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Eine Reise des Herzens

Date post: 30-Mar-2016
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Leseprobe des Reiseberichts zur Indientournee Theater Irrwisch 2009
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Annette Fried & Joachim Keller:Eine Reise des HerzensDie Tournee des Theaters Irrwisch in IndienJA-Schriften im Verlag Joachim Keller

© 2010 by: Dr. Annette Fried & Dr. Joachim KellerAkademie Reuschberg, D-63825 Schöllkrippen

Alle Rechte vorbehaltenErstmals erschienen in der Reihe

JA-Schriften im Verlag Joachim Keller, Schöllkrippen1. Auflage Januar 2010

Fotografien von © 2009 by: Reinhard Barthmann, Silvia Kern, Jennifer Richter,

Sabine Bock, Christof Krause, Martina Klostermann,Michael Hinz, Daniela Wegerich, Joachim Keller

Außentitel nach einem Flechtbild von Martina Klostermann

ISBN-10: 3-930390-25-6ISBN-13: 978-3-930390-25-0

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Annette Fried & Joachim Keller

Eine Reisedes Herzens

Die Tournee des Theaters Irrwischin Indien

Verlag Joachim Keller

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Danksagung

Diese Tournee wurde nur durch den persönlichen Einsatz unse-rer guten Geister vor Ort möglich. Unser Dank gilt Monika Sharma für die Vermittlung des sichersten Tourbusses aller Zei-ten und des Auftritts an der Deutschen Schule in Neu-Delhi; Manabesh Chatterjee und Plan-Reisen für zahllose Um- und sonstige Buchungen aller Flüge; Dr. Barbara Nath-Wiser für ihre Treue zum Ensemble und ihr unermüdliches Engagement; Felizi-tas Fischer-Urban für ihre motivierende Eventbegleitung; Dr. Ja-kob Urban für die Gesamtorganisation und die Kontakte zu den Spielstätten in Gopalpur, Bir, Talnoo und am Norbulingka Insti-tute; Anil für abenteuerliche Jeepfahrten, seine Fürsorge und Ko-ordination; Sri Sri Dhuni Nath Baba für den ungewöhnlichsten Aufführungsort aller Zeiten; Herrn und Frau Rana für ihre jede Vorstellung überbietende Gastfreundschaft; ihren Kindern Brian-ca und Gugglu als treue-sten Zuschauern und die Hilfe beim Ge-päckschleppen; Deliah Contractor für ihre unerschöpfliche Mo-tivationskraft und die Anbahnung des Kontaktes zur Sacred Heart School; Sr. Celia für ihre Herzenswärme und vorbehaltlose Unterstützung in einer kritischen Phase der Tournee. Ohne Euch wäre Irrwisch daheimgeblieben. Tausend Dank! Und Kompli-ment an das mitgereiste Technik-Team für 36 Tonwechsel in 60 Minuten.

Die Irrwische, Annette & Jogi

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Inhalt

Vorwort___________________ 7

Aufbruch mit Hindernissen ____________ 9

Im Tal der Guten Geister ____________ 16

Die Kinder von Gopalpur ____________ 23Theater im Wildpark ______________ 32

Der schönste Augenblick ____________ 39

Herz hinter Gittern ______________ 45

Die Straße als Bühne ______________ 52

Shiva als Gastspieler ______________ 56Erst Diwali, dann die Dürre ___________ 69

Der verzauberte Sommerpalast _________ 77

Irrwisch im Heiligen Herz ___________ 85

Namasté, India _______________ 90

Herz in Trauer _______________ 97

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Vorwort

Warum eine Tournee? Und warum ausgerechnet in Indien, dem Ursprungsland des Kulturschocks? Und das auch noch unter Verzicht auf Gage. Und unter Verzicht auf Hotelunterbringung, mitunter auch auf Betten, Toiletten und Eßbesteck. Wer die 29 Mitreisenden fragt, wird ebensoviele Antworten erhalten. Und von jedem eine andere. Soviel ist sicher: Um zu erfahren, was man noch nie erlebt hat, wird man Wege gehen, die man noch nie gegangen ist. Das Abenteuer lockt.

Der Weg des Theaters Irrwisch führt mit der Premiere am SOS-Kinderdorf Gopalpur in den tibetischen Kulturkreis, von dort aus weit hinein in das Herz Indiens und schließlich wieder heraus zur Deutschen Schule in Neu Delhi. Mit 9 Gastspielen innerhalb von 11 Tagen und 66 Stunden im Tourbus on the road durchläuft das Ensemble ein Marathonprogramm – als Geschenk der Grup-pe an die Zuschauer und an sich selbst. Zum Silbernen Jubiläum: 25 Jahre ist das Ensemble mit Clownstheater unterwegs auf sei-ner Reise des Herzens. Dil Yatra – Journey to the Heart ist denn auch der Titel der Show, mit der Irrwisch den Subkontinent be-reist.

Ein Platz wäre übrigens noch frei im Tourbus, um die 30 voll zu bekommen – fühlen Sie sich herzlich eingeladen, mitzufahren und die Tour der Irrwische vom Liegesitz aus retrospektivisch mitzuerleben. Einmal umblättern genügt —

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23:45 Uhr 15 Gepäcktrolleys bilden eine ringförmige Wagenburg, um Tür-me von Rucksäcken, Koffern und Flight cases mit technischen Utensilien vor fremdem Zugriff und auf Isomatten dösende Ge-stalten vor neugierigen Blicken zu schützen. Die Szene spielt vor dem Ankunft-Terminal des Indira-Gandhi-Flughafens in Delhi, der Hauptstadt Indiens. Das Reuschberger Theaterensemble Irr-wisch ist mit 21 Spielerinnen und Spielern sowie 8 Begleitpersonen nach 8stündigem Flug von Frank-furt eingetroffen. Anlaß des spektakulären Camps mitten auf dem Taxi-Stellplatz: aufgrund eines Mißverständnisses wird Irrwisch erst 24 Stunden später erwartet. Der gebuchte Tourbus befindet sich derzeit im einige Hundert Kilometer entfernten Ambala und wird soeben überführt. In voraussichtlich 7 Stunden stehen Fahrer und Fahr-zeug zur Verfügung.

Mit 25 °C Nachtlufttemperatur und einem Feinstaubgehalt, der jede deutsche Umweltzone vor Neid erblassen ließe, wird das Atmen zur Herausforderung. Als ›Delhi-Parfüm‹ bezeichnen Kenner mit ironischem Unterton das indientypische Gemisch aus Abgasen, Straßenstaub, Fäkalgerüchen und Fäulnis. Das Überle-ben der Genußfähigkeit sichert die vor den Augen der Fluggäste schamhaft hinter einem Fußgängertunnel verborgene Kantine. Das kalte Licht von Leuchtstoffröhren filtert matt durch Scheiben

Freitag 9. Oktober

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Aufbruch mit Hindernissen

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an der Theke, auf denen die Jahrzehnte einen braunen Film aus Staub, Fett und Teer abgelagert haben. Bei 29 Bestellungen Chai, der traditionelle indische Milchtee, gibt man sich nicht mit auf-wendiger Tassenportionierung ab, sondern schickt die ganze Alu-miniumkanne mit einer Stange Einwegbecher auf den Weg. Um-gerechnet 8 Cent pro Tasse, und jeder Irrwisch ist mit dabei – et-wa ein Zehntel des Flughafen-Preises in 500 Metern Entfernung.Für die Sicherheit garantiert der benachbarte Militärposten. Nach der Einladung auf eine Tasse Chai duldet er die Nähe der exoti-schen Versammlung, wie sein Lächeln durch die Maschen des Tarnnetzes über seiner Betonkabine zu erkennen gibt.

3:00 UhrEine Plastiktüte irritiert den Bewaffneten. Wo die herkommt? Nicht von uns. Das Corpus suspiciosus wird von allen Seiten miß-trauisch beäugt, dann zaghaft mit der Stiefelspitze angestoßen. Damit erscheint ausreichend gesichert, daß die Tüte keinen Sprengsatz enthält. Der letzte Bombenanschlag in Delhi liegt erst 5 Tage zurück; der jahrzehntelange Kaschmirkonflikt mit Pakis-tan und innenpolitische Spannungen sorgen für Zündstoff – auch wenn der offizielle Hinweis aus den öffentlichen Bussen ver-schwunden ist, der die Passagiere wissen läßt: »Look under your seat – Find bomb – Raise alarm – Earn reward« – ›Unter den Sitz schauen – Bombe finden – Alarm geben – Beloh-nung einstreichen.‹

7:00 UhrFahrer Ravinder Singh von Kuldeep Travels (übersetzt: Familiens-tolz-Reisen) übernimmt eine Ladung Clowns samt Gepäck. Er überzeugt die Irrwische durch seinen besonnenen Fahrstil und Augenmaß, denn beides braucht es, um unbeschadet binnen 2 Stunden vom Flughafen quer durch Delhi auf den Highway Num-ber One Richtung Norden zu gelangen. Autowracks am Straßen-rand sind stumme Zeugen, daß verhältnismäßig niedrige Ge-

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schwindigkeiten allein noch keine Garantie für unfallfreies Fah-ren sind.›On the road‹

In Kürze rief uns die Fahrt alle Besonderheiten des indischen Stra-ßenverkehrs ins Gedächtnis. Alles was Räder, Hufe, Beine, Pfoten, Tatzen, Krallen oder sonstige für die Fortbewegung geeignete Gliedmaßen oder Vorrichtungen besitzt, ist auf der Straße anzu-treffen. Die indische Verkehrsstruktur würfelt sämtliche Fortbewe-gungssysteme auf derselben Verkehrsebene zusammen: Autos, Wasserbüffel, Lastwagen, Hunde, Ziegen, Motorroller, Schafe, Hühner, Schweine, Fahrrad- und Motorrikschas, Lastmulis, Esels-karren, Busse, Pferdedroschken, bisweilen auch Elefanten, Kamele oder seltener Tanzbären und natürlich zahllose Passanten. Grund-sätzlich wird davon ausgegangen, daß sich alles von selbst regelt – oder zusammenbricht. An neuralgischen Punkten verkürzen Am-pelanlagen mit ihrem unterhaltsamen Farbenspiel die Wartezeit. Früher stand bei Rotlicht ›Relax‹ – ›Entspann dich‹ als Empfehlung zu lesen. Seit sich der Rhythmus beschleunigt hat, zählt eine digi-tale Stoppuhr im Countdown die Sekunden bis zur Weiterfahrt ab.Jeder Fahrer ist im System der geteilten Verantwortung für das zuständig, was vor ihm geschieht. Der Hintermann hält seine Vorderleute über Hupsignale in Schach. Die in kunstvoll verzier-ten Blockbuchstaben auf die Rückwände von Lastwagen und Rikschas gepinselte Aufforderung ›Horn please‹ – ›Bitte hupen‹ – belegt, daß der Fahrer eines langsamen Gefährts durchaus dank-bar ist, vom Herannahen eines schnelleren akustisch informiert zu werden. Rückspiegel gelten als verzichtbare Attribute. In jahr-zehntelanger Evolution haben sich bei größeren Fahrzeugen Sig-nalhörner durchgesetzt, die unter Umgehung des Gehörs unmit-telbar das Schmerzzentrum affizieren. Den Rest regelt die Hier-archie der Fahrzeuge untereinander – Kastensystem auch hier: ganz unten rangieren Personen ohne fahrbaren Untersatz als be-wegliche Ziele; es folgen Fahrradrikschas und Pferdedroschken; dann Three-wheelers, die dreirädrigen Mopedrikschas; die wie-

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derum müssen den Taxis und Privat-PKW Platz machen; den Lastwagen weicht jeder freiwillig aus, ausgenommen Busse, die die höchste Kaste stellen, übertroffen nur durch Polizei und Re-gierungsfahrzeuge im Konvoi mit blinkendem Rot-Blaulicht, damit sie nur ja keiner übersieht. Der Schluß ist durchaus zulässig: Das Geschehen auf Indiens Straßen ist wie das Leben dort selbst, ein riskantes, lediglich maß-voll kanalisiertes Chaos, ein Mit-, Durch- und Gegeneinander von Fortschritt und Verlangsamung, von Modernität und Tradition, von Luxus und Trostlosigkeit, von Ordnung und Gewährenlassen. Das Land trägt so schwer an seiner Menschenlast wie jener Lastwagen, der – mit Gesteinsbrocken bereits überladen – noch ein halbes Hundert Fahrgäste befördert. Das Leben ist so öffentlich wie die Straße: auch dort wird gekocht und gegessen, Notdurft verrichtet, gezankt und geliebt, gezeugt und geboren, gebetet, gearbeitet, ge-schlafen, gestorben. In anderen Worten: wer das Leben liebt, kann eigentlich auch gegen den indischen Straßenverkehr nicht viel einzuwenden haben. Aber wer das Leben kennt, der fürchtet es auch.

11:30 UhrDas leibliche Wohl auch unterwegs zu sichern ist unverzichtbarer Bestandteil der indischen Philosphie des Reisens. Jede Fernstraße ist von Raststätten gesäumt. Ganz auf Stoßbetrieb eingerichtet, können die größeren dieser Dhabas genannten Garküchen in Mi-nutenschnelle ganze Busbesatzungen mit einem vollwertigen Menü beköstigen. Thali nennt sich das Einheitsgericht, bestehend aus dem obligatorischen Reis und Dal (ein Linsengemüse), ein bis zwei Sorten pikant bis chilischarf gewürzten Gemüsecurrys, da-zu aus Wasser und Mehl gebackene Brotfladen, Chapati genannt, und kräckerähnliche, papierdünne würzige Papadams. Bei Special Thali kommen Raita, eine mit Zwiebeln und Gurken angereicher-te Joghurtsoße zum Ablöschen der Schärfe, und Chutney, süß-sauer eingelegtes Obst oder Gemüse, hinzu. Eifrige Kellner legen ungefragt mit ihren Schöpfkellen nach, daß keiner hungrig die

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Weiterfahrt antritt. Weniger als einen Euro zahlt man für so ein Komplettmenü, Nachschlag bis zum Abwinken inbegriffen.

Was wäre wohl der National Highway Number One ohne Gulshan – die Nummer eins unter allen Dhabas zwischen Delhi und Jammu. Eine ganze Batterie gestrichen voller Kessel prangt auf der Theke und lockt mit ausschließlich vegetarischen Genüssen. Überhaupt ist die indische Küche ein Eldorado für Vegetarier und straft was wir unter Gemüsezubereitung verstehen schlicht als ideenlos.

Nicht wegzudenken bei Gulshan: das skurrile barhäuptige Männ-lein undefinierbaren Alters, das hier seit über 20 Jahren Kopfmas-sagen zur Entstressung anbietet. Natürlich findet er auch unter den Irrwischen Kundschaft, und zwar in Martina aus Frankfurt. Wie ein virtuoser Pianist in die Tasten, so greift er beherzt und seriös zugleich in die Haare und läßt seine Finger über die Kopf-haut tanzen. Unter Martinas ›Oh‹s und ›Ah‹s zündet er das Re-pertoire ayurvedischer Massagekunst. Zunächst neugierig, dann mit wachsender Begeisterung folgen die Irrwische der Komposi-tion aus Trommeln und Klopfen, Tätscheln und Kneten des Schädeldachs: die Zuschauer kommen voll auf ihre Kosten bei dieser Inszenierung. Höhepunkt der Prozedur ist die Salbung der Kundin mit der wohlriechenden Essenz aus einer der in einem Drahtkörbchen als Sixpack versammelten Flacons. Martinas Haarpracht erhält ein beeindruckend neues Erscheinungsbild. Zwei beherzte ruckhafte Kopfdrehungen, die jedem Chiroprakti-ker die Tränen in die Augen getrieben hätten, und ab der Lack. Und was zahlt man dem Massage-wallah für 15 Minuten Maxi-maleinsatz an Wohlwollen und Handfertigkeit? 50 Rupien, für manchen schon ein Tagelohn, sollten es tun. Mit trauriger Miene blickt der Massage-wallah auf den Schein in der einen Hand, die andere nach mehr ausgestreckt. Mit dem untrüglichen Instinkt für Indien-Neulinge wie Martina muß er es einfach versuchen, das gehört zum Spiel. Die Regisseurin schaltet sich in die Ver-handlungen ein: »Baba Ji, du hast eine Frau und die ganze Grup-

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pe glücklich gemacht. Jetzt wäre es unser größter Wunsch, daß auch du mit der Bezahlung glücklich bist: You are happy, we are happy.« Der Massage-wallah quittiert das mit einem gewinnenden Lächeln und dem unvergleichlichen Schaukeln des Kopfes, das in Indien vollste Übereinstimmung signalisiert.

17:30 UhrLetzte Einkehr unterwegs. Ludhiana muß man erst mal verdau-en, selbst wenn man nur durchgefahren ist: eine Stadt, in der Ehrgeiz und Erfolglosigkeit eine traurige Liaison pflegen. Den Kontrapunkt zur kleinindustriellen Tristesse setzt der Elefant, der mit seinen beiden Haathi-wallahs vorbeitrottet. Alles freut sich über diese auch in Indien selten gewordene Begegnung. Spielerin Birgit nutzt die Gunst der Stunde und erklimmt mit ihrem Sohn, dem 6 Jahre alten Jaspal, den Rücken des mächtigen Lasttieres für einen kleinen Rundritt über den Hof des Truck stops. Nichts Neu-es für den Elefanten, der in geduldiger Kooperation sein rechtes Hinterbein elegant nach hinten anwinkelt, um es als Stufe für den Aufstieg anzubieten. Die Belohnung ist reichlich, denn die Irrwi-sche spendieren ihm großzügig den für unterwegs mitgeführten Bananenvorrat. Freudig wiegt er sein mächtiges Haupt, wedelt mit den Ohren und winkt mit dem Rüssel. Mit einer Elefanten-seele läßt sich gut Freundschaft schließen, und die Treue ist ga-rantiert. Mach’s gut, Dickhäuter!

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0:15 Uhr Seit Delhi wurden die Bundesstaaten Haryana und Punjab durchquert. Der Tourbus erreicht Sidhbari im Himachal Pradesh. Zum letzten Hindernis wird die Tika Rakkar Road, die 2 Kilome-ter nach Rakkar Village führt. Der Fahrer weigert sich zunächst, in die schmale Seitenstraße einzubiegen. Unter Aufbietung 29fa-cher Überredungskünste läßt er sich auf das Wagnis ein, den Lei-tern der Gruppe, Annette und Jogi, zu folgen. Die schreiten dem Bus voran und leuchten mit Taschenlampen Straßenränder und tiefhängende Stromleitungen aus. Mit jaulender Maschine schiebt sich das Gefährt schaukelnd im Zentimeterabstand zwischen Mauervorsprüngen und schiefen Telefonmasten hindurch, bis endlich das Fach mit über einer halben Tonne Gepäck durch Co-pilot Raj aufgeriegelt werden kann. Nach 500 Kilometern Strecke in nicht mal 30 Stundenkilometern Durchschnittsgeschwindigkeit – Pausen, Staus und Umleitungen fairerweise mit eingerechnet – ist das erste Etappenziel erreicht: Das Nishtha Center für Gesund-

heit, Vorsorge und Umweltbewußtsein von Dr. Barbara Nath-Wiser.

1:00 UhrWir reißen unsere Gastgeberin aus dem Schlaf – nichts Unge-wohntes für die österreichische Ärztin, die ihr Leben der psycho-physischen Betreuung indischer Landbevölkerung gewidmet hat. Zweimal die Woche wird sie durch Notfälle um die Nachtruhe

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Im Tal der Guten Geister

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gebracht und in die von ihr gegründete Nishtha Klinik gerufen. 37 Stunden auf Achse garantieren ihr das vollste Mitgefühl der Irrwische. Seit über 30 Jahren sichert Dr. Barbara mit ihrem Team und westlichen Freiwilligen die medizinische Grundversorgung in Rakkar Village und dem ›Tal der guten Geister‹ als sinngemä-ßer Übersetzung des Ortsnamens Sidhbari. Bald kamen Hygiene-Aufklärung, die Bereitstellung gefilterten Wassers und soziale Aufgaben hinzu. Reich war dieser Landstrich noch nie. Mit Schließung der Schiefermienen an den verwundeten Flanken des Himalaya ist die Region einer wesentlichen Erwerbsquelle be-raubt. Mangel- und Fehlernährung der Kinder versucht Dr. Barbara mit einer Schulspeisung zu kompensieren: kostenfrei werden jedem Schulkind am Morgen ein Apfel oder eine Banane sowie mittags ein eiweißreicher Snack gereicht. Damit nicht ge-nug: nachdem 80 % der Haushalte von einem alkoholabhängigen Vorstand geführt werden, ist die Stärkung der Rolle der Frau als wesentliche Aufgabe hinzugetreten. Irrwisch scheint mit seinem Stück also an der richtigen Adresse: Die Heldin Yagua tritt an, die vom Regenten König Karfunkel für sein Land heraufbeschwore-ne Krise zu lösen. Auf der Bühne wie im Leben – dem Leben In-diens.Zwischen McLeod Ganj und ›Didipur‹

Der folgende Morgen entschädigt die Irrwische für die Strapazen der Reise mit schönstem Wetter und einem atemberaubenden Ausblick auf die südlichen Himalaya-Majestäten. Nur hier, wo die Dhaola-Dhar-Kette dem Kangra-Tal ihre 45 Kilometer lange Flanke zuneigt, gibt es diesen Ausblick auf hellgrauen Fels, der wie der schartige Wall der größten Trutzburg der Welt aus Bam-bushainen und Rhododendronwäldern emporsteigt und ins Blaue ragt. Eine Festung mit bewegtem Migrationshintergrund: Alle Völker des Himalaya sind Nomaden und ihrem Ursprung nach Vertriebene. Eine der größten Gruppen sind die Gaddhis, die mit ihren Schaf- und Ziegenherden über bis zu 5000 Meter hohe Pässe von Hochweide zu Hochweide ziehen. Das traditionelle

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knielange Gewand aus grobem Leinen hat einen breiten Kragen, in dem die neugeborenen Lämmer getragen werden, bis sie mit der Herde Schritt halten können. In der Kolonialzeit entstanden hier zahlreiche Hill stations wie das nahegelegene McLeod Ganj, wo sich englische Militärs mit ihren Familien vom Klima Indiens erholten. Aus dieser Zeit – von 1860, um genau zu sein – stammt auch der Kolonialwarenladen der reichen Parsenfamilie Nowro-jee aus Bombay, dessen emaillierte Reklametafeln von Sunlicht und Co. sich bis heute gehalten haben und mittlerweile mu-sealen Wert besitzen. Vom Schnürsenkel bis zur internationalen Tageszeitung gibt es hier noch heute alles, worauf der Weitge-reiste auch im Ausland nicht verzichten möchte. Der Zuzug Tau-sender von Tibetern nach dem gewaltsamen Einmarsch Chinas auf das Dach der Welt hat McLeod Ganj ziemlich unsanft aus dem Dornröschenschlaf geweckt, in den das Dorf nach Abzug der Briten gefallen war. Der unaufhaltsame Aufstieg des Bergdörfchens nahm seinen An-fang mit einem Geschenk: In Rücksprache mit dem damaligen indischen Ministerpräsidenten Jawaharlal Nehru, dem Freund Mahatma Gandhis, überließ Mister Nowrojee Senior dem 14. Dalai Lama ein weitläufiges Gelände auf dem McLeod Ganj vorgelagerten Bergsporn zum Aufbau seiner Exilregierung. Mit wachsender Popularität des geistlichen Oberhauptes der Tibeter setzte der Zustrom an Sympathisanten und spirituell interessier-ten Menschen aus aller Welt ein, die McLeod Ganj zum zweit-populärsten Touristenziel Indiens gemacht haben – einzig das Taj Mahal vermag mehr Schaulustige anzulocken. Die Hoffnung auf das Big business und die Kriegswirren in Kaschmir haben zahlreiche Kashmiri hierher verschlagen, die man leicht an verkaufsträchtigen Formeln wie: »Come my shop, look my carpets and pashmini shawls, just look, don’t buy!« er-kennt – ›Besuchen Sie meinen Laden, schauen Sie meine Teppi-che und Paschmini-Schals an, nur zur Ansicht, nicht zum Kau-fen!‹ Zum Erfolgreichsten unter ihnen wurde Amit Sood, der mit seinen Andenkenläden Namasté India, Mementos India und

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India Art Gallery den Basar beherrscht. Das nur über McLeod Ganj zu erreichende antike Tempelbad von Bhagsunath lockt indische Touristen und Pilger, vor allem aus dem nahen Punjab. Hierzu gesellen sich zahlreiche Nepalesen, teils im Sog des schnellen Geldes, teils auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg zwi-schen Königstreuen und Maoisten in der Himalayamonarchie. Nicht zu vergessen: Aussiedler aus dem Westen, die in McLeod Ganj ihre Wahlheimat gefunden haben, wie der New Yorker Pe-ter Brown, der seit 1962 seine Motorradwerkstatt betreibt. Er hat sich auf die indische Kultmarke Royal Enfield spezialisiert, deren Maschinen seit Firmengründung unverändert weitergebaut wer-den. Und das Beste: »Auf jeden Tag Fahrspaß kommt ein Tag in der Werkstatt. Fast wie bei Helikoptern, nur nicht ganz so kost-spielig«, freut sich Peter.

Auf einen bewegten und bewegenden Migrationshintergrund blickt auch Didi Contractor, die resolute Deutsch-Amerikanerin mit Wohnsitz in Sidhbari. Gerade mal 6 Jahre alt war sie, als sie mit ihrer Familie nach Amerika auswanderte: ihr Vater Eugen Kinzinger aus Pforzheim wurde als avantgardistischer Künstler und Angehöriger der Künstlergesellschaft Der Blaue Reiter von den Nazis verfolgt. Trotz dieses Hintergrundes traute er nicht al-lem, was in Amerika über die Deutschen berichtet wurde. Als nach dem Krieg die ganze Wahrheit zutage trat, verlor er, der in den USA nie ganz heimisch geworden war, seine geistige Heimat – und den Verstand. Er fristete den Rest seines Lebens in einer Nervenheilanstalt, wo er an gebrochenem Herzen starb, wie Didi es schildert. In Amerika lernte Didi ihren künftigen Ehemann kennen, einen wohlhabenden Parsen, mit dem sie nach Bombay in das Prominentenviertel Juhu übersiedelte. Die indische Re-genbogenpresse feierte das Paar als interkulturelle Musterehe. Die Familie zerbrach am Tod ihres Sohnes Rahul und an der Trunksucht des Ehemannes. Die Töchter Maya und Kirin gingen nach Amerika, wo sie als Universitätsprofessorin bzw. Schriftstel-lerin Karriere machten; Didi blieb in Indien. Die Trennung von ihrem Mann stürzte sie von der Prominenz in die Mittellosigkeit.

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Als alleinstehende Frau sah sie sich mit jenem Indien konfron-tiert, in dem einem einzelnen Menschenleben keinerlei Wert zu-gemessen wird. Nach vielen Umwegen gelang es ihr, in Sidhbari neue Wurzeln zu schlagen. Dort entdeckte sie das Metier ihres Ehemannes für sich und wurde Contractor: Architektin. Um die 15 Häuser sind nach ihren Plänen entstanden, darunter auch die Nishtha-Klinik von Dr. Barbara. Bestechen Didis Bauwerke be-reits durch Individualität und Funktionalität, so ist es vor allem ihre atmosphärische Wärme und Heimeligkeit, die sie unver-gleichlich macht. Dabei greift die Architektin auf die in Indien aussterbende Lehmbauweise und die Prämissen Mahatma Gan-dhis zurück: zum Einsatz gelangen nur Materialien, die aus ei-nem Umkreis von 3 Meilen stammen, wie Lehm, Holz, Bambus, Schiefer und Granit; Entsprechendes gilt für die Arbeitskräfte, die aus der Nachbarschaft stammen. Hierdurch werden im selben Zug unproduktive Transportwege vermieden und die Region gestärkt.

Reich ist Didi damit nicht geworden, die ihre Konstruk-tionskünste ausschließlich Freunden für ein maßgeschneidertes Heim gewidmet hat. Aber jeder im Umkreis kennt das Arrange-ment einzigartiger Gebäude als ›Didipur‹ – mit der Namensgebe-rin als ungekröntem Oberhaupt. Der Kreis zu Irrwisch schließt sich mit Didis einzigem Deutschlandbesuch seit ihrer Auswande-rung. Zu Gast war sie damals auf einem Theaterhof bei Viersen – jenem Ort, wo Annette und Jogi vor 26 Jahren ihren ersten gemeinsamen Auftritt hatten.

15:00 UhrDen Irrwischen ist es eine Ehre, zu Didis 80. Geburtstag aufzu-spielen – zumal der auf den Anreisetag der Irrwische in Sidhbari fällt. Der Kurzauftritt vor illustrem internationalem Publikum unter dem orientalischen Festzelt, dessen leichtes Tuch das inten-sive Sonnenlicht gleichmäßig streut und die Schlagschatten ab-mildert, endet mit dem lebenden Standbild des Thrones, auf den die Jubilarin gebeten wird. Nun übernimmt Andreas Schielin aus

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Osnabrück mit seinem unwiderstehlichen Jimmy Blue. Bereits in Deutschland auf einem Straßentheaterfestival zur komischsten Nummer gekürt, bringt er dem Geburtstagskind ein Ständchen der Sonderklasse und bricht mit seiner Hymne an Didi das Eis der aristokratisch anmutenden Versammlung. Manche der An-wesenden können sich vor Lachen kaum auf den Stühlen halten.

15:20 UhrDie Irrwische schälen sich aus schweißgetränkten Kostümen. Und: Irrwisch hat neue Fans dazugewonnen. Eine indische Fami-lie ist begeistert und verspricht, der Gruppe zu den nächsten Auftritten nachzureisen, um die ganze Show zu sehen. (Verspro-chen wird in Indien viel, gehalten nur ein Teil davon; in diesem Fall übertraf die Familie ihre Vorgabe mit den Besuchen der Irr-wisch-Vorstellungen am 13. und am 14. Oktober.)

15:45 UhrDer Tourbus, besetzt mit 20 Irrwischen, rollt nach McLeod Ganj davon. (Es wird nicht das letzte Mal bleiben, daß sich die Wege von Gruppe und Leitung trennen …)

Gleichzeitig …

Die Feier ist vorüber, das Festzelt schon zur Hälfte abgebaut, und die Stühle sind aufgestapelt, als Annette und Jogi noch einmal an den Schauplatz zurückkehren, um Didi mit Tochter Maya in ih-rem Domizil zu treffen. Einige der Gäste und ihre Reaktionen auf das Irrwisch-Happening passieren revue. Und eine, die nicht da sein konnte wegen eines buddhistischen Meetings in Bhutan: die Schwester des 17. Karmapa, dessen Palast keinen halben Kilome-ter östlich von ›Didipur‹ liegt. Karmapa gilt als die 17. Inkarnati-on des Oberhauptes der sogenannten Rotmützen und ist damit der prominenteste Exiltibeter nach dem Dalai Lama. Die räumli-che Nähe ihrer Paläste kommt nicht von ungefähr: Mittlerweile haben auch indische Politiker erkannt, daß der Dalai Lama zu einem Marktfaktor geworden ist. Die gesamte Region lebt von seiner Popularität. Es erscheint an der Zeit, einen Nachfolger zu

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finden, der das Erbe seiner Prominenz antritt. Ob Karmapa es mit seinen jungen Jahren wird schaffen können, an seinen eloquen-ten Vorgänger anzuknüpfen? Manche Antwort gibt er vorläufig nur unter Rückversicherung bei seinem Lehrmeister, der jede Au-dienz kritisch überwacht. Anders verhält es sich mit seinen eige-nen Erfahrungswerten. Als er etwa gefragt wurde, was man gegen seelische Ermattung und geistige Überanstrengung unternehmen könne, entgegnete er ohne jedes Zögern: »Bodily exercise« – körperliche Ertüchtigung. Denn genau das ist sein eigenes Rezept gegen Gefängniskoller. Karmapa gilt als potentielles Attentatsziel Nummer eins, und die indische Regierung will sich für den Fall der Fälle kein Mitverschulden anlasten lassen. Kurzerhand wurde dem prominenten Flüchtling Hausarrest verordnet – ›zur eigenen Sicherheit‹, versteht sich. Von seiner Schwester, die für derartige Maßnahmen glücklicherweise nicht prominent genug ist, wissen Maya und Didi, daß der junge Mann in der Nacht die Treppen des Palastes auf und ab läuft – Körperertüchtigung als Selbstme-dikation gegen Freiheitsberaubung.

Was ist Freiheit? War er frei in seiner Entscheidung, jener Taxifah-rer aus Lhasa, als zwei tibetische Geistliche ihn um den Transport eines Flüchtlings zur Grenze ersuchten – one-way, wohlgemerkt, und auch für ihn würde es keine Rückkehr geben. 24 Stunden Bedenkzeit bat er sich aus. Am nächsten Abend stand er um die-selbe Zeit am vereinbarten Treffpunkt, sagte: »Ich habe die Wahl, ein langweiliges Leben als braver Mann zu fristen oder meiner Existenz einen Sinn zu geben, indem ich einen anderen rette« – und übernahm die Tour. Daß es sich bei dem 14jährigen Jungen um keinen normalen Fahrgast handeln konnte, war leicht zu er-raten. Als die Straße durch ein chinesisches Militärlager führte, wurde der Flüchtling zu Fuß auf die weitläufige Umrundung ge-schickt, während die andern das Taxi klammheimlich an den schlafenden Wachen vorbeischoben. Später wurde das Fahrzeug zurückgelassen und gegen Pferde eingetauscht. Erst als nach mehrtägigem Ritt die Grenze erreicht war, erfuhr der Taxifahrer,daß sein prominenter Kunde kein anderer war als Karmapa.

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