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Ein Hai sitzt auf dem Trocknen

Date post: 04-Jan-2017
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Transcript

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Ein Hai sitzt auf dem Trocknen

oder Der Trick

von TINA CASPARI

Schneider Buch

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Die vier von der Pizza-Bande

Tommi, 13 Jahre alt, dunkle Haare, dunkle Au gen. Lustig, schnell und mutig, verantwortungs bewußt. Tommi ist aufbrausend, beruhigt sich aber schnell wieder. Er schmaust gern, besonders die Köstlichkeiten aus der Pizzeria seiner Eltern. Sie sind Italiener. Also ist Tommi auch Italiener aber in Deutschland geboren. In der 6. Klasse der Realschule ist er als Tommaso Carotti bekannt.

Schräubchen, 12 Jahre alt, wird so gerufen, weil sie schon als kleines Kind in der Autowerkstatt ihres Vaters mit Schrauben spielte. Kurze, blonde Haare, blaue Augen. Liebt Radfahren, Schwimmen und Skifahren. Wer sie ärgern will, ruft sie „Schreckschraube". In der Schule rufen sie die Lehrer „Stephanie Wagner".

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„TH", 13 Jahre alt (wenn er seinen Vornamen Walther nennt, sagt er immer, „mit TH, bitte"): sehr groß, sehr dünn, blondes, glattes Haar. Trägt eine Brille. Spielt furchtbar gern Gitarre, aber nicht sehr gut. Walthers Eltern sind geschieden. Er lebt beim Vater, der einen tollen Posten in einer großen Keksfabrik hat. In der Schule schreiben die Lehrer auf das Zeugnis von TH „Walther Roland" und darunter mittelmäßige Zensuren.

Milli, 12 Jahre alt. Wird Milli genannt, weil sie furchtbar gern viel Milch trinkt. Klein und zierlich. Hat langes, blondes Haar. Milli ist zuverlässig und verantwortungsbewußt. Liebt Tiere über alles. Ihre Lieblinge sind der Hund Moritz und Kater Max, die dicke Freunde sind. Milli will einmal den Bauernhof ihrer Eltern übernehmen. Sie hat Angst vor Geistern und Gespenstern. Die Lehrer, die sie als Anna Obermaier kennen, geben ihr gute Zensuren.

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Inhalt

Alles Blech! 6

Man muß die Feste feiern, wie sie fallen 12

Die türkische Prinzessin 18

Besuch im Lindenhof 25

Eine erstaunliche Begegnung 33

Der Geoschnüffler hat eine Idee 40

Eine unerwartete Entdeckung 46

Alarm in Haus 11 b 57

Nachtdienst für die Pizza-Bande 65

Unverhoffter Erfolg 72

Ein Freundschaftsfest 82

Der Hai greift an 87

Tumult im Rathaus von Sommerberg 93

Der Lindenhof in neuem Glanz 102

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Alles Blech!

„Vollidiot!" schrie Tommi vor Schmerz und Wut und rappelte sich unter seinem Fahrrad auf. „Hat seinen Führerschein im Osterei gefunden, wie?" „Tommi! Ist dir was passiert?" „Hast du dir weh getan, Tommi?" „Komm, ich helfe dir..." Milli, Schräubchen und Walther, genannt TH, die

drei übrigen Mitglieder der Pizza-Bande, ließen ihre Fahrräder auf den Bürgersteig fallen und stürzten zu dem am Boden hockenden Freund hin, aus dessen rechtem Arm und Knie Blut zu quellen begann.

Im Nu hatte sich ein Ring von Passanten um die Unfallstelle versammelt. „Der Autofahrer ist schuld! Ich hab's genau gesehen!"

schrie eine Frau, die aus dem Bäckerladen kam und überhaupt nicht wußte, worum es ging. „Ja, er ist viel zu schnell gefahren!" bestätigte ein

Fensterputzer, der auch nichts gesehen, aber die quietschenden Bremsen gehört hatte. „Eine Rücksichtslosigkeit! Ein hilfloses Kind

zusammenzufahren!" rief eine andere Passantin. Als hilfloses Kind ließ sich Tommi nicht gern bezeichnen. Trotzdem hielt er den Mund. Er war froh, daß offensichtlich alle auf seiner Seite waren, obgleich er gefahren war wie der Teufel. Der Autofahrer allerdings hatte die Vorfahrt nicht beachtet, das wog schwerer, er war aus der Stoppstraße eingebogen, ohne zu halten. Tommi schielte zu dem amerikanischen Wagen hinauf, von dessen Fahrersitz sich jetzt eine massige Gestalt erhob und ausstieg. Der Mann mußte einen schönen Schrecken bekommen haben, sein Kopf war feuerrot. „Verdammter Kerl, konntest du nicht aufpassen? Rast

mir in meinen Wagen wie ein Verrückter! Schau dir

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an, was du angerichtet hast! Ich kann nur hoffen, daß deine Eltern gut versichert sind! Sieh mal den Wagen an!"

Tommi mußte sich - trotz der Schmerzen in Arm und Knie - das Lachen verbeißen. Ja, da hatte er ganze Arbeit geleistet; der Wagen sah aus, als hätte ihn eine Riesenfaust eingedrückt, richtig zerknittert sah der Kotflügel aus.

Daß der Besitzer dieses großen Wagens kein Wort des Mitleids für den armen blutenden Jungen hatte, erboste die Sommerberger Bürger ungemein. „Brutaler Kerl!" „Rohling! Läßt das Kind hier einfach verbluten! Polizei! Ruft denn keiner den Krankenwagen?" „Der Notarzt muß her!" Von TH und Milli gestützt stand Tommi langsam

auf. „Ist nicht so schlimm", murmelte er und versuchte zu lächeln. „Nur ein paar Kratzer und blaue Flecken."

„Kannst du stehen?" fragte Schräubchen besorgt. „Komm, setz dich da drüben auf die Treppenstufen!" „Ach was, es geht schon. Hat einer ein Taschentuch,

damit ich mir das ein bißchen abwischen kann?" Tommi zeigte auf die Rinnsale von Blut, die seine nackten Beine hinunter in die Turnschuhe liefen.

Der Autofahrer hatte inzwischen begriffen, daß er hier nur von Gegnern umgeben war. Er hielt es für besser, sein Verhalten der Situation anzupassen. „Tut mir wirklich leid, Junge", sagte er und ließ ein

Gebiß sehen, das Tommi an einen riesigen Haifisch erinnerte. „Ein unglückliches Zusammentreffen, das muß man wohl sagen. Na komm, ich fahre dich zum Arzt, und dann werden wir mit deinen Eltern reden. Ich denke, das läßt sich alles regeln, ist ja zum Glück nicht viel passiert!" „Das könnte Ihnen so passen! Mit dem Jungen

wegfahren und sich der Polizei entziehen! Kommt nicht in Frage, Sie bleiben hier!" wetterte ein alter

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Mann. „Raffiniert! Fahrerflucht begehen, das kennt man

schon. Der speist an der nächsten Ecke das Kind mit einem Hunderter ab und fährt davon!" ereiferte sich die Bäckersfrau. „Keine Sorge, die Polizei ist gleich da." „Werden Sie nicht unverschämt! Das ist eine

Unterstellung.. . eine ungeheuerliche Unterstellung!" prustete der Hai, und sein Kopf lief noch etwas dunkler an. „Ich habe dem Jungen nur helfen wollen! Wissen Sie überhaupt, mit wem Sie reden?" „Das interessiert mich gar nicht, Sie herzloser Kerl! Kommt, Kinder, bringt euren Freund zu mir herein." Die Bäckersfrau trieb die vier Mitglieder der Pizza-Bande vor sich her wie eine Glucke ihre Küken, als müsse sie sie vor weiteren Angriffen schützen. Im Hinterzimmer der Bäckerei wurde Tommi auf ein Sofa verfrachtet; die Bäckersfrau holte ein angefeuchtetes Handtuch, um Tommi von den Spuren des Zusammenpralls zu reinigen. Draußen ertönte die Sirene des Polizeiwagens, und TH und Schräubchen liefen hinaus, um die Fahrräder ordnungsgemäß abzustellen und nötigenfalls ihre Aussagen zu machen.

„Magst du ein Eis, auf den Schreck hin?" fragte die Bäckersfrau. "Oder einen Kuchen?"

Tommi nickte begeistert, was die Bäckersfrau als Bestätigung nahm, daß er am liebsten beides wolle -Kuchen und Eis. Sie hatte ihn richtig verstanden.

Als ein Polizist den Raum betrat, um das Unfallopfer zu befragen, saß Tommi vor einer großen Kuchenplatte, mit vollen Backen mampfend, und hielt ein Glas mit Eiscreme in der Hand. Milli, die ebenfalls an einem Eis schleckte, verzog sich. „Na, dir geht's offensichtlich schon wieder besser",

sagte der Polizeibeamte schmunzelnd. „Und ein Unschuldsengel bist du auch, wenn man den Aussagen der Zeugen glauben darf. Nun erzähl mir mal, wie

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das passiert ist." Tommi schluckte; er legte mit einem Gefühl des

Bedauerns über die lästige Unterbrechung den Löffel zur Seite und berichtete. Er hatte kaum begonnen, da erschien der Notarzt. Er scheuchte den Polizeibeamten und Milli aus dem Zimmer und setzte sich neben Tommi, um ihn zu untersuchen. „Mir ist gar nichts passiert!" protestierte Tommi.

„Wirklich, nur ein paar Kratzer!" „Das überlaß mal mir", sagte der Arzt ungerührt,

„das werden wir gleich feststellen. Tut das weh?" „Au! Nein, ist eigentlich nicht so schlimm..." „Wann war deine letzte Tetanus-Impfung?" „Meine letzte... ich weiß nicht, vor fünf Jahren oder

so, als ich mir den Fuß mit der Konservendose aufgeschnitten hatte, das war nämlich..." „Dann werde ich dir jetzt zur Sicherheit noch eine

Spritze geben. Zum Glück hast du wirklich nur ein paar Abschürfungen und Prellungen."

Tommi war gerade im Begriff gewesen, die aufregende Geschichte von der verrosteten Konservendose im See zu erzählen. Die Aussicht, eine Spritze zu bekommen, ließ ihn verstummen. Noch dazu wurden seine Wunden jetzt mit einer brennenden Flüssigkeit bearbeitet. „Muß das sein?" brachte Tommi hinter

zusammengepreßten Zähnen hervor. „Ich meine, das ist doch schon ausgeblutet! Das muß doch nicht noch chemisch gereinigt werden!"

Aber der Arzt ließ nicht mit sich handeln. Die Wunden wurden gesäubert und verbunden, dann bekam Tommi seine Spritze. Er seufzte tief auf, als alles vorbei war. „Den Kuchen habe ich mir jetzt aber ehrlich verdient!" „Sei froh, daß alles so glimpflich verlaufen ist und du

nicht im Krankenhaus gelandet bist", sagte der Arzt lachend. „Du großer Held, du!"

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„In Kleinigkeiten bin ich sehr sensibel", bemerkte Tommi. „Jeder hat seine Schwachpunkte!"

Als der Arzt gegangen war, stürmten die Freunde das Hinterzimmer der Bäckerei. Die Bäckersfrau, im Gefühl, zu einer der Hauptakteure des Dramas geworden zu sein, spendierte noch einmal Kuchen und Eis für alle, während der Polizist seine Befragung fortsetzte. „Herr Lehmgruber hat zugegeben, daß er das

Stoppschild übersehen hat", berichtete er. „Er sagt, er habe gerade eine schwierige Verhandlung im Rathaus gehabt und sei mit seinen Gedanken noch bei den dort diskutierten Problemen gewesen." „Lehmgruber heißt er also. Ist er aus Sommerberg?"

erkundigte sich Schräubchen. „Irgendwie kommt mir der Name bekannt vor." „Kein Wunder, seine Lastwagen donnern hier

täglich durch die Hauptstraße. Harry Lehmgruber ist Bauunternehmer und Grundstücksmakler. In der Nordstadt hat er ganze Straßenzüge gebaut." „Dann muß er doch steinreich sein?"

„Davon kann man ausgehen, ja." Der Polizeibeamte stellte Tommi noch ein paar Fragen, dann stand er auf und verabschiedete sich von den Mitgliedern der Pizza-Bande. Er hatte sie zwar persönlich noch nicht gekannt, aber schon von ihren Taten gehört; denn ihre Hilfe bei der Aufklärung schwieriger Fälle war immer wieder Gesprächsthema Nummer eins in den Diensträumen der Polizeibeamten von Sommerberg. „Wie ist es, soll ich dich nach Hause fahren?"

fragte der Beamte Tommi. Tommi warf einen Blick auf die immer noch

wohlgefüllte Kuchenplatte und schüttelte schnell den Kopf. „Nein danke, wir essen erst mal in Ruhe den Kuchen

auf. Ich hab's ja nicht weit bis zur Pizzeria Mamma,

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Gina." „In Ordnung. Ich fahre bei deinen Eltern vorbei und

erzähle ihnen, was passiert ist. Sonst denken sie am Ende noch, du hättest dein Fahrrad selbst so demoliert!"

„Werden sie was zahlen müssen?" fragte Tommi erschrocken. „Keine Sorge, dafür ist Harry Lehmgrubers Versicherung zuständig. Vielleicht hast du Glück und bekommst ein ganz neues Fahrrad." Tommi grinste zufrieden. „Ja, wenn das so ist! Dann will ich so eines wie

Schräubchen hat!"

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Man muß die Feste feiern, wie sie fallen

Bei der gewaltigen Kuchenschlacht im Hinterzimmer des Bäckerladens sollte es nicht bleiben.

Kaum näherte sich Tommi hinkend und sein stark beschädigtes Fahrrad schiebend der Pizzeria, stürzten Papa Francesco, Mamma Gina und seine Schwester Nele auf ihn zu und umarmten ihn, als sei er jahrelang im Himalaya verschollen gewesen.

Milli, Schräubchen und TH hörten verwirrt auf das Gezwitscher aus italienischen Lauten, dem nicht genau zu entnehmen war, ob man Tommi nun kräftig die Leviten las, ihn bedauerte und tröstete oder nur der Sorge um seine Verletzungen Ausdruck gab. „Ja, ich hab wirklich unverschämtes Glück gehabt!"

sagte Tommi und reckte sich. „Hätte ich nicht so schnell reagiert und mich auf die Seite geworfen, ich wäre jetzt sicher ein Engel da oben!"

„Sicher wäre ich da nicht!" warf Milli lachend ein. „Ich meine, was die Engelsflügel betrifft."

„Na, ist ja auch egal", sagte Tommi feierlich. „Ich finde jedenfalls, meine Auferstehung muß gefeiert werden!" „So ist es, Junge." Papa Francesco schlug Tommi

erleichtert und gerührt auf die Schulter. „Wenn das kein Grund zum Feiern ist! Die Pizza-Bande bekommt heute ein Festmenü, und wir alle werden mit dir auf deine Rettung anstoßen. Nele, deck den Tisch im Hinterzimmer, und ihr könnt inzwischen mit Mama besprechen, was ihr essen möchtet. Ich rufe eure Eltern an, ob sie nicht Lust haben, mit uns zu feiern. Die Rettung meines Sohnes!" Wieder legte Papa Francesco Tommi die Hand auf die Schulter, als müsse er sich vergewissern, daß sein Sohn leibhaftig neben ihm stand. „Wenn ich denke, was

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hätte passieren können!" Millis Eltern, Herr und Frau Obermaier, hatten

natürlich keine Zeit, der Einladung von Papa Francesco Folge zu leisten, und auch Walthers Vater, Herr Roland, war im Dienst unabkömmlich. Aber Herr und Frau Wagner, Schräubchens Eltern, kamen gern, es war, als hätten sie geradezu auf eine Gelegenheit gewartet, ihren täglichen Pflichten einmal zu entkommen. In der Autowerkstatt mußte es auch einmal ohne Vater Wagner gehen, und Schräubchens Mutter ließ ihren vollen Bügelkorb nur allzu gern stehen. So saß denn bald eine vergnügte Runde um den großen Tisch im Hinterzimmer der Pizzeria MAMMA GINA beisammen, das an anderen Tagen der Pizza-Bande als Versammlungsraum diente. Nele hatte heute, beeindruckt von dem, was ihrem Bruder zugestoßen war, auf ihren gewohnten Protest verzichtet und war eifrig bemüht, den Tisch für die Gäste hübsch herzurichten. Milli half ihr dabei, während Schräubchen und TH die Getränke herbeischleppten und einschenkten. Eine ganze Batterie von Wein-, Mineralwasser-, Cola- und Limoflaschen hatte Papa Francesco auf dem Tresen des Gastraums bereitgestellt.

Und dann wurde aufgetragen. Als Vorspeise gab es eine gewaltige Platte mit Antipa-

sti, kleinen gebackenen Fischen, eingelegten Gemüsen, Salamischeibchen und Schinkenröllchen, Pilzen und Oliven.

Als zweiten Gang Spaghetti, Gnocchi, Tortellini und grüne Bandnudeln nach Wahl mit verschiedenen Soßen: weißer Käsesahnesoße, roter Tomatensoße, grünem Basilikumpesto.

Dann ging es erst richtig los, denn nun kamen

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gebackene Fische und Scampi für die einen, gegrilltes Fleisch für die anderen, dazu große Schüsseln Salat, mehrere Gemüse und Pommes frites oder knackig frisches Knoblauchbrot, je nach Wunsch.

Danach gab es eine Käseplatte mit Obst, dazu holte Papa Francesco einen ganz besonderen Wein aus dem Keller.

Und schließlich die Süßspeisen. Creme Caramel, Tiramisu, Cassata und Obstsalat zur Auswahl. Zabaio-ne nach Art des Hauses und zum Espresso kleine Kuchen.

Es war, als wäre Mamma Gina bemüht, in einem Wettkochen den ersten Preis zu gewinnen. Die Gäste konnten eigentlich schon nichts mehr essen, aber immer wieder forderte Mamma Gina zum Zugreifen auf, empfahl dieses oder jenes doch wenigstens zu probieren. Und wer streikte, bekam von Papa Francesco einen würzig-süßen Magenbitter kredenzt, der Platz schaffte für neue Genüsse. „Hätte ich doch bloß nicht soviel Kuchen gegessen!"

seufzte Tommi. „Mamma, heute hast du dich selbst übertroffen! So toll hast du noch nie gekocht!" „Ja wirklich, ich wünschte, ich hätte einen

Elefantenmagen!" bestätigte TH und schaute sehnsüchtig auf die Zuppa romana, die Mamma Gina gerade hereinbrachte, „nur zum Probieren ein winziges Stückchen", ein Gedicht aus Schlagsahne, Kirschen und likörgetränktem Bisquit. „Aber ich kann wirklich nicht mehr!"

Das Essen war beendet, Vater Wagner zündete sich eine Pfeife an und Papa Francesco eine Zigarre, was er nur zu besonderen Gelegenheiten tat. Mamma Gina setzte sich zu der vergnügten Runde, das Gesicht strahlend und hochrot von der überstandenen Küchenschlacht. An die Tür des Lokals hatte Papa Francesco ein Schild gehängt: Wegen Familienfeier

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heute geschlossen! Die Unterhaltung wurde lebhafter, Frau Wagner ließ

sich von Mamma Gina in die Geheimnisse des echten „Pesto" einweihen, Vater Wagner diskutierte mit Papa Francesco den Unterschied zwischen deutschen und italienischen Weinen - meistens trank er nur Bier -, und die Kinder verhandelten halblaut darüber, ob das heutige Ereignis als überzeugender Grund dafür angesehen werden könne, daß sie die Hausaufgaben nicht gemacht hatten. „Die König nimmt uns das nie ab!" stöhnte Schräub-

chen. „Etwas Wichtigeres als die Schule gibt es in ihren Augen gar nicht. Und wenn wir sagen, wir wären so lange auf dem Polizeirevier verhört worden, sagt sie höchstens, wir hätten die Aufgaben vorm Schlafengehen machen müssen!" „Ja, die ist hart wie Granit. Ich glaube, sie hat Essig

statt Blut in den Adern", bestätigte Milli. „So graugrün wie die immer aussieht. Wahrscheinlich durfte sie als Kind am Nachmittag nichts anderes tun, als für die Schule zu arbeiten. Jetzt rächt sie sich dafür." „Da haben wir's leichter. Der Hartel läßt mit sich

reden und die Bott auch", sagte TH zufrieden. „Ist doch klar, daß man sich nach so einem Erlebnis nicht mehr konzentrieren kann."

Draußen wurde heftig an die Tür des Lokals geklopft. „Geschlossen!" brummte Papa Francesco. „Kann der nicht lesen?" Wieder klopfte es. „Ich sehe mal nach." Mamma Gina stand auf, und gleich darauf hörte man

sie entzückt aufschreien. „Mamma mia, der arme Herr Roland! Ist doch noch

gekommen, und wir lassen ihn vor der verschlossenen Tür stehen! Kommen Sie, kommen Sie herein, Sie bekommen sofort zu essen!" „Aber nein, ich bitte Sie, das ist doch nicht nötig",

wehrte Walthers Vater ab, „ich wollte nur nachsehen,

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ob mein Sohn noch bei Ihnen ist..." „Setzen Sie sich, bitteschön, hierher", unterbrach ihn

Mamma Gina und drückte ihn mit sanfter Gewalt auf einen Stuhl. Papa Francesco war bereits unterwegs, um dem Nachzügler ein Glas zu holen. „Prima, daß du da bist, Papa", sagte TH, und seine

Augen leuchteten, denn allzu selten hatten Vater und Sohn Zeit füreinander. „Du glaubst nicht, was wir alles gegessen haben! Hast du schon gehört, was Tommi passiert ist?"

Tommi wartete Herrn Rolands Antwort nicht ab, er begann sofort, seinen Unfall noch einmal in den leuchtendsten Farben zu schildern. Bei dem Namen Lehmgruber stutzte Herr Roland.

„Hany Lehmgruber? Das ist doch der Bauspekulant, der der Stadt die Moorwiesen unten am See schenken wollte, für den Bau eines neuen Strandbads." „Ein gräßlicher Typ", sagte Tommi. „Er erinnert

mich an einen gefräßigen Hai. Einen Tigerhai mit solchen Zähnen!" Tommi malte ein Gebiß in die Luft, das zu einem ausgewachsenen Walfisch gepaßt hätte. „Wirklich, als der sich so grimmig grinsend über mich beugte, dachte ich, jetzt beißt er gleich zu! Und der Schlitten, den der fuhr! Muß 'ne Menge Kies haben. Na ja, mit Häuserbauen verdient er sicher klotzig." „Aber wenn er der Stadt so ein großes Grundstück schenken wollte, kann er doch kein schlechter Mensch sein!" widersprach Schräubchens Mutter. Herr Roland wehrte lachend ab. „Harry Lehmgruber tut nichts Selbstloses, da können

Sie sicher sein, Frau Wagner. Als Gegenleistung wollte er von der Stadt eine Baugenehmigung für ein Stück Land, das im Landschaftsschutzgebiet liegt. Zum Glück ist die Stadt nicht darauf eingegangen. Die Sache stand neulich in der Zeitung, haben Sie's nicht gelesen?"

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„Nein, das ist mir entgangen." „Jedenfalls sollte Ihre Versicherung mit dem

Herrn nicht zimperlich sein, Herr Carotti", wandte sich Vater Roland an Papa Francesco. „Der Lehmgruber hat mit Bauspekulationen ein Vermögen gemacht, der weiß, wie man noch aus der aussichtslosesten Sache Kapital schlägt." „Ich werde aufpassen! Wer meinem Sohn zu nahe

kommt, kann sich ohnehin auf was gefaßt machen", knurrte Papa Francesco. „Ich wollte ja gleich anrufen, aber Gina und dieser Polizist haben mich daran gehindert." „Anrufen?" Mamma Gina lachte auf. „Hinlaufen

wollte er, ihn wütend zur Rede stellen! Am Ende hätten wir noch einen Prozeß wegen Körperverletzung bekommen!"

Sie saßen noch lange zusammen, redeten und lachten. Harry Lehmgruber hatten sie bald vergessen, sie freuten sich ganz einfach, zusammenzusein und zu feiern.

In dieser Nacht hatte Tommi schwere Träume. Vermutlich hatte er wirklich zu viel gegessen, da hatte nicht einmal ein kräftiger Schluck von Papa Francescos Hausmittel, dem bittersüßen Kräuterschnaps, geholfen. Immer wieder schreckte Tommi aus dem Schlaf hoch, weil sich vor ihm aus einem Meer von Spaghetti ein riesiger Hai erhob, das Maul aufriß und ihn zu verschlingen drohte. Schon spürte er die scharfen Zähne an Arm und Knie... bis er erwachte und sich an die Schürfwunden erinnerte, die so scheußlich brannten.

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Die türkische Prinzessin Seit Beginn des Schuljahrs gab es eine Neue in der Klasse von Milli und Schräubchen. Sie hatte eine Haut wie Sahnekaramellen und große schwarzbraune Augen. Ihre braunen Haare trug sie ganz altmodisch zu dicken Zöpfen geflochten mit Schleifen darin, und während die anderen Mädchen Jeans oder modische Hosen bevorzugten, trug sie stets weite Röcke oder Kleider mit Rüschen und weißem Kragen. Günsel hieß das Mädchen. Günsels Eltern stammten aus Istanbul, sie hatten vor vielen Jahren mit ihren Kindern die Türkei verlassen und waren in Deutschland heimisch geworden, wo der Vater eine gute Stellung gefunden hatte.

Günsel war noch in der Türkei geboren worden, aber da sie in Deutschland aufwuchs, sprach sie Deutsch so gut wie ihre Muttersprache. Und wäre nicht der fremd klingende Name gewesen und die ein wenig altmodische Art sich zu kleiden, die Mädchen hätten sie sicher für eine Deutsche gehalten.

Noch eines fiel an Günsel auf: sie war sehr still und zurückhaltend. Ihr Vater schien sie sehr streng erzogen zu haben, denn sie war so brav, höflich und fleißig, daß man in ihrer Gegenwart automatisch ein schlechtes Gewissen bekam. Diese Art machte es Günsel natürlich schwer, Freundinnen zu finden, aber sie schien auch keinen besonderen Wert darauf zu legen. Manche hielten sie deshalb für hochmütig, doch das war falsch, denn wenn man sie ansprach, erwies sie sich als hilfsbereit und freundlich. Kein Wunder, daß Günsel bald von allen „die Prinzessin" genannt wurde. Schon ihre romantischen Kleider legten dies nahe.

Milli mochte das stille, hübsche Mädchen besonders gern, sie versuchte oft auf dem Schulhof, Günsel in

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ein Gespräch zu ziehen. Oder sie brachte ihr von den Keksen oder der Schokolade mit, die TH ihr geschenkt hatte. So auch heute. „Hier, Günsel, die mußt du unbedingt probieren! Eine

neue Sorte, die sie in der Keksfabrik herstellen. Ich hab dir ja erzählt, daß Walthers Vater dort arbeitet." „Nein, danke." Günsel wandte sich ab, um ihr Gesicht vor Milli zu

verbergen. „Was ist los? Du hast geweint?" Günsel schüttelte heftig den Kopf. Milli drehte sie sanft zu sich um. „Du hast doch geweint! Ich seh's doch! Was ist los,

kann ich dir helfen?" Wieder schüttelte Günsel den Kopf und biß sich auf

die Lippen. „Ist es etwas mit deinen Eltern? Hattest du Krach zu

Hause? Oder mit jemandem hier in der Schule?" „Nein, nein", wehrte Günsel ab.

„Kann ich mir auch gar nicht vorstellen. Du bist so lieb, mit dir kann man sich unmöglich streiten!" Günsel lächelte, und das war genau das, was Milli beabsichtigt hatte. „Willst du es mir nicht erzählen?" fragte sie

vorsichtig. „Komm, wir gehen da hinüber unter den Baum, da sind wir ungestört."

In diesem Augenblick geschah etwas Unerwartetes. Aus einer Gruppe älterer Jungen löste sich eine schlanke, dunkle Gestalt und stellte sich den Mädchen in den Weg. Der Junge packte Günsel am Arm, zog sie zu sich herüber und herrschte sie auf türkisch an. Dann wandte er sich an Milli. „Wir sprechen nicht mit Deutschen!" sagte er kalt. Günsel löste sich mit einer raschen Bewegung aus seinem Griff. Demonstrativ stellte sie sich neben Milli und sah den Jungen mit blitzenden Augen an.

„Das ist eine Freundin. Sie ist immer nett zu mir gewesen, von Anfang an! Sie ist nicht wie die

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anderen!" „Wie wer?" fragte Milli verwirrt. „Wer hat euch etwas

getan? Hat euch jemand beleidigt?" „Beleidigt?" sagte der Junge verächtlich. „Uns kann

keiner beleidigen. Eine gemeine Bande ist es! Ihr verachtet uns, aber wir... wir verachten euch noch viel mehr!" „Hör auf, Mehmet! Milli ist nicht so! Und sie kann

nichts dafür! Das ist mein ältester Bruder", stellte Günsel den Jungen vor. „Und der dort kommt, ist mein Bruder All."

Ali war im Gegensatz zu seinem Bruder rundlich und klein, er hatte ein immer vergnügtes Gesicht. Mit seinen riesigen dunklen Augen erinnerte er Milli an ein verspieltes Seehundbaby, sie mochte ihn sofort.

Hinter Milli tauchte Schräubchen auf. „Mehmet", sagte Milli schnell, als sie den finsteren

Ausdruck im Gesicht des Jungen sah, „dies ist meine Freundin Stephanie Wagner! Wir nennen sie Schräubchen, weil sie, als sie noch kleiner war, in der Autowerkstatt ihres Vaters immer so gern mit Schrauben gespielt hat."

Mehmet war ebenso streng erzogen wie seine Schwester, und so gab er Schräubchen widerwillig die Hand. „Hallo!" sagte Schräubchen. „Nett, euch

kennenzulernen! Ihr seid die Brüder von unserer Prinzessin?"

„Prinzessin?" „Ja, wir nennen sie so, weil sie so hübsch ist und so

ein feines Gesicht hat." Mit diesem Satz hatte Schräubchen, ohne es zu

ahnen, bei Mehmet das Eis gebrochen. Daß man seine Schwester in ihrer Klasse nicht herablassend als Gastarbeiterkind betrachtete, sondern sie mochte, stimmte ihn sofort versöhnlich. „Günsel und ihre Brüder haben offenbar etwas

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Häßliches erlebt", klärte Milli Schräubchen auf. „Ich bat Günsel gerade, mir zu erzählen, was passiert ist. Sie hat geweint." „Was ist denn passiert?" „Ich glaube nicht, daß es euch interessieren wird",

wehrte Mehmet ab. „Und ob es uns interessiert! Vielleicht können wir

euch doch helfen?" „Ihr uns helfen?" Mehmet lachte verächtlich auf. „Noch nie was von der Pizza-Bande gehört?" fragte

Milli munter. „Ihr würdet staunen, was wir schon alles geschafft haben!" „Milli, Tommi Carotti, Walther Roland - TH, ihr

wißt schon - und ich, wir vier Freunde sind die Pizza-Bande", klärte Schräubchen die drei Türken auf. „Und unser Ziel ist es, wenn irgendwo was faul ist, die Sache aufzudecken und in Ordnung zu bringen. Was das betrifft, waren wir schon ganz schön erfolgreich, das kann ich euch flüstern!" „Also schön", sagte Mehmet, „ich will's euch

erzählen. Es geht um..." In diesem Augenblick läutete die Glocke zur

nächsten Stunde. „Wißt ihr was?" sagte Milli. „Am besten treffen wir

uns nach der Schule hier und besprechen alles. Dann sind nämlich auch Tommi und TH dabei, und die Pizza-Bande ist vollzählig. Jetzt reicht die Zeit sowieso nicht mehr. Klar?"

„Klar." Milli gelang es, eine Nachricht in Tommis und

Walthers Klasse zu schmuggeln, die die beiden über die bevorstehende Unterredung informierte. Die Armen schwitzten über einer zweistündigen Klassenarbeit und hatten in der Pause oben bleiben müssen. So betraten die beiden Jungen nach Schulschluß mit ernsten Mienen den Schauplatz.

Milli, Schräubchen und die drei Türken erwarteten

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sie schon. Man begrüßte sich gemessen; dann schlug TH vor, sich zur Beratung auf eine Wiese hinter dem Sportplatz zurückzuziehen. Dort würde sie um diese Zeit keiner stören.

Mehmet, Ali und Günsel waren ein bißchen verlegen angesichts der Feierlichkeit, die die Pizza-Bande zur Schau trug. Andererseits genossen sie es, daß man ihre Sorgen so ernst nahm. „Also? Was ist euer Problem?" fragte Milli

herzlich, denn sie spürte die Unsicherheit der drei jungen Türken.

Mehmet räusperte sich und sah hilfesuchend seine Schwester an. Dann streckte er sich entschlossen. „Ihr wißt, wir sind noch nicht lange in Sommerberg.

Mein Vater hat bis jetzt in Stuttgart gearbeitet. In diesen Jahren in Deutschland hat er sich bis zum Meister hochgearbeitet. Es gefällt ihm in diesem Land, und er möchte gern für immer bleiben. Dann wurde ihm die Stellung in Sommerberg angeboten, ein ehemaliger Kollege hat sich hier selbständig gemacht und wollte meinen Vater unbedingt zum Partner haben. Es gelang ihm sogar, eine schöne Wohnung für uns zu bekommen. Das dachten wir jedenfalls, als wir einzogen."

„Und? Ist sie nicht schön?" „Nun, es ist ein altes Haus, es gibt viel zu

reparieren dort, aber die Wohnungen sind schön, und im Hof gibt es vier große alte Linden und einen Rasenplatz und Büsche. Die Mauern sind mit wildem Wein bewachsen, bis unters Dach", erzählte Günsel.

„Hört sich toll an", bemerkte Schräubchen. „Und wo ist der Haken bei der Sache?" „Die Menschen", sagte Günsel leise. „Die anderen Mieter? Sind sie gemein zu euch? Wollen sie euch nicht in ihrem Haus haben?" „Am Anfang waren sie ganz nett. Sie haben ja gesehen,

daß wir eine ordentliche Familie sind, wir waren

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höflich und haben niemandem etwas getan", fuhr Mehmet fort. „Aber dann gingen lauter Sachen kaputt, und sie haben behauptet, wir sind es gewesen. Wir... und die anderen türkischen Familien, die im Haus wohnen." „Aber sie konnten euch doch nichts beweisen?"

erkundigte sich Tommi. „Natürlich nicht!" sagte der kleine Ali heftig. „Uns

nicht und den anderen auch nicht. Sie sagen es aus Gemeinheit! Um es uns in die Schuhe zu schieben!"

„Was sind das für Leute?" erkundigte sich TH. „Die anderen Mieter, meine ich." „Die meisten sind schon alt", berichtete Günsel. „Sie

wohnen schon sehr lange dort. Die Mieten sind nicht teuer. Und wer so eine Wohnung hat, gibt sie nicht so leicht her. Nur wenn jemand stirbt, wird eine frei. Zum Glück ist der Hausbesitzer ein netter Mensch. Er hat nichts gegen türkische Familien. Immer wenn eine Wohnung frei wird, vermietet er sie an Türken weiter. Natürlich müssen sie mehr bezahlen..."

„Natürlich? Warum ist das natürlich?" Günsel und Mehmet zuckten mit den Schultern.

„Vielleicht, weil unsere Familien so groß sind. Und dann... es sind alte Häuser, und die Reparaturen sind teuer, sagt er." „Läßt er die Häuser denn renovieren?" fragte Milli. „Bis jetzt nicht. Aber er hat davon gesprochen." „Reden kann man viel." Die vier Mitglieder der Pizza-Bande sahen sich an. Irgend etwas war faul an der Sache, sie wußten nur noch nicht was. „Wer macht denn nun wirklich etwas kaputt im

Haus? Was glaubt ihr? Die anderen Mieter?" fragte Schräub-chen. „In einem Haus geht immer mal was kaputt",

wehrte Tommi ab. „Das ist doch überhaupt nichts

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Besonderes, vor allem, wenn das Haus schon so alt ist!"

„Aber es sind nicht solche Sachen!" widersprach Günsel. „Ich meine, nichts, was von allein kaputtgeht. Fensterscheiben werden zerbrochen, Steckdosen oder Schalter rausgerissen, Türklinken verschwinden..." „Und man hat nie jemanden dabei erwischt?" fragte

TH verwundert. „Nein, nie." „Das hört sich nach Sabotage an! Irgendeiner der

Mieter will euch raushaben, deshalb macht er diese Sachen. Also, wenn ihr mich fragt: wir sollten dringend einen Lokaltermin abhalten, Leute." „Einen Lokaltermin?" „Ja, um uns die Angelegenheit an Ort und Stelle

anzusehen. Wäre es euch recht, wenn wir uns in eurem Haus mal ein bißchen umsehen? Wir werden einen ganz harmlosen Besuch machen und dabei Augen und Ohren aufreißen."

„Wir müssen mit unseren Eltern sprechen", sagte Mehmet. „Aber natürlich könnt ihr kommen. Klar." „Okay, fragt eure Eltern, und wenn sie nichts dagegen

haben, kommen wir morgen nachmittag zu euch!" Die drei jungen Türken nickten eifrig, und in

gutem Einvernehmen trennte man sich. „Wäre doch gelacht", sagte Tommi, als die drei

gegangen waren, „wenn wir den miesen Kerl, der so nette Leute in falschen Verdacht bringt, nicht erwischen!"

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Besuch Im Lindenhof

Sie trafen Günsel, Mehmet und Ali vor dem Bahnhof. Von hier aus waren es noch etwa zehn Minuten bis zu dem im Norden der Stadt gelegenen Lindenhof.

Sie gingen eine Reihe eintöniger Straßen mit mehrstöckigen Wohnhäusern entlang, überquerten einen Platz, bogen in das Neubauviertel ein und befanden sich schließlich in einer Straße, in der mitten zwischen einer Zeile grauer Mietshäuser eine hohe, dicht bewachsene Mauer aufragte. Hinter dieser Mauer sah man altmodische, ebenfalls dicht bewachsene Häuser mit mächtigen Giebeldächern, die sich im Viereck um einen geräumigen Hof schlössen. „Wir sind da", sagte Mehmet und ließ mit einer

Handbewegung die Gäste vorgehen. Sie durchschritten ein hohes, schmiedeeisernes

Tor und gleich darauf einen gewölbten Torbogen, der unter dem Haupthaus in den Innenhof führte.

„Toll!" platzte Milli heraus. „Das ist ja ein richtiges Paradies! Ein herrlich verwildertes Paradies!"

„Was war das früher einmal, wißt ihr das?" erkundigte sich TH. „Könnte ein großer Gutshof gewesen sein", meinte

Milli. „Nein", widersprach Tommi. „Seht doch, die

verfallene Kirche dort hinten! Das Portal ist mit Brettern zugenagelt. Sicher war das mal ein Kloster." „Stimmt!" bestätigte Günsel. „Eine alte Frau hat mir

davon erzählt. Vor vielen Jahren war der Lindenhof ein Nonnenkloster mit einem Altersheim. Dann wurde das Heim vorübergehend von der Stadt übernommen,

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aber die Gebäude waren zu unpraktisch und altmodisch, so bauten sie ein modernes Altersheim und vermieteten die Zimmer und Wohnungen. Das war noch vor dem Krieg, hat sie mir erzählt. Nach dem Krieg zogen viele Flüchtlinge hier ein, und der Lindenhof war bis auf das letzte Eckchen besetzt. Sogar in der Kirche wohnte eine Familie. Manche sind dann weggezogen, und die geblieben sind, haben sich hier für immer eingerichtet." „Gehört der Lindenhof der Stadt Sommerberg?"

erkundigte sich Schräubchen. „Nein, schon lange nicht mehr. Sie haben ihn an

jemanden verkauft, der hier bauen wollte. Aber er hat nicht die Erlaubnis bekommen, alles abzureißen, so vermietet er es eben weiter."

„Ein Glück!" sagte Milli. „Sonst stünden hier sicher genauso langweilige Häuser wie rechts und links an der Straße! Hier kann man sich richtig wohl fühlen!"

Milli hatte recht. Die behäbigen Gebäude mit den dicken Mauern und den weitausladenden Dächern sahen wirklich behaglich aus. Sie waren zwei Stockwerke hoch, und die Haustüren, Fenster und durchgehenden Balkone sahen alle auf den Hof mit den schönen alten Linden.

Neben den Eingangstüren und Außentreppen wuchsen Holunder und Jasmin, und sogar ein paar Beete mit Astern, Sonnenblumen und Rosen gab es.

Der Besuch der Pizza-Bande war nicht unbemerkt geblieben. Weißhaarige Köpfe bewegten sich hinter Gardinen, Dutzende von Augenpaaren schienen sie zu verfolgen, als sie jetzt, geführt von Mehmet, zu einem der hinteren Häuser hinübergingen. „Hier wohnen wir. Wartet, ich gehe vor", sagte

Mehmet und sprang die Treppen hinauf. „Leider haben wir nicht so einen schönen Balkon mit einer Außentreppe wie die vorderen Häuser. Aber unsere Fenster schauen genau in die Baumkronen.

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Verdammt!" unterbrach er sich und schaute ungläubig auf seine Hand, in der er plötzlich ein Stück Treppengeländer hielt. „Habt ihr das gesehen? Ich hab doch nur ganz leicht angefaßt!"

„Zeig mal her!" TH trat näher und untersuchte das abgebrochene

Stück genau. „Kein Wunder!" Tommi schaute TH über die

Schulter und zeigte nun auf eine feine, glatte Linie. „Das war angesägt! Hier, seht mal!" „Tatsächlich! So eine Gemeinheit", schimpfte

Schräubchen. „Stellt euch vor, wenn einer der alten Leute sich da festgehalten hätte! Er hätte stürzen und sich das Genick brechen können!" „Was machen wir nun? Die sagen doch gleich

wieder, wir hätten das absichtlich kaputtgemacht!" jammerte Günsel.

„Reg dich nicht auf!" tröstete Tommi sie. „Das werden wir so gut reparieren, daß es die nächsten hundert Jahre hält.«

„Meinst du nicht, man müßte das der Polizei melden?" warf Milli ein. „Das ist doch ein echter Anschlag!" „Ich glaube nicht, daß sie sich für solche Lappalien

interessieren. Schließlich ist nichts passiert!" TH fuhr leiser fort: „Nein, nein, jetzt kommt es nur darauf an, daß wir bei nächster Gelegenheit den Täter in flagranti ertappen!"

„Habt ihr Werkzeug in eurer Wohnung?" fragte Tommi die jungen Türken.

„Klar, kommt, wir werden es gleich holen", antwortete Ali eifrig. „Das Stück hier nehmen wir mit, sonst ist es nachher verschwunden. Hier weiß man nie..."

Sie waren gerade die Treppe zum zweiten Stock hinaufgestiegen, als sich hinter ihnen eine Tür

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öffnete. Ein hagerer alter Mann mit einer gewaltigen Hakennase und schütterem grauen Haar steckte den Kopf durch den Türspalt und schielte aus zusammengekniffenen Augen zu ihnen empor. „Habt ihr wieder was demoliert, Türkenpack? Was

ist es denn diesmal, ha? Ah, die Herrschaften brauchten Brennholz, wie ich sehe! Kein Geld für Kohlen, da verfeuert man einfach das Treppengeländer!"

TH, Tommi, Schräubchen und Milli wurden blaß vor Zorn. Am schnellsten faßte sich Schräubchen. Mit einem Satz war sie die Treppe hinunter und stand vor der Tür des Alten. „Entschuldigen Sie, Herr..." Schnell suchten ihre

Augen nach dem Namen auf dem Türschild, „Herr Schmetter! Sie sind im Unrecht! Wir sind alle Zeugen! Das Stück Treppengeländer ist herausgebrochen, als sich Mehmet daran festhielt, und wir haben eben besprochen, wie wir es wieder reparieren können. Sie müssen doch zugeben, daß es lebensgefährlich ist, wenn das Geländer so morsch ist, daß es jederzeit abbrechen kann! Stellen Sie sich vor, Sie hätten sich beim Hinuntergehen daran festgehalten, es wäre herausgebrochen, und Sie wären die Treppen runtergestürzt!"

Schräubchen redete sich in Feuer. Der Zorn hatte sie mutig gemacht.

„Was hätte Ihnen alles passieren können! Alle Knochen hätten Sie sich brechen können!"

Herr Schmetter schaute erstaunt auf das hübsche, blonde Mädchen, das da so eifrig auf ihn einredete. Neugierig kam er aus seiner Wohnung, den abgetragenen Morgenrock hielt er über der Brust zusammen, seine nackten, hageren Füße steckten in schiefgelaufenen Filzpantoffeln. Alles in allem war er eher mitleiderregend als fürchterlich, stellte Milli

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fest, die jetzt zu Schräubchen trat. „Ja, Herr Schmetter, Sie müssen doch zugeben, daß

es besser ist, wir reparieren das gleich richtig. Sie haben nicht zufällig Werkzeug da? Wir wollten nämlich gerade oben welches holen." „Werkzeug?" schnaufte Herr Schmetter. „Du fragst

einen alten Handwerksmeister, ob er Werkzeug hat? Einen ganzen Werkzeugladen!" „Super! Würden Sie so nett sein und es uns leihen?"

fragte Schräubchen. Sie lächelte den alten Griesgram so strahlend an, daß er schnell zur Seite guckte. „Hm, laß sehen, was braucht ihr denn..." Mehmet trat zu den beiden Mädchen und hielt dem Alten das abgebrochene Stück vor die Nase. „Glaubst du, daß er das Treppengeländer angesägt

hat?" flüsterte Tommi Günsel zu. „Du meinst, weil er soviel Werkzeug besitzt? Ich weiß

nicht. Er ist alt und krank und allein. Wir haben ihm doch nichts getan, warum sollte er gegen uns sein?" „Nun, wenn er's war, dann wird er es jetzt auch

schön wieder in Ordnung bringen", wisperte Tommi und schloß sich der Gruppe unten an. „Wenn Sie ein Profi sind, Herr Schmetter", wandte er sich an den alten Mann, „dann können Sie uns vielleicht einen Tip geben, wie wir das am besten hinkriegen?" „Wartet mal!" Der Alte schlurfte eifrig in seine

Wohnung und kam gleich darauf mit einer Werkzeugtasche und einem flachen Metallstück zurück, einem alten Türbeschlag, wie sich bei näherem Hinsehen herausstellte. „Ich denke, wir werden es schienen", sagte er.

„Wenn wir es nur zusammennageln, wird es nicht halten." „Ich gehe schon rauf und sage Mama Bescheid", rief

Günsel von der oberen Treppe. „Milli, Stephanie, kommt ihr mit? Ich kann euch inzwischen mein

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Zimmer zeigen!" „Ich möchte mir das hier ansehen", sagte

Schräubchen, „ich muß wissen, wie man so was macht."„Ich komme mit dir", Milli trennte sich schweren Herzens von den anderen, aber sie wollte nicht unfreundlich sein, „ich bin neugierig auf dein Zimmer!" Der alte Mann fuhr mit den Fingern über die Bruchstelle. „Was ist das da? Die war doch angesägt?" „So sieht es aus, ja." TH wechselte einen Blick

mit Mehmet. „Darüber haben wir uns gerade unterhalten. Da muß sich jemand einen ganz bösen Scherz erlaubt haben. Haben Sie eine Ahnung, wer das gewesen sein kann?"

Der alte Mann starrte irritiert von einem zum anderen. Die jungen Leute sahen ihn offen an. Ehrliche, freundliche Gesichter. Jungen, die von ihm Rat und Hilfe erwarteten. „Keine Ahnung", grunzte er. „Aber ich werde meine Augen offenhalten in Zukunft. Sieh mal her, Junge", wandte er sich an Mehmet als den größten der Gruppe. „Du fügst das herausgebrochene Stück wieder ein, nachdem du beide Seiten mit Leim bestrichen hast. Laß den Leim erst etwas antrocknen und nimm nicht zuviel. Dann legst du das Metallstück von unten über die Bruchstelle und schraubst es an drei Stellen fest. Jetzt müssen wir nur noch die richtigen Schrauben finden." Während im Treppenhaus das Geländer repariert wurde, begrüßte Günsels Mutter oben Milli. Günsels Mutter war zu Millis Überraschung eine moderne, europäisch gekleidete Frau. Sie trug weder das erwartete Kopftuch, noch unterschied sie sich sonst besonders von Millis Mutter. Ebenso war es mit der Wohnung. Das einzige, was anders war als die Milli bekannten Wohnungen, waren die

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vielen farbenfrohen Teppiche und Decken und die großen gerahmten Farbfotos von Landschaften der Türkei. Blankes Messinggerät stand auf der Kommode und im Glasschrank; Gardinen und Tischdecken verrieten eine geschickte Handarbeiterin. Die Zimmer Günsels und der beiden Jungen waren klein, aber durch die Giebelfenster sah man direkt in die Baumkronen der schönen alten Linden, und alles war so sauber und gepflegt, daß man sich einfach wohl fühlen mußte. „Komm, setz dich hier zu mir, dann zeige ich dir

Fotos aus der Türkei. Wir waren in den letzten Ferien dort", sagte Günsel und klopfte auffordernd auf die reich bestickte Bettüberdecke. „Hat die deine Mutter gemacht?" erkundigte sich

Milli. „Ja, sie näht und stickt gern. Sie zieht mich an wie

eine große Puppe", antwortete Günsel lachend. „Dabei würde ich so gern Jeans tragen wie ihr!" „Sind deine Eltern streng? Ich meine, verbieten sie

euch viel von dem, was wir so dürfen?" „Den Jungen nicht. Mit einem Mädchen ist das was

anderes bei uns, aber meine Eltern sind ziemlich modern. Wir kommen aus einer Großstadt. Und wir sind schon sehr lange hier. Erst waren wir Türken in Deutschland, jetzt sind wir deutsche Türken... und eines Tages werden wir türkische Deutsche sein. Das möchten wir. Weil es ein freies Land ist. In der Türkei wäre es gefährlich für meinen Vater, weil er mit der Politik nicht einverstanden ist. Wir müßten immer Angst haben, daß er ins Gefängnis kommt, verstehst du?" „Ich glaube schon." „Nicht alle türkischen Familien hier im Lindenhof

sind so. Manche halten fest an ihrer Tradition und arbeiten dafür, daß sie eines Tages in der Türkei ein besseres Leben haben werden. Sie haben es schwerer,

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weil sie vom Land kommen und Probleme mit der Sprache haben. Da, die anderen kommen schon, jetzt müssen wir erst einmal Kaffee trinken. Die Fotos können wir später anschauen."

Schräubchen und die Jungen hatten schon im Wohnzimmer Platz genommen, wo sie von Günsels Mutter mit Saft, türkischem Kaffee, Früchten und duftendem Kuchen bewirtet wurden. „Das schmeckt ja super! Einfach Spitze!" rief

Tommi. „Was ist das?" „Baklava, eine türkische Spezialität", sagte Günsels

Mutter lächelnd. „Hier, nimm noch ein Stück." „Danke! Also, mir gefällt's hier saugut,

Verzeihung, ich meine, ich finde es ganz prima bei Ihnen! Richtig gemütlich. Eine tolle Wohnung. Ich kann gar nicht verstehen, daß es Leute gibt, die... na egal, heute jedenfalls haben Sie einen Freund gewonnen, den alten Schmetter da unten", plauderte Tommi drauflos. „Das ist schön, ja, das ist gut." Günsels Mutter starrte bedrückt auf den Boden. „Ein Freund... gegen die vielen anderen. Die Gleichgültigen, und die Feinde."

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Eine erstaunliche Begegnung

Sie saßen lange zusammen und schmausten und redeten. Milli und Günsel waren hinuntergegangen und hatten Herrn Schmetter gebeten, für ein Stündchen mit heraufzukommen. Er hatte sich zunächst geweigert, aber schließlich hatte er sich überreden lassen. Nun saß er zwischen den Jungen auf dem Sofa und ließ sich türkischen Kaffee und Kuchen schmecken. Und wie es ihm schmeckte! Sicher hatte er schon lange nicht mehr so etwas Gutes zu essen bekommen. Er versorgte sich selber, wie er erzählte, und da gab es meistens nur Brot, Wurst und Käse und mal eine Suppe aus der Dose oder ein Fertiggericht.

Später zeigten sie Fotos. Günsel holte ihr Album mit den Ferienbildern aus der Türkei. Viele Postkarten waren darin von Istanbul, alle Sehenswürdigkeiten der Stadt hatte Günsel darin versammelt. „Es ist für sie wie ein fremdes Land", sagte ihre

Mutter. „Auch wenn die Kinder türkisch sprechen, sie fühlen sich dort fremd." „Aber es war schön, und ich freue mich schon auf die nächste Reise!" protestierte Ali. „Ich möchte das ganze Land kennenlernen!" „Wie ein Tourist, ja", wandte die Mutter lächelnd

ein. „Aber du würdest nicht dort leben wollen." „Ich möchte Pilot werden!" verkündete Ali

fröhlich. „Da lebe ich auf der ganzen Welt!" „Und du, Günsel? Was möchtest du einmal

werden?" fragte Milli. „Ich möchte Übersetzerin werden. Dolmetscherin.

Ich möchte noch viele Sprachen lernen." „Und du, Mehmet?"

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„Am liebsten würde ich Lehrer werden. Wenn es geht." „Warum soll es nicht gehen? Das schaffst du

bestimmt!" sagte Tommi. „Genauso habe ich mir einen Lehrer immer vorgestellt. Aber sagt mal... eigentlich sind wir ja dienstlich hier. Was hier los ist, haben wir eben bei dem Treppengeländer erlebt. Jetzt möchte ich doch mal wissen, was noch alles passiert ist?" „Richtig", sagte TH. „Kommen wir zur Sache. Wie

viele solcher Anschläge sind schon verübt worden?" „Das ist schwer zu sagen", antwo rtete Mehmet

nachdenklich. „Die meisten passieren nicht in unserem Haus, sondern in den anderen Häusern. Bis auf gestern morgen..."

Mehmet sah unsicher zu Herrn Schmetter hinüber. Der lachte gutmütig. „Ja, da muß ich mich wohl entschuldigen, ich habe

mich sehr schlecht benommen! Wie konnte ich auch wissen... Aber jetzt ist mir natürlich klar, daß ihr nichts damit zu tun habt. Den Kerl werden wir schon noch erwischen!" „Es war so", berichtete Günsel, „Herr Schmetter

stellt manchmal, wenn er sehr spät von seiner Skatrunde nach Hause kommt, sein Fahrrad im Hausflur ab, statt es gleich im Keller unten einzuschließen. Das hatte er auch am Abend davor getan. Und gestern morgen, als er das Rad in den Keller bringen wollte, fehlten die Lampe, das Rücklicht und die Klingel. Als Herr Schmetter uns die Treppe runterkommen sah, war er wütend und..." „Ich war sehr ungerecht, es tut mir leid. Aber das

Haus war abgeschlossen, und alle übrigen Hausbewohner kenne ich ein halbes Leben lang!" „Der Schein sprach gegen uns, das sehe ich ein",

Mehmet sah den alten Mann an. „Ich war auch ungerecht. In dem Augenblick habe ich alle

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Deutschen gehaßt." „Ich stelle fest", TH sprang auf und ging im Zimmer

hin und her, „daß es eindeutig klar ist, daß wir es hier mit Sabotage zu tun haben. Mehmet, was ist in den anderen Häusern passiert?" „Fensterscheiben sind eingeworfen worden. Die

Wäscheleine verschwand. Lichtschalter und Wasserhähne im Keller wurden abmontiert. Einmal stand der Keller unter Wasser. Rohre waren verstopft. Dann wieder saßen alle ohne Strom da, die Hauptsicherung war verschwunden, der Kasten zerstört. Immer wieder sind die Wände beschmiert..."

„Können wir uns die anderen Häuser mal ansehen?" fragte Schräubchen. „Warum nicht? Die Häuser sind alle offen. Nur

nachts wird abgeschlossen. Und wir kennen die meisten türkischen Familien hier. Die deutschen natürlich nicht, sie tun, als wären wir gar nicht da, wenn wir sie grüßen. Nicht alle, aber die meisten", fügte er hinzu. „Gut, dann laß uns einen Rundgang machen." Die Kinder verabschiedeten sich und bedankten sich bei Frau Büker für die köstliche Bewirtung. Dann verließen sie die Wohnung, um den Lindenhof zu erforschen. „Fangen wir gleich im Nachbarhaus an", schlug

Günsel vor. „Da wohnen drei türkische Familien und zwei deutsche."

Im Nachbarhaus wimmelte es von kleinen Kindern. Die älteren Mädchen und die Frauen trugen Kopftücher, die Wohnungen waren spärlich eingerichtet, aber sauber und einladend, und überall wurden sie freundlich willkommen geheißen, nachdem Mehmet sie vorgestellt hatte. Sofort machte man Anstalten, sie zu einem Kaffee oder einer Limonade einzuladen oder bot ihnen Süßigkeiten an. „Türken sind sehr gastfreundlich. Ich werde ihnen

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klarmachen, daß es nicht böse gemeint ist, wenn ihr ihre Einladungen ablehnt, sondern daß wir in Eile sind und etwas Wichtiges vorhaben."

Mehmet übersetzte, während die Mitglieder der Pizza-Bande sich darauf beschränken mußten, freundlich zu lächeln und zu nicken.

Auf ihrem Weg durch das Treppenhaus wies Mehmet mal hier auf eine zerbrochene Fensterscheibe, mal dort auf einen feuchten Fleck an der Wand, eine fehlende Birne in einer Lampe oder zerbrochene Fliesen. Schließlich kamen sie in den Keller. „Pfui Teufel, das stinkt ja ekelhaft hier!" rief Milli

aus. „Was ist denn das?" „Keine Ahnung", sagte Günsel und hielt sich die

Nase zu. „Einfach gräßlich der Gestank, kommt, laßt uns rausgehen!" „Im Gegenteil!" Tommi hielt sich mit der einen

Hand die Nase zu, mit der anderen tastete er nach einem Lichtschalter. „Das riecht verdammt nach einem neuen Anschlag! Dem müssen wir auf den Grund gehen." „Ibber der Dase dach..." murmelte TH, der sich die

Nasenflügel fest mit zwei Fingern zusammenpreßte. „Ha!"

„Was ist?" „Ich bin reingetreten! Scheiße!" „Du sagst es. Genau das ist es", stellte

Schräubchen fest. „Hättest du dir die Nase nicht so fest zugehalten..." „Sieht aus, als hätte jemand einen Kübel mitten

im Keller ausgeleert. Ekelhaft!" Mehmet verzog voller Abscheu das Gesicht. „Sie werden sagen, die Kinder hätten den Keller benutzt, weil sie noch nie in ihrem Leben eine Toilette mit Wasserspülung gesehen haben."

„Aber das ist keine Menschen... ich meine,

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genauso riecht es im Kuhstall! Das sind frische Kuhfladen!" stellte Milli fest. „Ganz eindeutig!" „Klar! Milli vom Maierhof, wenn wir dich nicht

hätten!" rief TH. „Und nun hilf mir mal hier raus. Den Schuh lasse ich besser stecken!"

TH zog den Fuß vorsichtig aus dem Schuh und hüpfte, gestützt von Milli, zur Tür. „Ich rufe die anderen Türken", erklärte Mehmet.

„Schräubchen, Tommi, Ali, kommt mit! Vielleicht hat jemand was dazu zu sagen."

Während Milli TH die Treppen hinauf und ins Freie zog, wo er sich aufatmend unter einer der Linden ins Gras fallen ließ, liefen die anderen durchs Haus und riefen die Familien zusammen. Die Wohnungstüren der beiden deutschen Familien blieben fest verschlossen, aber Schräubchen hatte das ungute Gefühl, durch die Spione von lauernden Blicken verfolgt zu werden.

Bald erhob sich im Keller empörtes Gerede. Mehmet hatte Mühe, sich Gehör zu verschaffen. Schräubchen und Tommi hingen an seinen Lippen und versuchten herauszuhören, was er seinen Landsleuten sagte.

„Türkisch müßte man können!" seufzte Schräubchen. „Kannst du verstehen, was er sagt?" „Ich bin Italiener, das ist was anderes. Das da klingt, als gurgelten sie mit Kartoffelklößen..." Schließlich wandte sich Mehmet ihnen zu. „Ich habe ihnen erklärt, was das ist, und daß es

jemand von einer Weide hier hereingebracht haben muß, um sie zu verdächtigen. Ich habe sie gefragt, ob sie etwas beobachtet haben oder ob es im Hause jemanden gibt, dem sie das zutrauen. Leider verkriechen sie sich in ihren Wohnungen und gehen den deutschen Familien möglichst aus dem Weg, so daß sie gar nicht merken, was um sie herum vorgeht." Inzwischen waren zwei Frauen darangegangen, den

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Kuhmisthaufen zu beseitigen. Ein Mädchen schleppte einen Kübel mit Wasser herbei, eine andere brachte Kehrschaufel und Zeitungspapier. Wieder andere rissen Fenster und Türen auf, um zu lüften, während die Männer im Kreis standen und diskutierten. Unter allgemeinem Gelächter zog eine Frau Walthers Schuh aus dem Haufen und hielt ihn hoch.

Mehmet wandte sich grinsend an Schräubchen und Tommi.

„Sie fragt mich, ob dies ein Beweisstück sei, das der Täter hinterlassen hat." „Das wäre zu schön!" antwortete Schräubchen. „Stellt

euch das mal vor! Aber dann wäre er hier wohl kaum ungesehen herausgekommen!" „Hast du sie gefragt, wer zuletzt im Keller gewesen

ist?" erkundigte sich Tommi. „Ja. Sie behaupten, heute sei noch keiner hier unten

gewesen. Der hätte ja auch gleich Alarm geschlagen. Und dem Gestank nach zu urteilen, muß der Haufen schon ganz schön lange hier gelegen haben", meinte Mehmet. „Da hast du recht." Während Schräubchen, Tommi, Mehmet und Ali der

Säuberungsaktion im Keller zusahen und mit den Türken diskutierten, kümmerten sich Milli und Günsel um den armen TH, der angewidert seine durchnäßte Socke vom Fuß gezogen hatte und diesen nun so weit von sich streckte, wie es nur eben ging.

Günsel war in die Wohnung hinaufgerannt, um Wasser, Seife und ein Handtuch zu holen, sowie ein Paar Sandalen von Mehmet und frische Strümpfe. Milli tröstete TH, obgleich sie sich angesichts seiner Leidensmiene kaum das Lachen verbeißen konnte. Plötzlich veränderte sich Walthers Gesichtsausdruck, er hob lauschend den Kopf.

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„Hör doch mal! Da hat jemand eine mächtige Wut. Ob die auch Kuhscheiße im Keller gefunden haben?"

Aus einem der Häuser auf der anderen Seite war eine empörte Frauenstimme zu hören. Mit schrillem Kreischen beklagte sie sich über das lausige Türkenpack, mit dem sie gezwungen sei zusammenzuwohnen. Eine salbungsvolle Männerstimme sprach beruhigend gegen ihre Schimpftiraden an.

„Das sind doch auch nur Menschen, Frau Krause! Andere Mentalität, zugegeben, sind nicht gewöhnt, in festen Häusern zu leben, einfache Hirten und Bauern! Aber Menschen! Menschen, die hier gebraucht werden. Und irgendwo müssen sie doch wohnen. Wenn Ihnen das nicht gefällt, können Sie ja ausziehen. Suchen Sie sich eine Wohnung, die Ihnen besser zusagt! Ich halte keinen!" „Ausziehen, ja! Genau das werde ich auch tun! Das ist

ja unerträglich hier! Über vierzig Jahre war ich gern in diesem Haus, aber das ist zuviel!"

Eine Tür wurde zugeknallt, dann war alles still. Im Türrahmen der Haustür erschien eine massige Gestalt und blinzelte grinsend zum Himmel hinauf. Dann zog der Mann seinen Schlüsselbund aus der Tasche, ließ ihn klimpernd ein paarmal auf und ab hüpfen und ging durch das Hoftor davon. „Den kennen wir doch", sagte TH verblüfft. „Und

wie wir den kennen! Unser Freund Lehmgruber!" „Das ist unser Vermieter", sagte Günsel, die gerade

mit Handtuch und Wasserschüssel kam. „Seht ihr? Er verteidigt uns immer, man kann sich auf ihn verlassen." „Es scheint so, ja", gab Milli zögernd zu. Aber

irgendwo in ihrem Innern ertönte eine kleine Warnglocke.

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Der Geoschnüffler hat eine Idee

Lehrer Guntner, genannt der Geoschnüffler, war unzufrieden mit seinen Schülern aus der Sechsten. „Interessiert ihr euch denn überhaupt nicht für das,

was in eurer Heimatstadt passiert ? Jeden Tag ist es in der Zeitung zu lesen! Unser See ist in Gefahr zu verschmutzen, ein Fischsterben droht, der See erstickt an Sauerstoffmangel. Die Stadträte reden sich die Köpfe heiß, wie man die Kanalisation am See beschleunigen könne und wie man die Maßnahmen finanzieren soll, die zur Rettung des Sees unumgänglich sind... und ihr wollt noch nie etwas davon gehört haben?" „Woher sollen wir wissen, worüber die Stadträte

diskutieren, wir sind doch nicht dabei!" widersprach Peter. „Aber ihr könntet dabeisein, mein Lieber! Es gibt

nämlich so etwas wie öffentliche Stadtratssitzungen! Da kann jeder hingehen und zuhören, was die von uns als unsere Vertreter gewählten Herren beschließen!"

„Ist das nicht gräßlich langweilig?" fragte Tommi. „Da versteht man doch sicher kein Wort. Ich meine, wenn die da so mit ihren Fachausdrücken rumwerfen und mit Zahlen, die sich anhören wie Chinesisch!"

„Hast du eine Ahnung! Da geht's manchmal spannender zu als im Western!" „Echt?" Die Klasse kicherte ungläubig. „Ich sehe schon, ich muß euch da mal ein bißchen vor

Ort informieren. Also, Freunde, in der nächsten Stunde werde ich mit euch zum Rathaus hinüberwandern, und dann werden wir uns mal gemeinsam anschauen, wie es da drinnen aussieht. Wo der Sitzungssaal ist und wo sich der ahnungslose

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Bürger Informationen holen kann. Wir werden uns das Standesamt ansehen, das Finanzamt, das Arbeitsamt, ich werde euch zeigen, wo man einen Reisepaß beantragt oder einen Umzug meldet, und vielleicht hat der Bürgermeister oder einer der Stadträte Zeit für ein kurzes Gespräch."

Ob das sehr spannend werden würde? Sie bezweifelten es. Aber so ein Ausflug war immer noch besser, als in der Klasse zu hocken. Wenn sie nur nicht anschließend einen Aufsatz darüber schreiben mußten, was sie alles gesehen hatten! Zwei Tage später war es soweit. Die Klasse 6 a der Realschule von Sommerberg, unter der Führung des Deutsch- und Erdkundelehrers Guntner, machte sich auf den Weg zum Rathaus. Vor dem Portal wurden sie noch einmal ermahnt, möglichst ruhig zu sein und nicht auseinander zu laufen. Der Geoschnüffler ließ sie die Vorderfront des Rathauses betrachten, erklärte die dort in den Stein gemeißelten Wappen und Inschriften, dann konnten sie eintreten. Zuerst betraten sie den Sitzungssaal. Ein großer Tisch füllte den Hauptteil des Raumes aus, der Sessel an der Stirnseite, der für den Bürgermeister reserviert war, war reich geschnitzt und ein wenig höher und breiter als die übrigen. Am unteren Ende des Tisches gab es eine niedrige Balustrade, die den Zuhörerbereich von dem Bereich der aktiv an einer Sitzung Beteiligten trennte. „Wie erfährt man denn, wann hier Sitzung ist?"

erkundigte sich TH. „Nun", erklärte der Geoschnüffler, „nicht alle

Sitzungen sind öffentlich. Wenn eine öffentliche Sitzung stattfindet, kannst du es unten am Schwarzen Brett lesen, das draußen neben der Eingangstür hängt. Außerdem steht es in der Zeitung. Auch die Themen, die zur Sprache kommen werden." „Und kann man sich dann auch zu Wort melden und

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was sagen? Wenn einem zum Beispiel zu einem Thema etwas Besseres einfällt als den Stadträten?" erkundigte sich Tommi.

Der Geoschnüffler lachte. „Nein, das kann man leider nicht. Sonst würde so eine

Sitzung wahrscheinlich nie aufhören. Man kann nur zuhören. Und wenn man mit der Meinung eines Stadtrats nicht zufrieden ist, sollte man ihm einen Brief schreiben." „Oder ihm eine Stinkbombe durchs Fenster

werfen", murmelte einer der Jungen im Hintergrund. „Das wäre höchst undemokratisch", sagte der Geo-

schnüffler lächelnd. „Und was wäre demokratisch?" „Ihn bei der nächsten Wahl nicht mehr zu wählen." „Ich weiß nicht", meinte Tommi. „So gesehen

wäre ihm die Stinkbombe vielleicht lieber!" „Kommt weiter, jetzt führe ich euch ins

Hochzeitszimmer des Standesamts. Wenn ihr eines Tages in Sommerberg heiraten solltet, werdet ihr in diesem Zimmer euer Ja-Wort geben. Und wahrscheinlich schrecklich aufgeregt sein", fügte der Geoschnüffler hinzu. „Oder wahnsinnig verliebt", murmelte ein Mädchen. „Oder die große Panik kriegen und flüchten", rief

ihr ein Junge zu. „Du bestimmt!" Das Hochzeitszimmer sah wirklich feierlich aus.

Decke und Wände waren mit Holz vertäfelt, vor den Fenstern hingen schwere, dunkelrote Samtvorhänge. Der Sessel hinter dem Schreibtisch hatte eine hohe, geschnitzte Lehne, und vor dem Schreibtisch standen vier Stühle - für das Brautpaar und die Trauzeugen, wie ihnen der Geoschnüffler erklärte. „Beeilt euch, hier wird gleich eine Trauung

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stattfinden", mahnte der Hausmeister, der ihnen die Türen aufschloß und aufpaßte, daß niemand etwas anfaßte oder in Unordnung brachte. „Oh! Kann man da zusehen?" fragte ein Mädchen, „Nein, das geht leider nicht. Kommt weiter, ich

zeige euch jetzt das Finanzamt, da könnt ihr etwas über Steuern lernen, die ihr ja eines Tages alle mal zahlen müßt."

Die Schüler der Klasse 6 a machten lange Gesichter. Finanzamt! Dazu hatten sie überhaupt keine Lust. Steuern waren das Ätzendste, das man sich vorstellen konnte, wenn man die Eltern so darüber reden hörte. „Macht nicht solche Gesichter!" sagte der Geo-

schnüffler munter. „Es ist doch interessant zu erfahren, wozu die vielen Steuern, die ein Bürger zahlen muß, verwendet werden. Es müssen Straßen gebaut und erhalten werden, Bahn und Post, Krankenhäuser, Kindergärten, Altenheime, Kulturstätten wie Theater, Museen, Orchester. Sportstätten müssen gebaut und gepflegt werden und..." „... und die Schulen!" sagte Tommi gedehnt. Alle lachten.

„Ja, auch die Schulen. Wer von euch möchte im Ernst als Analphabet durch die Welt gehen oder nicht ausrechnen können, wie er sein Geld am besten einteilt. Nun stellt euch einfach mal vor, ihr wärt der Stadtrat, hättet - na sagen wir - zehn Millionen Steuergelder eingenommen und müßtet die nun möglichst klug verteilen." „Da hast du schon das nächste Aufsatzthema!"

stöhnte TH. „Ich rieche es direkt!" Aber Tommi hatte nicht zugehört. Er war am

Schwarzen Brett stehengeblieben und starrte auf eine eng beschriebene Liste. „He, schau dir das an! Unser ganz spezieller

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Freund Lehmgruber! Der Tigerhai!" flüsterte er, als TH herantrat. „Was ist mit ihm?" „Drei verschiedene Bauanträge! Wohnsiedlung

Hegelstraße, Wohnsiedlung Mosbachstraße und Wohnsiedlung Lindenstraße. Der schlägt zu, Mann!"

„Lindenstraße, das ist doch..." TH verstummte verdutzt. „Pssst!" machte Tommi, denn neben ihnen wurde

eine Tür geöffnet. Zwei Verwaltungsangestellte kamen heraus und blieben, ins Gespräch vertieft, neben ihnen stehen. „Bin gespannt, welche Tricks er bei den nächsten

Anträgen wieder aus dem Hut zieht! Ob er das Projekt in der Moosbachstraße durchbringt, ist zweifelhaft. Und die Lindenstraße kann er vergessen." „Der versucht's immer wieder. Und er ist nicht

zimperlich, das wissen wir doch. Ein Drittel der Stadträte hat er schon auf seiner Seite, mit Versprechungen, mit Schönfärberei, mit Aufträgen... Und ich möchte nicht wissen, womit noch! Harry Lehmgruber gibt nicht auf. Da kann man nur hoffen, daß unsere Stadträte sich keinen Sand in die Augen streuen lassen."

Tommi und TH taten so, als studierten sie angestrengt die Mitteilungen auf dem Schwarzen Brett, aber ihre Ohren wuchsen den beiden Angestellten fast entgegen, um auch nicht ein Wort zu versäumen. Die beiden entfernten sich langsam, und es war schwierig, noch etwas zu verstehen. „Was soll's", sagte Tommi leise, „das Wichtigste

haben wir mitgekriegt!" Er sprach damit aus, was TH dachte. „Wo sind die anderen geblieben? Los, wir müssen

uns beeilen!" mahnte TH. „Was hältst du übrigens von der Sache?"

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„Von dem Gespräch eben? Es hat mich ziemlich neugierig gemacht." „Neugierig?" „Ja. Ob zum Beispiel dieses Bauprojekt Lindenstraße

was mit unserem Lindenhof zu tun hat. Und wenn ja, ob es sich dabei um die versprochenen Renovierungsarbeiten handelt. Aber irgendwie reimt sich das nicht zusammen." „Nein. Warum sollten die Stadtväter

Renovierungsarbeiten am Lindenhof ablehnen? Sie sollten froh darüber sein!"

„Eben."

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Eine unerwartete Entdeckung

Wenn es möglich war, nahm Papa Francesco Carotti das Mittagessen gemeinsam mit seinen beiden Kindern ein. Er saß mit ihnen an dem großen Tisch im Hinterzimmer, der sonst der Pizza-Bande als Konferenztisch diente. Manchmal setzte sich auch Mamma Gina dazu, wenn der letzte Mittagsgast gegangen war und sie sich eine Pause in der Küche gönnen konnte.

Heute war so ein Tag. Tommi und Nele liebten diese Mahlzeiten, an denen sie um den Eßtisch saßen wie eine ganz normale Familie und sich erzählten, was sie am Vormittag alles erlebt hatten.

Und wenn es dann auch noch eins ihrer Lieblingsgerichte gab! Bandnudeln mit Zitronensahnesauce... Tommi mampfte, daß er alles um sich her vergaß vor Wonne. „Dir schmeckt's, Junge, wie?" Mamma Gina sah

Tommi zärtlich an. „Aber deshalb brauchst du nicht so zu schlingen! Es nimmt dir keiner was weg. Man könnte ja denken, du würdest bei deiner Mutter sonst nie satt, daß du dir das Essen so hineinstopfen mußt. Überhaupt, schau mal deine Hände an! Hast sie wieder nicht gewaschen! Und du willst dreizehn Jahre alt sein!"

„Ach Mamma, ich war so in Eile! Wir haben eine wichtige Besprechung heute, und ich muß gleich..." „Du mußt heute gar nichts!" unterbrach Papa

Francesco seinen Sohn. „Bis auf eins: du mußt heute mit mir und dem Anwalt zum Bauunternehmer Lehmgruber gehen. Es geht um deinen Unfall."

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„Heute? Unmöglich. Ich habe den anderen schon versprochen, daß ich komme!" „Du hörst doch, was Papa sagt!" „Um halb vier haben wir einen Termin. Zehn vor halb

werden wir hier losfahren. Und daß du sauber und mit einem frischen Hemd erscheinst, hörst du?" sagte Papa Francesco ungerührt.

Tommi war verzweifelt. Sie hatten den Türken versprochen, um halb vier im Lindenhof zu sein. Irgend etwas war dort passiert; aber Mehmet, Günsel und Ali hatten ihnen auf dem Schulhof nicht sagen wollen, was es war. Sie hatten sehr geheimnisvoll getan. Tommi konnte kaum erwarten, in den Lindenhof zu kommen, denn Mehmet hatte gesagt, er müsse ihnen etwas zeigen. Erzählen könne man das nicht. „Papa!" Tommi machte einen neuen Versuch. „Ich

kann heute wirklich nicht! Es geht um etwas sehr Wichtiges. Ich habe versprochen, daß ich komme, und ein Versprechen muß man halten!" „Tut mir leid, Junge, aber die Verabredung bei

Herrn Lehmgruber ist noch wichtiger. Da müssen deine Freunde heute mal ohne dich auskommen." „Mist! Konntest du mir das nicht früher sagen?" Tommi warf ärgerlich die Gabel in den Teller.

„Tommi! Was soll das! Wie sprichst du mit deinem Vater!" „Ach, ist doch wahr...", sagte Tommi weinerlich.

„Und du grins nicht so blöd, du dumme Ziege!" fuhr er seine jüngere Schwester an. „Tommaso!" Mamma Gina haute mit der flachen

Hand auf den Tisch. „Jetzt reicht's. Ich will kein Wort mehr hören."

Tommi verzog das Gesicht. Das ganze schöne Essen war ihm verleidet. Mit verdrossener Miene schob er den Teller weit von sich und verschränkte die Arme. Mamma Gina tat, als bemerke sie es gar nicht; sie und

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Papa Francesco aßen weiter, als sei alles in bester Ordnung, selbst als Tommi den Nachtisch mit heftigem Kopfschütteln ablehnte. „Gut, wenn du fertig bist, dann geh und ruf deine

Freunde an", sagte Papa Francesco. Tommi trollte sich murrend nach draußen. Er ging

zum Telefon und wählte die Nummer der Rolands. „TH? Tommi hier. Schlechte Nachrichten. Ich kann

heute nachmittag nicht." „Soll das ein Witz sein? Wieso denn auf einmal nicht?" „Muß mit meinem Vater und unserem Anwalt zu

Herrn Lehmgruber. Irgend was wegen der Unfallsache." „Ach ja?" TH nahm seine Absage offenbar nicht

besonders tragisch. „Ja, es tut mir leid, ich bin stinksauer. Hab auch alles

versucht, da rauszukommen, aber Papa läßt nicht mit sich reden! Du TH..." „Ja?" „Könnten wir die Verabredung im Lindenhof nicht

verschieben?" „Verschieben? Warum?" „Na, weil ich nicht dabeisein kann!" „Aber Schräubchen, Milli und ich sind doch da! Keine

Angst, wir werden dich schon würdig vertreten. Wir erzählen dir dann hinterher, was los war. Geh du nur zu Lehmgruber. Wer weiß, wozu es gut ist."

„Wozu soll das schon gut sein! Okay, ich melde mich heute abend noch mal."

Tommi hängte wütend ein. TH hatte Nerven! Verstand er denn überhaupt nicht, wie dem Freund zumute war? Irgend etwas Sensationelles war geschehen, und er, Tommi, durfte nicht dabeisein, wenn die Freunde es vorgeführt bekamen! Er mußte mit seinem Vater und mit diesem Anwalt, dem langweiligen Kerl, der so viel unverständliches Zeug redete, in Harry Lehmgrubers Büro hocken und sich

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anhören, was die Erwachsenen zu diskutieren hatten. Warum konnten sie das nicht ohne ihn erledigen? Aber nein, er mußte mit und da seinen Nachmittag vertrödeln! Und das auch noch mit leerem Magen! Er hatte es ja schon geahnt, als er sich beim Aufstehen den großen Zeh am Bettpfosten gestoßen hatte, daß dieser Tag oberfaul werden würde.

Mißmutig ging Tommi in sein Zimmer hinauf; er gab der Schulmappe einen wütenden Fußtritt und zog sich das T-Shirt über den Kopf. Und um seine schlechte Laune noch ein bißchen zu steigern und sich den ganzen Nachmittag bemitleiden zu können, zog er das an, was er am meisten haßte: die neue dunkelgraue Hose und das weiße Hemd mit der Krawatte. Und oben drüber den Blazer. Die Freunde würden ihn für verrückt erklären, wenn sie ihn so sähen. Schallend lachen würden sie. Aber das war ihm gerade recht. Er war und blieb ein unterdrückter, mißachteter Junge, seiner Freiheit beraubt und vollkommen unverstanden.

Zu allem Elend strahlte Mamma Gina auch noch, als sie ihren Ältesten in einer solchen Aufmachung die Treppe hinunterkommen sah. „Gut, Tommi! Bist doch ein gescheiter, vernünftiger

Junge. Ein richtiger junger Mann. So macht man das, wenn man zu einer wichtigen geschäftlichen Unterredung geht!" Und zu Papa Francesco gewandt fuhr sie ärgerlich fort: „Solltest dir ein Beispiel an deinem Sohn nehmen! Willst mit der alten Hose und ohne Krawatte zum Rechtsanwalt..." „Es ist meine Lieblingshose, und das Jackett ist ganz

neu!" verteidigte sich Papa Francesco. „Außerdem ist der Rechtsanwalt ein guter Bekannter. Ein Stammgast!" „Wenn schon. Ein Italiener geht immer gut

gekleidet. Jetzt bindest du eine Krawatte um, basta!" Mamma Gina konnte ganz schön energisch sein,

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wenn ihr etwas nicht paßte. Papa Francesco zwinkerte Tommi schicksalsergeben zu und hob die Schultern. Tommi fühlte, wie seine Verzweiflung zu schrumpfen begann. „Ich setz mich schon mal ins Auto", sagte er

schnell, um weiteren elterlichen Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen.

Beim Rechtsanwalt mußten sie warten. Tommi blätterte lustlos in einem Wirtschaftsmagazin, während Papa Francesco die Tageszeitung studierte. Endlich wurde die dicke gepolsterte Tür aufgerissen, der Rechtsanwalt geleitete einen Klienten nach draußen und winkte gleichzeitig den Carottis fröhlich zu. Er war ein rundlicher Mann mit Glatze und rosigem Gesicht, dem man ansah, daß er die Köstlichkeiten aus Mamma Ginas Küche zu schätzen wußte und auch einen guten Wein nicht verachtete. „Ich schlage vor, wir fahren gleich los", sagte er, als er

zurückkam. „Wir können alles im Auto besprechen." Diesmal fuhren sie im Wagen des Anwalts, und

Tommi ließ sich genießerisch in die weichen Polster der Rückbank sinken. So sollten ihn seine Freunde sehen! „Herr Lehmgruber möchte die Sache

außergerichtlich regeln", berichtete der Rechtsanwalt. „Das habe ich am Telefon ja schon erwähnt. Da er in der Stadt eine Reihe wichtiger Bauvorhaben hat, ist er sehr auf seine untadelige weiße Weste bedacht. Er denkt an eine entsprechende Entschädigungssumme und an ein Schmerzensgeld."

„Kein neues Fahrrad?" erkundigte sich Tommi. Der Anwalt lachte.

„Nun, das wirst du dir von dem Geld dann wohl selber kaufen müssen." „Dann kriege ich nie eins. Papa hat mein altes schon

zu Schräubchens Vater in die Autowerkstatt gebracht und der hat gesagt, Millis Bruder richtet es mir so her,

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daß es besser wird als neu", maulte Tommi. „Nun, das würde ich Herrn Lehmgruber gegenüber

vielleicht nicht unbedingt erwähnen", meinte der Anwalt. „So, wir sind da."

Harry Lehmgrubers Bürohaus befand sich in der Nähe des Sägewerks im sogenannten Industrieviertel der Stadt, ein nüchterner zweistöckiger Bau an der Stirnseite eines großen Hofes, auf dem mehrere Baufahrzeuge und Lastwagen parkten. In großen Lagerhallen war Baumaterial gestapelt. Sogar eine eigene Tankstelle hat er, stellte Tommi im Vorübergehen fest. Ein junger Mann war dabei, Harry Lehmgrubers neuestes Superauto aufzutanken.

Das Mädchen in der Telefonzentrale, die sich gleich rechts neben dem Eingang befand, schickte sie in den ersten Stock hinauf. Herr Lehmgruber kam ihnen bereits auf dem Flur entgegen und leitete sie direkt in sein Büro. „Hab Sie schon vom Fenster aus kommen sehen,

meine Herrschaften, bitte hier herein, nehmen Sie Platz."

Donnerwetter, ob er auch hier wohnte? In der Sesselgarnitur aus braunem Leder jedenfalls konnte man bequem übernachten und an dem Couchtisch mit Marmorplatte hatten leicht zehn Leute Platz, stellte Tommi fest. „Nun, unserem jungen Freund hier geht es ja

wieder gut, wie ich sehe", begann Harry Lehmgruber das Gespräch. „Nun ja, wie man's nimmt." Papa Francesco wiegte

bedächtig den Kopf. „Die Prellungen sind verheilt, aber..."

Tommi wollte protestieren, denn er fühlte sich munter wie ein Fisch im Wasser, aber dann erinnerte er sich daran, daß der Anwalt ihm eingeschärft hatte, den Mund zu halten.

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„Er ist noch in ärztlicher Behandlung", fuhr Papa Francesco fort. „Die Kopfschmerzen machen ihm zu schaffen. Folgen der Gehirnerschütterung. Hoffentlich bleibt da nichts zurück."

Lehmgruber zündete sich nervös eine Zigarre an, dann erschrak er über seine Unaufmerksamkeit und bot den beiden Männern ebenfalls etwas zu rauchen an. Beide lehnten höflich ab, was Harry Lehmgruber noch ein bißchen nervöser machte. „Und du, junger Freund, möchtest sicher gern eine

kleine Erfrischung?" „Danke, das ist nicht nötig", sagte Tommi

wohlerzogen. „Wir haben ja gerade zu Mittag gegessen." „Na, eine Cola wirst du doch nicht abschlagen?"

„Ja, ich meine, nein, die nehme ich gern." Harry Lehmgruber ging zu einem schweren Bücherschrank aus Eichenholz, hinter dessen linker Tür sich ein Kühlschrank mit Getränken verbarg. Hinter der rechten Tür standen Gläser. Er schenkte Tommi mit übertriebenem Schwung ein und zeigte lachend sein Haifischgebiß. Tommi dankte höflich. Harry Lehmgruber setzte sich ächzend, und man spürte, daß ihm nicht besonders wohl in seiner Haut war. „Also, meine Herren, Sie wissen ja, worum es mir

geht. Ich möchte eine Strafsache wegen dieses bedauerlichen Vorfalls vermeiden. Ich kann mir in meiner Stellung, die mich mehr und mehr in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rückt, nicht leisten, von der Presse in den Schmutz gezogen, als Rohling und Kinderfeind beschimpft zu werden, wegen eines Mißgeschicks, das ich - das können Sie mir glauben, lieber Herr Carotti -wirklich bedauere. Daß ich das nicht absichtlich getan habe, daß ich nicht die Absicht hatte, Ihren Sohn anzufahren und zu verletzen, das werden Sie mir glauben!"

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„Selbstverständlich." „Die Frage ist, wie ich Sie und Ihren Sohn

entschädigen kann. An welche Summe haben Sie gedacht?" Nun begann der Anwalt zu reden. Er holte weit aus,

zitierte Paragraphen, Präzedenzfälle und Gerichtsurteile in ähnlichen Fällen, die weder Papa Francesco noch Harry Lehmgruber so richtig verstanden, und Tommi begann sich von Herzen zu langweilen. Die drei Männer schienen ihn völlig vergessen zu haben. Jetzt redeten sie über Versicherungen, Ausschluß von späterer Haftung; Tommi verstand kein Wort. „Darf ich aufstehen und ans Fenster gehen?" fragte er leise. „Natürlich, Junge, geh nur."

Harry Lehmgruber schaute ihn kaum an, so sehr war er darauf bedacht, sich von diesem Fuchs von einem Anwalt auf keinen Fall übers Ohr hauen zu lassen.

Tommi stand auf und stakste ans Fenster hinüber. Dort gähnte er erst einmal herzhaft, die drei Männer drehten ihm ohnehin den Rücken zu. Auf dem Hof gab es auch nichts Interessanteres zu sehen. Harry Lehmgrubers Superwagen stand jetzt auf dem Parkplatz. Von einem Lastwagen luden zwei Männer Zementsäcke ab und schleppten sie in eine der Lagerhallen. Sonst war alles still.

Die Sonne blendete ihn, deshalb wandte sich Tommi zur Seite, um sich unauffällig ein wenig im Zimmer umzusehen. Total protzig alles, stellte er fest. Die dicken Teppiche, der vergoldete Brieföffner, die Lederbespannung des Schreibtischs... Echt ätzend.

Das dort drüben interessierte ihn: auf einem kleinen Tisch in der Nische neben dem Fenster, von dem schweren Schrank verdeckt - deshalb hatte er es vorher nicht sehen können - stand ein Modell. Wie aus dem Spielzeugkasten waren da Häuser, Straßen, Bäume, ein kleiner Spielplatz und eine Wäschewiese

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aufgebaut. Tommi rückte vorsichtig ein bißchen näher. Typisch! dachte er. Die Garagen nehmen viermal soviel Platz ein wie Spielplatz und Wäscheplatz zusammen. Und die Mülltonnen standen gleich hinter dem Spielplatz, das mußte ja gräßlich stinken!

Wie winzig klein die Balkons waren! Da paßte ja kaum ein Stuhl drauf, wozu sollten die gut sein, außer, um einen Teppich auszuschütteln oder die Betten zu lüften. Also, er würde dort nicht wohnen wollen. Wo die Anlage wohl gebaut werden sollte? Tommi trat noch einen Schritt näher, um die Aufschrift lesen zu können.

Als er las, was dort auf einem Plan neben dem Modell geschrieben stand, hätte er vor Überraschung fast laut aufgeschrien. Projekt Lindenhof war da zu lesen, Bau einer Wohnanlage mit einhundertdreiundzwanzig Zwei- und Dreizimmer-Luxuswohnungen mit Bad, Küche und Balkon.

Tommi schaute genauer hin! Natürlich! Dort oben, das war der Plan des alten Lindenhofs, so wie er heute aussah. Und darunter der neue: alle alten Gebäude abgerissen, die Linden gefällt, der größte Teil des weiten Hofes bebaut und statt der schönen alten Bäume zwei Dutzend Garagen!

Aber wie war das möglich? Wollte Harry Lehmgruber seinen Freunden, den Türken, neue Wohnungen bauen? Die alten gefielen denen sicher besser als diese Kaninchenställe hier. Natürlich - so konnte er drei- bis viermal soviele Leute auf dem gleichen Raum unterbringen. Aber war das unbedingt nötig?

Die Männer waren sich einig geworden, sie erhoben sich von ihren Sesseln und schüttelten sich die Hände. Dann sahen sie sich nach Tommi um, der in Gedanken versunken immer noch vor dem Modell des Lindenhofs stand.

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„Interessant, nicht?" sagte Harry Lehmgruber gut gelaunt, denn er war glimpflicher davongekommen, als er erwartet hatte. „Sieht aus wie aus dem Spielzeugkasten. Fehlt nur noch die elektrische Eisenbahn, die außen herumfährt." „Hm", machte Tommi. „Echt super das Modell, man

kann sich genau vorstellen, wie das später aussehen soll." Dann schaute er mit naivem Augenaufschlag zu Harry Lehmgruber auf. „Ist das da schon gebaut?" „Noch nicht, die alten Wohnungen müssen erst

geräumt werden, das geht nicht so schnell, wie man möchte. Sind immer ein paar Querköpfe dabei, die sich stur stellen. Aber im nächsten Jahr werden wir wohl soweit sein."

Harry Lehmgruber grinste breit. Tigerhai, dachte Tommi, jetzt zeigt er wieder seine Zähne! Als ob er gleich zubeißen wolle. Umkreist sein Opfer lange, immer enger und enger und dann auf einmal... happ! Aber ich bin vorsichtig, ich durchschaue dich! „Verstehe ich nicht", sagte Tommi unschuldig,

„die Leute sollten doch froh sein, wenn sie so schöne Wohnungen bekommen!"

„Nun, die Leute, die jetzt in den alten, heruntergekommenen Wohnungen leben, werden die neuen kaum bezahlen können. Die müssen sich eben was anderes suchen. Für die sind die neuen Häuser nicht gedacht. Das fehlte gerade noch, daß wir in der guten Gegend eine Rentner- und Türkensiedlung haben, wo der Grund derartig teuer ist..."

Der Tigerhai brach ab, als wäre ihm klar geworden, daß er möglicherweise zu viel gesagt hatte. Er ließ sein Gebiß blitzen und reichte Tommi die Hand. „Wiedersehen, junger Freund. Und paß in Zukunft

ein bißchen auf beim Radfahren, ob nicht irgendwo ein Mann unterwegs ist, der den Kopf voller geschäftlicher Sorgen hat!"

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Die drei Besucher verließen das Büro Harry Lehmgrubers. Papa Francesco steckte zufrieden einen Scheck in seine Brieftasche und nickte dem Anwalt zu. Besser hätte es gar nicht laufen können! Dieser Harry Lehmgruber mußte wirklich Angst vor der Presse haben, daß er so eifrig um seine reine Weste besorgt war.

Tommi war tief in Gedanken versunken. Man soll den Tag nicht vor dem Abend verfluchen, sagte er sich. Was ich da eben rausgefunden habe, ist eine Sensation. Die anderen werden staunen, wenn ich es ihnen erzähle. So ein doppelzüngiger, falscher Kerl, dieser Lehmgruber. Tut wer weiß wie freundlich, dabei hat er nichts anderes im Sinn, als die alten Mieter loszuwerden, damit er den schönen, romantischen Lindenhof abreißen und seine idiotischen Kaninchenställe da aufbauen kann. Dagegen muß man doch etwas tun können!

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Alarm in Haus Üb „Da bist du ja endlich!" rief Mamma Gina aus der Küche, als Tommi als erster die Pizzeria betrat. „Du wirst schon erwartet!"

Tommi flitzte ins Hinterzimmer. Tatsächlich! Da saßen sie alle und warteten auf ihn: TH, Milli, Schräub-chen und die drei Türken. Sie waren so in eine heftige Diskussion vertieft, daß sie ihn zunächst gar nicht bemerkten. „He! Spitze, daß ihr da seid!" rief Tommi. „Ihr ahnt ja

nicht, was ich für eine Neuigkeit mitgebracht habe. Es haut euch um!" „Und was wir entdeckt haben, wird bei dir vermutlich

wie eine Bombe einschlagen", gab TH zurück. „Wenn du's überhaupt glaubst, ohne es mit eigenen Augen gesehen zu haben."

Tommi war es ganz recht, die anderen mit dem, was er wußte, ein wenig auf die Folter zu spannen. Also setzte er sich neben Günsel an den Tisch und schaute alle der Reihe nach neugierig an. „Na gut, schieß los, was ist passiert?" „Also, du weißt ja, daß Mehmet und Günsel uns

heute morgen nichts sagen wollten. Der Grund war, daß sie sich einfach nicht ganz sicher waren. Wir sind also heute nachmittag hingegangen und haben uns bei ihnen in der Wohnung getroffen. Und da erzählt uns Mehmet... nein, erzähl du selbst, Mehmet!" „Na ja, ich habe ihnen erzählt, daß ich einen Mann

beobachtet habe, der nicht im Lindenhof wohnt. Er kam gestern abend ziemlich spät und ging in ein Haus gegenüber. Irgendwie war ich mißtrauisch, ich weiß auch nicht warum, jedenfalls bin ich rüber gegangen und wie zufällig ins Haus und die Treppen hinauf. Er hatte gerade an einer Wohnung geklingelt, und ich hörte, wie er sagte, er müsse nach den

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Sicherungskästen sehen, ob die noch vorschriftsmäßig wären. Er käme von den Stadtwerken. So spät? habe ich gedacht, das ist doch oberfaul! Ich hab ihn also weiter beobachtet, und er ist zu allen Deutschen in die Wohnung gegangen. Zu den Türken nicht. Okay, habe ich gedacht, dann wird er bei dem alten Schmetter auch aufkreuzen. Ich bin also zu Schmetter und hab ihn gewarnt. Passen Sie genau auf, was er macht, habe ich ihm gesagt, aber so, daß er es nicht merkt. Also, der Mann klingelt bei Herrn Schmetter, sagt seinen Spruch und geht an den Kasten. Die Sicherungskästen sind im Flur in einer ziemlich dunklen Ecke, kaum zu sehen. Er leuchtet also mit seiner Taschenlampe hin, fummelt ein bißchen dran rum, dann sagt er ,danke, alles in Ordnung!' und geht wieder. Wir gucken uns den Kasten an... es war nichts zu sehen. Na schön, denke ich, habe ich eben phantasiert. Heute nacht wache ich davon auf, daß es mich ekelhaft beißt und juckt. Flöhe, denke ich, das gibt's doch nicht, wo soll ich denn die herhaben! Heute früh, als wir in die Schule gehen wollen, begegnen wir Herrn Schmetter auf der Treppe. Total zerstochen! Er hat die ganze Nacht nicht schlafen können. Und dann, auf dem Schulweg kam mir die Erleuchtung. Der Kerl hat gestern Ungeziefer in den Wohnungen ausgesetzt! Nur bei den Deutschen... damit die Türken in Verdacht geraten, daß sie nicht sauber sind!" „Ja, und als wir dann kamen", fuhr TH fort, „sind wir

natürlich sofort an die Arbeit gegangen. Wir haben gemeinsam mit Herrn Schmetter die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt. Milli war's schließlich, die auf die Idee kam, den Sicherungskasten noch mal zu untersuchen. Und tatsächlich: an der Rückwand, die man nicht sieht, wenn man das Türchen des Kastens öffnet, klebte eine kleine Schachtel mit Löchern drin. Ein paar von den lieben Tierchen saßen noch drin."

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„Flöhe?" „Nein, Wanzen!" „Ach du lieber Himmel!" Tommi begann es sofort am ganzen Körper zu juk-

ken. War schon eine auf ihn übergesprungen? Die anderen lachten. „Keine Angst! Wir haben sofort eine Radikalkur

gemacht. Die lieben Tierchen sind, soweit es uns und Herrn Schmetter betrifft, vernichtet."

„Und was ist mit den anderen Wohnungen?" „Herr Schmetter ist noch dabei, sie zu besuchen und

die Mieter aufzuklären. Nach den ersten Ergebnissen ist es dem Gangster nicht bei allen gelungen, sein kleines Geschenk loszuwerden. Entweder haben sie ihn zu genau beobachtet oder ihn gar nicht reingelassen. Aber bei fünf oder sechs Familien hat er seine beißende Visitenkarte hinterlassen", berichtete Milli. „Das ist 'n Ding!" Tommi schüttelte immer wieder

fassungslos den Kopf. „Und bei keiner einzigen türkischen Familie?" „Bei keiner einzigen." „Wir haben es nachgeprüft", fügte Günsel hinzu. „Und was ist nun deine große Neuigkeit?"

erkundigte sich Schräubchen. „Ich war beim Tigerhai." „Das wissen wir. Und? Kriegst du einen Haufen

Schmerzensgeld?" „Ja, ich weiß nicht, ich denke schon, darum habe

ich mich nicht gekümmert. Das haben die Alten geregelt!"

„Nicht gekümmert? Wenn du Geld für ein neues Fahrrad bekommst?" fragte Milli ungläubig. „Nein. Denn ich hatte Wichtigeres zu tun. Ich habe

nämlich was entdeckt!" „Was entdeckt? Was denn? Nun mach's doch nicht

so spannend! Meine Nerven!" stöhnte TH. „Ich habe das Modell des Bauprojekts Lindenhof

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entdeckt. Es steht neben Lehmgrubers Schreibtisch. Eine Anlage von hundertdreiundzwanzig Wohnungen der Luxusklasse auf dem Gelände des Lindenhofes, der dann natürlich abgerissen und beseitigt werden muß. Spätestens nächstes Jahr möchte Lehmgruber mit dem Bau beginnen." „Und die Mieter? Wie sollen sie die

Luxuswohnungen bezahlen?" fragte Günsel erschrocken. „Gar nicht. Die müssen raus. Sie können sehen, wo sie bleiben. Die neuen Wohnungen sind für besser zahlendes Publikum gedacht." „Menschenskind, das ist ja... das ist ja..." TH

schaute fassungslos in die Runde. „Unser Menschenfreund Lehmgruber!" sagte

Mehmet spöttisch. „Da hast du's. Man soll doch wirklich keinem von diesen... keinem trauen!" „Keinem Deutschen trauen, wolltest du sagen,

stimmt's?" fragte Milli bedrückt. „Ja. Aber dann hab ich euch angesehen und gewußt,

daß es eine Gemeinheit wäre, so was zu sagen. Überall gibt es gute und schlechte Menschen. Auch in der Türkei!"

TH begann fieberhaft seine Brille zu putzen. Seine kurzsichtigen Augen starrten ins Leere, hinter seiner Stirn sah man es buchstäblich arbeiten.

„Leute", murmelte er, „Leute, in meinem Kopf ist irgendwas dabei, gleich gewaltig zu klingeln, ich krieg's nur noch nicht in die Reihe. Die Mieter, die ausziehen müssen, die Reparaturen, die nur versprochen, aber nie gemacht werden, das angebliche Verständnis für die türkischen Familien, die lautstarke Aufforderung an unzufriedene Mieter, sich doch was anderes zu suchen..." „Bei mir heult da eine ganze Batterie Sirenen!" fiel

ihm Schräubchen ins Wort. „Mein Vater hat da nämlich heute beim Frühstück was aus der Zeitung

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vorgelesen. Wartet mal, ihr habt doch den Sommerherger Stadtboten, oder?"

„Wir haben alles für unsere Gäste! Tageszeitungen, Illustrierte, warte!" Tommi eilte nach draußen und kam gleich darauf mit

der von Schräubchen gewünschten Zeitung zurück. „Auf der dritten Seite, glaube ich, komm, laß mich mal

nachschauen. Ja, hier! Ein Artikel darüber, daß gewissenlose Bauspekulanten wertvolle alte Bausubstanz aufkaufen und von Gastarbeiterfamilien kaputtwohnen lassen, bis die Häuser so baufällig sind, daß die Stadt die Genehmigung zum Abriß gibt. Es wird hier gefordert, daß mehr Gebäude unter Denkmalschutz gestellt werden!" „Hm", Mehmet schaute die anderen grinsend an.

„Kleine Denksportaufgabe: wie schaffe ich es, Häuser schneller kaputtwohnen zu lassen, um die Genehmigung zum Abreißen zu bekommen?" „Ganz einfach. Ich helfe kräftig nach!" sagte Tommi.

„So lange, bis auch der letzte Mieter entnervt die Kurve kratzt. Aber was ist, wenn die Gastarbeiterfamilien sich weigern, auszuziehen?" „Oh, dafür ist von vornherein gesorgt!" Mehmet

lachte bitter. „Durch die Mietverträge! Ausländer haben bei Herrn Lehmgruber eine Kündigungsfrist zwischen einem und drei Monaten, je nachdem wie gut der Mieter deutsch spricht und liest und wie gut er handeln kann. Viele sind da völlig hilflos." „Ja, so ist das!" TH pfiff durch die Zähne. „Also, was

tun wir jetzt? Wir müssen uns einen genauen Aktionsplan zurechtlegen!"

„Ich glaube, das Wichtigste ist erst mal, den Kerl, der die Anschläge verübt, auf frischer Tat zu ertappen", sagte Milli. „Der ist natürlich von Lehmgruber gekauft!" „Ja!" stimmte Günsel zu. „Und dann muß man die

deutschen Mieter darüber aufklären, was da gespielt

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wird. Wenn sie es nicht schon durch die Sache mit dem Ungeziefer begriffen haben." „Ich finde, wir sollten sofort damit anfangen", meldete

sich Ali zu Wort. „Ich glaube, wir haben nicht mehr viel Zeit. Die deutschen Mieter werden zu Herrn Lehmgruber gegangen sein und sich beschwert haben. Der wird alles auf die Türken geschoben haben, ist doch klar!" „Aber Herr Schmetter wollte doch..." „Sie werden ihm nicht glauben!" schnitt Ali Schräub-

chen das Wort ab. „Weil sie lieber glauben wollen, daß die Türken schuld sind, verstehst du?" „Okay, was ist zu tun? Wir müssen praktisch

ununterbrochen Wache schieben, um den nächsten Anschlag live mitzukriegen. Am besten, wir fotografieren ihn gleich und gehen damit zur Zeitung!"

TH war Feuer und Flamme. Sie waren eine siebenköpfige Mannschaft, da ließ sich schon was erreichen. Er sah schon die Zeitungsüberschriften vor sich.

„Aber was machen wir während der Schulstunden?" fragte Milli. „Da muß Herr Schmetter auf dem Posten sein",

erklärte Mehmet. „Wer weiß, vielleicht hat er inzwischen schon Mitstreiter gefunden?" „Außerdem werden die meisten Anschläge nachts

verübt", sagte Günsel, „wenn im Lindenhof alles dunkel ist." „Gut. Wir werden drei Wachen bilden aus jeweils

einem Deutschen und einem Türken. Milli ist der Springer, der aushilft, wenn einer der anderen nicht kann", schlug TH vor. „Mehmet und Schräubchen arbeiten zusammen; Tommi und Günsel; Ali und ich. Die Wache dauert jeweils vier Stunden, einverstanden?" „Ich darf nachts nicht aus dem Haus", sagte

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Günsel. „Das erlauben meine Eltern nie!" „Ich kann schon mal sagen, daß ich bei

Schräubchen übernachte... aber tagelang? Ich weiß nicht", gab Milli zu bedenken. „Und mich heimlich jede Nacht vom Maierhof wegschleichen? Das kann ich nicht!" „Nein, du hast recht, das geht nicht. Das gleiche gilt

für Schräubchen. Tja", TH kratzte sich nachdenklich am Kopf.

„Andererseits möchte ich zu gern dabeisein, wenn ihr den Kerl erwischt!" seufzte Schräubchen. „Ich könnte noch ein paar zuverlässige Helfer

organisieren!" schlug Mehmet vor. „Freunde von mir, die auch im Lindenhof wohnen. Özgen und Cengiz zum Beispiel, die sind beide schon neunzehn. Özgen arbeitet als Fahrer in der Keksfabrik und Cengiz als Lackierer in einer Autowerkstatt. Sie sind beide schon lange in Deutschland und sprechen fließend Deutsch." „Das ist eine Superidee! Wenn du noch mehr

Helfer wüßtest, wir können jede Menge gebrauchen, Mehmet!"

In diesem Augenblick steckte Mamma Gina den Kopf zur Tür herein. „Wer von euch ist Mehmet? Er möchte mal ans Telefon kommen. Da ist ein ganz aufgeregter Mann dran!" „Das kann nur Schmetter sein! Ich habe ihm die

Nummer der Pizzeria gegeben." Mehmet rannte nach draußen; die anderen folgten

ihm und umringten ihn, als er den Hörer aufnahm und sich meldete. Es war offensichtlich Herr Schmetter, seine kräftige, hohe Stimme war auch einen Meter vom Telefon entfernt zu erkennen. Mehmets Augen weiteten sich vor Entsetzen, als der alte Mann auf ihn einsprach.

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„Was? Das ist ja furchtbar! Wir kommen, Herr Schmetter! Wir kommen sofort!" Mehmet hängt den Hörer ein und sah seine Freunde entsetzt an. „Alarm in Nummer 11 b! Sie haben kein Wasser

mehr, die Leitungen tröpfeln nur noch - aber der ganze Keller ist überschwemmt!" „Nichts wie hin!" schrie Tommi und raste durch die

Pizzeria nach draußen. Die anderen folgten ihm. „Tommi! Tommi, wo willst du so spät noch hin?

Du sollst deine Hausaufgaben machen und dann zu Abend essen!" rief Mamma Gina hinter ihm her. „Kann nicht! Alarm in 11 b!" Und schon war

Tommi verschwunden. „Alarm in 11 b, Alarm in 11 b! Ist das ein Grund,

seine Hausaufgaben nicht zu machen? Immer dieses Fernsehen, man sollte es verbieten!" murrte Mamma Gina und kehrte zu ihrem Gnocchi-Teig zurück.

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Nachtdienst für die Pizza-Bande

Als sie den Keller des Hauses 11 b betraten, war die Feuerwehr bereits dabei, die überschwemmten Räume leerzupumpen. Ein Feuerwehrmann drängte sie zurück. „Platz da, Kinder, hier gibt's nichts zu sehen." „Entschuldigen Sie bitte", fragte Schräubchen

höflich, „wie ist denn das passiert?" „Der Haupthahn ist gebrochen. Alles Schrott hier, ist

ja seit Jahrzehnten nichts mehr repariert worden." „Ist es der da?" erkundigte sich TH und zeigte auf ein

verrostetes Metallteil, das zwischen verbogenen Rohrstücken und Bauschutt in einem Eimer lag.

„Ja, der.« Ein Handwerker betrat den Raum, und der

Feuerwehrmann wandte sich ihm zu. „Gut, daß du kommst, Otto. Wir haben die Stelle

erstmal provisorisch mit einem Schlauch überbrückt. Da hinten in der Ecke ist es!"

Die beiden Männer verschwanden im Nebenraum. Tommi zwinkerte den anderen zu.

„Gebt mir mal Deckung. Den nehmen wir mit, als Beweisstück!"

Im gleichen Augenblick wurde er hart von hinten angepackt.

„Finger weg, Junge, das ist kein Spielzeug! Das geht euch gar nichts an!" sagte der Unbekannte barsch. „Entschuldigung, ich dachte, das wird nicht mehr

gebraucht." „Und jetzt raus hier. Ihr habt hier nichts zu suchen!" „Ja, ja, ist schon gut!" Tommi trottete, gefolgt von

den anderen, nach draußen. Kaum waren sie außer Sichtweite, flüsterte er ihnen zu: „Versteckt euch und

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behaltet den Ausgang genau im Auge! Ich wette mit euch, der klaut den Hahn selber! Schnell!" „Okay, kommt mit!" Günsel und Mehmet rannten zu einem

Holzschuppen hinüber und verbargen sich hinter einem Stapel alter Bretter. Die anderen folgten ihrem Beispiel. Sie waren kaum in ihrem Versteck angekommen, als der Mann, der Tommi eben so unsanft angepackt hatte, aus dem Haus 11 b trat und schnell dem Hoftor zulief. Dabei ließ er einen Gegenstand in seiner Aktentasche verschwinden. Im Tor schaute er sich noch einmal um, rannte auf die Straße hinaus, und gleich darauf hörten sie ein Auto davonfahren. „Hab ich's mir doch gedacht. Den Kerl habe ich heute nämlich schon gesehen", erklärte Tommi aufgeregt. „Wißt ihr, wer das ist? Ein Angestellter vom Tigerhai!" Seine Worte hatten nicht ganz die gewünschte Wirkung.

„Na ja", sagte TH gedehnt. „Daß der Hai die Reparaturarbeiten schamlos vernachlässigt hat, weiß ja jeder. Verständlich, wenn er einen seiner Leute schickt, das Beweisstück verschwinden zu lassen, ehe ihm jemand einen Strick draus dreht." „Du meinst also nicht, daß das Ding angesägt war?" „Es kann auch einfach brüchig gewesen sein." „Sinnlos, sich darüber jetzt den Kopf zu

zerbrechen", sagte Mehmet. „Gehen wir lieber zu Özgen hinauf. Wir sollten unsere Wachen so schnell wie möglich organisieren." „Du hast recht. Wo wohnt Özgen?" fragte Tommi.

„Im Nebenhaus. Nummer 11 c." Özgen lebte nicht mehr bei seiner Familie; er bewohnte eine kleine Dachkammer mit Kochnische, die man beim ersten Anblick für den Lagerraum eines Händlers für gebrauchte Ersatzteile halten konnte. In Regalen, Kisten und Kartons stapelte sich alles, was man bei

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der Reparatur eines Autos, eines Kühlschranks oder einer Waschmaschine eventuell verwenden konnte. Irgendwo dazwischen stand ein Bett, an dessen Fußende eine Sammlung technischer Bücher und Zeitschriften Platz gefunden hatten. Eine Kommode unter dem Fenster und ein paar Kleiderhaken an der Wand ersetzten den Schrank. „Özgen ist Experte im Reparieren", stellte Mehmet

den Freund vor. „Er baut alles wieder zusammen." „Ihr kommt von unten! Was war denn da los? Der

Lärm, und ich wollte schlafen!" brummte Özgen. „Riesenüberschwemmung!" erklärte Tommi. „Der

Haupthahn der Wasserleitung war gebrochen." „Das kann nicht sein", sagte Özgen und gähnte. „Da

habe ich vorige Woche einen neuen eingebaut, weil der alte undicht war!" „Er soll völlig verrostet gewesen sein!" „Er war so gut wie neu!" „Booiiing!" machte Schräubchen. „Also doch." „Ich hab's ja gewußt!" Tommi reckte sich. „Los

Mehmet, erzähl Özgen, was wir vorhaben." Noch am gleichen Abend hatten sie vier

Mitstreiter gewonnen. Damit waren die Mädchen von der Nachtwache befreit. Außer Özgen und Cengiz beteiligten sich noch Hassan und sein Bruder Metin an der Aktion; sie waren fünfzehn und sechzehn Jahre alt, stammten aus Ankara.

Drei Tage lang geschah absolut nichts. Es war, als ahnte der Täter, daß man ihm auf der Spur war. Stunde für Stunde starteten sie aus ihren Verstecken auf den Hof und auf die Toreinfahrt, nichts Verdächtiges ließ sich entdecken.

Am vierten Tag glaubten sie sich am Ziel. Sie hatten in der Nachmittagssonne unter den Linden gesessen, die vier von der Pizza-Bande und ihre türkischen Freunde, als Harry Lehmgruber den Hof betrat, gefolgt von seinem Angestellten.

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„Der Hai!" flüsterte Tommi. „Gebt mir Deckung, er muß mich hier nicht unbedingt sehen!" Die Freunde bildeten einen Kreis um Tommi, und alle taten so, als seien sie in ein Spiel vertieft. Lehmgruber nahm keine Notiz von ihnen, denn schon am Eingang wurde er von einem der alten Mieter gestellt. Sie konnten nicht verstehen, welche Beschwerden der alte Mann anbrachte, nur daß er sich bitter über irgend etwas beklagte, war am Ton seiner heftigen Rede zu erkennen. Harry Lehmgruber begütigte den Aufgebrachten und setzte, gefolgt von seinem Angestellten, seinen Weg über den Hof fort. Er steuerte auf das Haus 11 b zu, anscheinend in der Absicht, einen Blick in den immer noch nassen Keller zu werfen. TH beobachtete aus den Augenwinkeln genau, was zwischen den beiden Männern vorging. „Hast du gehört, Willi? Herr und Frau Rothe wollen

ausziehen, wenn noch einmal etwas vorkommt. Da muß doch was passieren, oder?" Dabei zeigte er breit grinsend sein Haifischgebiß. „Der Meinung bin ich auch, Herr Lehmgruber",

antwortete Willi mit einem unangenehmen Lachen. „Heute nacht klappt's, wetten?" wisperte TH

aufgeregt. „Heute passiert was!" „Da will ich dabeisein!" sagte Schräubchen. „Ich auch!" beteuerte Milli. „Ich rufe zu Hause an,

daß ich heute bei Schräubchen übernachte." „Okay, ausnahmsweise", sagte TH väterlich.

„Vielleicht ist dies wirklich unser Tag!" „Laßt uns gleich einen Plan machen, wie wir ihn am

besten beobachten können, ohne von ihm gesehen zu werden!" beschwor Tommi die anderen. „Was meint ihr, welches Haus wird er sich vornehmen? Das, in dem die Rothes wohnen?" „Da bin ich ziemlich sicher!" Mehmet schaute zu

dem Haus hinüber, dessen Vorderfront auf die

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Straßenseite blickte. „Das ist für ihn günstig, er muß nicht durchs Tor, sondern kann durch ein Fenster ins Treppenhaus einsteigen." „Es ist das Haus, in dem Hassan und Metin wohnen",

erklärte Günsel. „In der Wohnung über den Rothes." „Prima, da können wir uns verstecken." Zunächst schien das Glück auf ihrer Seite zu sein. Sie hatten jeder ein günstiges Versteck im Treppenhaus gefunden. Die Wohnungstür der Türken stand weit offen, drinnen herrschte vollkommenes Dunkel, so konnten sie sich jederzeit unbemerkt zurückziehen. Vorsichtshalber hatten die beiden Brüder alles zur Seite geräumt, was bei einem Zusammenstoß Lärm verursachen konnte. Lautlos, auf Strümpfen, schlichen die Freunde die Treppen hinauf und hinunter und spähten aus den Fenstern, ob sich von der Straße her jemand dem Hause näherte. „Achtung!" wisperte Tommi. „Da schleicht jemand an

der Mauer entlang! Er kommt zum Fenster rüber! Auf die Plätze, schnell!"

Ohne ein Geräusch zu verursachen, huschten sie in ihre Verstecke. Unten im Treppenhaus wurde ein Fenster aufgedrückt. Willi mußte es bereits vorher präpariert haben, so daß er es von außen öffnen konnte. In dem schwachen Lichtschimmer, der von der entfernten Straßenlaterne hereinfiel, sahen sie, wie Willi durch das Fenster stieg und kurz seine Taschenlampe aufblitzen ließ, um sich zu orientieren. Einen Augenblick schien es, als sei er unschlüssig, ob er in den Keller hinunter oder auf den Speicher hinaufgehen sollte. Milli und Schräubchen, die dicht aneinandergedrängt unter dem Treppenabsatz der Kellertreppe hockten, zitterten so, daß sie Angst hatten, man könnte es hören. TH, der seine Kamera schußbereit in den Händen hielt, mußte fürchten, das Bild zu verwackeln, wenn es ihm nicht gelang, sich zu beruhigen.

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Willi schien abzuwarten und zu lauschen. Er trug eine Werkzeugtasche bei sich, aus der er jetzt etwas herauszog. Ein leises Klirren und Zischen folgte, etwas fiel klappernd zu Boden. Er hat die Deckenlampe rausgerissen, nun wird im ganzen Haus Kurzschluß sein! fuhr es TH durch den Kopf. Jetzt schneidet er den Treppenbelag kaputt! Nur weiter so, mein Junge, komm nur näher, dann kriege ich dich erstklassig aufs Bild!

Aber Willi kam nicht näher. Willi hatte noch andere Nummern auf Lager. Er beugte sich aus dem Fenster und holte einen Sack herein, den er dort draußen deponiert hatte. Schwach konnten sie erkennen, wie er den Sack öffnete und etwas heraussprang, einmal, zweimal, drei-, viermal... mit langen Schwänzen. Und fiepend die Treppen hinaufhuschte. In diesem Augenblick entrang sich Tommi ein so

verzweifelter Entsetzensschrei, daß Willi seine Werkzeugtasche griff und wie der Blitz durch das Fenster entschwand, ohne daß TH auch nur die leiseste Chance gehabt hatte, auf den Auslöser zu drücken. „Tommi, du Idiot! Du hast alles vermasselt!" „Warum hast du denn bloß so geschrien?"

Mehmet ließ seine Taschenlampe kreisen, aber von Tommi war keine Spur zu entdecken. In der Wohnung fanden sie ihn schließlich, mit angezogenen Beinen auf dem Küchentisch sitzend. „Sind sie weg, die Ratten? Entschuldigt bitte",

brachte er mit klappernden Zähnen hervor, „aber ich bin nun mal kein Freund von Nagetieren solcher Größe. Ich kann sie nicht leiden!" „Schon gut, reg dich nicht auf", sagte Milli lachend.

„Die haben so einen Schrecken bekommen, als du geschrien hast, daß sie in die hinterste Ecke des Kellers geflohen sind!" „Bist du sicher? Glaubst du, ich kann das Haus

verlassen?"

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„Klar doch!" „Und wenn sie mir draußen auflauern?" „Wir beschützen dich." Tommi kletterte vom Tisch und gewann

einigermaßen seine Haltung zurück. Er räusperte sich und versuchte ein Lächeln.

„Na ja, also, dann gehen wir wohl jetzt besser schlafen."

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Unverhoffter Erfolg Nach diesem Mißerfolg rechneten sie kaum noch damit, Willi bei einem Anschlag zu überraschen. Trotzdem behielten sie die Wachen bei, denn - wie TH die Männer aus dem Rathaus immer wieder zitierte - ein Harry Lehmgruber gibt nicht so schnell auf.

Nach den sonnigen Spätsommertagen hatte heftiger Regen eingesetzt. Da es merklich kühler wurde, vermuteten die Freunde, daß der nächste Anschlag der veralteten Heizung gelten würde. Also behielten sie vor allem die Kellereingänge im Auge. Von ihrem Ausguck in einer Wohnung des Vorderhauses aus beobachteten sie, wer durch das Haupttor in den Lindenhof kam und in welches Haus er ging. War es ein Fremder, so folgten sie ihm unauffällig in das Haus, das er betreten hatte.

Die erste Wache nach der Schule hatten an diesem Tag Ali und TH, sie wurden gegen Abend von Tommi und Özgen abgelöst. Ali und TH saßen im Schlafzimmer der Familie Zeki hinter der Gardine und starrten abwechselnd in den von Pfützen übersäten Hof hinaus. Bei diesem Regen ging niemand aus purem Vergnügen vor die Tür, der Hof lag wie ausgestorben. Hin und wieder kam einer der Männer oder eine der Frauen von der Arbeit heim, geduckt unter einen Regenschirm oder mit hochgeschlagenem Mantelkragen, aber Ali kannte sie alle. Oder doch fast alle. „Da geht Herr Jonas mit seiner Frau, siehst du? Sie

werden beide bald achtzig, aber sie sind immer noch verliebt ineinander. Schau, wie sie sich an den

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Händen halten! Jeden Tag machen sie zweimal einen großen Spaziergang, morgens und nachmittags. Ihre Wohnung ist schön, ich habe sie mal gesehen", erzählte Ali, „als ich ihnen ihre Einkaufstaschen rauftragen half. Sonntags bekommen sie Besuch von ihren Kindern. Fünf Kinder haben sie, und einen Haufen Enkelkinder."

„Was, die kommen jeden Sonntag?" „Nicht immer alle auf einmal. Mal der eine, mal

der andere. Die sind alle hier im Lindehof großgeworden. Deshalb sagt Herr Jonas, er wird hier niemals ausziehen, selbst wenn alle anderen Mieter kündigen. Er will hier sterben, wo er sein ganzes Leben verbracht hat." „Kann ich verstehen." „Sie sind sehr nett, vor allem zu den kleinen

Kindern, wenn die mal Krach machen oder heulen oder sich weh getan haben." „Aha, sie wohnen in dem Haus neben dem von

Özgen", stellte TH fest. „Ja, im obersten Stock." „Kurz vor sieben. Tommi ist schon bei Özgen

drüben, ich gehe mal rüber und sage ihnen Bescheid, damit sie uns ablösen kommen." „Okay." TH zog die Kapuze seiner Regenjacke tief in

die Stirn. Als er den Hof überquerte, überholte ihn ein Pärchen in Jeans und ebensolchen Regenjacken, wie TH eine trug, auch sie hatten die Kapuzen tief in die Stirn gezogen. Kein Wunder bei dem Sauwetter, dachte TH. Sie betraten das Nachbarhaus.

Tommi und Özgen saßen auf dem Bett, sie waren tief in die Lektüre einer neuen Autozeitschrift versunken. „He, ihr Schlafmützen, es ist Zeit! Eure Wache

ist dran! Warum macht ihr kein Licht, man kann

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vor Dunkelheit ja kaum die Hand vor Augen sehen!"

„Ist uns gar nicht aufgefallen", sagte Tommi und reckte sich gähnend. „Außerdem ist Strom sparen immer gut. Kostet

alles Geld." Özgen stand auf und nahm seine Jacke vom Haken. „Läßt du mir wieder deinen Fotoapparat da?" „Logisch." „Gib mal her." Tommi nahm TH den Apparat aus der Hand; er ging

ans Fenster und peilte das Nachbardach an, auf dem sich zwei Tauben stritten. Plötzlich schob sich etwas anderes ins Bild. Die Dachluke wurde geöffnet, und eine menschliche Gestalt in einem dunklen Trikot und mit einer schwarzen Schirmmütze schob sich durch die Öffnung. „Nanu", wunderte sich Tommi. „Seit wann machen

denn die Schornsteinfeger Überstunden! Es ist doch gleich dunkel - und dann noch der Regen!"

Özgen und TH waren hinter ihn getreten und konnten nun einen zweiten Mann beobachten, der ebenfalls aus der Luke stieg. „Vorsicht, daß sie uns nicht entdecken!" flüsterte TH

aufgeregt. „Nimm Blende 1,8, schnell! Willi und ein Komplize!"

Tommi reichte TH den Apparat. Von Fototechnik verstand er nichts, die Verantwortung wollte er nicht übernehmen. „Hoffentlich entdecken sie uns nicht", raunte Özgen. „Aber sie können uns hinter der Gardine nicht sehen. Gut, daß wir das Licht noch nicht angeknipst hatten!" Die beiden Männer hockten eng an den Schornstein gedrückt auf den Metallstufen, die dem Schornsteinfeger bei seiner Arbeit als Halt dienten. Aufmerksam sahen sie sich um, ob sie

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unbeobachtet waren. Dann nickten sie einander zu. Willi lockerte einen Dachziegel und warf ihn in weitem Bogen hinunter. Der Ziegel rauschte durch die Blätter des Ahorns, der dicht am Haus stand, und landete unten im Gebüsch. „Schlau ausgedacht, die Stelle! Kein Mensch wird

das bei dem Regen hören!" wisperte TH. „Schaut euch das an, die decken das halbe Dach ab!" „Ich weiß auch warum!" Özgen schob die Gardine in

der Mitte ein wenig auseinander, damit TH den Fotoapparat besser postieren konnte. „Genau da drunter ist die Wohnung von Familie Jonas! Harry Lehmgrubers erbitterte Gegner! Das wird ein feuchtes Abendessen für die alten Leute!"

TH knipste und knipste. Endlich hatten die da draußen genug und traten den Rückweg an. Willi sah sich noch einmal um, dann stieg er hinter seinem Helfer durch die Öffnung und schloß die Luke. „Jetzt betet zum Himmel, daß das Licht

ausgereicht hat!" ächzte TH. „Leute, das werden die Sensationsfotos! Kennt ihr jemanden, der uns die sofort entwickelt?" „Klar! Rolle! Der hat sich zu Hause ein ganzes

Fotolabor eingerichtet", sagte Tommi. „Am besten, du rufst ihn noch von hier aus an. Ich gehe inzwischen den armen Ali ablösen. Der wird schon stinksauer sein."

„Ich komme gleich nach", versprach Özgen. „Ich zeige nur schnell TH, wo er hier telefonieren kann. Dann will ich mir den Speicher nebenan ansehen - wie man das Loch im Dach provisorisch dicht machen kann." „Klar." Tommi rieb sich vergnügt die Hände. „Ali

und ich helfen dir. Für heute nacht können wir die Wache getrost ausfallen lassen. Mann, war das ein Erfolg! Und total unerwartet!"

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„Ich bringe den Film zu Rolle, er wohnt ja nicht weit von hier, und dann komme ich noch mal her. Wir müssen sofort mit Herrn Schmetter reden! Noch heute abend!" sagte TH. „Stimmt, machen wir. Am besten, ich nehme ihn

gleich mit auf den Speicher. Wenn's um Reparaturen geht, hat er jede Menge Tricks auf Lager." „Du doch auch, Özgen."

„Ich bin mehr für Maschinen zuständig. Aber Vater Schmetter und ich als Team... wir bauen euch den ganzen Lindenhof wieder auf!" TH lachte. „Na dann, an die Arbeit!" Der alte Herr Schmetter war in den vergangenen Tagen nicht untätig gewesen. Ihn, den man sonst selten aus seiner Höhle kommen sah, konnte man jetzt Tag für Tag bei Besuchen der umliegenden Häuser beobachten. Nicht alle Mieter schenkten ihm Gehör. Viele wimmelten ihn bereits an der Wohnungstür ab, behaupteten, keine Zeit zu haben. Andere taten seine Erzählungen als Spinnereien eines einsamen, alten Mannes ab. Einige aber hörten ihm aufmerksam zu und begannen über das, was sich seit einiger Zeit im Lindenhof ereignete, nachzudenken.

So konnte Vater Schmetter auf eine Reihe aufgeschlossener Mieter hinweisen, die begonnen hatten, die Augen offenzuhalten und sich nicht von Lehmgruber hinters Licht führen ließen. Sie begannen ihre türkischen Nachbarn freundlich zu grüßen, man kam ins Gespräch und stellte fest, daß man gar nicht so verschieden war, wie man immer geglaubt hatte.

Es hatte Herrn Schmetter keine Mühe gekostet, sich bei dem Ehepaar Jonas Gehör zu verschaffen. Und so ging der alte Mann jetzt, von heiligem Zorn erfüllt -einem Rachegott gleich - zu ihnen und berichtete, was geschehen war. Mehmet, Özgen, Ali und Tommi begleiteten ihn.

Herr Jonas folgte Schmetter auf den Speicher, auf

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dem sich bereits eine riesige Wasserlache ausgebreitet hatte.

„Man muß sofort diesen Lehmgruber herzitieren!" schimpfte Jonas. „Und ihn zur Rede stellen! Die Polizei muß her!" „Ich weiß nicht, ob das so klug wäre", gab Herr

Schmetter zu bedenken. „Lehmgruber würde alles abstreiten und behaupten, von nichts eine Ahnung zu haben. Wir müssen warten, bis wir die Fotos haben. Wir können nur hoffen, daß die Gesichter der Täter deutlich genug zu erkennen sind." „Sie haben recht. Also gehen wir zunächst mal

dran, hier zu retten, was zu retten ist!" „Ich trommle ein paar Helfer zusammen",

verkündete Ali. „Wir sammeln unten die Ziegel auf, die noch heil sind, vielleicht können wir sie wieder anbringen." „Tut das", sagte Herr Schmetter. „Özgen und ich

werden sehen, wie wir das Loch von innen dicht kriegen. Organisiert noch ein paar Helfer. Und Günsel soll Eimer und Putzlappen bringen, um das Wasser am Boden aufzuwischen." „Ich werde, wenn es Ihnen recht ist, bei den

Mietern des Lindenhofs rumgehen und sie informieren, was geschehen ist. Ich finde, wir sollten noch heute zusammenkommen und eine Beratung abhalten, wie man gegen diesen Harry Lehmgruber vorgehen kann." Herr Jonas war außer sich. „Jetzt müssen wir beweisen, daß er es nicht mit ein paar hilflosen, alten Leuten und mit anatolischen Hirten und Bauern zu tun hat, die nicht lesen und schreiben können!"

„Großartig!" rief der alte Herr Schmetter. „Wenn Sie die anderen Mieter hier zusammentrommeln könnten ... da würden auch den Ungläubigsten die Augen aufgehen!" „In Ihrer Wohnung wird nicht Platz für all die

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Leute sein", gab Mehmet zu bedenken. „Aber unter Ihnen ist doch eine Wohnung freigeworden. Wenn sich jeder einen Stuhl mitbringt, können wir da die Sitzung abhalten, die Tür ist offen. Es gibt zwar keinen Strom, aber wir können Kerzen mitbringen!" „Sehr gut, macht das." Tommi hatte, noch bevor er an die Arbeit ging,

Schräubchen und Milli informiert, und es dauerte nicht lange, da kamen die beiden Mädchen, trotz des Regens, auf ihren Fahrrädern angeflitzt. Sie erschienen gerade im richtigen Augenblick, um Günsel und Frau Jonas beim Beseitigen der Wasserlache zu helfen, die ihre ersten Spuren an der Decke von Jonas' Wohnzimmer zeigte. Mehmet, Cengiz, Metin und drei weitere Männer halfen, das Dach abzudichten. Nur wenige Ziegel waren heil geblieben, aber es fanden sich im Schuppen noch Ziegel, die seit Jahren dort in einem Winkel lagerten.

Unten füllte sich die leere Wohnung mit Mietern des Lindenhofs. Türken und Deutsche saßen im flackernden Kerzenlicht beieinander und besprachen das Ereignis. Die Wohnung war bereits bis auf den letzten Winkel besetzt, als TH hereinstürmte und ein vergrößertes Foto hochhielt. „Ich hab ihn, ich hab den Beweis! Von allen Fotos ist

leider nur eins was geworden, aber auf dem sind beide Gesichter klar zu erkennen! Da! Willi zieht gerade einen Ziegel raus, und der andere wirft einen runter!" „Menschenskind! Der andere..." Mehmet zeigte

aufgeregt auf das Foto, „das ist doch der Sicherungskasten-Prüfer! Der mit den Wanzen!"

Herr Schmetter kam näher und schob sich seine Brille auf die Nase. „Tatsächlich! Unser Wanzendompteur! Junge, du

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hast die Leistung des Jahrhunderts vollbracht! Damit haben wir ihn!"

Nun ging das Foto von Hand zu Hand. Viele erkannten den Besucher, der vorgegeben hatte, ein Angestellter der Stadtwerke zu sein. „Ich denke, wir können anfangen!" Herr Jonas

klatschte in die Hände. „Mehmet, willst du so nett sein und für diejenigen deiner Landsleute übersetzen, die unsere Sprache noch nicht so gut beherrschen?" „Klar, Herr Jonas!"

In der Wohnung wurde es mucksmäuschenstill. Alle schauten auf den alten Mann mit dem weißen Haarkranz und den hellen Augen. „Liebe Freunde", begann er, „es ist an der Zeit, daß

die Bewohner des Lindenhofs zu einer echten Gemeinschaft werden. Sie alle haben gehört, was passiert ist. Seit Monaten werden Anschläge auf unsere Häuser verübt mit der Absicht, ihren Verfall zu beschleunigen und die alten Mieter mit den praktisch unkündbaren Mietverträgen aus ihren Wohnungen zu vertreiben. Besonders verwerflich ist dabei der Versuch, unsere türkischen Mitbewohner in Verruf zu bringen, indem man ihnen die Schuld an diesen Anschlägen in die Schuhe schiebt, sie als nicht reinlich und unzivilisiert hinzustellen versucht, ja sie sogar des Diebstahls bezichtigt!"

In den Reihen der Türken erhob sich zorniges Protestgemurmel und Beifall für die Worte des alten Mannes. „Ich weiß", wandte sich Herr Jonas an seine deutschen

Landsleute, „manche von uns tun sich schwer mit dem Überwinden von Vorurteilen, sie müssen erst den Mut finden, auf unsere ausländischen Mitbewohner zuzugehen, um sie wirklich kennenzulernen. Andere haben bereits resigniert und sind dabei, auszuziehen, weil sie glauben, nicht mehr die Kraft zu haben, sich Tag für Tag mit all diesen Mißhelligkeiten

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auseinanderzusetzen. Und dann sind eine Reihe jüngerer Leute unter uns, die in der Lage wären, etwas zu ändern, es aber aus Bequemlichkeit nicht tun und vor diesen Dingen die Augen verschließen. Aber, liebe Freunde, überlegen Sie sich bitte, was geschehen wird. In kurzer Zeit wird dieses kleine Paradies zerstört sein, der Lindenhof wird abgerissen und dem Erdboden gleichgemacht und an seiner Stelle werden sich Hochhäuser erheben - mit Wohnungen, die für keinen von uns mehr erschwinglich sind. An uns, ich sage es noch einmal: an uns wird es liegen, ob der schöne alte Lindenhof erhalten bleibt, ob wir hier weiter leben können oder nicht! Wir müssen uns zusammentun und diesen Machenschaften ein Ende bereiten!" „Aber was können wir tun?" rief ein junger Mann. „Viel, mein Junge!" sagte Herr Jonas. „Wir können

die Renovierung unserer Häuser selbst in die Hand nehmen. Wir können eine Arbeitsgemeinschaft gründen, die sich um Reparaturen kümmert. Eine andere, die aus dem schönen alten Hof mit den herrlichen Linden einen blühenden Garten macht, der für alle ein angenehmer Aufenthaltsort und ein Platz der Begegnung ist. Spielplatz für die Kinder, Ruheplatz für die Alten, Platz für gemeinsame Feste. Wir können Gemeinschaftseinrichtungen schaffen..."

„Einen Tischtenniskeller!" rief jemand. „Einen Raum für Billard!" „Ein Garten-Schach wie im Kurgarten!" Von überall her kamen Vorschläge.

„Sehr gut!" freute sich Herr Jonas. „Ich denke auch an Sprachkurse, Handarbeitskurse und ähnliches, um die Gemeinschaft zu fördern. Und wenn wir dies alles in Gang gebracht haben, werden wir die Presse informieren, den Stadtrat, wir werden für unser Modell, wenn ich es so nennen darf, werben. All dies wird uns aber nur gelingen, wenn wir wirklich

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zusammenhalten und zusammenarbeiten. Und wenn jeder seinen Beitrag leistet. Aber wenn wir es schaffen, dann hat ein Spekulant wie Harry Lehmgruber keine Chance mehr!" „Dann sitzt der Hai auf dem Trocknen!" rief Tommi übermütig in die Versammlung. Alles lachte und applaudierte. „Ich habe einen Vorschlag!" rief Herr Büker, der

Vater von Mehmet, Günsel und Ali. „Um uns richtig kennenzulernen, sollten wir ein kleines Fest feiern. Übermorgen ist Samstag. Ich schlage vor, wir Türken laden unsere deutschen Nachbarn ein, mit uns zu feiern. Wenn das Wetter sich bessert - der Wetterbericht sagt es -, können wir das Fest im Freien abhalten. Wenn es regnet, könnten wir die alte Kapelle hinten herrichten, da haben alle Platz, auch zum Tanzen." „Prima! Und zum Beginn des Abends werden wir

Listen auslegen, in die jeder eintragen kann, was er für die gemeinsame Sache tun will!" fügte Herr Jonas hinzu. „Ich danke Ihnen allen!"

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Ein Freundschaftsfest Am Freitagabend verzogen sich die Regenwolken, und eine glutrote Sonne schickte ihre letzten Strahlen hinter dem Horizont herauf, wie ein Versprechen für den nächsten Tag.

Samstagmorgen herrschte emsige Betriebsamkeit auf dem Lindenhof. Blätter wurden zusammengekehrt, Wege geharkt, der Rasen ein letztes Mal geschnitten. Die Außentreppen und Balkone wurden gefegt und mit Girlanden geschmückt, auf dem Hof ein riesiger Holzkohlengrill installiert. Dann schleppte man Tische und Bänke herbei, Gläser, Geschirr und Besteck, schließlich große Körbe mit Obst und Brot. Während ein paar Männer das Feuer schürten und einen Spieß mit großen Bratenstücken besteckten, fuhr Özgen draußen mit einem Lastwagen voller Bretter vor, wer weiß, wo er die ausgeliehen hatte. Bald waren er, Cengiz, Hassan und Metin dabei, die Bretter zu einem Tanzboden zusammenzufügen.

Unter den Linden stellten Frauen eine Wanne mit Wasser und Eisbrocken auf, hinein kamen Weinflaschen, Bier, Säfte und Erfrischungsgetränke zur Kühlung.

Die ersten Gäste fanden sich ein und nahmen auf den Bänken Platz. Der Spieß drehte sich über dem Feuer, köstlicher Bratenduft erfüllte die Luft. Und dann kamen sie aus allen Häusern: türkische Frauen und Mädchen, viele in ihren Heimattrachten, und schleppten herbei, was sie in ihren Küchen für diesen Tag geschmort, gebrutzelt und gebacken hatten. Gemüsegerichte, Salate, Fleischbällchen mit verschiedenen Soßen, Teigtaschen mit Schafskäse oder Fleisch, Süßspeisen und Kuchen. Alles wurde auf einer langen, weißgedeckten Tafel abgestellt, die mit bunten Blumensträußen geschmückt war.

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Jetzt postierte sich eine Gruppe junger Musiker hinter der Tanzfläche und lockte mit heißen Rhythmen auch die letzten Nachzügler aus den Wohnungen. Milli, Schräubchen, Tommi und TH hatten der Familie Büker bei den Vorbereitungen geholfen. Jetzt trugen sie Schüsseln und Platten hinunter und begannen Getränke auszuschenken. „Ich bin total von den Socken, Günsel!" sagte

Schräubchen und füllte Zitronenlimonade in die bereitgestellten Becher. „Also ehrlich! So toll hätte ich es mir nicht vorgestellt. Ich glaube, das ist das irrste Fest meines Lebens! Und wie süß du aussiehst in dieser Tracht!" „Sie stammt noch von meiner Urgroßmutter. Sie

wird nur zu besonderen Gelegenheiten herausgeholt, meine Mutter hütet sie wie einen Schatz." „Das kann ich verstehen." „Hm, wie das duftet!" seufzte Tommi glücklich. „Ob

ich mir schon mal was nehmen darf?" „Man sollte meinen, du müßtest bald platzen, nach

allem, was du oben in der Küche gefressen hast!" meinte Milli lachend.

„Das arbeitet man sich beim Treppensteigen doch wieder ab." „Herr Büker will eine Rede halten", brachte TH die

Freunde zur Ruhe. Vater Büker stieg auf einen Stuhl, damit ihn alle

sehen konnten. Er breitete die Arme weit aus und dankte allen, daß sie gekommen waren, um gemeinsam zu feiern, miteinander zu essen, zu trinken, zu tanzen und vor allem zu reden. „Und nun hoffe ich, daß Ihnen schmeckt, was wir

Türken für sie bereitet haben. Guten Appetit!" Der Applaus verebbte schnell. Jetzt begann die

große Schlacht an den Tischen und am Grill. Und bald saßen alle um die Tische und schmausten, lachten und redeten.

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„Blöd, daß ich mich für diese Wache habe einteilen lassen", ärgerte sich Tommi. „Ausgerechnet beim Essen!" „Keine Angst, es ist von allem genug da! Du wirst

schon nicht verhungern", tröstete Milli ihn. „Aber heute ist die Wache besonders wichtig, weil alle ihre Wohnungen verlassen haben. Paß bloß gut auf!" „Ich weiß." Tommi stand seufzend auf. Der erste Hunger war gestillt, die Gespräche wurden lebhafter. Gläser klangen, lustige Reden auf Deutsch und Türkisch flogen hin und her.

An einem Tisch wurden Fotos gezeigt; Bilder aus der türkischen Heimat, Bilder aus der Vergangenheit des Lindenhofs. Dann baten die Musikanten um Aufmerksamkeit. Eine Gruppe in Trachten nahm auf der Tanzfläche Aufstellung und begann einen Volkstanz. Andere Tänze folgten, und die Zuschauer klatschten den Takt dazu. Schließlich holten die Tänzer diesen und jenen von den Tischen auf die Tanzfläche, immer mehr wurden es, die in den Tanz einbezogen wurden. Im Halbkreis hakten sie sich beieinander ein und schwangen die Beine, hüpften und tanzten schließlich in langer Kette über den Hof.

In einem ruhigen Winkel saßen Mehmet und Herr Jonas an einem Tisch, auf dem die „Arbeitslisten" auslagen, wie sie sie nannten. Immer länger wurde die Reihe der Namen, türkische und deutsche in bunter Folge, von Hausbewohnern, die sich zur Renovierung des Lindenhofs bereitfanden. Auf einer gesonderten Liste wurden Vorschläge für das Gemeinschaftsleben gesammelt. Gleich morgen wollten sie beginnen, die Gruppen zusammenzustellen und den Ablauf der Arbeiten sowie die Kosten und deren Verteilung zu planen. Den Grundstock der Finanzierung sollte eine Sammlung bilden, die noch an diesem Abend stattfinden würde.

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Milli kam herüber, um einen Blick auf die Listen zu werfen. „Toll! Das sieht aus, als wollten fast alle mithelfen!" „So ist es!" Herr Jonas schmunzelte zufrieden. „Entschuldigt mich einen Augenblick, Kinder, dort drüben kommt ein Freund von mir, pensionierter Redakteur des Stadtboten, den möchte ich begrüßen. Er schreibt hin und wieder Artikel für seine Zeitung, und ich dachte, es kann nicht schaden, wenn er das hier sieht!" „Das ist gut! Er kann sich gleich unsere Listen

ansehen", schlug Mehmet vor. „Haben Sie ihm von den Anschlägen erzählt?" „Noch nicht, das wollte ich heute abend tun, vor

Ort sozusagen. Mit solchen Dingen an die Öffentlichkeit gehen... das sollte man nur tun, wenn man sich seiner Sache hundertprozentig sicher ist." „Aber das sind wir ja jetzt!" „Richtig. Deshalb werde ich mit meinem Freund jetzt

einen kleinen Rundgang machen, ihm die Geschichte des Lindenhofs erzählen und ihm dann unsere Fotos zeigen. Und dann werde ich ihn bitten, seinen Bericht -wenn er einen schreibt, aber ich bin sicher, daß er's tun wird - so lange zurückzuhalten, bis ich ihm das Startsignal gebe. Denn wir sollten mit unseren Renovierungsarbeiten schon ein Stück vorangekommen sein, wenn wir die Sommerberger Bürger darauf aufmerksam machen."

Herr Jonas ging zu dem älteren Herrn hinüber, der schon eine Weile im Torbogen stand und mit sichtlichem Vergnügen den Tänzern zuschaute. Milli hatte ihn gefragt, ob sie ihm etwas zu trinken anbieten dürfe und ihm ein Glas Wein gebracht. Jetzt begrüßten sich die beiden alten Männer herzlich und waren bald darauf in ein intensives Gespräch vertieft.

TH löste sich aus der Kette der Tänzer und kam schnaufend zu Milli und Mehmet herüber.

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„Uff, so ausgetobt habe ich mich schon lange nicht mehr! Ich glaube, ich muß mal den armen Tommi ablösen, damit er auch zu seinem Vergnügen kommt!" stöhnte er. „Nun, immerhin habe ich ihn schon ein paarmal mit

einem riesigen Teller voller Leckerbissen getröstet", beruhigte Milli TH. „Es geht ihm nicht gerade schlecht. Warte, ich komme mit zu ihm, vielleicht kann ich ihn überreden, mit mir zu tanzen. Herr Zeki will uns einen Volkstanz beibringen."

Tommi stopfte - den Blick eisern auf die Einfahrt und die davorliegende Straße gerichtet - gerade das letzte süße Stück Baklava in sich hinein. „Ein tolles Fest!" erklärte er strahlend. „Sogar Willi war so rücksichtsvoll, uns den Tag nicht zu verderben!"

Was weder Tommi noch einer der anderen wußte, war, daß Willi über die Mauer und durch eines der Treppenhausfenster gestiegen war und - angelockt durch den fröhlichen Lärm - von einem sicheren Versteck aus das Hoffest beobachtete.

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Der Hai greift an „Ein Verbrüderungsfest? Was sagst du da! So ein Quatsch!" „Wenn ich es doch mit eigenen Augen gesehen

habe, Chef! Sie haben sogar zusammen getanzt. Sie haben sich zugetrunken und gelacht und geredet!" „Das waren die Türken. Von den Deutschen würde

sich doch keiner mit denen an einen Tisch setzen. Nicht nach allem, was passiert ist!" „Es waren sämtliche deutschen Mieter anwesend. Ich

kenne sie doch inzwischen. Und dann hatten sie da eine Art Unterschriftslisten, wo sich alle eingetragen haben." „Unterschriftslisten? Was für Unterschriftslisten?"

fragte Harry Lehmgruber alarmiert. „Keine Ahnung. Konnte ja schließlich nicht hingehen

und sie mir angucken. Eben Unterschriftslisten." „Aber es muß doch einer drüber geredet haben, was

er da unterschreibt!" „Ich war zu weit weg. Ich konnte nichts hören.

Außerdem war die Musik zu laut." „Du mußt sofort rauskriegen, was das für Listen

waren! Die haben doch sicher irgendwo so eine Art Schwarzes Brett, wo die Dinger hängen. Und dann werden wir denen die Daumenschrauben mal ein bißchen anziehen: ab sofort Verbot für alle Feste im Hof. Verbot, Musik zu machen und zu grillen und so 'n Zeug. Liselotte soll das gleich schreiben und vervielfältigen. Mitteilung an alle Mieter! Schreibt, mehrere Mieter hätten sich über die Lärmbelästigung beschwert. Der Hof wäre verunreinigt worden. Bußgeldandrohung und so weiter, ihr wißt schon.

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Und dann stellen wir Schilder auf: Es ist verboten, den Rasen zu betreten. Und: Das Spielen der Kinder im Hof ist verboten. Kein Abstellen der Fahrräder im Hof oder im Hausflur mehr. Hat nicht irgendwer einen Hund oder eine Katze? Haustierhaltung verboten! Ach ja, und dann werden wir die Heizkosten erhöhen. Raumtemperatur nicht mehr über 17 Grad im Winter. Denen werden wir den Lindenhof schon vergraulen!" „Wird gemacht, Chef."

Sehr wohl fühlte sich Willi nicht bei dem Gedanken, bei hellem Tageslicht in den Lindenhof zu marschieren und Verbotsschilder aufzustellen. Dieses Freundschaftsfest der Anwohner hatte ihn auf merkwürdige Weise nervös gemacht. Und da Harry Lehmgruber an diesem Tag im Begriff war, für einige Zeit zu verreisen, verschob Willi die Ausführung des Befehls noch ein wenig. Schließlich mußten die Schilder ja auch erst hergestellt werden. Und das mit dem Schwarzen Brett konnte ruhig noch ein bißchen warten. Wer weiß, ob es überhaupt eins gab. Und war nicht vielleicht die Unterschriftenliste nichts anderes als ein Formular für Spendeneinträge gewesen? Warum war er nicht gleich darauf gekommen?

Als Willi fünf Tage später den Lindenhof betrat, traf es ihn wie ein Schlag. Das Haus 11 a war frisch gestrichen. Bei 11 b waren bereits die Fensterrahmen abgebeizt und man hatte mit dem Streichen begonnen. Vor den Häusern wurden Blumenrabatten angelegt, und auf den Dächern waren überall Mitglieder der Wohngemeinschaft Lindenhof dabei, Reparaturarbeiten auszuführen. Türken und Deutsche arbeiteten Hand in Hand; je nach Alter, Kräften und Geschicklichkeit malten, hämmerten, sägten sie; erneuerten schadhafte Dachrinnen, zerbrochene Ziegel, morsche Holzteile an Treppen und Geländern.

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Kinder und Jugendliche machten Handlangerdienste, schleppten Farbeimer oder Bretter, Frauen putzten und wuschen, strichen Fensterrahmen oder Flurwände, reinigten Pinsel und Gerät; es war eine so emsige Betriebsamkeit, daß Willi seinen Augen nicht traute.

Nein, das war keine Einbildung. Die hatten doch tatsächlich angefangen, auf eigene Kappe den Lindenhof zu renovieren! Willi machte, daß er ungesehen davonkam.

Atemlos erschien er in der Firma Lehmgruber Bau und Grundstücke KG. „Ich muß den Chef sprechen, sofort!" „Der Chef ist verreist, das weißt du doch", sagte

Liselotte, die Sekretärin, gelangweilt und fuhr fort, ihre Nägel zu lackieren. „Dann such ihn! Verbinde mich mit ihm! Er wird

doch wohl ein Telefon in der Nähe haben, schnell! Es ist eine ungeheure Sauerei passiert!" „Was denn?" „Erklär ich dir später! Jetzt sieh zu, wie du ihn an die

Strippe kriegen kannst!" Es dauerte eine Weile, aber schließlich bekamen sie

Lehmgruber an den Apparat. Als Willi seinen Bericht beendet hatte, herrschte am anderen Ende der Leitung für einen Augenblick Schweigen. „Jetzt hat ihn der Schlag getroffen!" flüsterte Willi. Liselotte kam heran und legte neugierig ihr Ohr an den Hörer. In diesem Augenblick brüllte der Tigerhai los, in einer Lautstärke, daß Willi fast den Hörer fallen ließ und Liselotte sich rückwärts auf ihre vier Buchstaben setzte, so erschrocken war sie. „Das ist eine unglaubliche Schweinerei! Wieso

erfahre ich das erst heute? Das muß sofort unterbunden werden!"

„Jawohl, Herr Lehmgruber, aber..." „Rausschmeißen, die ganze Bande, auf die Straße

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setzen!" „Aber, Herr Lehmgruber, wie soll ich..." „Am besten gleich die ganze Bude anzünden, ist ja

sowieso alles Schrott!" „Herr Lehmgruber, wenn doch..." „Ach was, ihr Schlappschwänze, ihr seid dazu ja

nicht in der Lage. Um alles muß man sich selber kümmern. Und das in meinem Urlaub! Wenn man schon mal ein paar Tage ausspannen will. Aber das ist natürlich ein Komplott, sie haben darauf gewartet, daß ich weg bin. Die werden sich noch wundern! Morgen komme ich und räume auf! Die können sich auf was gefaßt machen!" „Ja, Herr Lehmgruber", sagte Willi schwach. Der Tigerhai knallte den Hörer auf, und Willi zuckte zusammen. „Au weia. Ich glaube, ich werde morgen krank. Ich

habe so ein mulmiges Gefühl im Magen, und mein Kopf ist auch schon ganz heiß", jammerte Willi.

„Das traust du dich gar nicht", stellte Liselotte ungerührt fest.

Am nächsten Tag hatte sich der Kreis der Helfer vergrößert. Der Geoschnüffler hatte von dem Projekt erfahren und begeistert erklärt mitzumachen. Hier ging es zwar nicht um die Erhaltung eines Biotops im ursprünglichen Sinn, wie er meinte - aber etwas ähnliches war es doch. Mit ihm hatten sich einige andere Jungen zur Hilfe eingefunden. Die Pizza-Bande hatte eifrig geworben, nicht zuletzt damit, daß die ganze Sache in den Zeitungen herauskommen würde: Schon zweimal waren Pressefotografen erschienen und hatten ihre Arbeit aufgenommen. Ein Reporter von den Sommerberger Nachrichten hatte Fragen gestellt, und jemand vom Rathaus war auch schon dagewesen.

Das Wetter unterstützte sie kräftig. Der Himmel war blitzblau, und ein leichter Wind fächelte ihnen

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Kühlung zu. Kein Wunder, daß die Stimmung prächtig war, zumal Papa Francesco angekündigt hatte, er werde am Abend für alle fleißigen Arbeiter Pizza bereithalten. Mamma Gina hatte zwar zuerst protestiert, wer sollte die viele zusätzliche Arbeit machen? Aber daß es die Sache wert war, daran hatte auch sie keinen Zweifel. Ganz nebenbei mußte man diesen Türken ja auch mal zeigen, daß die italienische Küche mit der ihren absolut konkurrieren konnte. Niemand ahnte etwas Böses, als draußen ein Auto

vorfuhr und mit quietschenden Bremsen hielt. Kurz darauf stürmte Harry Lehmgruber auf den Hof, gefolgt von dem auffällig blassen Willi. „Was geht hier vor?" brüllte Lehmgruber.

Einen Augenblick herrschte beklommene Stille. Aber Herr Jonas war auf diesen Auftritt vorbereitet gewesen, er kannte den Tigerhai und seine Methoden. Ganz ruhig stieg er von dem Podest hinunter, von dem aus er einen Fensterrahmen gestrichen hatte, und trat auf den vor Zorn bebenden Bauspekulanten zu. „Guten Tag, Herr Lehmgruber. Ja, wir renovieren,

wie Sie sehen. Zugegeben, eigentlich wäre das Ihre Aufgabe gewesen, aber da Sie keinerlei Anstalten machten, in dieser Richtung etwas zu unternehmen, es im Gegenteil zuließen, daß mutwillig Dinge zerstört wurden, haben wir Mieter zur Selbsthilfe gegriffen." „So!" schnaufte der Hai und bleckte seine spitzen

Zähne zu einem bösen Grinsen. „Und mir nachher die Rechnung präsentieren, wie? Das haben Sie sich so gedacht, wie?" „Im Gegenteil. Wir haben gesammelt, und jeder hat

seinen Teil dazu beigetragen. Denn uns allen liegt unser Lindenhof und seine Erhaltung am Herzen. Offensichtlich mehr als Ihnen, Herr Lehmgruber." „Und Sie bilden sich tatsächlich ein, daß ich mir das

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gefallen lasse?" brüllte der Hai. „Sie, ich bin der Hausbesitzer, und noch bestimme ich, was hier mit meinem Besitz geschieht!" „Sie brauchen nicht zu brüllen, ich bin nicht taub",

sagte Herr Jonas ruhig, „auch wenn ich weiße Haare habe."

„Ein toller Mann!" flüsterte Schräubchen Milli zu. „Er ist einfach prima!" „Stimmt! Hoffentlich regt ihn das alles nicht zu sehr

auf!" Harry Lehmgruber sah aus, als müsse er jeden

Moment mit einem lauten Knall zerplatzen. „Ich brülle, wann ich will!" schrie er. „Noch bin ich

hier der Herr! Die Arbeiten werden sofort eingestellt! Sie sind alle gekündigt! Fristlos! Wegen, wegen... Sie werden schon sehen!"

Damit rannte er wutschnaubend und wild mit den Armen fuchtelnd vom Hof. Kaum war er davongefahren, scharte sich alles um Herrn Jonas. Der alte Mann war sehr blaß, und Günsel brachte ihm einen Stuhl und half ihm, sich zu setzen. Aber sein Lächeln verriet, daß er mit sich zufrieden war. „Kann er uns wirklich fristlos kündigen?" fragte Frau

Schnack beunruhigt. „Nun", antwortete Herr Jonas, „ich vermute, unser

Freund hat heute noch keinen Blick in die Zeitungen geworfen. Wenn er das tut, wird er sich die Sache mit den Kündigungen wohl noch überlegen."

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Tumult im Rathaus von Sommerberg

Als Harry Lehmgruber zwanzig Minuten später sein Büro betrat, wo unter der Post auch die Zeitungen vom heutigen Tage lagen, suchte Willi unter dem Vorwand, ihm sei schlecht, das Weite. Das nun drohende Donnerwetter würde gewiß alles in den Schatten stellen, was er je bei seinem Boß erlebt hatte.

Willi hatte richtig vermutet. Die Gesichtsfarbe des Tigerhais wechselte von gelblichem Weiß über Rot ins tiefste Lila, als er die erste Zeitung aufschlug. Harry Lehmgruber flimmerte es vor den Augen, die Buchstaben tanzten auf und ab, als wollten sie ihn zum Narren halten. Die dunklen Machenschaften des Herrn L. Bauspekulant läßt seine Häuser abbruchreif demolieren und schiebt die Schuld türkischen Mietern in die Schuhe! Beispielhafte Zusammenarbeit von Deutschen und Türken! Alle helfen mit: der historische Lindenhof durch Eigeninitiative renoviert. Schlafen unsere Stadträte? „Liselotte!" brüllte Lehmgruber. „Liselotte, sofort

zum Diktat! Verdammt, heute ist ja Samstag. Macht nichts, sie muß herkommen! Sofort! Willi!"

Aber Willi hatte sich aus dem Staub gemacht. Er war auf der Suche nach einem Arzt, der ihn für die nächste Woche krankschreiben würde. „Blödes Pack!" schimpfte Harry Lehmgruber.

„Dann schreib ich die Kündigungen selber. Wollen doch mal sehen, wer hier am längeren Hebel sitzt. Und wenn ich sie alle rausklagen muß. Bis in die höchste Instanz werde ich gehen. Ich werde meine

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Rechte schon durchsetzen, egal was es kostet. Wäre doch gelacht! Zunächst kaufe ich mir mal ein paar von diesen Stadträten. So was wie eine Krisensitzung einberufen, ja, das ist jetzt das Wichtigste, und dann muß diese Liselotte her, die Kündigungen schreiben. Ja, und Schadenersatzforderungen wegen... wegen... Veränderung des historischen Lindenhofs, haha, da hat er mir genau das richtige Stichwort gegeben, dieser Schreiber da. An dem historischen Aussehen darf nichts verändert werden! Daß ich nicht lache!"

Der Tigerhai griff zum Telefon. Aber nicht nur Harry Lehmgruber war alarmiert.

Auch dem Bürgermeister und mit ihm sämtlichen Stadträten waren die Artikel in den Samstagsausgaben der Sommerberger Zeitungen auf den Magen geschlagen. Lindenhof? Das war doch das Projekt, für das dieser Lehmgruber schon mehrere Anträge gestellt hatte? Bis jetzt hatten sie alles abgelehnt, was mit dem Abriß des alten Lindenhofs zusammenhing, aber es lag für die nächste Stadtratssitzung bereits eine neue Bauanfrage vor. Und jedes mal fielen dem Kerl neue Begründungen ein. Totaler Verfall der alten Bausubstanz hatte er diesmal angegeben. Kein Wunder, wenn er selbst dafür sorgte!

Und so kam es, daß die Bewohner des Lindenhofs an diesem Tag immer neuen Besuch bekamen. Ein Stadtrat nach dem anderen tauchte auf, um sich am Ort des Geschehens zu informieren, und schließlich erschien auch der Bürgermeister von Sommerberg.

Herr Jonas und Herr Büker, die man zu Vertretern der deutschen und der türkischen Mieter-Interessen ernannt hatte, kamen an diesem Tag kaum noch zum Arbeiten. Immer wieder mußten sie Fragen beantworten, Führungen machen und die vorhandenen Beweisstücke für die heimlichen Anschläge des Vermieters vorlegen.

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„Eigentlich ist es sehr schön hier", sagte der Bürgermeister nachdenklich und sah sich um. „Sie sagen es!" Man muß das Eisen schmieden, so

lange es heiß ist, sagte sich Herr Jonas. Jetzt oder nie! „Stellen Sie sich vor, Herr Bürgermeister, was man aus

dieser schönen alten Anlage noch alles machen könnte! Wir sind ja erst am Anfang unserer Arbeiten. Aber stellen Sie sich vor, die Mauern leuchten rundum in diesem frischen Gelb, dazwischen die weißgestrichenen Fenster mit den dunkelgrünen Fensterläden. Auf den Balustraden und Baikonen sind Blumenkästen mit blühenden Geranien. Der Innenhof ist ein blühender Garten, spielende Kinder auf dem Spielplatz, auf den Bänken unter den Linden sitzen die älteren Leute ins Gespräch vertieft. Die Kapelle ist endlich renoviert und wieder in Benutzung. Kleine Handwerksbetriebe, vielleicht sogar ein paar kleine Läden können in Häusern eingerichtet werden, ich denke da an Kunstgewerbe, einen Blumenladen, eine Bäckerei, vielleicht ein kleines Cafe. Ja, man könnte auch ein paar Künstler anlocken, wenn man in den Dachgeschossen ein paar Atelierwohnungen einrichtete. Beileibe keine Luxusherbergen, sondern Ateliers für junge, noch unbekannte Künstler...« „Unter den Linden könnte ein Brunnen stehen und

Tag und Nacht plätschern, und neben der Kapelle müßte eine Schrifttafel die Geschichte des Lindenhofs erzählen. In einer größeren Wohnung könnte man ein kleines Heimatmuseum eröffnen...", spann der Bürgermeister weiter. „Ach ja. Ein Jammer, daß mein Vorgänger dieses Objekt verkauft hat!" „Aber es ist doch noch nicht zu spät, Herr

Bürgermeister. Kaufen Sie den Lindenhof zurück! Ich wette mit Ihnen: wenn Lehmgruber klar wird,

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daß er hier kein Geld verdienen kann, sondern eher draufzahlt, ist er gern bereit, den Lindenhof zu verkaufen! Er wird froh sein, wenn er ihn los wird!" „Ach, lieber Herr Jonas!" sagte der Bürgermeister.

„Wenn es nach meinen Wünschen ginge... Aber die Stadt hat kein Geld. Es gibt Dutzende von wichtigeren Projekten, die finanziert werden müssen. Nun, ich will sehen, was sich machen läßt. Sie können sicher sein, daß ich ihre Sache vor den Stadträten verteidigen werde. Aber machen Sie sich keine allzu großen Hoffnungen." „Wenn der Lindenhof wenigstens unter

Denkmalschutz gestellt würde. Da wäre schon viel geholfen."

Der Bürgermeister verabschiedete sich und ging nachdenklich davon. Er hatte kaum den Hof verlassen, da fuhr draußen Papa Francesco vor. „Die Pizza!" schrie Tommi und kletterte vom Gerüst.

„Unsere Pizza kommt! Schnell, wir wollen ihm beim Ausladen helfen! Macht den Tisch frei!"

Milli, Schräubchen, TH und Tommi rannten nach draußen und kamen gleich darauf mit großen Blechen voller Pizza zurück. Günsel, Mehmet, Ali und Hassan schleppten Körbe mit Geschirr und Besteck herbei. Ein paar Frauen brachten Getränke, und bald scharte sich die kleine Gemeinde fleißiger Arbeiter um den langen Tisch und begann zu schmausen. Papa Francesco sah zufrieden zu, wie es allen schmeckte.

Während des Essens berichtete Herr Jonas von seiner Unterredung mit dem Bürgermeister. „Da gibt's doch nur eins!" rief TH und schielte dabei

zum Geoschnüffler hinüber. „Wir müssen alle auf die nächste Stadtratssitzung und hören, was da über uns beschlossen wird. Auch wenn wir nicht mitreden dürfen!"

Der Geoschnüffler nickte ihm lächelnd zu. „Ich würde sogar noch etwas tun. Erstens: ein weiteres

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Gespräch mit den Zeitungsleuten führen. Sie sollen wissen, wie der Bürgermeister über den Lindenhof denkt. Und zweitens: eine öffentliche Sammlung für die Erhaltung des Lindenhofs ankündigen." „Richtig!" sagte Herr Jonas. „Wir könnten einen

Förderverein Lindenhof gründen! Die Öffentlichkeit soll wissen, daß hier ein Schmuckstück entstehen soll, auf das die Stadt stolz sein kann!" „Und der Tigerhai?" platzte Tommi heraus. „Wenn

der uns alles vermasselt?" „Nur langsam. Von heute auf morgen kann der uns

nicht auf die Straße setzen", meinte Herr Schmetter. „Da muß er erst mal klagen! Und bis so ein Prozeß über die Bühne gegangen ist, das dauert lange." „Wir müssen die öffentliche Meinung so auf unsere

Seite bringen", sagte der Geoschnüffler, „daß Harry Lehmgruber sich gar nicht mehr traut, etwas gegen die Mieter des Lindenhofs zu unternehmen, aus Furcht, auch für seine anderen Bauprojekte Nachteile einzustecken." „Das heißt also", verkündete TH begeistert, „wir

dürfen nicht erst die nächste Stadtratssitzung abwarten, sondern müssen sofort losschlagen. Flugblätter und Plakate entwerfen und unter die Leute bringen."

„Eine Pressekonferenz geben." „Den Hof für die Besucher schön machen!" „Veranstaltungen ankündigen!"

„Vielleicht ein Kinderfest geben!" Eine ganze Weile flogen die Vorschläge hin und her, wurde besprochen, was man wie in die Tat umsetzen könnte. Nur eins stand von vornherein fest: sie alle würden zusammen zur nächsten Stadtratssitzung gehen.

Drei Tage später war es soweit. Der Besucherteil des Sitzungssaals war so überfüllt, daß die Stadträte sich immer wieder erstaunt und leicht beunruhigt umsahen. Alle Mieter des Lindenhofs hatten an diesem Tag

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ihre Kündigung erhalten. Um so entschlossener waren sie jetzt, für ihre Rechte zu kämpfen.

In den Zeitungen war das Thema Lindenhof-Renovierung auf die Titelseiten gerückt, und mit jedem Tag kamen mehr Sommerberger Bürger, um sich den Lindenhof mal anzusehen. Die Mieter waren - wie sie es sich gewünscht hatten - zu einer „öffentlichen Angelegenheit" geworden.

Wer sich bei der Stadtratssitzung nicht blicken ließ, war der Tigerhai. Er glaubte sich am besten vertreten, wenn die ihm nahestehenden Stadträte sich für ihn ins Zeug legten. Und daß sie das tun würden, dafür hatte er mit gewissen Versprechungen für die Zukunft gesorgt. Sie würden es nicht zu bereuen haben, sich auf die Seite eines Harry Lehmgruber gestellt zu haben. „Mann, bin ich aufgeregt! Ich hab Ameisen im Bauch,

als müßte ich selber eine Rede halten", flüsterte Tommi Schräubchen zu. „Und ich erst! Es ist acht, warum fangen die nicht

an?" „Ich hab vom Daumendrücken schon ganz weiße

Finger", stöhnte Milli. „Pst, es geht los!" Es ging los, aber das hieß noch lange nicht, daß es für

sie losging. Ganze zwei Stunden mußten sie sich noch gedulden. Zunächst begrüßte der Bürgermeister alle Anwesenden und dankte ihnen für ihr Kommen. Dann begannen die Stadträte, eine drei Seiten lange Liste von Sitzungspunkten zu diskutieren und darüber abzustimmen. Manchmal stimmten sie auch nur darüber ab, ob sie über ein Problem abstimmen sollten oder nicht. Dann entrang sich Tommi ein hörbarer Seufzer.

Endlich war es soweit. Der Protokollführer verlas die Bau-Voranfrage des Harry Lehmgruber für das Gelände Lindenhof und reichte die Pläne herum, damit alle sie einsehen konnten. Die Mieter des Lindenhofs

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hielten den Atem an. Zunächst hatte der Vertreter des Baureferats das Wort. „Der Weidenstroh! Das ist ein dicker Freund vom

Tigerhai, hab ich gehört", wisperte TH. „Menschens-kind, das kann ins Auge gehen!"

Stadtrat Weidenstroh trug in knappen, ein wenig überheblich klingenden Worten die Argumente des Baureferats vor. Die Gebäude seien vom Verfall bedroht, müßten deswegen bald geräumt werden und die von Herrn Bauunternehmer Lehmgruber vorgeschlagene Lösung sei absolut optimal. Absolut optimal, wiederholte er mit Nachdruck.

Die Mitglieder der Pizza-Bande sahen sich beklommen an. Die meisten der Stadträte schienen gar nicht richtig zugehört zu haben, sie waren müde von der langen Sitzung nach einem anstrengenden Arbeitstag, und was ging sie eigentlich der Lindenhof an? So dachten wenigstens Tommi, Schräubchen, Milli und TH. Aber dann legte der Bürgermeister los. „Lesen Sie

eigentlich hin und wieder Zeitung, meine Herren?" begann er. „Und war einer von ihnen zufällig mal im Lindenhof? Ich bin dort gewesen, und ich muß Ihnen sagen, es ist eine Schande, daß der Stadtrat der Stadt Sommerberg dieses Juwel über Jahre derart aus den Augen verloren hat! Da mußten erst mutige Bürger sich zusammenschließen, um die Renovierung dieser historischen Kostbarkeit selbst zu beginnen! Meine Herren, das ist beschämend für uns! Und ich finde, es ist höchste Zeit, daß wir die Sache in die Hand nehmen und die Bemühungen dieser Bürger mit städtischen Mitteln nach Kräften unterstützen. Bedenken Sie, sogar die Zeitungen rufen zu Spenden auf, ganz Sommerberg ist dabei, dieses wunderschöne Fleckchen in unserer Stadt wieder zu entdecken. Mein Vorschlag lautet deshalb: den Lindenhof sofort unter Denkmalschutz zu stellen und dem Besitzer

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strenge Auflagen zur Renovierung des Anwesens - nach Maßgabe des Denkmalschutzamtes, versteht sich - zu machen!" „Super!" schrie Tommi und erntete dafür einen

vorwurfsvollen Blick des Protokollführers. Jetzt wurden die Herren um den langen Sitzungs-

tisch wach. Ein Redestrom hob an, daß Milli sich erschrocken die Ohren zuhielt. Die einen riefen: „Sehr richtig!" - „Das wurde höchste Zeit!" - ^Ganz meine Meinung!" - Die anderen wetterten dagegen. „Bitte, meine Herren! Ruhe! Ich bitte um Ruhe! Bitte

der Reihe nach!" überschrie sie der Protokollführer. „Ihre Wortmeldungen! Bitte der Reihe nach!" Aber niemand hörte auf ihn. „Einen solchen Gangster sollte man überhaupt

enteignen!" rief einer der Stadträte. „Das ist ja ein Krimineller!" „Eine unerhörte Verleumdung!" schrie ein anderer.

„Lehmgruber ist ein Ehrenmann, die Stadt sollte ihm dankbar sein!" „Schämen müssen wir uns vor den anderen Städten

im Landkreis, daß uns erst eine Bürgerinitiative auf eine vergessene Sehenswürdigkeit der Stadt aufmerksam machen muß!"

„Das ist wieder typisch für Ihre Partei! Geld rausschmeißen für eine verfallene Ruine, und für das neue Fußballstadion ist kein Geld da!" „Sie wissen ja nicht, wovon Sie reden! Sie wissen ja

nicht mal, was das Wort Kultur bedeutet!" So ging es hin und her, bis der Bürgermeister dem

Durcheinander energisch ein Ende machte. Er läutete mit der Glocke und rief über die Köpfe hinweg: „Da die Meinungen hier derartig aufeinanderprallen, schlage ich vor, wir stimmen ab. Wer ist dafür, den Lindenhof unter Denkmalschutz zu stellen und die Renovierung zu unterstützen? Ich bitte um Handzeichen... Danke. Und wer ist dagegen?"

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„Vier Ja-Stimmen mehr!" schrie Milli, hielt sich aber sofort erschrocken die Hand vor den Mund.

Doch diesmal brauchte sie keinen vorwurfsvollen Blick zu befürchten. Donnernder Applaus erhob sich im Publikum und bei den siegreichen Stadträten. Die Pressevertreter eilten hinaus, um ihre Redaktionen anzurufen.

„Und jetzt", sagte Herr Jonas zu dem neben ihm sitzenden Herrn Schmetter, „werden wir unserem Vermieter mal ein bißchen auf die Pelle rücken. Schadenersatzanzeige wegen grob fahrlässiger Wertminderung des Mietobjekts und so weiter." „Das machen wir", antwortete Herr Schmetter

vergnügt.

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Der Lindenhof in neuem Glanz

„Tommi! Besuch für euch!" rief Mamma Gina. „Herr Schmetter! Herr Jonas, Herr Büker! Bitte,

kommen Sie herein! Kommen Sie in unser Allerheilig-stes, in das Sitzungszimmer der Pizza-Bande! Los, TH, hol noch zwei Stühle, Herr Büker kann hier neben seinen beiden Söhnen auf der Bank sitzen. Was möchten Sie trinken?" fragte Tommi, ganz der junge Hausherr. „Oh, danke, wir wollen euch nicht lange stören.

Wir dachten nur so im Vorbeigehen, daß wir uns die Zentrale der Pizza-Bande mal anschauen! Herr Büker hat uns verraten, daß seine Kinder heute hier bei euch sind." „Ja, wir besprechen gerade, was wir in der

Adventszeit im Lindenhof machen könnten. Wir dachten an so eine Art Weihnachtsmarkt", berichtete Milli. „Eine Mischung zwischen Weihnachtsmarkt und

Flohmarkt", rief Schräubchen, „auf dem man selbstgebasteltes Spielzeug, Handarbeiten, Kerzen, Christbaumschmuck und Krippen zum Kauf anbieten kann. Was ist das dort, Herr Schmetter, haben Sie sich auch schon eine Krippe gekauft?" „Das?" Schmetter lachte verschmitzt. „Nein, das ist

unser Geheimnis!" „Sie trinken doch sicher gern ein Glas Rotwein",

sagte Tommi. „Und Sie, Herr Büker?" „Oh, einen Espresso, bitte. Es weht ein kalter Wind

draußen." „Wir waren nämlich beim Bürgermeister", verriet

Herr Jonas, als Tommi mit den Getränken zurückkam. „Es gibt ein paar interessante Neuigkeiten. Schmetter und ich haben uns gedacht, es

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ist Zeit, daß die deutschen Mieter einmal ihre türkischen Freunde einladen. Die Adventszeit eignet sich doch gut dafür. Wir schmücken den Kellerraum, den wir gerade für den Tischtennis-Tisch hergerichtet haben, da haben eine Menge Leute Platz. Und die Treppe und die Flure beziehen wir mit ein. Und wenn alle versammelt sind...", der alte Mann machte ein geheimnisvolles Gesicht, „dann verkünden wir unsere Neuigkeiten!" „Das halte ich im Leben nicht aus! So lange noch

warten?" stöhnte Schräubchen. „Bitte, Herr Jonas, verraten Sie es uns doch! Hat es was mit dem riesigen Paket da in der Ecke zu tun?"

„Nun ja, sagen wir, es ist ein Teil davon." „Bitte sagen Sie es uns!" drängte nun auch Tommi, und die anderen stimmten mit eifrigem Nicken ein. „Wir sind doch sozusagen der Vorstand... wir alle hier!" Die drei Besucher lachten. „Ja, wenn man es so sieht, eigentlich hast du recht",

stimmte ihm Herr Jonas zu. „Also schön. Unter dem tiefsten Siegel der Verschwiegenheit, ist das klar?" „Großes Ehrenwort!" riefen sie im Chor. Herr Schmetter stand auf und holte das unförmige

Paket aus der Ecke. Es war zwar riesengroß, schien aber ganz leicht zu sein. Schmetter stellte es auf den Tisch, und die anderen beiden halfen ihm, die Umhüllung zu entfernen. „Ohhh!" „Ist das toll!" „Das ist ja unser Lindenhof! Als Modell! Sieht

der schön aus!" rief Günsel entzückt. „Alles ist genau dargestellt, die Bäume... und der alte Brunnen da, und dort, seht doch, da sind Läden mit Schaufenstern!" „Und die Kapelle, seht euch die Kapelle an! Und

dort der Spielplatz!" Milli klatschte begeistert in die Hände. „Das ist so schön, da möchte ich auch

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wohnen!" „Seht ihr die Stühle und Tische dort vor dem Laden?"

fragte Herr Schmetter. „Dort kommt der türkische Obst- und Gemüseladen hin, Familie Zeki will ihn eröffnen. Dort drüben bekommt ein Schuster seine Werkstatt, und das da wird eine Wäscherei. Hier vorn werden wir ein Handarbeitsgeschäft hineinnehmen und daneben vielleicht eine Tierhandlung. Dort drüben ist Platz für zwei weitere Handwerksbetriebe, einen Kunsttischler oder eine Töpferei ... das wird sich finden."

„Super!" „Einsame Spitze! Und was sagt unser grimmiger

Tigerhai dazu?" erkundigte sich TH. „Das ist der zweite Teil der Überraschung", verriet

Herr Büker schmunzelnd. „Nun sag schon, Papa, hat er die Kündigungen

zurückgenommen?" drängte Mehmet. „Im Gegenteil. Er steckt bis an den Hals in

Schwierigkeiten, und darum hat er den Lindenhof kurzerhand an die Stadt zurückverkauft." „Toll!" brüllte Tommi. „Das muß gefeiert werden!

Na, das ist vielleicht eine Nachricht! Als wenn schon heute Weihnachten wäre! Der Lindenhof ist gerettet, und der Hai sitzt auf dem Trocknen! Es lebe die Pizza-Bande! Es lebe der Lindenhof! Es lebe die deutschtürkisch-italienische Freundschaft! Mamma, einmal Pizza Tommi spezial für alle!"

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CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Caspari, Tina: Ein Hai sitzt auf dem Trocknen oder Der Trick / von Tina Caspari. - München: F. Schneider, 1986. (Pizza-Bande; Bd. 11: Abenteuer) ISBN 3-505-09241-X

© 1986 by Franz Schneider Verlag GmbH 8000 München 46 • Frankfurter Ring 150 Umschlaggestaltung: Claudia Böhmer, München Titelbild und Illustration: Gisela Könemund, Hamburg Herstellung: Brigitte Matschl Satz/Druck: Presse-Druck Augsburg ISBN: 3 505 09241-X Bestell-Nr. 9241

Ein weiterer Band ist in Vorbereitung

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