JUDITH RICKENBACH
Eine etwas andere Kulturgeschichte des Kantons Luzern
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04 Dank / Vorwort
01 In der Nachfolge von
10 Le Corbusier Luzern, Wohn- und Atelierhaus
Blaesi
02 Die «Seesperre Nas» 12 Vitznau, Obere Nas, Sperrstelle
03 Eine Trouvaille
16 Büel, Heiliggrab-Christus
04 Das Heiliggrab
18 Beromünster, Stiftskirche
05 Mit Füssen getreten 22 Luzern, Altstadt
06 Horchposten 24 Doppleschwand, Burg Kapfenberg
07 Die Madonna bewahrt 26 ihr Geheimnis
Blatten / Malters, Kirche St. Jost,
Ankleidemadonna
08 Wo die Steinzeitmenschen
30 badeten Luzern, Weysee
09 Der «Wybersädel» 32 Ebikon, Seehof,
Zwangsarbeitsanstalt
10 Eine Künstlerklause hoch
36 über den Dächern von Luzern Luzern, Chalet Mimi
11 Nachbarschaftsquerelen
40 Sörenberg, Alp Schlacht
12 TITVS war hier! 42 Sursee, Vierherrenplatz,
Gräber aus der Römerzeit
13 Sara, Bianca, Olivia und Co. 46 Luzern, Unterlöchli, Grenz-Eichen
14 Die Steinbrüche am 48 Rooterberg
Root, Steinbruch Wiesweid
15 Schiffbruch 50 Horw, Horwerbucht, Schiffswrack
16 Vom Verkehr umbraust 54 Luzern, Kapelle Vorderrain
17 In der Mitte des
56 Zentrums Kriens, Kirche Hergiswald,
Zentrales Deckenbild
18 Der deutsche Kaiser auf
60 Stippvisite Luzern, Obelisken am
Schweizerhofquai
19 Der versteckte Wegbegleiter
64 Ermensee, Bildstock
20 Geheime Zeichen
66 Luzern, Staatsarchiv, «Gaunerzinken»
21 Aus einer anderen Welt
68 Kanton Luzern, Arme Seelen
22 Wegfahren, um anzukommen
72 Emmen, Pfyffersche Chaussée und
Distanzstein Oberkirch
23 Der versteinerte Meeresboden
76 Luzern, Steinbruch Lädeli
24 Die Fabrikwohnsiedlung 78 Kriens, Eschen-, Birken-, Erlenweg
06 INHALT
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25 Steht still und schaut her! 82 Luzern, Hallengräber der Hofkirche,
Hartmann-Grab
26 Luzern markiert seine
86 Ansprüche Ufhusen, Altes Zollhaus
27 Ein schlichtes Kreuz für ein
90 grosses Ereignis Ebikon, Sigismundkreuz
28 Ein Wunsch geht in Erfüllung
94 Luzern, Synagoge
29 Rustikaler Charme
98 Schwarzenberg,
Marienkapelle Eigenthal
30 Der Wald des Landschaftsmalers
102 Luzern, Eichwald
31 Im Boden versinkend
104 Sempach, Meierhof
32 Ein Glasbilderteppich
106 Luzern, Kirche St. Karl, Glasmalerei
33 In die Zeit gelauscht
110 Sursee, Hofstetterfeld
34 Die Flutwelle
114 Luzern, Seeufer
35 Verdrängt, vergessen
116 Egolzwil, Straflager Wauwilermoos
36 Amboss, Dienstmann Nr. 4
120 Luzern, «Stadtkeller», Skulptur
37 Unter den Linden …
122 und Lärchen
Kriens, Sonnenberg, Alleen
38 Das «Eisenbahnerdörfli» –
124 eine Welt für sich Luzern, Eisenbahnersiedlung
Geissenstein
39 Eine ArchitekturIkone
128 Udligenswil, Haus von Otto Pfeifer
40 In Freundschaft zugeeignet
132 Winikon, Pfarrkirche,
Wappenscheiben
41 Vermeintliche Stille
136 Luzern, Alter Friedhof
42 Der Kosmos der Familie Geistlich
140 Wolhusen, Villa Geistlich,
Täuferkapelle
43 Umtanzt, umgarnt, weggeführt
144 Luzern, Regierungsgebäude,
Totentanz
44 Ein Hotspot der Politik
148 Sursee, Altes Rathaus
45 Wo Luzern das
152 Schiesspulver lagerte
Luzern, Pulvermagazin
46 The Lake Valley of Switzerland
154 Railway Company Limited
Hochdorf, Lok-Remise
47 Die Hirsche im Graben
158 Luzern, Altes Hirschengrabentor
48 Ein Musterhaus der Landi 1939
160 Luzern, Dietschiberg,
«Haus des Musikfreundes»
49 Das verschmitzt lächelnde
162 Schweinchen Geuensee / Krumbach,
Kapelle St. Wendelin
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Wer von Vitznau in Richtung Gersau fährt, glaubt,
er befinde sich an der Côte d’Azur: Die mediterra
ne Vegetation macht das Herz leicht. Die Strasse
klebt am steil abfallenden Felsen, weit unten
schimmert das Wasser türkisblau. Mit geschärf
tem Blick wird man plötzlich gewahr, dass diese
Naturidylle nur eine scheinbare ist. Irritiert hält
man inne: Sieht diese Felspartie nicht sonderbar
aus? Ist die Färbung jenes Gesteins nicht etwas
anders als der unmittelbar daneben liegende
Brocken? Tatsächlich, die Obere Nas ist von Men
schenhand umgeformt, im Innern zu grossen Tei
len ausgehöhlt, mit aus dem Felsen geschlagenen
Fenstern, die in Form und Farbe fein säuberlich
kaschiert sind. Hier ist kaum mehr etwas reine
Natur: Wir befinden uns inmitten einer Ver tei di
gungs anlage aus dem Zweiten Weltkrieg.
Im Juni 1940 war die Schweiz plötzlich von den
Achsenmächten umschlossen: Deutschland im
Norden und Osten – nach dem «Anschluss» Öster
reichs an Deutschland 1938 –, Italien im Süden
und Frankreich unter deutscher Besatzung im
Westen. Die Angst vor einem deutschen «Über
fall» ging um. Gleichsam als Insel inmitten des
Kriegsgeschehens bereitete sich die Schweiz auf
die Verteidigung vor. Am 25. Juli 1940 versammel
te deshalb General Henri Guisan die höheren Of
fiziere auf der Rütliwiese, der sagenumwobenen
Gründungsstätte der Eidgenossenschaft, zum so
genannten Rütlirapport. Der genaue Inhalt seiner
Rede ist nicht bekannt, der Ort der Rede war aber
symbolträchtig. Der General appellierte an den
Wehrwillen der Truppen und orientierte über
das neue Konzept des Réduits in den Alpen. Die
RéduitStrategie sah vor, dass sich die Armee im
Angriffsfall grösstenteils in den Alpenraum zu
rückzieht, in ein Netz von Verteidigungsanlagen
zwischen Sargans, dem Gotthard und StMaurice.
Unzählige Befestigungen sicherten die Eingänge
zum Réduit, dazu gehörten auch die umfangrei
VITZNAU, OBERE NAS, SPERRSTELLE
Die «Seesperre Nas»
ANREISEMit dem Auto: bis Vitznau und von dort in Richtung Gersau bis zur markanten Felsnase.
Mit dem Schiff: ab Luzern bis Anlege-stelle «Vitznau, Station». Anschliessend der Strasse entlang in Richtung Ger-sau bis zur Oberen Nas.
HINWEISFür den Besuch des Ar-til le rie werks Mühlefluh (Festung Vitznau): Im Dorfzentrum in Richtung Talstation Luftseilbahn Wissifluh abzweigen, www.festung-vitznau.ch
Das Artilleriewerk Mühlefluh liegt etwas erhöht an der Rigi, oberhalb von Vitznau. Es ist weitgehend in ursprünglichem Zustand erhalten geblieben.
02
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48
Wie eine klaffende Wunde liegt der Steinbruch im
Wiesland oberhalb von Dierikon. Die schräg ver
laufenden Sandsteinschichten zeichnen sich so
deutlich ab, dass man meinen könnte, sie seien
sorgfältig herauspräpariert worden. Die vertika
len Bohrlöcher für die Felssprengung bilden ein
rhythmisches geometrisches Muster. Wüsste man
es nicht besser, so könnte man glauben, es sei ein
künstlerischer Eingriff in die Wirklichkeit.
Im 16. Jahrhundert begann man mit dem Abbau
des Sandsteins, im 19. und Anfang des 20. Jahr
hunderts blühte das Gewerbe. Besitzer der Stein
brüche hier am Rooterberg waren die Familien
Bründler, Greter und Petermann. Sie sassen eben
falls im Grossen Rat von Luzern, waren als Stein
bruchbesitzer also gesellschaftlich arriviert.
Am intensivsten wurde der Steinbruch Wiesweid
bewirtschaftet. Nach dem Tod von Jakob Peter
mann im Jahr 1912 aus der alten Traditionsfami
lie ging der Steinbruch in den Besitz des Luzer
ner Baumeisters J. W. Füllemann über. Es waren
schwierige Zeiten damals. Die Nachfrage nach
Sandstein brach ein – Beton war jetzt modern!
Ende der 1920erJahre wurde der Steinbruch
Wiesweid schliesslich stillgelegt. Im Jahr 1964
erwarb die Firma Stecher den Steinbruch.
Für Dierikon und Root, die beiden «Steinbrecher
dörfli», war dieser Steinbruch ein wichtiger Wirt
schaftsfaktor. Bis zur Eröffnung der Papierfabrik
Perlen im Jahr 1873 war die Steinbrecherei das
grösste Gewerbe im unteren Rontal. Alle profi
tierten von den Steinbrechern, denn ihre Arbeit
war besser bezahlt als jene in der Landwirt
schaft. Schmiede, Wagner und Fuhrhalter hatten
ebenfalls ein gutes Auskommen, denn die Sand
steinplatten und quader mussten mit starken
Gespannen zuerst hinunter ins Tal und an
schliessend in die nähere und weitere Umge
bung befördert werden. Der Transport des Ge
steins vom hochgelegenen Steinbruch ins Tal
war gefährlich, vor allem bei Eis und Kälte. In
frühen Jahren erledigten Ochsengespanne diese
Aufgabe, später Pferdefuhrwerke.
Die Arbeit im Steinbruch war Schwerstarbeit.
Mit Spitzeisen und «Fäusteln» mussten mühsam
Sprenglöcher in die Sandsteinschichten geschla
gen werden. Viel Erfahrung und handwerkliches
Geschick waren vonnöten. Technisches Gerät
stand nicht zur Verfügung. Bei den Sprengungen
lösten sich Quader von rund zehn Tonnen von
der Wand.
Am Rooterberg wurden auch kleinere Steinbrü
che von den jeweiligen Landbesitzern für den Ei
genbedarf ausgebeutet. Von den professionellen
Steinbrechern, die im Steinbruch Wiesweid ar
beiteten, wurden diese allerdings herablassend
als «Steingrübler» bezeichnet.
ROOT, STEINBRUCH WIESWEID
Die Steinbrüche am Rooterberg
ANREISEMit dem Bus: ab Bahnhof Luzern mit Bus Nr. 23 bis Haltestelle «Dierikon, Migros».
Mit dem Auto: in Dierikon nach «Längenbold» abzwei-gen, dann beim Fabrik-gebäude nach links hangaufwärts fahren. Nach dem Fahrverbot sind es noch rund 15 Minuten zu Fuss, immer der Strasse entlang, die direkt zum Steinbruch führt. Keine offiziellen Parkplätze.
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Oben, ganz weit oben, direkt unterhalb der Hü
gelkante schwebt ein Haus scheinbar schwere
los am Hang. Kein anderes Gebäude weit und
breit, nur Wiesen und Felder zu seinen Füssen.
Der Blick schweift ungehindert über den Vier
waldstättersee und weiter in die Innerschwei
zer Alpen: Völlig losgelöst von allem, einzigartig.
Die schmale Strasse windet sich hügelaufwärts
und lässt den Einheitsbrei der Einfamilienhäu
ser von Udligenswil hinter sich. Sofort wird klar,
hier oben herrschte ein anderes Lebensgefühl –
nicht nur der Aussicht wegen –, ein anderer Le
bensplan, eine andere Sicht aufs Leben, eine
andere Ästhetik. Noch heute wirkt das Haus mo
dern in seiner formalen Reduzierung, obwohl es
doch schon ein halbes Jahrhundert alt ist. Otto
Pfeifer (1914 –1999), der Architekturfotograf, hat –
zusammen mit anderen – dieses, sein eigenes
Wohnhaus 1960 entworfen und gebaut.
1937 eröffnete er in Luzern sein Atelier für tech
nische und wissenschaftliche Fotografie, und
bald schon machte er sich einen Namen als Ar
chitektur und auch als Industriefotograf. Sein
internationales Renommee führte auch zur Zu
sammenarbeit mit berühmten Architekten wie
Le Corbusier, Richard Neutra und Alvar Aalto
(Nr. 88). Otto Pfeifer lebte die Moderne: Selbst
verständlich kannte er die «Case Study Houses»
im Grossraum von Los Angeles, und selbstver
ständlich hat er sich für die Planung seines eige
nen Hauses von diesen inspirieren lassen.
Das Projekt der «Case Study Houses» entwickelte
sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Namhaf
te Architekten, darunter Richard Neutra, Charles
und Ray Eames oder Eero Saarinen, sollten Pro
totypHäuser entwerfen, die modernes Wohnen
neu definierten. Dass dies gerade in Los Angeles
geschah, war kein Zufall. Das enorme Wirtschafts
UDLIGENSWIL, HAUS VON OTTO PFEIFER
Eine ArchitekturIkone
ANREISEMit dem Bus: ab Bahnhof Luzern mit dem Bus bis Haltestelle «alte Post».
Mit dem Auto: in Udligenswil in Rich-tung Kirche, Haasenberg. Bei der Kirche nach rechts den Hügel hinauf.
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Die Molke war Ende des 18. und während des
19. Jahrhunderts das Modeheilmittel par excel
lence. Dem Milchwasser, ein Nebenprodukt bei
der Käseherstellung, wurde – in Verbindung mit
baden, Diät halten und der Bewegung im Frei
en – grosse Heilkraft zugeschrieben. Molkenku
ren sollten den Körper entschlacken und den
Stoffwechsel aktivieren. Sie waren ein florieren
der Markt.
Meist waren es Gäste aus dem Ausland, die zur
Erholung ins Gebirge fuhren und sich diesen da
mals aktuellen Behandlungen unterzogen: Früh
morgens trank man als erstes ein Glas heisse
Molke, im Verlauf des Tages war es dann fast ein
Liter. Ende des 19. Jahrhunderts gerieten die Mol
kenkuren etwas ausser Mode, auch weil Zweifel
an der Heilwirkung laut wurden.
Das 1906 errichtete «Sommerhotel Kreuz» in Ro
moos war mit den angebotenen Molkenkuren so
mit nicht mehr ganz im Trend der Zeit. Dennoch
wurde das Dorf Romoos dank geschäftstüchtiger
Vermarktung zu einem blühenden Molkenkurort.
Vornehme Kurgäste aus der ganzen Welt trafen
ein: aus Paris, Berlin oder Barcelona und sogar
aus Ägypten und Brasilien.
Zeitgemäss war hingegen die Architektur des
«Sommerhotel Kreuz». Errichtet im so genannten
Schweizer Holz oder auch Heimatstil mit seiner
schmucken, in Holz geschnittenen Zierkunst ent
sprach es einer Modeströmung um die Wende
vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die Architektur
wurde so zum Sinnbild von naturverbundenem
Bauen und naturgemässem Leben. Der Schwei
zer Holzstil war eine gezielte Kreation im Hin
ROMOOS, HOTEL KREUZ
Ab von der Welt und doch mittendrin
ANREISEMit der Bahn: ab Bahnhof Luzern bis Station «Wolhusen».
Mit dem Bus: ab Bahnhof Wolhusen in Richtung «Romoos, Holzwäge» bis zur Haltestelle «Romoos».
Mit dem Auto: nach Wolhusen in Richtung Entlebuch fahren, dann nach rechts in Richtung Doppleschwand, Romoos abzweigen.
HINWEISDie Verschalung der Bal- kone auf der Nordseite ist nicht ursprünglich. Anlässlich der Gebäude-renovierung mussten die Laubenbalkone auf der Ostseite rekonstru-iert werden.
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