um mit den sich ändernden

Bedingungen übereinzustimmen. Die

Komplexität des Alltags, die Gesamt-

heit und der Zusammenhang der

zu bewältigenden Aufgaben wird

schließlich um ein paar Termine und

Pläne reduziert werden müssen:

Das Konzertabonnement, die Über-

stunden, den Baby-Englischkurs, den

Elternsprechtag, den Zweitwohnsitz.

Trotz Abstrichen bleibt in der so ge-

nannten Rushhour des Lebens, also

in jener Phase, wo sich die Aufgaben

und Anforderungen türmen, noch

immer genug zu tun.

Vor diesem Hintergrund stehen auch

Unternehmen vor neuen Herausforde-

rungen. Die Organisationskunst der

Manpower reicht heute längst über

die Grenzen des Betriebs hinaus ins

Private. Immer deutlicher zeigt sich

der Trend zur individualisierten Perso-

nalarbeit. Programme nach dem Top-

Down-Prinzip über große Teile der

Belegschaft zu stülpen, ist nicht mehr

zeitgemäß. Heute werden die Mitar-

beiter zunehmend einbezogen, wer-

den angehalten, ihren Arbeitsplatz zu

bewerten und Stressfaktoren beim

Namen zu nennen.

Der Zeitgeist verlangt es, unermüdlich

Unternehmer seiner selbst zu sein

und auch das kann ganz schön an-

strengend werden. Manchmal will

man auch nur Instandhalter seines

Lebens sein. In der Überfl uss- und

Leistungsgesellschaft ist deshalb die

Sehnsucht nach Vereinfachung die

andere Seite der Medaille, die (ge-

dankliche) Flucht in eine Idylle des

Schlichten; eine Art Entschleuni-

gungsrefl ex.

All das ist freilich nicht neu. Weg-

lassen, dann wird alles besser, ist

der Grundgedanke vieler Heilslehren.

Mehrere christliche Orden haben sich

bereits vor Jahrhunderten dem ein-

fachen Leben verschrieben. Schein-

heiliger war wohl die Sehnsucht der

Aristokratie des Barock nach ideali-

sierter Einfachheit, die in nachgebau-

ten Bauernhäusern neben ihren pom-

pösen Schlössern Landleben spielten.

Die heutigen Downshifter sind neben

rein ökonomischen Beweggründen

geistige Nachfahren der Aussteiger

der 1960er und 70er Jahre, die die

vermeintlich sinnentleerten Wohl-

standsideale der Mittelschicht in

Frage stellten.

Diese Suche nach dem Einfachen ist

jedoch im Grunde ein Luxus – ein

Luxusproblem. Extremes Aufräumen,

das „Entmüllen“ sämtlicher Lebens-

bereiche, bewusster Konsum; um

diese Fragen ist längst eine Indus-

trie entstanden. Ein Standardwerk

zum Reduktionstrend ist der Mega-

seller „Simplify your Life“, mit dem ein

evangelischer Pfarrer und ein Zeit-

management-Experte bereits um die

Jahrtausendwende einen Vereinfa-

chungs-Guide vorlegten und damit

den Nerv der Zeit trafen. Das Buch

gibt klare, einfache Anweisungen, wie

man in sämtlichen Lebensbereichen

drastisch reduziert. Das Programm

verläuft von außen nach innen, von

Stufe 1: „Vereinfachen Sie Ihre

Sachen“, über die Finanzen, Zeit,

Gesundheit, Beziehungen, die

Partnerschaft bis letztlich mit abge-

schlossener Stufe 7 das Ziel erreicht

ist: „Vereinfachen Sie sich selbst.“ Da

muss man kurz schlucken. Ist die Ultima

ratio, ein Einfaltspinsel zu werden?

Wie unterkomplex, wie einfach ge-

strickt, dürfen wir sein, um im Jetzt

zu leben und die Chancen unserer

Zeit wahrzunehmen? Selbst wenn der

Alltag komplexer geworden ist und

Stressoren dazugekommen sein mö-

gen, der Mensch wächst an seinen

Aufgaben. Mit der Modernisierung der

Welt modernisiere sich eben auch das

Seelenleben des modernen Menschen,

argumentieren etwa die Psychologen

Martin Dornes und Martin Altmeyer

in der deutschen Wochenzeitung

„Die Zeit“. Beschleunigung, Globali-

sierung, berufl iche Mobilität, Plural-

ismus der Werte und Lebensstile

sowie Flexibilität sind nicht nur Anfor-

derungen, sondern bieten vor allem

neue Möglichkeiten der Lebensge-

staltung und Erweiterung des Hori-

zonts. Die moderne Arbeitswelt ist

mit ihren Ansprüchen zur Teamfähig-

keit, Eigeninitiative und Selbstorgani-

sation zweifellos fordernder als einst,

doch sollte man der Monotonie aus-

laufender Berufswelten deshalb nach-

trauern?

„Komplex ist nahezu ein Synonym für

intelligent“, betont Kybernetikerin

Maria Pruckner. Die Kybernetik ist

die Wissenschaft der Steuerung und

Regelung in Maschinen, lebenden

Organismen und sozialen Organisatio-

nen und wird auch als die Kunst des

Steuerns beschrieben. Sie hilft zu ver-

stehen, wie Eigendynamiken und das

Funktionieren an sich funktionieren.

Die Systemwissenschaft Kybernetik

spielt insbesondere in der Manage-

mentlehre eine immer wichtigere Rolle.

„Komplexität gab es auch früher, doch

DER WUNSCH NACH DEM EINFACHENLEBEN WAR IMMER WIEDER EN VOGUE

ÜBERFLUSS WECKT DAS BEDÜRFNIS NACH DEM EINFACHEN

DER MENSCH WÄCHST AN DER HERAUSFORDERUNG

KOMPLEXITÄT IST KEINE NEUERFINDUNG. NEU IST DIE GESCHWINDIGKEIT, MIT DER SIE STEIGT

WORK-LIFE-BALANCE MEHR DENN JE GEFRAGT

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7EINFACH ≠ EINFACH

durch die moderne Daten- und Kom-

munikationstechnik nimmt sie rasant

zu, und alles ändert sich viel schneller.

Dadurch erhöht sich auch die Unsicher-

heit und Ungewissheit in vielen Situa-

tionen“, betont Pruckner.

Wenn scheinbar unlösbare Probleme

belasten, wird oftmals die Komplexität

dafür verantwortlich gemacht und sie

wird dabei als Überdosis an Informa-

tion (miss-)verstanden. Das zentrale

Problem ist aber nicht ein Zuviel an

Information. Geraten die Dinge außer

Kontrolle, ist das Gegenteil der Fall.

„Das Problem ist immer das Fehlen

relevanter Information“, betont

Pruckner. Die Kybernetikerin hat

diese Mechanismen in ihrem Buch

„Die Komplexitätsfalle“ anhand von

Beispielen beschrieben. Das zugrunde-

liegende Muster ist immer das gleiche:

Durch mangelnde Information entste-

hen Probleme, die weitere Konfl ikte

erzeugen. Fehlt der Durchblick, so

stellen sich Angst und Stress ein, was

wiederum zu Fehlleistungen führt. So

wird aus einem Problem schnell ein

Riesenproblem. Pruckner zeigt, wie

die Komplexitätsfalle zuklappt und

Krisen eskalieren können. Sie zeigt

auch Auswege aus der Komplexitäts-

falle, etwa indem Informationslücken

rechtzeitig geschlossen werden.

Vor dem Hintergrund einer komplexer

werdenden Welt sollte demnach das

Herzstück jeder Bildungsreform ei-

ne auf komplexe Systeme bezogene

Denkschule sein, um zu lernen, wie

man an noch nie dagewesene Situa-

tionen souverän herangeht. Denn wer

Komplexität beherrschen will, muss

sie in seinem Kopf erzeugen können.

Komplexität ist nur mit ebenso hoher

Komplexität zu begegnen. Beim Mili-

tär, in der Kriminalistik oder der Me-

dizin wird seit jeher so vorgegangen:

Man verschafft sich zunächst einen

Überblick, stellt gezielte Fragen. Keine

Entscheidung fällt ohne sorgfältige

Lagebeurteilung.

Wer jedoch in der Komplexitätsfalle

sitzt, arbeitet sich immer am falschen

Problem ab. Entscheidend ist also,

dass das tatsächliche Problem iden-

tifi ziert wird, zumal es die Lösung in

sich trägt. In der Praxis bedeutet das:

In einer Krise geht es darum, sich die

relevanten Informationen zu beschaf-

fen und/oder Hilfe zu holen – also je-

manden hinzuzuziehen, der über das

erforderliche Fach-, System und auch

Insiderwissen verfügt. Pruckner:

„Eine goldene Regel der Kybernetik

lautet: Lass dich von dem führen, der

am besten Bescheid weiß.“ �

www.mariapruckner.com

www.vitolerance.at

www.zerowastejam.com

Das Gehirn bevorzugt lineares Denken. Durch schrittweise Annäherung an die Herausforderungen meistert es der Mensch trotzdem,

sich in einer Welt zunehmender Komplexität zurecht zu fi nden.

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ZU VIEL AN INFORMATION WIRD ALS ÜBERFORDERUNG WAHRGENOMMEN

DAS FEHLEN RELEVANTER INFORMATION BEDEUTET KONTROLLVERLUST

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Kennen Sie eigentlich Sisyphos? Den armen Kerl, der stän dig

einen Stein den Berg hinaufrollen musste, nur um kurz vor

dem Ziel zu scheitern? Das ist mein Leben! Seit ich Zwillinge

habe, wird es zu einer Vormittag füllenden Aufgabe, zwei Liter

Milch zu kaufen. Bis man die Kinder für einen Mini-Einkauf

fertig hat, ist die Milch im Geschäft schon sauer. Gibt es viel-

leicht deswegen die „Länger-frisch-Milch“?

Prinzipiell hat eine Mutter ja drei Möglichkeiten, mit zwei

gleichaltrigen Babys einmal einkaufen zu gehen: Entweder

die Mutter ist verwegen, dann verwendet sie das Auto. Mit

anderen Worten: Kinder wickeln, füttern, anziehen und dann

Stück für Stück ins Auto tragen. Während man also Kind A

ins Auto bringt, brüllt Kind B. Holt man dann Kind B, dann

tut Kind A seinen Unmut kund. So wissen auch die Nach-

barn, dass es zu einem Milch-Engpass gekommen ist. Wich-

tig: Kinderwagen nicht vergessen. Der ist nicht nur schwer,

sondern auch äußerst sperrig. Die Einkaufsliste sollte dem-

nach relativ kurz sein, da der Kofferraum bereits vom Wagen

besetzt ist. Und von jenen Dingen, die jede Mutter eben so

mithaben muss: Windeln, Feuchttücher und einen Liter Bal-

drian. Zum Eigengebrauch, versteht sich …

Die zweite Möglichkeit, an frische Milch zu kommen, sind die

öffentlichen Verkehrsmittel: Da sind Geschick und vor allem

Diplomatie gefragt. „Och – sind das Zwillinge?“, ist die am

häufi gsten gestellte Frage. Obwohl es mir auf der Zunge liegt

zu sagen: „Nein, die sind zufällig gleich angezogen und sehen

sich zufällig ähnlich“, antworte ich höfl ich: „Ja – Zwillinge!

Was für ein Segen!“ Währenddessen brüllt Kind A aus voller

Kehle und Kind B beginnt verdächtig streng zu riechen. Aber

was soll’s: Es sind ja nur noch fünf Stationen.

Kommen wir also zur dritten Möglichkeit, endlich frische

Milch zu kaufen: per pedes. Wir erinnern uns: Kinder sind satt,

sauber und glücklich. Den sperrigen Zwillingskinderwagen

habe ich die Treppen hinunter getragen, begleitet von den lieb-

lichen Stimmen des Nachwuchses, der lauthals seinen Un-

mut kundtut. Optimisten könnten es auch Anfeuerungsrufe

nennen. Ich stopfe also die Kinder in den Wagen und schnappe

die Wickeltasche, die gefühlte 200 Kilo wiegt. Schweiß geba-

det winke ich den Nachbarn zu, die ob dieses Schauspiels den

eigenen Kinderwunsch stark überdenken. Wir schleppen uns –

also eigentlich schleppe ich alle – in den Supermarkt und raffe

dort in Windeseile alles, was man eben so braucht, an mich.

Natürlich in einem Sicherheitsabstand zu den Regalen. Denn

auch kurze Arme können fl ink sein.

So stehe ich nun – egal für welche der drei Varianten ich

mich entschieden habe – an der Kassa: Der Zwillingswagen

passt leider nicht durch, was vor allem die fünf Leute hinter

mir freut. Man öffnet uns also die Kassa für Rollstuhlfahrer

und Kind A nutzt den Tumult, um noch schnell einen Schoko-

riegel zu klauen.

Als ich endlich bezahlt habe, fällt es mir wie Schuppen von

den Augen: Verdammt, ich habe die Milch vergessen!

Zweifach ist gar

nicht so einfach

Alltag

mit Hürden

Ich habe zwei Im-Mobilien. Zwei Kinder, um genau zu sein. Seit ich Mutter von

Zwillingen bin, wird das Verlassen des Eigenheims zur Schwerarbeit. Von Christina Tropper

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Page 9: EINFACH - querspur.at fileWas ist der Lotus-Eff ekt? Lotus- oder Lotos-Eff ekt wird die geringe Benetzbarkeit einer Oberfl äche bezeichnet, wie sie bei der Lotospfl anze vorkommt.

9EINFACH ≠ EINFACH

Alles begann im Oktober 2012, als das Parkpickerl erst-

mals im Bezirk Hernals eingeführt wurde. Doch nicht überall.

Manche Zonen, wie auch mein Grätzel, waren zunächst

noch ausgenommen. Kämpfe um die noch gebührenfreien

Parkplätze wurden 2013 abgedreht, als man die erste

Zonen erweiterung beschloss. Seither bin auch ich Pickerl-

Kleberin.

Weil diese Angelegenheit nicht so einfach ist wie vermutet,

war eine weitere Ausweitung der Anrainerzonen nötig. Dies-

mal kam eine zusätzliche Dimension dazu: Die beiden Stra-

ßenseiten der Savoyenstraße, die in die Gebührenzone ein-

gegliedert wurde, liegen in unterschiedlichen Bezirken.

Rechts 17. Bezirk und links 16., oder umgekehrt. Natürliche

Überlappungszone nennt sich das. In der Praxis bedeutet es,

dass man dort mit den Pickerln beider Bezirke parken darf.

Dies hatte sich allerdings zunächst nicht zu den Organen der

Parkraumüberwachung durchgesprochen, deren Ortskennt-

nis dem profunden Wissen der Anrainer hinterher hinkte.

Die Parksheriffs mussten es sich also gefallen lassen, den

exak ten Grenzverlauf erklärt zu bekommen, um mit wasser-

dichten Argumenten vom Strafzettelschreiben abgehalten

zu werden.

Der Geschichte noch kein Ende: Sobald sich die ersten Pri-

meln zeigen, bringen die Schrebergärtner Saisonpickerl (!)

auf ihren Gefährten an. Dann weiß man, dass der Winter-

schlaf vorbei und es an der Zeit ist, wieder in Form zu kom-

men – mental wie körperlich. Zunächst prägt man sich bes-

ser ein, wo man sein Auto zuletzt abgestellt hat – das kann

mitunter etwas weiter entfernt sein. Auch sollte man gut zu

Fuß und nicht allzu ängstlich sein. Mein User-Tipp: Bitte fes-

tes Schuhwerk und Taschenlampe im Auto mitführen. Denn

mit Sicherheit fi ndet man erst im einen Kilometer entfernten

Waldgebiet einen Stellplatz.

Das System ist einfach komplex und Komplexität bedeutet

nicht zuletzt, dass immer noch etwas nachkommt. Vor diesem

Hintergrund entstehen selbst rund zweieinhalb Jahre nach

der Pickerl-Ersteinführung spontan Guerilla-Selbsthilfegrup-

pen, wie etwa jüngst in einer Trafi k in der Güpferlingstraße um

neun Uhr am Morgen, als ein Italiener einen geschäftlichen

Termin in der City sowie die blendende Idee hatte, sein Auto

doch einfach in der Vorstadt abzustellen und von dort aus

mit den Öffi s bequem ins Stadtzentrum zu fahren. Nur dar-

aus wurde leider nichts. In der Trafi k ging es plötzlich zu wie

in einer neapolitanischen Bar. Die Trafi kantin und vier ihrer

Kunden versuchten in broken English und heftig gestikulie-

rend, dem Italiener die Vielschichtigkeit des Problems aus-

einanderzusetzen: Ihn in eine der nächstgelegenen Garagen

mit Anbindung ans U-Bahnnetz zu schicken, erschien un-

verantwortlich, denn diese bieten um diese Uhrzeit nur sel-

ten freie Plätze. In den angrenzenden pickerlfreien 18. Bezirk

(Währing) wollten sie einen Fremden nun auch nicht schicken,

das erschien zu kompliziert – und vielleicht wollte man es sich

auch einfach ersparen, erklären zu müssen, wie er hinkommt,

von dort in die Innenstadt und wieder zurück. Der Italiener

folgte der aufgedrehten Diskussion staunend und ließ sich

schließlich überzeugen, doch einfach mit dem Auto zu fahren.

Warum einfach,

wenn’s auch

kompliziert geht

Ich wohne hinter Wiener Bergen unter Gartenzwergen, in einer entlegenen Ecke der Stadt,

in einer Straße, die viele Taxifahrer ohne Navi nicht fi nden. Parkplatzprobleme kannten wir nicht.

Bis das Parkpickerl zu uns kam und so manche verwirrende Veränderung brachte. Von Ruth Reitmeier

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10

querspur: Ihre Gebäude rufen

auf den ersten Blick ein Gefühl

der Schwerelosigkeit und des Fließens

hervor. Reduzierte Formen, die

wahrscheinlich in einem komplexen

Prozess entstanden sind.

Delugan-Meissl: Um diese Ergebnisse

zu erzielen und auch zu realisieren,

bedeutet es, in der Entwicklung und

Umsetzung großes Engagement und

Überzeugungskraft zu investieren.

Welchen Stellenwert hat reduziertes

Design in Ihrer Architektur?

Delugan-Meissl: Reduziertes

Design ist kein Qualitätskriterium.

Die Komplexität liegt in der Vision,

in den Parametern, die den Entwurf

bestimmen. Dies erfordert einen

refl exiven Prozess, der unterschiedli-

che Perspektiven miteinbezieht.

Warum sind einfache Formen in

der Architektur so beliebt?

Delugan-Meissl: Sind die einfachen

Formen tatsächlich so beliebt? In

diesem Zusammenhang fi nde ich die

Bezeichnung „einfach“ nicht adäquat.

In der Architekturgeschichte gibt und

gab es immer wieder Strömungen,

architektonische Richtungen, welche

sich der Sachlichkeit verpfl ichtet

fühlen. Auch die Entwicklung von

reduzierter Architektur oder reduzier-

tem Design erfordert aufwändige

Entwurfsprozesse.

Was bedeutet der Dualismus Komplexi-

tät/Einfachheit in der Architektur?

Delugan-Meissl: In der Architektur

fungieren Einfachheit und Komplexi-

tät wie zwei Pole, die einander ergän-

zen können, jedoch nicht ausschließen

müssen. Voraussetzung für die Reali-

sierung von anspruchsvoller Architek-

tur und Design ist in hohem Maße ein

Beobachtungs- und Refl exionsvermö-

gen sowie die Vision, stets an neuen

Lösungsansätzen zu arbeiten. Am

Ende dieses vielschichtigen, komple-

xen kreativen Prozesses entsteht letzt-

lich ein Produkt, welches dieser Dua-

lität entspricht.

Neben dem Sehen gibt es ein Erleben

von Architektur. Ganz konkret:

Wie kann der Nutzer Einfachheit in der

Architektur erleben?

Delugan-Meissl: Für mich impliziert

die gelebte Einfachheit auch die räum-

liche Erfahrbarkeit durch den Nutzer.

In einem Gebäude kann man genau

beobachten, wie sich der Nutzer im

Raum bewegt, orientiert und sich in

den gegebenen Strukturen zurecht-

fi ndet.

FÜR DEN NUTZER IST EINFACHHEIT IN DER ARCHITEKTUR EIN ERLEBNIS

FASZINIERENDE RAUMANGEBOTE ZU KONZIPIEREN, DIE DEM NUTZER EINEHOHE AUFENTHALTSQUALITÄT UND SPANNENDE ERLEBNISSE BIETEN, ABER AUCH FUNKTIONAL ENTSPRECHEN, IST EINE HERAUSFORDERUNG.DAS ÖSTERREICHISCHE ARCHITEKTURBÜRO DELUGAN MEISSL ASSOCIATED ARCHITECTS FOKUSSIERT DAHER SCHON ZU BEGINN SEINE ENTWURFS-PROZESSE AUF EBEN DIESE PARAMETER. Das Gespräch führte Catherine Gottwald

„ARCHITEKTUR DARF NICHT NUR KUNST SEIN“

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11EINFACH ≠ EINFACH

Elke Delugan-Meissl, geboren in Linz, ist

Gründerin und Partnerin des Architekturbüros

Delugan Meissl Associated Architects.

Sie und ihr Mann sind Träger des Großen

Österreichischen Staatspreises 2015.

Das Architektenbüro realisiert seine Entwürfe

weltweit. Das 2012 gebaute Festspielhaus

der Tiroler Festspiele brachte Delugan Meissl

Associated Architects 2015 eine Nominierung

für den Mies van der Rohe-Preis, den Preis für

zeit genössische europäische Architektur.

Nichts bereitet der passionierten Architektin

Delugan-Meissl mehr Freude, als „wenn ihre

Objekte von den Nutzern angenommen

werden.“

USABILITY KONKURRIERT IN DER ARCHITEKTUR MIT ANDEREN PARAMETERN

RAHMENBEDINGUNGEN SIND MASSGEBLICH FÜR EINEN ENTWURF

Sie haben Projekte wie das Porsche-

Museum in Stuttgart oder das EYE

Film Institut in Amsterdam umgesetzt.

Wie wichtig ist in der Architektur die

Usability, also Nutzerfreundlichkeit

im Verhältnis zu anderen Zielen,

beispielsweise der Ästhetik?

Delugan-Meissl: Die Nutzerfreund-

lichkeit spielt sicherlich eine entschei-

dende Rolle. Erst durch die Nutzung

wird ein Gebäude lebendig. Oft ist es

eine Herausforderdung, allen Para-

metern, die zur Entwicklung eines

qualitätsvollen Ergebnisses beitragen,

gerecht zu werden.

Öff entliche Gebäude müssen die

Ansprüche einer heterogenen Nutzer-

gruppe erfüllen. Wie integriert man

die oft mals unterschiedlichsten User-

perspektiven optimal in einen Entwurf?

Delugan-Meissl: In unserer Entwurfs-

methodik nähern wir uns dem Ergeb-

nis über drei wichtige Abschnitte.

Die architektonische Analytik ermög-

licht es uns im ersten Schritt, die

spezifi sche Ausgangslage (wie u. a.

die Topographie, den städtebaulichen

Kontext, die zukünft ige Nutzung

und funktionale Anforderungen)

zu beurteilen und zu analysieren,

um auf sie in einem zweiten Schritt –

der architektonischen Imagination –

zu reagieren und unseren architekto-

nischen Ansatz zu entwickeln. Dabei

steht die Frage nach der unmittelbar,

körperlich erfahrbaren Wirkung von

Räumen im Mittelpunkt aller unserer

Projekte, d. h. der Versuch, jedem Ge-

bäude die seinem Zweck und seinem

Kontext entsprechenden Raumwir-

kungen zu verleihen.

Architektur ist Kunst – wie viel

User perspektive erlaubt eine

architektonische Vision überhaupt?

Delugan-Meissl: Ich sehe Architektur

nicht als reine Kunst, die losgelöst von

Rahmenbedingungen agieren kann. In

der Entwurfs- und Konzeptionsphase

sind funktionale, wirtschaft liche,

technische etc. Aspekte zu berücksich-

tigen. Qualitative Architektur ist auch

eine nutzerorientierte.

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Neue Projekte in historische Städte

wie zum Beispiel Wien zu integrieren

stelle ich mir anspruchsvoll vor ...

Delugan-Meissl: Unser Anspruch

ist es, die Qualität des Ortes zu analy-

sieren und diese durch die bauliche

Intervention zu stärken. Ein Beispiel

dafür ist ein Dachaufb au im 4. Bezirk

in Wien, den wir in den Kontext der

urbanen Dachlandschaft unter Beibe-

haltung unserer architektonischen

Vision integriert haben.

Wenn Sie an die Stadt der Zukunft

denken: Welche Bedeutung hat

Zwischenraum und was fordert der

User von der Architektur der Zukunft ?

Delugan-Meissl: Stadtentwicklung

erfolgt heute in inhaltlicher, wie auch

maßstäblicher Hinsicht allzu oft

selbstreferenziell und rein additiv.

Die fehlende Einbeziehung übergeord-

neter Konzepte sowie mangelnde Ver-

netzung mit dem öff entlichen Raum,

dem Zwischenraum, widersprechen

zukunft sorientierten Prozessen.

Europäische Städte laufen Gefahr,

zunehmend als museale, unveränder-

liche Strukturen wahrgenommen zu

werden. Ein adäquates Mittel, dieser

Entwicklung gegenzusteuern, stellen

u. a. Um- und Zwischennutzungen

von bestehender Bausubstanz dar.

Sie fördern städtische Identität und

fungieren als Katalysator für eine

dynamische Entwicklung. Neben

der Vielfalt räumlicher Sequenzen

verleihen auch unterschiedliche –

oft unvorhergesehene – Nutzungen

dem urbanen Kontext Lebendigkeit

und Attraktivität.

Der römische Architekt Renzo Piano

hat etwas ganz Ähnliches über die

Transformation der verarmten Vor-

städte von Rom gesagt. Man müsse

der Zersiedelung ein Ende bereiten,

die ohne urbane Qualität errichteten

Vororte als Teil des städtischen

Potenzials wahrnehmen und in

das Stadtbild Roms integrieren …

Delugan-Meissl: Es gilt, keine Mono-

funktionen oder Ghettos zu schaff en,

sondern eine polyzentrische und poly-

funktionale Entwicklung zu ermögli-

chen. Dies bedingt allerdings das Zu-

sammenwirken mehrerer Kräft e sowie

den politischen Willen. Wir sehen die

Stadt als einen lebendigen Organismus,

von den Bewohnern geprägt, off en für

zukünft ige Entwicklung. �

UNVORHERGESEHENE RAUMNUTZUNG WIRKT IN STÄDTEN ATTRAKTIV

DIE STADT ALS LEBENDIGER ORGANISMUS

Klare, moderne Formen als Kontrast zum traditionellen, geschichtsträchtigen Wien: Die Messingwand in der

Touristeninformation am Albertinaplatz in Wien wurde nach dem Entwurf des Architektenbüros Delugan-Meissl Associated Architects

umgesetzt.

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13EINFACH ≠ EINFACH

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WENN DER STROM AUSFÄLLT

DIE GÄNSEBRATENSPITZE, WIE EINST ZUR WEIHNACHTSZEIT DER PEAK AN STROMVERBRAUCH GENANNT WURDE, WEIL ALLE ÖFEN GLEICHZEITIG HOCHGEFAHREN WURDEN, BEREITET DEM STROMNETZ HEUTE KEINE PROBLEME MEHR. EIN GROSSFLÄCHIGES BLACKOUT WÜRDE HEUTE DURCH ANDERE URSACHEN AUSGELÖST. Von Ulrich Herbst

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////// PLÖTZLICH BLACKOUT //////////////////////////////Ein Blackout ist heute mehr denn je ein realistisches Szenario: Strom ist in Europa keine natio nale

Angelegenheit, sondern durch ein eng vernetztes europäisches Verbundsystem geregelt. Neben

der Sicherheit, dass der Ausfall eines Kraftwerkes durch die anderen im System aufgefangen

werden kann, birgt das das Risiko, dass eine Großstörung Auswirkungen auf das Gesamtnetz

hat. Daher wäre es durchaus möglich, dass ein Blackout nicht in Österreich ausgelöst wird,

Österreich aber massiv davon betroffen wäre. Zur Instabilität tragen auch erneuerbare

Energie träger bei, die je nach Wetterlage Energie produzieren: „Je höher der Anteil an schwan-

kender Strom einspeisung aus Windkraft am gesamten Stromaufkommen wird, desto robuster

muss das Stromnetz sein, welches diese Schwankungen abfangen kann“, sagt Markus Pederiva

von der Austrian Power Grid AG (APG), die für das hochrangige Stromnetz in Österreich verant-

wortlich ist. Soll heißen: Nicht nur zu wenig Strom kann gefährlich sein, sondern auch zu viel. Ei-

ne Überdosis kann die Leitungen überlasten und zu einem Zusammenbruch des Systems führen.

Die genaue Wahrscheinlichkeit eines Blackouts lässt sich laut Experten nicht abschätzen, weil

eine Vielzahl an Parametern dazu beiträgt. Fest stehe, dass der Ausfall innerhalb weniger Sekun-

den und vor allem ohne Vorwarnung passiere. Deshalb ginge es vor allem darum, Vorsorgemaß-

nahmen direkt in der Bevölkerung zu treffen, so Herbert Saurugg, Initiator der zivilgesellschaftli-

chen Initiative Plötzlich Blackout. Denn ist der Strom einmal weg, sind Retter gleichzeitig Opfer-,

und Standardverfahren also obsolet. www.ploetzlichblackout.at

////// DIE GOLDENE STUNDE BEIM STROMAUSFALL ///Ein Blackout, ein Stromausfall, der länger als acht Stunden dauert, würde das Leben lahmlegen.

Experten gehen davon aus, dass nach sechs Stunden die Mobilfunknetze zusammengebrochen

wären, nach zwölf Stunden müssten Firmen den Betrieb einstellen und es könnte nicht mehr ge-

heizt werden. Nach 20 Stunden würde kein Bus mehr fahren und kein Flugzeug fl iegen, die Ver-

sorgung mit Lebensmitteln wäre in Gefahr. Spätestens nach zwei Tagen würden Läden geplün-

dert und möglicherweise Seuchen ausbrechen. Deshalb ist im Notfall die erste Stunde – die

Golden Hour – so wichtig: um Maßnahmen zu veranlassen, solange die technischen Kommuni-

kationsmittel funktionieren.

////// STROM – IM NOTFALL AUS DEM AUTO ////////////Notstromaggregate, die aus Diesel-Verbrennungsmotoren zur Erzeugung von Energie bestehen,

sind vor allem in Krankenhäusern, Feuerwehren oder Rechenzentren elementar, um die Strom-

versorgung jederzeit aufrecht zu erhalten. Experten bezweifeln jedoch, dass bei einem größe-

ren Ausfall tatsächlich eine ausreichende Dieselversorgung für die Notstromaggregate gewähr-

leistet ist; auch deshalb, weil Tankstellen ohne Strom nicht funktionieren und nur wenige selbst

über ein Notstromaggregat verfügen. Künftig könnten aber Autos vermehrt in die Stromver-

sorgung einbezogen werden. Japanische Autohersteller sind für diese Idee Vorreiter. Weil Ja-

pans Stromnetz als veraltet gilt und es immer wieder zu Ausfällen kommt, wurden Autos entwi-

ckelt, die als fahrende Notstromaggregate konzipiert sind. So liefert etwa ein voll getankter (!)

Mitsubishi Geländewagen über zwei separate Anschlüsse im Heck mit laufendem Motor zehn

Tage Strom für einen Haushalt. Daihatsu hat dieses Prinzip als Wasserstoff-Auto umgesetzt:

In Brennstoffzellen reagiert gasförmiger Wasserstoff mit Sauerstoff und erzeugt Energie, die

wiederum die Batterie des Elektromotors speist. Der Strom kann im Haus verbraucht werden.

Ebenso kann die Batterie des Autos als Zwischenspeicher für die in der hauseigenen Solaran-

lage gewonnene Energie dienen.

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Einfach unterwegs

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15EINFACH ≠ EINFACH

Logisch, geordnet und extrem leicht

zu bedienen sollte sie sein: „mobito“,

ein Onlinetool mit dem Ziel, Auto-

mobilität einfach zu organisieren.

Konzipiert und entwickelt wurde sie

in den letzten achtzehn Monaten in

einem Entwicklerteam von ÖAMTC,

dem Unternehmen asoluto (Spezia-

listen für Online-Interaktion und

Kommunikation) sowie openForce

(IT-Infra struktur). Im Juni wird die

Plattform, die am PC genauso wie am

Smartphone funktioniert, der Öffent-

lichkeit präsentiert und dabei sowohl

ÖAMTC-Mitglieder als auch Nicht-

Mitglieder in wesent lichen Punkten

ihrer Automobilität unterstützen.

Die Idee zu mobito entstand, weil so-

wohl Mobilitätsverhalten, als auch de-

ren Organisation individuell geregelt

werden. Menschen in der Stadt wie

auch auf dem Land dabei zu unter-

stützen, sei dem ÖAMTC ein wichti-

ges Anliegen. Ebenso, dass Mobilität

für alle leistbar und so ressourcen-

schonend wie möglich ist.

Die Leistungen von mobito reichen

vom digitalen Fahrtenbuch bis zur

Organisation der gemeinsamen Nut-

zung eines Autos. Zwei voneinander

getrennte Bereiche stehen zu Beginn

zur Verfügung: my.mobil und co.mobil.

mobito verzichtet auf jeden Ballast an

Zusatzfunktionen: „Es ist kein Face-

book, sondern ein praktisches Instru-

ment“, erklärt Gabriele Gerhardter

vom ÖAMTC die bewusste Beschrän-

kung auf ein sehr funktionelles,

schlankes, schnelles Werkzeug.

Im Bereich my.mobil fi ndet man zum

Beispiel die Funktion „Fahrzeug stand-

ort“. Es war eines der ersten wichtigen

Tools, das entwickelt wurde. Und ei-

nes, „das schon für sich allein Sinn

machen würde“, meint Mustafa Alic

von asoluto. Jeder Städter, der sein

Fahrzeug nicht täglich benutzt und

es nach längerer Standzeit in den

Straßen rund um seine Wohnung

sucht, dürfte die Sinnhaftigkeit des

Tools erkennen. Wird das Auto auch

noch mit anderen geteilt, und sei es

nur innerhalb der Familie, wird diese

Funktion essenziell. „Sie zeigt mit

einem Knopfdruck den Standort des

Fahrzeugs an – und den Weg dort-

hin“. my.mobil enthält aber auch ein

Fahrtenbuch, das so angelegt ist,

dass es das Finanzamt akzeptiert,

ein Erinnerungsservice, wenn das

nächste Pickerl fällig ist und eine

Übersicht über den Spritverbrauch

und alle Kosten rund um das Auto.

Umfassender ist die mobito-Funktion

co.mobil angelegt. „Diese hilft einer

Gruppe an Personen, Mobilität

möglichst einfach zu organisieren“,

fasst Gerhardter zusammen, „sprich

ein Fahrzeug gemeinsam zu nutzen,

aber auch alle Kosten und Zeiten

zu erfassen.“ co.mobil wendet

sich vor allem an Familien, Freunde

und Nach barn. Auch für Vereine,

die ein Auto gemeinsam nutzen,

verschiedene Fahrer haben und

eventuell ein Fahrtenbuch brauchen,

ist es hilfreich.

Die Applika tion schlägt etwa Modelle

vor, wie sich eine Gruppe die Kosten

für ihr Auto aufteilen kann. Und bietet

dazu auch einen Mustervertrag.

Darüber hinaus ist diese Funktion

mit einem Nachrichten- und Kalender-

dienst verbunden – Fahr zeug-Sharer

können Terminabsprachen und

Reservierungen machen, ein gemein-

sames Fahrtenbuch führen, Neben-

kosten erfassen. Oder Aufgaben

eintragen, wann etwa das Frost-

schutz mittel nachzufüllen ist oder

das Auto neue Winterreifen braucht.

„In der Entwicklung war co.mobil

sicher der komplexeste Teil, weil es

sehr viel Interaktion zwischen den

Teilnehmern ermöglichen muss“, meint

Otto Meinhart von openForce, jenes

Unternehmen, das die technische

Umsetzung der Plattform übernahm.

Beispielsweise wurde lange darüber

getüftelt, wie eine pünktliche Übergabe

LÖSUNGEN FÜR DIE TÜCKEN DES ALLTAGS FINDEN

MOBITO: EINFACH HEISST KEINE UNNÖTIGEN FEATURES

NEUE MÖGLICHKEITEN DIE EIGENE MOBILITÄT ZU ORGANISIEREN

UNTER FAMILIENMITGLIEDERN ODER FREUNDEN EIN AUTO TEILEN, DAS IM DSCHUNGEL DER GROSSSTADT VERGESSENE AUTO NIE MEHR SUCHEN MÜSSEN, EIN RASCH ERSTELLTES FAHRTENBUCH FÜR DAS FINANZAMT: DAS NENNT SICH „MOBITO“, DIE NEUE ONLINE-PLATTFORM FÜR PRIVATPERSONEN, ENTWICKELT VOM ÖAMTC. SIE MACHT USERN DAS LEBEN EINFACHER UND IST GENAU DESHALB HOCHKOMPLEX. Von Theresia Tasser

www.mobito.at

mobito ist ein kostenloses Angebot des ÖAMTC für alle, die sich

rund um die Organisation ihrer Automobilität ein einfach zu bedie-

nendes Tool wünschen.

Getüftelt daran haben drei unterschiedliche Unternehmen und zwölf

verschiedene Professionen mit dem Ziel, einen einfachen Service zu

gestalten.

ÖAMTC: Gabriele Gerhardter, Christian Huter,

Harald Kalleitner, Patrick Büchler, Jakob Pfl egerl.

asoluto: Martin Verdino, Philipp Affenzeller,

Mustafa Alic, Nils Jürgens.

openForce: Otto Meinhart, Christian Macher,

Bernhard Schauer

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des Autos zwischen zwei Nutzern

eingehalten werden kann. Die Lösung

war, zwischen den Leihzeiten frei

wählbare Minuten als tote Zeit

einzuführen – in dieser Zeit kann

das Auto nicht gebucht werden.

Hinsichtlich der Datensicherheit

waren die Projektpartner speziell

gefordert, denn eine solche Plattform

müsse sehr vertrauensvoll und sicher

sein, wie Harald Kalleitner vom

ÖAMTC betont. „Wir konnten uns

auch nicht an etwas Vergleichbaren

orientieren, weil es ein Tool in dieser

Form unseres Wissens nach nicht gibt.“

Von der Idee bis zur fertigen Web-

und Mobile-Applikation dauerte es

eineinhalb Jahre. Wobei ein derart

komplexes Produkt nie ganz fi nal sein

wird, weil es laufend Weiterentwick-

lungen impliziert.

Mit diesem Zeitraum hatten nicht alle

Beteiligten gerechnet – man dachte

eher, ein Modul nach dem anderen

entwickeln zu können. Und erlebte in

der Praxis, dass vieles parallel ent-

stehen muss und sich die Fragen mit

jedem abgehakten Task potenzieren.

Synchron wurde entwickelt, designt,

getestet. Aber auch verworfen und

neu strukturiert.

In einer ersten Ideenwerkstatt galt es

in offener Runde das Big Picture, das

große Ganze, zu defi nieren: „Die Idee

war klar: Wir möchten Mobilität einfa-

cher machen! Doch was könnte das

überhaupt für ein Produkt sein?, Was

passt zum ÖAMTC?“, schildert Martin

Verdino von asoluto die Ausgangsfrage.

Bis die Idee einer größeren Mobili-

täts-Toolbox geboren wurde; an die

15 Module hatte man sich überlegt.

Jedoch zu viele, um die Struktur be-

dienungsfreundlich, logisch und

selbsterklärend zu halten, wie sich

später in der Umsetzung und in Tests

erweisen sollte. „Wir hatten jede Idee

hineingepackt. Dadurch wurde es in

der Entwicklung schwierig, all die

Tools in ihren Abhängigkeiten zusam-

menzufassen. Wir hatten viele Puzzle-

steine“, schildert Verdino. „Wie inter-

agieren sie? Und welche Quer schnitt-

funktionen braucht es?“ Das Fahrten-

buch ließ sich vielleicht noch als Ein-

heit entwickeln. Was aber, wenn zu-

sätzlich ein Kalender, ein Kostenmodul

oder eine Aufgabenliste entwickelt

werden, die bei my.mobil und bei

co.mobil auch noch ineinander grei-

fen? Dann wird die Entwicklung eine

hochkomplexe Angelegenheit und

man ist dann plötzlich weiter denn je

entfernt vom ursprünglichen Vorsatz:

„Fertig ist man, wenn man nichts mehr

weglassen kann.“

Sehr früh galt es, nachvollziehbare

Artefakte und ansprechende Designs

zu verwirklichen, damit man sich

etwas Konkretes vorstellen könne.

Viel hinge davon ab zu sehen, wie

sich ein Produkt anfühlt, wie man

darin navigiert und scrollt, meint Alic.

Dazu braucht es laufend den Gegen-

check mit dem Nutzeralltag. Auch ein

Mobilitätsprojekt, das so nah an der

Lebenswirklichkeit ist wie dieses:

Wie werden Dinge im täglichen

Leben verwendet? Welche Muster

hat der Nutzer? Wie würde man mit

der App seine eigene Mobilität orga-

nisieren? Man geht vieles immer

wieder im Kopf durch, erzählt das

Team. Und spielt dann schon auch

einmal mit kleinen Matchbox-Autos.

Oder probiert zumindest Car-Sharing

realiter aus. Was auf dem Papier und

auf dem Screen noch recht schlüssig

ist, muss das nicht in der Anwendung

sein.

Zweifel kommen in einer Produktent-

wicklung, die länger dauert, automa-

tisch, fast so, als gehörten sie dazu,

damit etwas glückt. Sie können sich

einschleichen, wenn der zeitliche

Rahmen nicht auszureichen scheint.

„Natürlich fragt man sich, ob man zu

naiv ins Projekt gegangen ist“, resü-

miert das Team und verneint es um-

gehend. Oder, ob man die Komplexität

nicht schon im Vorhinein hätte erken-

nen können. Auch das sei schwierig

– aus der Retrospektive des geglück-

ten Projekts: „Der amerikanische An-

satz wäre, mit einem Skateboard an-

zufangen, dann einen Roller zu

entwickeln, dann ein Fahrrad, ein Mo-

torrad, ein Luxusauto zu realisieren.“

Aber mobito beziehungsweise das

Team ist kein Start-up und der

ÖAMTC keine junge, unorthodoxe

Einheit. „So musste das Fundament,

auf dem sich das Produkt weiterent-

wickeln soll, enorm stabil sein. Das

ist dem ÖAMTC als gewachsener

Struktur geschuldet“, meint Kalleitner.

Auch die Wahl der Arbeitsmittel er-

gibt sich aus der Praxis. Für derart

komplexe Aufgaben brauche es

„Werkzeuge, die Zusammenarbeit

stark unterstützen“, meint Meinhart.

Nur so ist jeder in einer Gruppe von

zwölf Personen, die örtlich meist ge-

trennt arbeiten und verschiedenen

Professionen angehören, auf dem

gleichen Wissensstand.

Bei jeder komplexen Entwicklung

tauchen automatisch auch Fragen

des Datenschutzes und der Security

auf. In diese Sicherheit investierte

das Team besonders viel Einsatz und

zog zudem weitere Experten hinzu.

So kann der ÖAMTC die Sicherheit

der Daten gewährleisten. Und was

noch hinzukommt: Dass die App so-

wohl kosten- als auch werbefrei ist.

Dem User entstehen keine Aufwände

und er kann sich darauf verlassen,

dass seine Daten in Österreich blei-

ben. Auch das gehört zu der Einfach-

heit, die dem ÖAMTC bei der Idee zu

mobito vorschwebte. �

www.mobito.at

EINFACHHEIT IST DAS ERGEBNIS

ENTWICKELN IN GEWACHSENEN STRUKTUREN BEDEUTET BESONDERE HERAUSFORDERUNGEN

DER PROTOTYP ZEIGT OB DIE RICHTUNG DER ENTWICKLUNG STIMMT

NICHT ALLES WAS MACHBAR IST, IST SINNVOLL FÜR DEN NUTZER

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17EINFACH ≠ EINFACH

querspur: Ihr Unternehmen antenna ist

auf User-zentriertes Design spezialisiert.

Ich will es „design for all“ nennen. Design,

das also für die breite Masse funktio-

niert, von jedermann verstanden und an-

genommen wird. Eine Ihrer aktuellsten

Arbeiten ist das LinkNYC, eine Multi-

mediastation mit Highspeed-Internet

und zahlreichen weiteren kostenlosen

Funktionen (siehe Bildtext Seite 18),

die in New York City gerade das alte

Pay Phone (Telefonzelle) ersetzt.

Das ist ein völlig neues öff entliches

Kommunikationskonzept, wo man als

Designer vermutlich nur begrenzt auf

Erfahrungen zurückgreifen kann.

Möslinger: Wir sind schon sehr ge-

spannt, wie es angenommen wird.

Denn das Pay Phone wird ja heute

kaum noch genutzt. Wir sind deshalb

davon ausgegangen, dass die Telefonie

in Zukunft nur eine kleine Rolle spie-

len wird. Ob sich die Menschen beim

LinkNYC verabreden werden und wie

die gänzlich kostenlosen Datenservices

genau genutzt werden, zeigt sich dem-

nächst, sobald die ersten 300 aufge-

stellt sind.

Sie haben das Exterior Design des

LinkNYC gestaltet?

Udagawa: Genau, und dies ist wiede-

rum ein Bereich, wo wir viel Erfah-

rung haben. Wenn es also darum geht,

Dinge so robust wie möglich zu gestal-

ten. Denn dieses Problem stellt sich

bei öff entlichen Einrichtungen grund-

sätzlich immer: Sie müssen vor allem

vandalismussicher sein.

Das Info-Kit zum LinkNYC trägt den

Titel: „Gigabit Wi-Fi. And that’s just the

beginning“. Das ist also kein statisches

Ding wie das alte Pay Phone, es ist

wandel- und erweiterbar …

QUERSPUR SPRACH MIT SIGI MÖSLINGER UND MASAMICHI UDAGAWA VOM NEW YORKER DESIGN-UNTERNEHMEN ANTENNA ÜBER „DESIGN FOR ALL“ – DESIGN, DAS FÜR ALLE UND JEDEN FUNKTIONIERT. EINE DER ZENTRALEN ERKENNTNISSE DES DESIGNER-DUOS: MENSCHEN LESEN NICHT, DINGE MÜSSEN SICH DESHALB SELBST ERKLÄREN. Das Gespräch führte Ruth Reitmeier

„Gutes Design führt die Menschen sicher durch komplexe Prozesse“

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LinkNYC IST KEIN STATISCHES DING

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18

Möslinger: Das LinkNYC ist als

Open Architecture gestaltet, also für

Upgrades off en. Denn es wird erwartet,

dass das LinkNYC auch als eine Art

lokale Datenstation dienen wird.

Messfühler werden laufend Informa-

tionen über die Luft qualität oder das

Wetter sammeln oder etwa wie viele

Menschen am Link vorbeigehen.

Einer Ihrer ersten großen Auft räge war

das Design der Ticketautomaten für die

New Yorker U-Bahn in den ausgehen-

den 1990ern. Seither ist so einiges pas-

siert, allen voran die Digitalisierung.

Udagawa: Als wir Ende der 90er die

Ticketautomaten designten, hatten

nur sehr wenige Menschen Erfahrung

mit dem Touchscreen. Das ist natür-

lich heute ganz anders. Allerdings ha-

ben sie zugleich sehr konkrete Vor-

stellungen davon, wie ein Touchscreen

zu funktionieren hat. Für gelungenes

Schnittstellendesign ist es also enorm

wichtig, zu wissen, was sich in den

Köpfen der Menschen abspielt.

Möslinger: Aber es gibt nicht nur

technologische, sondern vor allem

gesellschaft liche Veränderungen,

die das Design der nächsten U-Bahn-

Generation betrifft . Sie muss rad-

fahrerfreundlicher werden, denn in

New York sind heute deutlich mehr

Menschen mit dem Rad unterwegs

als etwa vor fünfzehn Jahren.

Um die Jahrtausendwende designten Sie

die New Yorker U-Bahnzüge, zwölf Jahre

später dann jene für Washington D.C.

Worin langen die Ähnlichkeiten und wo

die Unterschiede dieser beiden Auft räge?

Udagawa: Es gab naturgemäß Ähn-

lichkeiten, aber auch einige Unter-

schiede. Beim „Railcar“ für die

Washington Metropolitan Area haben

wir das Interieur etwas soft er gestaltet

und es waren Dinge möglich, die in

New York nicht funktioniert hätten.

In Washington konnten wir gepolsterte

Sitze planen, weil es dort nicht üblich

ist, in öff entlichen Verkehrsmitteln

zu essen. Auch Vandalismus ist in

Washington D.C. kein großes Problem,

sodass wir Glasabtrennungen verwen-

den konnten. In New York wäre das zu

riskant gewesen, dort muss alles sicher

vor Zerstörung sein.

In Washington wurde, wie ich höre,

die Öff entlichkeit stärker einbezogen.

Udagawa: Ja, die Verkehrsbetriebe

führten eine Kundenbefragung durch,

die sich etwa auf die Wahl der Farben

im Wageninneren auswirkte. Denn

das Management wollte für

Washington D.C. ein einzigartiges

Design, das keinesfalls an die New

York Subway erinnern sollte.

Möslinger: Wir schlugen ein modernes

Braun vor. Es sollte an die Eleganz

der Innenausstattung von Autos der

Luxusklasse erinnern. Zu unserer

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SELBST BEI U-BAHN-ZÜGEN HÄNGT VIELES VON DEN LOKALEN USERN AB

DIE EINBEZIEHUNG DER NUTZER ERHÖHT DIE ZUFRIEDENHEIT

Der LinkNYC – Viel intelligenter als die

alten Telefonzellen in New York City:

Demnächst werden die ersten

300 LinkNYCs aufgestellt, insgesamt

sind 10.000 für die fünf New Yorker

Bezirke geplant.

Die Nutzung der Multimedistation ist

kostenlos. Das LinkNYC ist ein Public-

Private-Partnership-Projekt des Büros

des Bürgermeisters, dem NYC Department

of Information and Technology und einem

Unternehmens-Konsortium. Es fi nanziert

sich aus Werbeeinnahmen.

LinkNYC auf einen Blick:

• Super-Highspeed Internet rund um

die Uhr

• schnellen Zugang zur Notrufnummer 911

• einen Touchscreen zu städtischen

Services und Einrichtungen

• einen kleineren Touchscreen für lokale

Informationen

• eine Handy-Ladestation

• freie Telefonate in den USA

• digitale Werbung.

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19EINFACH ≠ EINFACH

Überraschung empfanden die Men-

schen aus Washington das jedoch als

Rückschritt. Sie wollten etwas anderes,

etwas Neues.

In diesem Fall war die Einbeziehung

der Passagiere wertvoll, denn diese

Entscheidung konnten im Grunde nur

die Ortsansässigen selbst treff en.

Udagawa: Genau. Und es ist ein gutes

Beispiel dafür, dass selbst wenn man

etwas gestaltet, das für alle funktionie-

ren soll, es dennoch darauf ankommt,

um welchen Teil von „alle“ es sich

handelt.

Wir haben über die Digitalisierung

und die damit einhergehenden Verän-

derungen gesprochen, gibt es denn auch

Bereiche, die sich nicht ändern, wenn

man etwa Service-Maschinen für eine

breite Nutzerschicht entwickelt.

Möslinger: Eine Sache, die wir früh

erkannt haben: Menschen lesen nicht.

Es ist also sinnlos Instruktionen rund

um den Bildschirm anzubringen,

weil die User das ignorieren und

einfach loslegen. Umso wichtiger ist

es deshalb, wie das Display gestaltet

ist und wie die Maschine den Men-

schen leitet.

Die Dinge müssen also direkt mit den

Menschen kommunizieren. Wie gehen

Sie an so eine Aufgabenstellung heran?

Udagawa: Am Beginn eines Projekts

machen wir uns mit dem Kontext

vertraut und stellen Hypothesen auf,

wie das Neue funktioniert und verwen-

det werden wird. Oft produzieren wir

möglichst rasch einen Prototyp und

testen das Design, überprüfen also,

ob unsere Hypothesen korrekt waren

oder ob wir uns in einem Punkt geirrt

haben. Der Designer kann nicht

alles wissen.

Was ist in dieser Phase wichtiger:

die Menschen zu befragen oder sie

bei der Anwendung zu beobachten?

Möslinger: Eindeutig das Beobachten,

denn es gibt einen großen Unterschied

zwischen dem, was Menschen glauben

zu tun und was sie tatsächlich machen.

Wohin geht die Entwicklung, welches

sind die großen Design-Trends?

Möslinger: Es gibt zwei parallel lau-

fende Entwicklungen: einerseits eben

„Design for all“, das für jeden funktio-

niert und jeder versteht, und zugleich

diese andere Strömung zu Produkten

für immer spezifi schere Kundengrup-

pen. Im Service-Design sehen wir die-

sen Trend zum superindividuellen An-

gebot bereits heute ganz stark. Deshalb

haben ja immer mehr Unter nehmen

Kundenkarten und -bindungspro-

gramme. Sie wollen ihre Klientel und

deren Kaufverhalten genau kennenler-

nen, um Produkte und Services anbie-

ten zu können, die möglichst genau auf

sie zugeschnitten sind.

Udagawa: Und die Spitze dieser

Design-Entwicklung ist die Hyper-

Individualisierung, wie etwa exakte

Kopien von Zähnen oder Knochen, die

durch neue Produktionstechnologien

individuell hergestellt werden können.

Sie sprechen vom 3D-Drucker?

Udagawa: Nicht nur, auch die Biotech-

nologie wird in Zukunft eine Schlüs-

selrolle spielen. Stammzellen werden

dazu verwendet werden, quasi „Er-

satzteile“ für den menschlichen Körper

herzustellen; sie werden aus menschen-

eigenem Zellmaterial geschaff en

werden. Diese Entwicklungen gehen

freilich weit über die traditionellen

Bereiche des Produktdesigns hinaus.

Zurück zum „Design für alle“: Gibt es

denn Regeln, damit Design von mög-

lichst vielen Menschen verstanden und

angenommen wird? Wie lädt uns etwa

eine Maschine ein, sie zu benutzen?

Udagawa: Die Menschen müssen den

Nutzen, den Sie aus einem Objekt zie-

hen, sofort verstehen. Denn wir dürfen

nicht vergessen: Etwas Neues auszu-

probieren bedeutet für den Menschen

immer eine Investition – eine psycho-

logische oder auch eine fi nanzielle.

Deshalb muss das Neue den Menschen

überzeugen, dass sich diese Investition

auch lohnt. Und natürlich muss es den

versprochenen Nutzen liefern. Das

Design muss also funktionieren.

Möslinger: Es muss zudem seine

Funktion direkt kommunizieren und

die Menschen anleiten, wie es benutzt

werden soll. Nachdem wir wissen, dass

die Menschen keine Instruktionen le-

sen, müssen die Dinge selbsterklärend

sein. Dies ist zudem die große Heraus-

forderung für den Designer:

komplexe Dinge auseinanderzubre-

chen und in einen logischen Prozess

aufzuteilen, der sich schrittweise voll-

zieht. Denn gelingt dies nicht, wenden

sich die Menschen ab, brechen etwa

eine Transaktion an einem Bestell-

terminal ab. Die Maschine muss den

Menschen souverän durch den kom-

plexen Prozess führen. �

MENSCHEN LESEN KEINE INSTRUKTIONEN

SERVICE-DESIGN WIRD IM BEREICH DER BIOTECHNOLOGIE EINE ROLLE SPIELEN

DAS NEUE AUSZUPROBIEREN MUSS SICH FÜR DEN USER LOHNEN

Das New Yorker Designbüro antenna wurde 1997 von der Österreicherin Sigi Möslinger und dem Japaner Masamichi Udagawa ge-gründet. Die beiden haben seither ein beein-druckendes Portfolio von großen Design-Auf-trägen erarbeitet und zahlreiche Aus zeichnun -gen erhalten. Sie fi nden sich routinemäßig un-ter den einfl ussreichsten New Yorkern gereiht, zumal antenna das Stadtbild der Metropole nachhaltig geprägt hat.

In ihrer Kindheit in Oberösterreich gestaltete Sigi Möslinger zunächst Möbel & Interieurs für ihre Puppen. Später kam eine Faszination für Gerätschaften wie die Espressomaschine in der elterlichen Küche hinzu. Als Teenager gestaltete sie ihr Zimmer als Gegenentwurf zu den allgegenwärtigen Bauernmöbeln. Von dort aus startete Möslinger eine bemerkenswerte Designkarriere, die über Studien in Linz, der Schweiz und Kalifornien nach New York führte.

Der Tokioter Masamichi Udagawa machte sich als kleiner Bub seine Spielsachen selbst, ein wenig später kam eine Leidenschaft für den Modellbau von Flugzeugen und Kriegs-gerät dazu. Die Liebe zum Tüfteln und Gestal-ten führte ihn zum Designstudium in Tokio, da-nach zu Apple ins Silicon Valley; und von dort ging es nach New York.

www.antennadesign.com

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Page 21: EINFACH - querspur.at fileWas ist der Lotus-Eff ekt? Lotus- oder Lotos-Eff ekt wird die geringe Benetzbarkeit einer Oberfl äche bezeichnet, wie sie bei der Lotospfl anze vorkommt.

21EINFACH ≠ EINFACH

Man muss sich 2035 in etwa so

vorstellen wie 2015. Das Tempo

wird genauso hoch sein, wenn nicht

noch höher, sodass man mitunter

das Gefühl hat, zwischen Frühstück

und am Abend ins Bett fallen lägen

bloß drei Stunden. Nicht weniger

Multitasking, sondern zwanzig

Aufgaben parallel. Und doch wird

Marlene, heute Volksschülerin und

dann womöglich eine vielbeschäf-

tigte Biologin, eines gar nicht erleben:

die Diskussion um den Segen und

Fluch der Digitalisierung, die in der

Erwachsenenwelt anno dazumal für

jeden Schrecken herhalten musste:

Werteverfall, Vereinsamung und

Individualisierung, Arbeitslosigkeit,

Abwanderung von Fabriken, was

wurde damals nicht alles vorherge-

sagt. Die allvernetzte Computerwelt

als Krake gesehen, die sich alles

greift. Genauso, wie in den 1990er-

Jahren die Globalisierung als Sün-

denbock für alles und jedes galt.

2035 werden Staunen und Empö-

rung nicht nur verebbt, sondern ver-

gessen sein: Von Digitalisierung und

Industrie 4.0 wird niemand mehr

reden, weil online und offline im

Alltag stark verwoben und somit

Normalität sind: Marlenes Zahnarzt

wird Behandlungstermine über ein

Online-Portal vergeben. Sie selbst

muss ihrem elektronischen Assis-

tenten am Handgelenk nur sagen,

dass ein Termin fällig ist, schon

gleicht dieser Marlenes Kalender

mit dem des Arztes ab und schlägt

selbstständig Termine vor. Würde sie

mehr Wert auf Techno-Chic legen,

könnte sie sich dafür wie manche

ihrer Kollegen auch einen Chip

unter die Haut pflanzen lassen. In

der Telefon-Warteschleife der Arzt-

ordination zu hängen wird jeden-

falls Vergangenheit sein. Die Warte-

zimmer der meisten Ärzte sind nur

noch sehr klein und meistens leer,

weil Patienten generell nicht mehr

warten. Viele Ärzte teilen sich Or-

dinationsräume und Assistenz, weil

vieles von intelligenter Software er-

ledigt wird und Arzt und Patient on-

line in engem Austausch sind. Ge-

sundheitsberufe unterschiedlicher

Art sind auf Professional Social

Networks eng miteinander vernetzt

und tauschen sich über Diagnosen

und Therapien mit ihren Peers aus.

Das erspart den Patienten die Ren-

nerei von Arzt zu Arzt und bringt

mehr Qualität in das Gesundheits-

wesen. Allerdings verlangen diese

modernen Services auch Offenheit

von Medizinern und das Eingeständ-

nis, selbst nicht alles zu wissen.

Ähnlich wie bei der Software, die

aufgrund der Symptome eines Pa-

tienten Vorschläge für eine wahr-

scheinliche Diagnose erstellt und

die standardmäßig in Spitälern

eingesetzt wird, um treffsicherere

Diagnosen zu stellen als in der Zeit

vor der Digitalisierung: Bei Tausen-

den von unterschiedlichen Erkran-

kungen, wie soll ein Arzt jede einzelne

im Kopf haben und auch noch er-

kennen?

Bevor Marlene ihren Arbeitsplatz

verlässt und zum Zahnarzt geht,

erhält sie eine Push-Mitteilung über

eine aktuelle Verspätung des Arztes.

Sie fährt also erst später los, um

Zeit zu sparen. Wäre es nicht ge-

rade der Zahnarzt, der ein Loch im

MARLENE WIRD DIESEN SOMMER ACHT. 2035 WIRD SIE 28 SEIN, WOMÖGLICH EINE SEHR BESCHÄFTIGTE FRAU, DENN BIOLOGIE IST SCHON HEUTE IHR DING. WIRD SIE DANN NOCH NACH BÜROSCHLUSS IN DEN SUPERMARKT HETZEN MÜSSEN, UM EINKÄUFE ZU ERLEDIGEN? IN DER TELEFONISCHEN WARTESCHLEIFE DES FACHARZTES HÄNGEN, UM EINEN TERMIN ZU ERGATTERN? DIE CHANCEN STEHEN GUT, DASS SIE NEUE SERVICES NÜTZT, DIE IHR ALLTAGSLEBEN EINFACHER MACHEN ALS DAS DER HEUTIGEN GENERATION. Von Gertraud Leimüller

DER KUNDE ERHÄLT INSTANT-INFORMATIONEN ZUR BESSEREN PLANUNG

TELEMEDIZIN WIRD NICHTS BESONDERES MEHR SEIN

Vernetzt in alle Richtungen

Page 22: EINFACH - querspur.at fileWas ist der Lotus-Eff ekt? Lotus- oder Lotos-Eff ekt wird die geringe Benetzbarkeit einer Oberfl äche bezeichnet, wie sie bei der Lotospfl anze vorkommt.

22

Zahn füllen müsste, würde sie über-

haupt im Büro oder zu Hause blei-

ben: Puls-, Temperatur- und Blut-

druckmessungen, ein Blick in die

Augen, Ohren und Rachen, all das

geht bereits von daheim aus. Die

Aufnahmen landen auf Knopfdruck

beim Arzt. Intelligente Messgeräte

von der Größe einer elektrischen

Zahnbürste, welche den Patienten

und ihren Familien einen Do-it-your-

self-Erstcheck von Vitalparametern

ermöglichen, sind fast in jedem

Haushalten vorhanden. Persönliche

telemedizinische Beratungen via In-

ternet werden von jeder öffentlichen

Krankenversicherung bezahlt. Sie er-

sparen den Patienten, sich in krankem

Zustand in eine Praxis oder Ambu-

lanz zu schleppen und dem System

damit manch unnötigen Behand-

lungsfall. Denn die Messungen zu

Hause ermöglichen dem Online-

(Haus-)Arzt, bei schwereren Erkran-

kungen schneller zu reagieren und

Patienten gleich an die richtige Stelle

weiter zu routen. Gerade auf dem

Land, wo der nächste Arzt oder das

nächste Spital mitunter mehr als eine

Stunde Fahrzeit entfernt sind, sind

Online-Ordinationen stark frequen-

tiert und helfen insbesondere älteren

Menschen, möglichst lange in den

eigenen vier Wänden zu bleiben.

Marlenes Großeltern, beide um die

80, nutzen Telemedizin-Services

intensiv, weil ihnen Termine in der

Stadt schon zu beschwerlich sind.

Beide lieben das Leben am Land.

Dennoch haben sie den Garten rund

um das Haus herum längst in ein

Community Farming Projekt einge-

bracht. Das hat den Vorteil, dass sie

sich im Alter nicht mehr selbst dar-

um kümmern müssen und trotzdem

Äpfel, Zwetschken, Salat und Kar-

toffeln frisch geerntet direkt vor der

Haustür landen. Die Community aus

privaten Familien, Bauern und klei-

nen Lebensmittelerzeugern wie Kä-

semachern, Fleischern und Bäckern

versorgt sich selber rund ums Jahr

mit regionalen Lebensmitteln. Was

angebaut und produziert wird, ent-

scheiden die Mitglieder gemeinsam,

wie viel sie selbst mitarbeiten, können

sie ebenfalls selbst bestimmen. Ent-

sprechend dem gewählten Paket

bekommen die Mitglieder selbst

einen Teil der Ernte, der Rest wird

an Nicht-Mitglieder in der Region

verkauft. Ein ausgeklügeltes und

schnelles Crowdlogistik-System

zeigt den Beteiligten online an, was

gerade vom Feld oder Baum geholt

wurde und weitertransportiert wer-

den sollte. Wer gerade in der Nähe

ist, nimmt die Lieferung die nächste

Etappe mit, bis sie schließlich nach

mehreren Stationen am Ende direkt

vor der Haustür von Mitgliedern und

Kunden landet.

Ähnliches gibt es auch in der Stadt,

in der Marlene wohnt. 100-prozentige

Selbstversorgung, ohne auf globa-

le Wertschöpfungsketten und da-

mit unkontrollierbare Produktions-

umstände angewiesen zu sein, ist

für viele Konsumenten erstrebens-

wert: Eine Mitgliedschaft in einem

Vertical-Farming-Projekt ist mitunter

Arbeit, weil man mitarbeiten muss,

um sich die Lebensmittel leisten zu

können, doch sie bringt auch Auto-

nomie und ermöglicht lokale Ener-

gie- und Stoffkreisläufe. Da in der

Stadt die freien Flächen in der Hori-

zontale fehlen, findet Landwirtschaft

in der Vertikalen statt, konkret in

den vielen Stockwerken der Verti-

cal-Farming-Gewächshäuser, die

in vielen Städten betrieben werden.

Paprika, Tomaten, Bohnen, ja sogar

Fisch aus Aquakulturen kann

man dort anbauen, kaufen oder

wöchentlich abonnieren. Städter

können sich auf diese Weise mit

Lebensmitteln aus nächster Nach-

barschaft versorgen. Das ist kein

Massenbedürfnis, doch eine wach-

sende Nische, die aus der Urban-

Farming- und Do-it-yourself-Bewe-

gung entstanden ist: Die Konsumen-

ten wollten neue Lösungen und ha-

ben daher die ersten Projekte selbst

initiiert. Später haben Unternehmen

weitere Vertical-Farming-Häuser er-

öffnet, jedoch in der Konzept- und

Planungsphase bereits potenzielle

spätere User eingebunden. Was

wie in welcher Qualität produziert

und verkauft wird, wurde schon in

gemeinsamen Workshops vor Bau-

beginn festgelegt.

Ein generell weit verbreiteter Service

ist die Hauszustellung von Waren

aller Art. Ähnlich wie die Arztpraxen

sind deshalb auch die Supermärkte

kleiner geworden. Viele Menschen

lassen sich Milch, Mineralwasser,

Brot, Käse, Wasch- und Toiletten-

artikel nur noch direkt nach Hause

liefern. In Supermärkte geht man nur

noch zum Stöbern und Ausprobieren

von Neuem. Längst haben Fahrrad-

boten und Mini-Elektromobile den

wachsenden Markt der „sauberen“

Hauszustellung für sich erobert.

Zudem gibt es Online-Plattformen,

an denen wiederum sehr viele klei-

ne Spezialhersteller hängen, mit

komplexen Filtermöglichkeiten, die

es den Usern ganz einfach machen,

Lebensmittel einzukaufen, die

gleichzeitig vegan, glutenfrei und

aus der Region im Umfeld von

100 Kilometern stammen. Wer Un-

verträglichkeiten oder Allergien hat,

bekommt auf Wunsch auch Online-

Fachberatung in Sachen Einkauf

und Essen.

Die Reduktion von überbordenden

Auswahlmöglichen ist 2035 ge-

nerell ein großes Konsumentenan-

liegen: Viele sind des ständigen

Vergleichens von Produkten über-

drüssig geworden und lassen sich

daher, entsprechend ihren Vorlieben

GRÜNE SKYLINE: GEWÄCHSHÄUSER STRECKEN SICH IN DER STADT ÜBER STOCKWERKE

DER SUPERMARKT WIRD ALS PROBIERZONE DIENEN

WENIGER AUSWAHL, DAFÜR GEZIELTE VORAUSWAHL AN PRODUKTEN

SELBSTVERSORGUNG DURCH DIE COMMUNITY

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23EINFACH ≠ EINFACH

und gewünschtem Preisniveau, nur

noch eine kleine Auswahl vorschla-

gen. Wer will, kann sogar Rezepte

samt dazugehörigen, exakt abgewo-

genen Zutaten direkt nach Hause

liefern lassen. Das lästige „Was ko-

che ich heute?“ samt Raserei in den

Supermarkt zwischen Büroschluss

und Abendessen ist damit hinfällig.

Wer es noch bequemer mag, kann

auch vorher individuell ausgewählte

Abos aus fix fertig gekochten Mahl-

zeiten in hoher Qualität abonnieren.

Das ist der Gegenpol zur Selbstver-

sorger-Mentalität der regionalen

Food Communities, aber nicht not-

wendigerweise ein Widerspruch:

Viele Familien, sofern sie es sich

leisten können, haben beides. Geld

ist überhaupt ein gutes Stichwort:

Dieses wird kaum noch sichtbar sein,

weil das Bargeld weitgehend ver-

schwunden sein und durch digitales

Bezahlen ersetzt worden sein wird.

Marlene selbst muss jeden Euro

zweimal umdrehen. Der Lebensstil,

der mit dem Leben in interessanten

Städten verbunden ist, also Wohnen,

Energie, Essen und Mobilität, kostet

sehr viel Geld. Nach vier Jahren in

einem Pharmaunternehmen bildet

sich die Biologin zur Expertin für

biogene Rohstoffe weiter. Das kos-

tet Geld, sowie auch die Entschei-

dung, diesen Schritt überhaupt zu

tun: Berufswechsel sind so häufig

geworden, dass professionelle Um-

stiegscoaches gute Umsätze machen.

Auch Marlene hatte einen, der ihre

Kenntnisse und Interessen mit dem

Bedarf der Wirtschaft verglich und

dann letztlich auf die Idee mit bio-

genen Rohstoffen kam. Denn diese

werden intensiv nachgefragt, seit

die rasche Abbaubarkeit von Kunst-

stoffen auf Druck der Bevölkerung

zur gesetzlichen Pflicht erhoben

wurde und viele der alten Kunst-

stoffe ersetzt werden müssen.

Um sich die Ausbildung finanzieren

zu können, muss Marlene sparen.

Ihr elektronischer Finanz-Manager

wacht darüber, dass sie die selbst

gesetzten Ausgabelimits einhält

und belohnt sie spielerisch, wenn

ihr das gelingt. Voraussichtlich wird

sich diesen Sommer nur ein Billig-

urlaub ausgehen – in einem Hotel,

in dem an der Rezeption und auf der

Etage menschenähnliche Roboter

arbeiten, stets freundlich und zuvor-

kommend, doch ohne Sinn für Humor.

Einerlei, sie kommt mit Freunden

aus Fleisch und Blut. Mit ihnen

gibt es immer etwas zu lachen.

Ganz einfach in Echtzeit.�

BARGELDLOS MIT CHIP ODER KARTE

DAS LEBEN IN ATTRAKTIVEN STÄDTEN KOSTET VIEL GELD

ELEKTRONISCHER FINANZMANAGER BELOHNT ERFOLG

Ein heute acht-jähriges Mädchen wird in 20 Jahren von High- und Lowtech-Services profi tieren. Etwa wird es keine unnötigen

Wartezeiten mehr beim Arzt geben. Lebensmittel werden durch neue Logistik-Systeme vom eigenen Feld direkt nach Hause geliefert.

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Page 24: EINFACH - querspur.at fileWas ist der Lotus-Eff ekt? Lotus- oder Lotos-Eff ekt wird die geringe Benetzbarkeit einer Oberfl äche bezeichnet, wie sie bei der Lotospfl anze vorkommt.

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Wenn Fabian Holzer die Piazza Navona

in Rom überquert, hat er für die

Schönheit von Berninis Vierströme-

brunnen keine Augen. Auch die Fon-

tana del Moro oder der Neptunbrun-

nen sind ihm schnuppe. Sein Ziel

ist der berühmteste Pizza-al-Taglio-

Bäcker der ewigen Stadt. Dort be-

kommt er hauchdünne Pizzaschnitten

mit verschiedenen Belägen. Ge-

schätzte 5 300 derartige Pizza-Läden

gibt es in Rom, der 36-Jährige glaubt

ausgerechnet hier, auf der Piazza

Navona, den König der Bäcker aus-

fi ndig gemacht zu haben. Zeit, das

nahe gelegene Pantheon zu besich-

tigen, bleibt auch nicht, da ums Eck

noch schnell der angeblich köstlichste

Espresso Italiens konsumiert werden

muss.

Mindestens 15 kulinarische Hot-Spots

stehen in Rom auf seiner persönlichen

Entdeckerliste, die er in zweieinhalb

genussvollen Tagen abarbeiten will.

Sehenswürdigkeiten, für die andere

Touristen extra anreisen, spielen für den

Fernsehmacher und seine Freundin

Erika Kósa eine untergeordnete Rolle.

Abweichungen von touristischen

Trampelpfaden sind beim ihm Pro-

gramm, fast sogar ein Manifest:

„Ich möchte ganz bewusst gegen

NEO-INDIVIDUALREISENDE HABEN IHRE EIGENEN VORSTELLUNGEN VOM URLAUBSGLÜCK. SIE WOLLEN BEI SICH SELBST ANKOMMEN UND ALS AVANTGARDISTEN WAHRGENOMMEN WERDEN. DAFÜR NEHMEN SIE EINE UMFANGREICHE REISEPLANUNG IN KAUF. IM GEGENSATZ ZUM BACKPACKER DES VORIGEN JAHRHUNDERTS BRAUCHEN SIE KEINEN REISEFÜHRER.DAS SMARTPHONE GENÜGT. Von Catherine Gottwald

Ich bin, was ich erlebe

SIGHTSEEING MACHEN WIR DANN, WENN WIR ALT SIND! Erika Kósa 27, Foodistin

Page 25: EINFACH - querspur.at fileWas ist der Lotus-Eff ekt? Lotus- oder Lotos-Eff ekt wird die geringe Benetzbarkeit einer Oberfl äche bezeichnet, wie sie bei der Lotospfl anze vorkommt.

25EINFACH ≠ EINFACH

den Strom schwimmen und das, was

in Reiseführern oder auf dem Online-

Bewertungsportal TripAdvisor steht,

ignorieren. Land und Leute möchte

ich eben auf meine Weise entdeckten.

Darin liegt ja der Reiz“, erklärt Holzer.

„Klassisches Sightseeing können wir

auch machen, wenn wir alt sind!“ er-

gänzt Kósa. Beide sind leidenschaftli-

che Foodisten, Schatzsucher in

Sachen Geschmack, und haben sich

auf ihren Reisen im In- und Ausland

ganz und gar der Erkundung von

regionalen Spezialitäten verschrieben.

Holzer und die gebürtige Ungarin Kósa

sprechen zusammen fünf Sprachen.

Reichen diese bei den Reisevorberei-

tungen nicht aus, um beispielsweise

Speisekarten auf Niederländisch zu

durchforsten, dann wird die Online-

Übersetzung Google Translate heran-

gezogen. Mehrsprachige Recherche

auf Insider-Foren, Flug-, Hotel- und

Restaurantreservierungen, Vorabge-

spräche mit Herstellern, permanente

Preisvergleiche und Abchecken von

Museums- und Ladenöffnungszeiten.

Der administrative Aufwand der durch

und durch individuellen Reise scheint

enorm und ganz schön anspruchsvoll.

Aber genau das ist es, was den Reiz

ausmacht. In der wochenlangen

Vorbereitungsphase stellen sich

Glücksgefühle ein: „Es ist wie beim

Aussuchen und Verpacken von Weih-

nachtsgeschenken – ein großer Teil

der Freude ist die Vorbereitung von

dem, was du machen willst“, begrün-

det Holzer seine Bereitschaft, sich

intensiv mit der Materie auseinander

zu setzen. Die ganze Kommunikation

läuft digital ab. „Offl ine wäre diese

Art zu reisen überhaupt nicht möglich.“

Die digitale Infrastruktur, die weltweit

vor allem in den letzten Jahren enorm

ausgebaut wurde, wird sowohl in der

Vorbereitung, während des Aufent-

halts als auch bei der Nachbereitung

in sozialen Netzwerken und Blogs

genützt. Ein Reiseführer in Form

eines Buches wird so obsolet. Und

ganz nebenbei: Wer seine Reise

von A bis Z selbst organisiert und

die Preise im Blick hat, kann mitunter

schon zwischen 30 und 50 Prozent

der Reisekosten einsparen, sagen

erfahrene Praktiker.

Der Markt für individuelle (online)

Reisegestaltung steigt. Laut Reise-

analyse 2015 der FUR (Forschungs-

gemeinschaft für Urlaub und Reisen)

beträgt der Anteil der Urlaubsreisen,

die in Deutschland als Pauschal-

oder Bausteinreisen mithilfe von

Reisever anstaltern organisiert werden,

40 Prozent. 2009 waren es noch

50 Prozent (Quelle: Zahlen und Fak-

ten zum deutschen Reisemarkt 2009).

„De-Touristifi cation“ heißt das Phäno-

men, das gleichzeitig die Neo-Indivi-

dualtouristen defi niert: Eine neue Ge-

neration von Individualtouristen nimmt,

losgelöst von der bisherigen Vorstel-

lung und Defi nition eines Touristen,

das Organisieren von Reiseelementen

selbst in die Hand. Es ist ein Phä-

nomen, bei dem der Reisende nicht

mehr als einer von vielen anonymen

Touristen wahrgenommen werden

möchte, sondern als Individuum.

Er ignoriert bewusst den Lockruf der

Reiseveranstalter und Zielgebiets-

agenturen mit ihren bequemen Ur-

laubspaketen. Mobilität und Unterkunft

werden komplett selbst organisiert.

Bewiesen wird der Erfolg der Do-it-

yourself-Reise übrigens nicht beim

klassischen Dia-Abend, sondern in

sozialen Netzwerken und Blogs, wo

man sich vor viel größerem Publikum

inszenieren kann. Virtuelle Reise-

begleiter wie auch reale Nachahmer

sind herzlich willkommen. Aber: Im

Gegen satz zum Backpacker bereisen

Neo-Individualtouristen keine vorge-

gebenen Routen – auch nicht die aus

Szene-Reiseführern wie Lonely Planet.

„De-Touristifi cation beschreibt die

Avantgarde“, erklärt die Tourismus-

expertin und Strategieberaterin

Susanne Eckes, Autorin des vom

Zukunftsinstituts herausgegebenen

Tourismusreport 2015: „Die neo-

individualtouristischen Millenials,

Generation-Y-Mitglieder und Digital

Natives sind gerade dabei, das Tou-

rismusgeschäft selbst zu überneh-

men. Sie organisieren, empfehlen,

bewerten und teilen untereinander

alles über Sharing- und Bewertungs-

plattformen und ortsansässige Buddy

Apps. Das ist eine Technik, die im

Augenblick nur eine kleine Gruppe

beherrscht und nicht jedermanns

Geschmack ist.“

In der Folge verlagern sich Touris-

musgüter und -dienstleistungen ins

Private und stellen die Branche vor

neue Herausforderungen. Etwa dass

der Neo-Individualtourist kein Stamm-

kunde ist. Zweimal dieselbe Route zu

nehmen passt nicht in sein Konzept.

„Zahlenmäßig handle es sich bei der

neuen Form der Individualtouristen

heute noch um eine kleine Gruppe.

Maximal zehn Prozent schwimmen

tatsächlich gegen den Strom und

erkunden die Welt auf eigene Faust“,

so Susanne Eckes. Ob und wie Neo-

Individualtouristen den Tourismus der

Zukunft prägen werden, lasse sich

laut Susanne Eckers erst in zehn oder

20 Jahren abschätzen. Eine lange

Zeit. Fabian Holzer und Erika Kósa

werden dann schon wieder ganz

andere Wege gehen. �

REISETIPPS KOMMEN AUS DER COMMUNITY

EIN DIA-ABEND IST FÜR DIESE GRUPPE AUSGESCHLOSSEN

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DIE NEUEN INDIVIDUAL-TOURISTEN ALS GAME CHANGER?

DIE KOMPLETTE REISE IM DO-IT-YOURSELF-MODUS

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Page 26: EINFACH - querspur.at fileWas ist der Lotus-Eff ekt? Lotus- oder Lotos-Eff ekt wird die geringe Benetzbarkeit einer Oberfl äche bezeichnet, wie sie bei der Lotospfl anze vorkommt.

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////// FAHRRADPARKEN IM UNTERGRUND ////////////// Platz ist kostbar – vor allem in Japans Großstädten. In Tokyo wird nun mit dem

ECO Cylce, ein vom Ingenieursbüro Giken Seisakusho entwickeltes platzsparen-

des Fahrrad-Parksystem, errichtet, welches Fahrräder diebstahls- und erdbeben-

sicher im Untergrund verwahrt. Der Fahrradfahrer schiebt dazu sein Fahrrad auf

eine Art Förderband, an dessen Ende sich Lifttüren befi nden, die sich durch ei-

nen im Fahrrad eingebauten Chip öffnen. Nach Betätigen des Startknopfes zum

vollautomatischen Verladen des Fahrrades ist der Parkvorgang für den Nutzer er-

ledigt. Dann übernimmt ein komplexes Logistiksystem im Untergrund die Park-

platzsuche und Verstauung. Beim Abholen legt der User seine persönliche Chip-

karte an das Kartenlesegerät und schon wird das Fahrrad vollautomatisch gebracht.

giken.com/en/developments/eco_cycle

////// BLIND ANS ZIEL ///////////////////////////////////////Um die Orientierung in Gebäudekomplexen wie Universitäten, Einkaufszentren oder

Museen für sehbehinderte Menschen zu vereinfachen, entwickelte das Team von

Touch Graphics gemeinsam mit der Universität von Buffalo (New York, USA) multi-

sensorische 3D-Karten. Durch die Berührungen von Gebäuden, Wegen oder an-

deren Punkten auf der Karte wird ein Audio-Feedback ausgelöst, welches zum Bei-

spiel Gebäude- und Personalnamen oder Himmelsrichtungen nennt. Auch komplette

Wegbeschreibungen können abgerufen werden. Die 3D-Karte bietet aber auch Men-

schen mit intaktem Sehvermögen Orientierungshilfe. Etwa können Lichtprojektionen

aktiviert werden, durch die ein komplexeres Areal für den (sehenden) User verständli-

cher wird. touchgraphics.com

////// KÜHLSCHRANK OHNE STROM ///////////////////// In den ländlichen Gegenden Nigerias können wegen der schlechten Infrastruktur

keine elektrischen Kühlgeräte verwendet werden. Lebensmittel verderben, was so-

wohl Krankheiten nach sich zieht als auch den Verlust von Einkommensquellen, da

Lebensmittel recht rasch unverkäufl ich werden. Um die Situation zu ändern, nutzt

der nigerianische Lehrer Mohammed Bah Abba traditionelle afrikanische Tontöpfe

für ein einfaches, kostengünstiges, und gleichsam höchst effektives Kühlsystem:

Zwei unterschiedlich große Tontöpfe werden ineinander gestellt, der Zwischenraum

mit Sand befüllt und dieser mit Wasser übergossen. Ein Deckel sorgt dafür, dass die

kühle Luft, die im inneren Topf entsteht, nicht entweichen kann. Die Haltbarkeit von

z. B. Melanzani kann so von zwei auf bis zu 27 Tage erhöht werden. Die Idee der „Pot-

in-Pots“ ist mittlerweile weltweit in Entwicklungsländern in Verwendung.

rolexawards.com/profi les/laureates/mohammed_bah_abba

START-UPSIN

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SPANNENDE IDEEN ZUM THEMA EINFACHHEIT UND KOMPLEXITÄT. Von Katrin Stehrer

Page 27: EINFACH - querspur.at fileWas ist der Lotus-Eff ekt? Lotus- oder Lotos-Eff ekt wird die geringe Benetzbarkeit einer Oberfl äche bezeichnet, wie sie bei der Lotospfl anze vorkommt.

27EINFACH ≠ EINFACH

////// VOLLAUTARKER WOHNRAUM //////////////////////Wie viel Platz braucht man eigentlich zum Leben? 25m2 – wenn es nach Theresa Stei-

ninger und Christian Frantal geht, den beiden Gründern des österreichischen Start-

ups WW Wohnwagon GmbH. Das Naturholz-Gefährt ermöglicht ein nahezu voll-

autarkes Leben und bietet Raum zum Wohnen und Arbeiten mit Photovoltaikanlage,

Regenwasser- und Brauchwasserfi lterung mittels Sumpfpfl anzen, Solar-Holz-Was-

serboiler sowie Biotoilette (ermöglicht die Herstellung von Dünger). Die Einsatzmög-

lichkeiten der individuell zugeschnittenen Wohnwagons sind vielfältig: Vom Zweit-

wohnsitz bis zum Schauraum, vom fahrenden Restaurant bis zum Hotelzimmer. Die

Idee fi ndet Anklang: Über 170 Interessenten haben sich schon gemeldet. Die Kos-

ten pro Wohnwagon liegen bei 40 000 bis 80 000 Euro. Mit der Produktion wurde

bereits begonnen. wohnwagon.at

////// PAKETLIEFERUNG ZU JEDER ZEIT //////////////////Wer kennt das nicht? Die heiß ersehnte Online-Bestellung wird garantiert dann ge-

liefert, wenn man gerade außer Haus ist. Dazu hat sich das belgische Lieferservice

Cardrops etwas ausgedacht: Es liefert das Paket direkt in den Kofferraum des eige-

nen Autos. Durch Verwendung eines GPS-Senders spielt es keine Rolle, ob sich das

Auto zuhause oder am Firmenparkplatz befi ndet. (Um zu vermeiden, dass der Lieferant

dem Auto hinterherfahren muss, wird – sofern nicht vom User deaktiviert – das Auto

über eine längere Dauer getrackt, um zu ermitteln, wo sich das Auto üblicherweise

längerfristig aufhält.) Zu einem Preis von 99 Euro wird eine kleine Signalstation in

das Auto eingebaut, mit deren Hilfe es geortet sowie der Kofferraum über Funk ge-

öffnet wird. Pro Lieferung werden 4,99 Euro verrechnet. Der Lieferstatus wird per

SMS geschickt. www.cardrops.com

Eine andere Idee ist der Paketbutler, eine Innovation der deutschen Telekom. Die Be-

stellung wird direkt an der Haustür abgeladen, auch wenn man bei der Anlieferung

nicht zu Hause ist. Der Paketbutler ist eine faltbare Schachtel, die mittels Gurt zwi-

schen Türrahmen und Haustüre befestigt ist und die gelieferte Ware diebstahlsicher

aufbewahrt. Derzeit werden die ersten Paketbutler mit ausgewählten Berliner Zalan-

do-Kunden getestet. paketbutler.com

////// TANZEN BEI ROT //////////////////////////////////////Rote Ampeln werden von Fußgängern immer wieder ignoriert und die Straße trotz

Gehverbot überquert. Der Autohersteller Smart erkannte nun, wie man Fußgänger

dazu bringen kann, diese Verkehrsregel einzuhalten – und zwar mit Unterhaltung.

Passanten an einer viel befahrenen Kreuzung in Lissabon können in einer Kabine ihre

Lieblingsmusik auswählen und einfach lostanzen. Die Bewegungen werden überdi-

mensional auf der Außenseite der Kabine als tanzendes, rotes Ampelmännchen dar-

gestellt und bei Rotlicht auch gleichzeitig auf die echte Fußgängerampel dieser Kreu-

zung übertragen. Laut Smart konnte die Anzahl der auf grün wartenden Fußgänger

während des Projekts um insgesamt um 81 Prozent gesteigert werden.

int.smart.com/en/en/index/smart-campaigns/whatareyoufor/for-a-safer-city.html

////// HOTEL ALS SPRUNGBRETT /////////////////////////Das im Februar 2015 am Wiener Prater eröffnete magdas Hotel, ein Social Business

der Caritas Wien, gibt Menschen mit Fluchthintergrund Arbeit und damit eine Chance

auf Normalität. Das Besondere ist, dass auch Flüchtlingen, die noch keinen positi-

ven Asylbescheid haben, eine Perspektive geboten werden kann. Weil Ausbildung

auch ohne Asylzuerkennung erlaubt ist, können insgesamt fünf junge Asylwerber im

magdas Lehrberufe wie Koch und Kellner erlernen. Neben Profi s aus der Hotellerie

und freiwilligen Helfern sollen insgesamt bis zu 30 junge Menschen mit Fluchthinter-

grund beschäftigt werden. Derzeit wird auf crowdfunding.at noch nach weiteren

Crowdinvestoren für das Social Business gesucht. magdas-hotel.at

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Page 29: EINFACH - querspur.at fileWas ist der Lotus-Eff ekt? Lotus- oder Lotos-Eff ekt wird die geringe Benetzbarkeit einer Oberfl äche bezeichnet, wie sie bei der Lotospfl anze vorkommt.

29EINFACH ≠ EINFACH

Wir müssen das Rad nicht neu erfi n-

den“, rät ein Sprichwort für jene Fälle,

in denen es bereits eine Lösung gibt.

Das Rad gilt als genuin menschliche

Erfi ndung. Seine Benutzung setzt

ebene, befestigte Wege voraus, wie

sie in der Natur kaum vorkommen. Es

repräsentiert auch die erste und viel-

leicht wichtigste Beobachtung, warum

Ideen nach dem Vorbild der Natur noch

nicht fl ächendeckend im Einsatz sind:

Einmal etablierte Lösungen werden

nur in Ausnahmefällen ernsthaft hin-

terfragt, verdrängt oder radikal erneu-

ert. Viel eher wird Bestehendes opti-

miert, an der Form gefeilt oder das

Material verbessert (erstes Prinzip).

Für Werner Nachtigall, einen der

deutschen Pioniere in dem Bereich,

ist Bionik ein Werkzeug, keine Heils-

lehre. Sie sollte geduldig und ohne

übersteigerte Erwartung gehandhabt

werden. Für ein Forschungsfahrzeug –

das so genannte Bionic Car – suchte

Mercedes Benz 2005 gezielt nach

Vorbildern in der Natur für Leichtbau

und Aerodynamik. Nachtigall empfahl

dem Autobauer für das Bionic Car

den Eselspinguin. Einen Vogel, der zu

den besten Schwimmern mit einem

sehr niedrigen Widerstandsbeiwert

gehört (Cw-Wert 0,07 vgl. Ferrari

Cw-Wert 0,3). Die Entwicklungsab-

teilung entschied sich jedoch für den

Kofferfi sch. Der langsam manövrie-

rende Riffbewohner in Kastenform ist

aerodynamisch ideal gebaut und zeigt

ebenfalls gute Strömungswerte

(Cw-Wert 0,19). Für die Karosserie

des experimentellen Kompaktwagens

wurden Anregungen aus der material-

sparenden Bauweise des Fisches

umgesetzt. Auf der Straße begegnet

einem das Bionic Car dennoch nicht,

da an dem Konzeptfahrzeug Systeme

DIE NATUR HAT EINEN VORSPRUNG VON 3,4 MILLIARDEN JAHREN

FEDERN ERFÜLLEN VIELE AUFGABEN. IHR BAUMATERIAL ABER IST EINFACH KONSTRUIERT

VOGEL ALS VORBILD FÜR EIN AUTO

OPTIMALE SYSTEME ENTWICKELN IHRE EINZELTEILE NICHT ISOLIERT

nur erprobt werden. Aktuell wird der

autonom fahrende F015 präsentiert.

Das Auto wurde vor rund 130 Jahren

erfunden. Die belebte Natur hat in

Sachen Fortbewegung also einen rie-

sigen Vorsprung. 3,4 Milliarden Jahre

Leben auf der Erde bedeuten ebenso

viel Zeit, um ungeeignete Entwürfe

einzustampfen. Was wir heute an Ar-

tenvielfalt sehen, ist das jeweils best-

geeignete Ergebnis von knallharten

Bewährungsproben. Im Unterschied

zum Menschen plant die Natur nicht.

Sie würfelt und prüft. Ihr Werkzeug

heißt Evolution (zweites Prinzip). Diese arbeitet mit langen Zeiträumen

und zufälligen Mutationen in Material,

Form und Bauplan. Antonia Kesel,

Leiterin des Studiengangs Bionik

an der Hochschule Bremen, nennt es

„Leben am Limit“. Für eine geniale

Konstruktion, die wir zum Vorbild

nehmen könnten, wurden etliche Ver-

suche aussortiert. Hier zeigt sich die

belebte Natur verschwenderisch und

gnadenlos. Von tausend und mehr

Nachkommen überleben nur wenige

und geben das Erbgut an die nächste

Generation weiter. Das gilt für Pfl an-

zensamen ebenso wie für menschliche

Spermien. Gleichzeitig wird auf diese

Weise bewahrt, was sich bewährt.

Der schrittweise Evolutionsprozess

kann am Computer simuliert werden.

Das passiert aktuell nur bei sehr spe-

zifi schen Aufgabenstellungen, soge-

nannten kombinatorischen Optimie-

rungsaufgaben.

Synonym für eine kombinatorische

Optimierungsaufgabe könnte auch ein

Synonym für „Überleben in freier Wild-

bahn“ sein. Am Beispiel eines Vogels

zeigt sich, warum es nicht einfach ist,

die Natur zu kopieren. Er fl iegt nicht nur.

Er muss sich auch selbst ernähren, mit

der zugeführten Energie haushalten,

bei jedem Wetter draußen sein, ein

Nest bauen, einen Partner fi nden und

Junge großziehen. Im Lauf der Evolu-

tion wurde jeweils das Gesamtsystem

immer besser an die Lebensaufgaben

eines Vogels angepasst (drittes Prin-zip). Die Einzelteile wie Schnabel, Fuß

oder Flügel wurden nicht isoliert opti-

miert, wie es bei der gezielten Planung

eines Vogels wohl der Fall wäre.

Für Antonia Kesel macht Beobach-tung Nummer vier die belebte

Natur zur Inspirationsquelle und

Herausforderung: „Lebewesen zei-

gen, dass es möglich ist, multifunktio-

nale Anforderungen zu vereinen.“ Ein

Beispiel dafür sind Federn. Dieses

variable Bauteil hilft seit 140 Millionen

Jahren beim Fliegen. Federn halten

aber gleichzeitig warm, sparen Ener-

gie und sind ein optisches Signal.

So bunt die Vielfalt der belebten

Natur, so auffallend ist ihre Selbstbe-

schränkung bei den Werkstoffen.

Federn erfüllen vielfältige Aufgaben

und bestehen aus einem einzigen

Material namens Keratin. Dieses wird,

wie alle anderen Stoffe, die Leben

ausmachen, aus einem Set von nur

zwanzig Aminosäuren gebaut. So

vielfältig der Mensch Stahl, Aluminium

oder Beton auch einsetzt, all diese

Werkstoffe bestehen im Vergleich

dazu aus endlichen Ressourcen und

werden mit hohem Energieeinsatz

hergestellt.

SCHON DIE BERÜHMTEN SKIZZEN DES RENAISSANCEGENIES LEONARDO DA VINCI ZUM VOGELFLUG ZEIGEN, DASS GENAUE BEOBACHTUNG AM BEGINN JEDER INSPIRATION AUS DER NATUR FÜR DIE TECHNIK STEHT. QUERSPUR STELLT SIEBEN BEOBACHTUNGEN AN, WARUM DIE BELEBTE NATUR BIS HEUTE DENNOCH NICHT EINFACH ZU KOPIEREN IST. Von Astrid Kuffner

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IM BIONIC LEARNING CENTER WIRD VON DER NATUR ABGESCHRIEBEN

NACHHALTIGES WIRTSCHAFTEN IST FÜR DIE NATUR KEIN PROBLEM

UM DIE ECKE ZU DENKEN BRINGT NICHT IMMER DEN GEWÜNSCHTEN ERFOLG

Hätten Sie es gewusst? Von der Natur inspiriert: Stahlbeton (Stützgewebe der Blätter eines Kakteengewächses), Klettverschluss (Klettfrüchte),

Stacheldraht (Dornstrauch Osage), Winglets (Spitzen von Vogelfl ügeln), Festo Bionic Tripod mit Fin-Grippe (Schwanzfl osse von Fischen).

Mit dieser Vorgehensweise ist auch

das fünfte Prinzip der belebten

Natur nicht vereinbar. „So viel wie nötig,

so wenig wie möglich“ heißt die Devise,

wenn es um den Verbrauch von Energie

und Ressourcen geht. Die Energie der

Sonne treibt Organismen an. Licht und

Wärme sind zudem wichtige Taktgeber

und Muntermacher. Organismen, die

Sonnenlicht in Biomasse verwandeln,

stehen im Zentrum komplexer Nah-

rungsnetze, in denen Bakterien, Pilze,

Tier- und Pfl anzenarten verwoben und

voneinander abhängig sind.

Zudem sind biologische Strukturen

nur begrenzt haltbar und werden nach

ihrem Ableben recycelt. Menschge-

macht bedeutet dagegen oft: Immer

mehr Verbrauch und für die Ewigkeit

gebaut. Bei der (Rück-)Besinnung auf

eine Kreislaufwirtschaft stehen wir noch

am Anfang. Konstrukteure von Robo-

tern kennen das sechste Prinzip

gut. Nicht nur die Fortbewegung for-

dert viel Hirnschmalz, sondern auch

die Steuerung der Fortbewegung.

Regenwurm, Spinne, Qualle, Pinguin,

Gepard, Möwe oder Känguru kommen

ganz unterschiedlich voran, haben

aber eine gemeinsame Erfolgsformel.

Auf einen „Muskel“ zur Fortbewegung

kommen zehn „Sensoren“, die Um-

weltparameter erfassen und verarbei-

ten und somit das Steuern ermögli-

chen. Dieses Prinzip ist im Vergleich

zu Schaltkreisen und Batterien vor-

bildhaft klein, leicht und vielfältig ver-

wirklicht.

Wie das gehen kann, zeigen tierische

Maschinen des deutschen Spezialis-

ten für Fabrik- und Prozessautomation

Festo, der ein eigenes Bionic Learning

Center betreibt. Auch bei funktio nalen

Oberfl ächen fassen bionische Lösun-

gen langsam Fuß. Das Paradigma

„glatt ist gut“ (siebtes Prinzip) wurde in den vergangenen Dekaden

durch immer bessere Bildgebung

gestürzt. Natürliche Oberfl ächen

erfüllen ihre Funktion oft durch eine

gewisse Rauigkeit: Pinguine fl itzen in

einem Mantel aus Luftbläschen dahin,

die sie mit ihren Federn unter die

Wasseroberfl äche mitnehmen, das

Lotusblatt ist unbenetzbar dank

3D-Wachskristallen auf der Ober-

fl äche und die Schuppen von Haien

haben in Längsrichtung kleine Rillen

(Riblets), die den Widerstand vermin-

dern. Die Haifi schhaut ist ein gutes

Beispiel für die letzte Beobachtung:

Es lohnt sich, um die Ecke zu denken.

Nahe liegend war es, einen Anzug zu

entwickeln, der Schwimm-Assen im

Wettkampf wenige Hundertstel Vor-

sprung verschafft. Einen breiteren

Nutzen versprachen Tests auf Treibstof-

feinsparung im Transportwesen. Aller-

dings erreichten Autos mit Riblet-Folie

im Stau oder Stadtverkehr fast nie die

erforderliche Geschwindigkeit, die nö-

tig ist, um Sparpotenziale auszunutzen.

Bei Flugzeugen musste beispielsweise

die Folie bei jeder Wartung abgezogen

werden, was die Standzeiten unrenta-

bel verlängert. Das Haihaut-Prinzip

wird heute aber erfolgreich auf

Schiffsrümpfen angewandt. Dabei

geht es weniger um Geschwindigkeit

oder Einsparung, denn um das Fern-

halten von Seepocken, Algen & Co.

(Anti-Fouling) ohne giftigen Lack.

Weniger Gift im Wasser lässt auch die

vielen winzigen Wasserorganismen am

Leben, die sich mit einer rotierenden

Bakteriengeißel fortbewegen. So zei-

gen sie uns weiterhin vor, dass selbst

das Rad mit Kugellager und Achse

keine menschliche Erfi ndung ist. �

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31EINFACH ≠ EINFACH

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WAS HINTER DEN DINGENDES ALLTAGS STECKTDie Wissenschaft macht das Leben einfacher – sagen 86 Prozent der Österreicher und 79 Prozent der US-Amerikaner1.

Welche Komplexität hinter so manch einfach erscheinendem Alltagsphänomen steht und wie die Waschmaschine der

Zukunft aussehen könnten. Von Silvia Wasserbacher-Schwarzer

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Phänomen: Ein Obsthändler stapelt

seine Orangen in versetzten Reihen

in Form einer Pyramide übereinander.

Erklärung: Dadurch bringt er die

meisten Orangen auf vorhandenem

Platz unter (74 % Raumnutzung). Die

Vermutung dazu stellte schon Johannes

Kepler vor 400 Jahren an (Keplerschen

Vermutung). Den Beweis lieferte der

US-Mathe matiker Thomas C. Hales 1998.

Phänomen: Es heißt, die Waschmaschine gehöre zu

jenen Erfi ndungen, die das Leben im letzten Jahrhundert

am meisten vereinfacht hat. Aus Sicht der Nutzer schon:

Brauchte man bis ca. 1960 mehrere Tage und bis zu

15 Arbeitsschritte, um die Wäsche zu waschen, sind

es seither nur einige Minuten zum Befüllen der Wasch-

maschine. Auf Seiten der Waschmaschinenerzeuger

gibt es die one-fi ts-all Lösung jedoch nicht.

Erklärung: Sie müssen sich an die weltweit

unterschiedlichen Waschvorlieben anpassen:

Spanier waschen ihre Wäsche am liebsten kalt, Griechen

heiß. In Frankreich befüllt man die Maschine von oben,

in Deutschland von vorn. Russen mögen schmale Geräte,

Amerikaner große. Chinesen haben gleich zwei Maschinen

im Haushalt, weil sie zwischen Männer- und Frauenklei-

dung trennen.3

Phänomen: Zwar sind zum Wäschewaschen im Vergleich zu früher

heute nur mehr minimale menschliche Anstrengungen nötig, natürliche

Ressourcen werden jedoch weiter bemüht: Ein Waschgang, der

ein bis zwei Stunden dauert, braucht rund 60 Liter (Trink-)Wasser.

Ressourcen, die durch eine komplexe Erfi ndung womöglich bald nicht

mehr verbraucht werden.

Erklärung: Die französische Industriedesignerin Elie Ahovi

entwickelte „Orbit“, die Waschmaschine der Zukunft. Ein Waschgang

dauert fünf Minuten und verbraucht keinen Tropfen Wasser: Während

des Waschvorgangs schwebt eine (tragbare) Trommel aus supraleiten-

dem Metall in einem Ring. Dieser besteht aus einer Batterie, die Strom

leitet. Sobald der elektrische Widerstand auf Null fällt, gleitet die

Trommel im Ring. Um den Schmutz zu lösen, wird der Wäsche Trockeneis

(Kohlenstoffdioxid) hinzugefügt, das mit dem Schmutz reagiert und

diesen auswäscht; ein Vorgang, der auch in der Industrie zur

Oberfl ächenreinigung gebräuchlich ist.3

Phänomen: Beim Kauf von

Staubsaugerbeuteln das richtige

Modell zu erwischen, ohne es sich

zuvor notiert zu haben, liegt die

Wahrscheinlichkeit bei unter einem

Promille.

Erklärung: Für ca. 42.000

Staubsaugermodelle, die es am

Markt gibt, liegt eine Auswahl

von 1.120 verschiedenen Beutel-

Modellen vor.2

Phänomen: In einem Fast-Food-Restau-

rant, in dem der Kunde sein Sandwiches

individuell zusammenstellen lassen kann,

ist so manch einer überfordert.

Erklärung: Die Zutaten sind auf den ersten

Blick überschaubar: Art des Brotes (4 Brotsor-

ten, wahlweise getoastet), seine Größe (15 oder

30 cm), der Belag (13 Fleisch- und 3 Käsesor-

ten, 8 Beläge wie z.B. Tomaten) und die Sauce

(7 Saucen). Hochgerechnet erlauben sie doch

1.113.840 Kombinationsmöglichkeiten.2

Page 32: EINFACH - querspur.at fileWas ist der Lotus-Eff ekt? Lotus- oder Lotos-Eff ekt wird die geringe Benetzbarkeit einer Oberfl äche bezeichnet, wie sie bei der Lotospfl anze vorkommt.

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Querspur Das Zukunftsmagazin des ÖAMTC

KettenreaktionBei einer Kettenreaktion

genügt ein einfacher Anstoß für einen großen Eff ekt:

Eine Reihe einander bedingende Reaktionen

werden ausgelöst. Das bekannteste Beispiel

ist der sogenannte Dominoeff ekt.


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