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Ein Zweig des europäischen Baums · 2018. 3. 1. · ist eine europäische Erfindung Von der...

Date post: 30-Apr-2021
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DAS THEMA 34 NG|FH 7/8|2008 ser, bis zu sechs Monate Gefängnisstrafe bekommen. Und mit welchen Worten kann man die Tatsache beschreiben, dass ich, wie die meisten anderen Palästinenser des West- jordanlandes und des Gazastreifens, seit 12 Jahren der Möglichkeit beraubt bin, Ost- jerusalem zu betreten – die Stadt, in der ich geboren bin und in der ich als Mediziner in einem der größten Krankenhäuser prak- tizierte? Welches Wort könnte die Situation von Qalqiliya beschreiben, wo 46.000 Men- schen hinter einer neun Meter hohen Be- tonmauer leben müssen, die nur einen Ein- und Ausgang an einer acht Meter breiten Straße hat, mit einem Tor, das die israeli- schen Soldaten schließen können, wann immer sie wollen? Es ist hart für die Israelis, mit dieser Realität konfrontiert zu werden, aber noch härter ist es für uns Palästinenser, dies zu erleiden. Auch wenn die israelische Führung Jahr für Jahr mit ihren militärischen Erfol- gen prahlt, kann das nicht darüber hinweg- täuschen, dass sie dramatisch dabei versagt hat, Frieden zu schaffen und uns, die Pa- lästinenser, als gleichwertige menschliche Wesen zu akzeptieren – gleichwertig in Rechten und Pflichten, und berechtigt zu einem Leben in Würde, Harmonie und Wohlstand. Wenn es etwas gibt, was im Gedenken an die Opfer des Holocaust und alle Opfer aus dem darauf folgenden Konflikt zwi- schen den Palästinensern und Israelis ge- tan werden sollte, so ist es die Beendigung der Besetzung, des Apartheid-Systems und des Unrechts, das den palästinensischen Flüchtlingen und dem palästinensischen Volk angetan wird. Élie Barnavi Ein Zweig des europäischen Baums In der modernen Zeit sind die europäische und die jüdische Geschichte eng mit- einander verflochten, nahezu ist sie ein und dieselbe, auch wenn sie oft alles an- dere als glücklich verlief. Der jüdische Staat ist gerade deshalb entstanden, weil Europa seine Juden verabscheute. Aber seiner eigenen Geschichte kann man nicht entkommen: Israel ist ein Ableger Europas, ein Zweig des Baumes Europa. Zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg zählte das jüdische Volk etwa 11 Millionen Menschen. 90 % lebten auf europäischem Boden; von den anderen war ein großer Teil Europäer, der das Va- terland verlassen hatte, um ein besseres Leben in den USA, in Lateinamerika oder anderswo zu führen: In den islamischen Ländern rund um das Mittelmehr waren die jüdischen Führungsschichten durch die europäischen Kolonialherren europä- isiert worden. Die große Mehrheit dieser Juden lebte aber an den östlichen Rändern der europäischen Kultur, unter dem Joch des Zaren. Dort begründeten sie, zum ers- ten Mal in der Geschichte, eine säkulare – und europäische – jüdische Kultur. Schnell wird der jüdische Beitrag zu den europäischen Errungenschaften im Élie Barnavi (* 1946) war von 2000 bis 2002 Botschafter Israels in Frankreich. Der emeritierte Professor für Moderne westliche Geschichte der Universität Tel Aviv ist momentan wissenschaftlicher Berater des Europamuseums in Brüssel. [email protected]
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ser, bis zu sechs Monate Gefängnisstrafebekommen.

Und mit welchen Worten kann man dieTatsache beschreiben, dass ich, wie diemeisten anderen Palästinenser des West-jordanlandes und des Gazastreifens, seit 12Jahren der Möglichkeit beraubt bin, Ost-jerusalem zu betreten – die Stadt, in der ichgeboren bin und in der ich als Medizinerin einem der größten Krankenhäuser prak-tizierte?

Welches Wort könnte die Situation vonQalqiliya beschreiben, wo 46.000 Men-schen hinter einer neun Meter hohen Be-tonmauer leben müssen, die nur einen Ein-und Ausgang an einer acht Meter breitenStraße hat, mit einem Tor, das die israeli-schen Soldaten schließen können, wannimmer sie wollen?

Es ist hart für die Israelis, mit dieserRealität konfrontiert zu werden, aber noch

härter ist es für uns Palästinenser, dies zuerleiden.

Auch wenn die israelische FührungJahr für Jahr mit ihren militärischen Erfol-gen prahlt, kann das nicht darüber hinweg-täuschen, dass sie dramatisch dabei versagthat, Frieden zu schaffen und uns, die Pa-lästinenser, als gleichwertige menschlicheWesen zu akzeptieren – gleichwertig inRechten und Pflichten, und berechtigt zueinem Leben in Würde, Harmonie undWohlstand.

Wenn es etwas gibt, was im Gedenkenan die Opfer des Holocaust und alle Opferaus dem darauf folgenden Konflikt zwi-schen den Palästinensern und Israelis ge-tan werden sollte, so ist es die Beendigungder Besetzung,des Apartheid-Systems unddes Unrechts, das den palästinensischenFlüchtlingen und dem palästinensischenVolk angetan wird.

Élie Barnavi

Ein Zweig des europäischen Baums

In der modernen Zeit sind die europäische und die jüdische Geschichte eng mit-einander verflochten, nahezu ist sie ein und dieselbe, auch wenn sie oft alles an-dere als glücklich verlief. Der jüdische Staat ist gerade deshalb entstanden, weilEuropa seine Juden verabscheute. Aber seiner eigenen Geschichte kann man nichtentkommen: Israel ist ein Ableger Europas, ein Zweig des Baumes Europa.

Zwischen dem Ersten und dem ZweitenWeltkrieg zählte das jüdische Volk etwa11 Millionen Menschen. 90 % lebten aufeuropäischem Boden; von den anderenwar ein großer Teil Europäer, der das Va-

terland verlassen hatte, um ein besseresLeben in den USA, in Lateinamerika oderanderswo zu führen: In den islamischenLändern rund um das Mittelmehr warendie jüdischen Führungsschichten durchdie europäischen Kolonialherren europä-isiert worden. Die große Mehrheit dieserJuden lebte aber an den östlichen Rändernder europäischen Kultur, unter dem Jochdes Zaren. Dort begründeten sie, zum ers-ten Mal in der Geschichte, eine säkulare –und europäische – jüdische Kultur.

Schnell wird der jüdische Beitrag zuden europäischen Errungenschaften im

Élie Barnavi

(*1946) war von 2000 bis 2002Botschafter Israels in Frankreich.

Der emeritierte Professor für Modernewestliche Geschichte der Universität

Tel Aviv ist momentan wissenschaftlicherBerater des Europamuseums in Brüssel.

[email protected]

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Bereich der Wissenschaft, der Kunst undder Wirtschaft verherrlicht. Dieser stehtaußer Zweifel, denkt man z.B. an das revo-lutionierende Dreigestirn unserer Moder-ne: Marx, Freud und Einstein. Dabei wirdjedoch leicht verdrängt, dass es Bedin-gungen gab, die diesen Beitrag erst mög-lich machten:

Einerseits hatten die herrschendenGruppen – zumindest bis zu einem gewis-sen Punkt – ihre jüdische Komponente in-tegriert und die Juden selbst wünschtensich nichts mehr als sich in die Kultur derherrschenden Schichten zu integrieren.

Andererseits war eine wichtige Ur-sache für den ungeheueren Einfluss einerzahlenmäßig eigentlich zu vernachläs-sigenden Minderheit auf die europäischeZivilisation des 19. und 20. Jahrhundertsgerade ihre ambivalente Stellung: zum ei-nen vollständig integriert und zum ande-ren irgendwie abseits: Im Herzen der euro-päischen Kultur, aber am Rand der euro-päischen Gesellschaft.

Als der junge ReligionshistorikerGershom Scholem seinem Vater, einemdeutschen Juden, der so assimiliert warwie ein deutscher Jude es nur sein konnte,verkündete, dass er Zionist geworden sei,hat Scholems Vater entrüstet gerufen:»Du willst uns wohl ins Ghetto bringen.«Hierauf antwortete Gershom: »Aber ihrlebt doch schon im Ghetto. Ihr habt nichteinen einzigen Freund, der kein Judeist…«

Der Zionismus selbstist eine europäische Erfindung

Von der Grundidee stützte sich die na-tionale Bewegung des jüdischen Volkes aufdie europäische Nationalitätenbewegung– mit den Worten des deutschen ZionistenKurt Blumenthal gesagt: Sie war »das Ge-schenk Europas an die Juden«. Deshalbgab Moses Hess auch seinem Essay von1862 über Rom und Jerusalem den Unter-

titel: »Die letzte nationale Frage«. Einetypisch europäische Illusion.

Das Vorbild der europäischen nationa-len Bewegungen alleine hätte nicht genügt,denn die meisten Juden hatten überhauptkein Interesse am Zionismus.Viele von ih-nen waren beseelt von den liberalen Fort-schritts- und Menschenrechtsgedankenund glaubten, dass der Antisemitismusnur ein Überbleibsel der Vergangenheitsei, dazu verurteilt, mit der Zeit von alleineunterzugehen. Andere, die der Auffassungwaren, dass der Antisemitismus nur eineFolge des allgemeinen Elends der Men-schen sei, verursacht durch das kapitalisti-sche System, wurden Anhänger der Revo-lution. Wieder andere versuchten, die na-tionale jüdische Einheit in Europa zu ret-ten, indem sie die kulturelle Autonomie inder einen oder anderen Form förderten.Doch egal welche Lösung angestrebt wur-de, alle waren Europäer und Europa warihr einziger Horizont.

Europa im Gepäck

Nur wenige verstanden, was die Zionistenbegriffen hatten: nämlich, dass sehr baldim letzten Drittel des 19. Jahrhundert dieStaats-Nation, das universelle Ziel,welchesvon der Französischen Revolution vererbtworden war, verloren hatte. Fichte rächtesich an Rousseau und seinen Erben der1789er Revolution: Der freie Vertrag derBürger, die von der Vernunft geleitet undunter einem gemeinsamen Gesetz leben,wurde ersetzt durch die organische Ge-meinschaft des Fleisches, des Blutes undder Geschichte, die Vorrang vor dem In-dividuum und dem Transzendenten hat.In einer so konzipierten Staats-Nation gabes keinen Platz für Juden. So entstand dasBedürfnis, sich eine eigene Staats-Nationzu schaffen.

Es war Theodor Herzl, dieses Muster-beispiel des Europäertums, der, bevor erden politischen Zionismus erfand, davon

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träumte, alle Juden aus Wien zur Kathe-drale Saint-Etienne zu schicken, um eineKonversion der Massen auf einen Schlagvorzunehmen.Seiner Meinung zufolge wares die Dreyfus-Affäre, die ihn zur »natio-nalen Lösung« bekehrt hatte. Wenn dashoch zivilisierte Frankreich, das Vaterlandder Revolution und der Menschenrechte,in der Lage war, einen solchen Schwall anirrationalem Hass hervorzubringen, danngab es keine Hoffnung mehr für die Judenin Europa.

Doch selbst nachdem er sein Werk DerJudenstaat verfasst hatte, konnte er sichkeinen anderen jüdischen Staat als eineneuropäischen vorstellen – eine Art Wienins Morgenland verlegt, wo Deutsch ge-sprochen würde – denn wer, sagte er,ist schon in der Lage ein Bahnticket aufHebräisch zu kaufen? – und der sich unterallen Umständen zivilisiert, also europä-isch, verhalten würde. Dies ist, wie FrançoisFuret sehr richtig gesehen hat, einer derfrappierendsten Widersprüche des zionis-tischen Unternehmens: Die Zionisten sindaus Europa geflohen, um es dann doch bes-ser mit sich zu nehmen.

Der Nationalismus war der eine As-pekt, den der Zionismus von Europa ge-erbt hatte. Der andere war die Revolution.Denn ideologisch gesehen war der Zionis-mus von Anfang an eine radikale Unter-nehmung, in der es um den Bruch, eineAbspaltung von Vergangenheit und Ge-genwart und gleichzeitig eine kühne Pro-jektion für die Zukunft ging. Wie in allenRevolutionen sollte mit der Vergangenheitabgerechnet werden.

Der Zionismus versuchte, einen neuenMenschen zu erschaffen, eine Brücke überzwanzig Jahrhunderte des Exils hinweg zubauen und so die Diaspora abzuschaffenund sie der Geschichte zu überantwor-ten. Er verachtete das »Yiddish« und dieGhettokultur. Er verherrlichte den Kultder Macht, der Helden und der Märtyrer.Wie die Französische Revolution schufder Zionismus sein eigenes Ancien Régi-

me und zeigte einen starken Glauben anden politischen Voluntarismus, an die Fä-higkeit des Menschen, sein eigenes Schick-sal durch die politische Aktion zu gestal-ten.

Es ist sicherlich nicht falsch,wenn manin all dem nur einen einfachen Avatar desalten jüdischen Messianismus erkennt.Aber eines Messianismus, der ordnungs-gemäß säkularisiert und nationalisiert istund der in die Form der europäischen Tra-dition gegossen ist. Deshalb findet man inseinem Herzen einen soliden sozialdemo-kratischen Kern, der lange Zeit die zionis-tische Szene und dann die staatliche Szenebeherrscht hat. Man findet auch alle mög-lichen und vorstellbaren Grundhaltungen,vom dogmatischen Marxismus über denbürgerlichen Liberalismus bis zum fa-schistischen Chauvinismus.

Als der Staat Israel das Licht der Welterblickte, wurde er auf europäischen Insti-tutionen und Werten gegründet. Nicht,dass die Gründerväter Europa geliebt hät-ten, es war kaum drei Jahre her, dass Eu-ropa endlich aufgehört hatte, ihrem Volkdas Grab zu schaufeln. Aber sie kanntennichts anderes. Nach all dem waren siedoch schließlich Europäer. So entstand inIsrael eine parlamentarische Demokratie,in der – bemerkenswert auch vor demHintergrund der Umstände, unter denender Staat entstanden war – die grundsätz-lichen Menschenrechte seiner Bürger res-pektiert wurden. Tatsächlich ist Israel dereinzige Staat, der im Krieg entstanden, imKrieg gewachsen und im Krieg gereift istund der es trotzdem geschafft hat, demo-kratische Institutionen zu bewahren.

Die Europäer wussten das. Es ist üblich,die Sympathiebekundungen, welche Israelin Europa in den ersten zwanzig Jahren sei-ner Existenz erfahren durfte,auf das Schuld-bewusstsein der Europäer zurückzuführen,nachdem das ganze entsetzliche Ausmaßdes vom Hitlerschen Nationalsozialismusverübten Genozids bewusst wurde. Dasstimmt auch sicherlich, ist aber nur ein Teil

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der Wahrheit. Es gab auch, ob bewusst oderunbewusst, das tiefsitzende Gefühl, dassman nicht gleichgültig sein konnte gegen-über dem außergewöhnlichen Abenteuereiner Handvoll Überlebender, die versuch-ten, eine jüdische Einheit auf dem Landihrer Vorfahren zu neuem Leben zu er-wecken.

Das Unterfangen dieser Leute hatte et-was zu tun mit ihrem eigenen Leben, unddas Scheitern dieser Unternehmung unddie Vernichtung seiner Förderer wäre nichtnur eine nicht hinnehmbare Wiederholungdes Holocaust gewesen, sondern auch eineVerletzung am Korpus der eigenen Zivilisa-tion – der jüdisch-christlichen, wie man sievon da an bezeichnen sollte. Kurz, die Eu-ropäer fühlten, ob bewusst oder unbewusst,dass ihr eigenes Schicksal in gewisser Weisemit dem Schicksal der Überlebenden ver-bunden war.

Der Zauber verflog. Die Europäer ent-

deckten aber bald auch Risse in der israeli-schen Demokratie. Dem laizistischen Eu-ropa ist die Religiosität, von der IsraelsInstitutionen gefärbt sind, fremd. Dem zi-vilen Europa widerstrebt es auch, wenndem Militär und dem militärischem Ethosim öffentlichen Leben ein so großer Platzeingeräumt wird. Dem liberalen Europafällt es schwer, die ethnische Komponenteder israelischen Nationalität zu verstehenund mehr noch zu akzeptieren. Vor allemaber missfällt dem postkolonialen Europadie Besetzung des Bodens der Palästinen-ser und der Entrechtung des palästinensi-schen Volkes.

Und so hat Israel, das kämpfte, um zuleben, und lebte, um zu kämpfen, unddurch den großen Sieg im Sechstagekriegzu einer Nation von Eroberern wurde,Stück für Stück die Zustimmung und Un-terstützung von Teilen der europäischenÖffentlichkeit verloren.

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Das Verwandtschaftsgefühlschwindet

Auch die Israelis haben sich verändert, seitsie eine vollkommen unabhängige Nationgeworden sind. Sie sind immer wenigerEuropäer und immer mehr Mittelmeer-anrainer – manche würden sagen: Vertre-ter des Morgenlandes – geworden. Diemeisten unter ihnen fühlen keinerlei wirk-liche Verwandtschaft mehr zu Europa undseiner Kultur. Sie haben Europa nämlichnie wirklich geliebt, zu viele von ihnensind im europäischen Boden begraben,und sie haben eine bedauernswerte Ten-denz, in jeder Kritik an ihrer Politik einenAusdruck von Antisemitismus zu sehen.Im Laufe der Jahre wurde die UngeduldEuropas gegenüber der israelischen Politikimmer größer und umgekehrt schmolz dieSympathie der Israelis für Europa immermehr dahin.

In der Zwischenzeit, seit 1968, habensie Bande zu den USA geknüpft, einemLand ohne die blutige Vergangenheit, dieihre Beziehungen zu Europa überschattet,und das eine wirkliche Macht ist. DennErinnerung und Gefühle sind nicht alles,die harten Realitäten der Politik spielenauch eine Rolle. Europa ist ein wirtschaft-licher Riese, der politisch auf schwachenFüßen steht, der nicht in der Lage ist, miteiner einzigen Stimme zu sprechen und imEinvernehmen zu handeln, dessen Unver-mögen, in den Angelegenheiten des NahenOstens Gewicht zu haben, durch seinepolitische, diplomatische und militärischeBedeutungslosigkeit bedingt ist. Um aufder Bühne der Welt mitreden zu kön-nen, muss man aber erst einmal eine Rollespielen.

Aber ganz so düster sieht es in den Be-ziehungen zwischen Europa und dem he-bräischen Staat nun doch nicht aus. Daswäre ein falscher Eindruck. Mächtige Ver-bindungen, die sowohl offizieller (über As-soziationsvereinbarungen) als auch halb-offizieller Art sind, wie sie nur wenige Län-

der aufzuweisen haben, verbinden Israelund die Europäische Union.

Die israelischen Führungsschichtenwissen, dass eine kleine Nation mit 7 Mil-lionen Menschen, die immer noch nichtaufhören kann, um ihr Überleben und dieDefinition ihrer Identität zu kämpfen, essich einfach nicht erlauben kann, eine Ge-meinschaft mit annähernd einer halbenMilliarde Menschen zu ignorieren,die sichauf einem guten Weg zur Vereinigung be-findet, mit einem Bruttoinlandsprodukt,das dem der USA nahe kommt und dieschon eine der größten Handelsmächteder Welt ist.

In den Universitäten und in den ThinkTanks, in den Ministerialbüros wie auch inder wichtigen Presse hat man in Israelnoch nie so viel von Europa gesprochen.Und trotz der vorgefassten Meinungenaufgrund der Geschichte und der politi-schen Situation macht der Gedanke der In-tegration Israels in die Europäische Uniondie Runde. Laut einer kürzlich durch-geführten Umfrage wären drei Viertel derIsraelis hierzu bereit – zweifelsohne eineMöglichkeit, die Gefahren in einer insta-bilen und gewalttätigen Region zu bannen.

Dies wäre allerdings ein Trugbild. DerNahe Osten ist nicht Europa und auchwenn Israel ein Produkt Europas ist, soliegt es im Nahen Osten. Kann es wirklichdaran interessiert sein, seinen GegnernRecht zu geben, die es nur als einen Avatarder Kreuzritter sehen, wie diese dazu be-stimmt, beseitigt zu werden? Besser wärees sicherlich, sich fest einem zweiten me-diterranen Bund anzuschließen und die sogenannte Politik »der Nachbarschaft« zuverfolgen. Oder einer Union der Mittel-meerstaaten, wie sie sich Nicolas Sarkozyvorstellt und wie sie Angela Merkel korri-giert hat: mit einer möglichst weitgehen-den Integration in den europäischen Marktund schließlich der vollen und absolutenBeteiligung an seinen »vier Freizügigkei-ten«: der Personen, der Waren, der Dienst-leistungen und des Kapitals.

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Eines Tages können wir vielleicht nochweiter gehen. Der endlich in Friedenlebende Nahe Osten und die Staaten derRegion machen sich auf den holprigen,aber viel versprechenden Weg der Demo-kratisierung und der Entwicklung. UndEuropa wird dank seiner Pläne der kon-trollierten Erweiterung den Israelis undseinen Nachbarn dabei helfen, euro-päische Standards bei ihnen umzusetzen.Es geht darum, eine Integration vor Ort zuschaffen, um regionale Gebilde nach dem

Modell des europäischen Marktes aufzu-bauen. Was den Nahen Osten angeht, soverdeutlicht ein Blick auf die Karte, wieIsrael, Palästina, Jordanien, Syrien und derLibanon einen natürlichen Block – diefruchtbare Sichel der Geografen und See-leute – bilden. Man muss dieser Sichel dieExistenz sichern. Dies ist ein schönes Pro-jekt für das Europa der Zukunft.

(Aus dem Französischen von der Über-setzergemeinschaft Sternheimer.)

Ghassan Al-Khatib

Viele Schritte, kein Fortschritt

Trotz der Ungerechtigkeiten gegenüber den Palästinensern bei der Gründung desStaates Israel waren diese bereit, ihre historischen Rechte aufzugeben, um dieBeilegung des Konflikts voranzutreiben. Aber weder die internationale Gemein-schaft noch die israelische Führung haben einen ausreichenden Beitrag zurAussöhnung geleistet. So trugen sie zu Radikalisierungstendenzen innerhalb derpalästinensischen Bevölkerung bei.

Ghassan Al-Khatib

(*1954) ist Leiter des JerusalemMedia and Communication Center.Er ist führendes Mitglied in derPalästinensischen Volkspartei (PPP) undwar als Planungsminister sowie alsArbeitsminister in der PalästinensischenAutonomiebehörde tä[email protected]

Der arabisch-israelische Friedensprozess,der auf der internationalen Friedenskon-ferenz 1991 in Madrid eröffnet wurde,markiert eine dramatische Wende in derpolitischen Landschaft des Nahen Ostenssowie in den Positionen und im Denkenseiner Teilnehmer. Außerdem weckte erHoffnung und Optimismus in der palästi-nensischen wie in der israelischen Gesell-schaft. Das zeigte sich an der eindeutigenUnterstützung des Prozesses durch die Be-völkerung und an den durch beide Par-teien in den frühen 90er Jahren geschlos-senen Vorabkommen.

Doch 15 Jahre später, 60 Jahre nachEntstehung dieses Konflikts, zeigen dievoneinander abweichenden Gedenkfeiernzum 60. Jahrestag der Gründung des Staa-tes Israel,wie tief dieser Konflikt reicht undwie groß die konzeptionelle Kluft ist, diesich zwischen beiden Parteien auftut. DenIsraelis schenkte das Jahr 1948 Unabhän-

gigkeit und Eigenstaatlichkeit. Den Paläs-tinensern hingegen brachte es nur Unheil:die Zwangsaussiedlung von mehr als derHälfte ihrer Bevölkerung, die in der arabi-schen Welt verteilt in Flüchtlingslager ge-pfercht wurde.

Dennoch,mit der Zeit wird das,was dieIsraelis einst die »palästinensische Erzäh-lung« bezeichneten, eine unangefochteneund gut dokumentierte historische Tat-sache. Palästinensische wie israelische His-toriker kommen übereinstimmend zu demErgebnis, dass die vor-staatliche jüdische


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