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Ein anderer Blick auf das Soziale Lernen: Nachteile der Schulklasse durch Selbstbeherrschung...

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Page 1: Ein anderer Blick auf das Soziale Lernen: Nachteile der Schulklasse durch Selbstbeherrschung überwinden; Another look at social learning: overcoming disadvantages of the school class

Hauptbeiträge

Gruppendyn Organisationsberat (2014) 45:45–56DOI 10.1007/s11612-013-0233-z

Online publiziert: 03.01.2014© Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

Dr. R. Dollase ()Abteilung Psychologie, Universität Bielefeld,Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld, DeutschlandE-Mail: [email protected]

Ein anderer Blick auf das Soziale Lernen: Nachteile der Schulklasse durch Selbstbeherrschung überwinden

Rainer Dollase

Zusammenfassung: Das Soziale Lernen ist oft nur eine euphemistische Umschreibung für ein gehöriges Maß an Disziplin und Selbstbeherrschung, das von Schülerinnen und Schülern verlangt wird. Soziales Lernen soll in erster Linie die unvermeidbaren Systemmängel der Schulklasse für das optimale Lernen kompensieren. Als Beleg für diese These werden exemplarisch konzeptuelle pädagogische Äußerungen und empirische Resultate der Gruppenpsychologie und des Classroom Managements benutzt.

Schlüsselwörter: Soziales Lernen · Disziplin · Selbstbeherrschung · Gruppenpsychologie · Classroom Management

Another look at social learning: overcoming disadvantages of the school class through self-control

Abstract: Social learning is often just a euphemism for a significant degree of discipline and self-control, which is required of students. In first place social learning is supposed to compensate for the unavoidable shortcomings of the school class in regard to optimal learning. In support of this thesis exemplary conceptual educational remarks and empirical results of group psychology and classroom management are used.

Keywords: Social learning · Discipline · Self-control · Group psychology · Classroom management

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1   Begriffliche Affinitäten zwischen Disziplin, Classroom Management  und Sozialem Lernen

Die Bedeutungen von Begriffen wie Disziplin oder Soziales Lernen werden in der Fach-literatur, in Wörterbüchern fixiert. Diese Fixierungen sind zeitgebunden. Es ändern sich oft weniger die denotativen Bedeutungen von Vokabeln, sondern eher deren Konnota-tionen, d. h. das assoziative Umfeld der Begriffe. Wie jeder weiß, ist der Begriff „Diszi-plin“ durch die deutsche geschichtliche Entwicklung, als problematische Sekundärtugend nämlich, desavouiert. Der lateinische Ursprung des Begriffes „Disziplin“ ist bezeichnen-derweise Schule (disciplina = Schule).

Aktuelle Wörterbücher geben dem Begriff „Disziplin“ allerdings eine neutrale Defi-nition: im Wahrig (Meyers Enzyklopädisches Lexikon 1979, S. 548, Bd. 30) heißt es zu Disziplin „a) äußere Zucht, Ordnung, der sich jemand in einer Gemeinschaft unterwirft. b) innere Zucht und Beherrschtheit, Selbstzucht, die jemanden zu besonderen Leistungen befähigt.“ Die beiden Bestimmungsoptionen passen auf Freiarbeit, Projektunterricht, leh-rerzentrierten Unterricht oder auch Gruppenarbeit: man muss sich überall an die Ordnung halten und seine Unlust unterdrücken. Selbstverständlich ist dieses weltweit, unverzicht-bar und unvermeidlich.

Im „Lexikon der Pädagogik“ (Deutsches Institut für wissenschaftliche Pädagogik Münster) aus dem Jahre 1955 wird bei dem Begriff „Disziplin“ sofort auf die „Schul-zucht“ verwiesen (Spalte 212 ff. verfasst von Esterhues): „Schulzucht ist also das Ein-ordnen der Schüler seitens des Lehrers und das Eingeordnet sein der Schüler in die Schulordnung, damit die vorgesetzten Erziehungs- und Unterrichtszwecke erreicht wer-den.“ Zuvor hieß es „Jede Zucht ist als Tätigkeit ein Einfügen anderer und als Habitus ein mehr oder weniger freiwilliges sich einfügen in eine durch Gottes- oder Menschengesetz festgelegte Ordnung, durch die und innerhalb deren bestimmte Zwecke erreicht werden sollen.“ Es heißt weiter (Spalte 213): „Zur Schulzucht gehören als wesentliche Züge: Ruhe, Aufmerksamkeit und fleißige Mitarbeit im Unterricht, Gehorsam, Ordnung ein-halten in allen Schulräumen und auf den zugehörigen Plätzen, soziales Verhalten (Hilfe, Rücksichtnahme, Einstehen füreinander) gegenüber Mitschülern und gesittetes Verhalten auf den Schulwegen.“ Ohne Frage sind dies Tugenden, die heute wie früher (die im „Got-tesgesetz festgelegte Ordnung“ mal ausgenommen), aber auch zukünftig von Schülern zu verlangen waren und sind. Und zwar in allen Unterrichtsformen. Auch im kooperativen Lernen. Das Soziale Lernen entstammt also der Disziplin und Schulzucht.

Der umgekehrte Nachweis wäre nun notwendig: das Soziale Lernen enthält immer noch Bestimmungsstücke der Disziplin. Der Begriff des Sozialen Lernens war zunächst einmal neutral und nicht pädagogisch gemeint, d. h. er ist nicht mit positiven Ergebnis-sen verbunden, sondern er bezeichnet in den entsprechenden psychologischen Theorien des Lernens durch Beobachtung (Rotter 1954, Miller und Dollard’s Beobachtungslernen 1941, und der sozialkognitiven Lerntheorie von Bandura und Walters 1963) einen bana-len Fakt, dass nämlich Menschen von anderen lernen. Sie imitieren das Verhalten anderer Menschen, sie lernen, mit welchen Verhaltensweisen andere Menschen Erfolg haben und mit welchen Misserfolg. Bei diesem Sozialen Lernen müssen nicht unbedingt Vorteile oder prosoziale Verhaltensweisen erworben werden, sondern auch antisoziale Einstellun-gen und Haltungen. Durch Soziales Lernen erwerben Schüler Vorurteile gegen Zugewan-

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derte, sie lernen bei den Prügeleien auf dem Schulhof, dass man mit Gewalt seine Ziele erreichen kann usw. Zu einem schönen Wort, das heißt zum prosozialen Lernen ist das „Soziale Lernen“ durch die pädagogische Perspektive geworden.

Abgesehen von der neutralen bzw. der pädagogisch besetzten Nutzung des Begriffes Soziales Lernen, fordern pädagogische Theoretiker z. B. Kontaktfähigkeit, Kommunika-tionsfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Toleranz etc., kurz: Sozialkompetenz. Deutliche Bei-spiele (Teilthema Toleranz) finden sich z. B. bei Knoll-Jokisch (1981):

Erkennen, dass das Zusammenleben mit anderen Regeln erfordert;Erkennen und Respektieren der Andersartigkeit, der Eigentümlichkeit, der Hilfs-bedürftigkeit anderer;Erkennen der Gleichrangigkeit und Polarität der Geschlechterrollen;Bedürfnisse anderer erkennen und berücksichtigen, eigene Ansprüche zurückzustellen;Lernen, die Leistungen anderer anzuerkennen und eigene Schwächen zu ertragen;Lernen aufmerksam zuzuhören und eigenes Mitteilungsbedürfnis zu zügeln;Lernen, Verantwortung zu tragen und sich für andere zu engagieren; (Knoll-Jokisch 1981, zit. Nach http://schulpaed.tripod.com/sozialeslernen.pdf)

Deutlicher kann man kaum die Notwendigkeit zur Selbstbeherrschung, zur Selbstzucht und Disziplin also, formulieren.

Eine noch größere Nähe zur Disziplin haben die empirischen Forschungen und päd-agogischen Ratschläge zum „classroom management“. Der Titel der bahnbrechenden Arbeit von Kounin lautet „Discipline (sic!) and group management“ (1970). Eichhorn (2008) begründet die Wichtigkeit des Classroom Management (auch Titel seines Buches) mit disziplinbezogenen Überschriften wie „Mangelnde Disziplin ist der stärkste Belas-tungsfaktor für Lehrer“- „Disziplinprobleme schädigen das Image der Schule“- „Diszi-plinprobleme verstärken die Gefahr von Gewalthandlungen an der Schule“. Später im Text werden allerdings (auf Seite 131) Weinert und Kluwe (1996) zitiert „Es (das Class-room Management, Anmerk. d.Verf.) besteht nicht zuvorderst in der Sicherung von Ruhe und Disziplin, sondern es geht darum ’die Schüler einer Klasse zu motivieren, sich mög-lichst lange und intensiv auf die erforderlichen Lernaktivitäten zu konzentrieren, und – als Voraussetzung dafür – den Unterricht möglichst störungsarm zu gestalten oder auf-tretende Störungen schnell und undramatisch beenden zu können.“ (Weinert und Kluwe 1996, S. 124). Was man als blumige Umschreibung der Forderung nach Disziplin (ja auch „Ruhe und Disziplin“) interpretieren kann. Im „Handbook of Classroom Manage-ment“ von Evertson und Weinstein (2006) wird im Klappentext und in der Einleitung bereits darauf hingewiesen dass das Classroom Management ein „soziales und morali-sches Curriculum“ („classroom management is a social and moral curriculum“) sei, d. h. im Operationalisierungs – Klartext: Auch hier geht es um soziales Lernen, um Werte und moralisches Verhalten, um Disziplin und Selbstbeherrschung.

Die Praxis meint: Man soll Regelforderungen heute nicht blind folgen, sondern frei-willig. Wie in der Internetquelle einer Realschule im Rheinland: „Disziplin darf heute nicht mehr im Sinne eines blinden Gehorsams verstanden werden, sondern Ziel ist das erreichen vorgegebener Lernziele bei gleichzeitiger Achtung der Persönlichkeit sowohl der Schüler als auch der Lehrer.“ (http://emilie-heyermann-realschule.de). Das Verhalten

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der Schüler wäre bei Disziplin oder Sozialem Lernen identisch – sie sollen tun, was ver-langt wird. Sozialkompetenz oder Disziplin ist aus funktionalen Gründen notwendig.

Auch in den Verfahren der „Neuen Lernkultur“ (http://www.neue-lernkultur.de/), die eine Wiederentdeckung der alten reformpädagogischen Methoden sind, entdeckt man verborgene und nur selten in den Vordergrund gestellte, massive Forderungen nach Disziplin – weil weder Projekte, noch Gruppenpuzzle, noch Gruppenarbeit, noch freie Arbeit ohne erhebliche Disziplin erfolgreich sein können. In einer populärwissenschaft-lichen Broschüre zur „freien Arbeit“ von Gerve (1991) heißt es auf S. 26 „das Einüben von Regeln“ ist die „entscheidende Grundlage für ein Gelingen der freien Arbeit. Sol-che Regeln könnten sein: Störe niemanden bei der Arbeit; such dir in Ruhe etwas aus, bearbeite die Aufgabe bis zum Ende, kontrolliere selbst, räume wieder auf; bewege dich ruhig im Klassenraum und arbeite stets so leise, dass sich die anderen auf ihre Arbeit konzentrieren können; geh sorgfältig mit den Arbeitsmaterialien um; suche Aufgaben aus, die nicht zu leicht und nicht zu schwer für dich sind; suche dir Aufgaben aus ver-schiedenen Lernbereichen; halte fest, was Du gearbeitet hast; wenn du etwas sagen oder fragen willst, geh zu demjenigen hin; hilf, wenn du helfen kannst; lass dir helfen, wenn du nicht weiterkommst; frage zuerst Mitschüler, dann den Lehrer; usw. Im Klartext: Der Verfasser setzt derart stark auf die Strategie der Selbst- und Miteinanderbeschäftigung, dass die Kosten für die Schaffung der Voraussetzungen maßlos in die Höhe schnellen. Kinder, die diese Voraussetzungen haben, brauchen nicht mehr in die Schule – sie könn-ten mit einem Ausweis für die Stadtbibliothek ausgestattet werden und dem Recht auf gelegentliche Sprechstunden bei einer Expertin. Der Ansatz freie Arbeit gaukelt in dieser Fassung eine patente Methode vor, in dem die Hauptleistung für das Gelingen in die Schülerinnenvoraussetzungen verschoben wird. Noch deutlicher wird diese Bewegung in vielen Arrangements des selbständigen, eigenverantwortlichen Lernens („brain, book, buddy, boss“ – Reihenfolge bei der Lösung von Problemen- sic!, http://wymi.wordpress.com/tag/book-brain-buddy-boss/).

Unweigerlich wird in konzeptuellen pädagogischen Äußerungen deutlich, dass Sozia-les Lernen mit einer gehörigen Disziplin und Selbstdisziplin der Schüler einhergehen muss. Soziales Lernen, also auch Disziplin und Selbstdisziplin, sichert das Auskommen der Schüler mit der Gruppendynamik in (heterogen zusammengesetzten) Schulklassen und mit komplizierteren, freieren Unterrichtsarrangements – wenn es denn funktioniert.

2 Die sozialen Nachteile von Schulklassen und Gruppen

Gruppen haben Nachteile – Forgas (1987, S. 279) schreibt: „Wir alle machen vermut-lich in Gruppen einige der schönsten und schlimmsten Erfahrungen unseres Lebens“. Tatsächlich zeigen empirische Untersuchungen in allen Bereichen, dass es eine Menge von sozialen und leistungsmäßigen Nachteilen einer Gruppe gibt (Wilke und Wit 2001; Dollase 2012). Blickt man nur auf die Vorteile, lässt sich die Gruppe als Therapeutikum und Elysium vor allem vor einem politischen Wahlpublikum vertreten.

Die Schulklasse ist keine echte Gruppe, in der – wie in einer Fußballmannschaft oder einem Orchester- die Interaktionen auf ein Ziel, dass man nur gemeinsam erreichen kann, ausgerichtet sind (McDavid und Harari 1968). In der Schulklasse gibt es für jeden nur

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ein relevantes, individuelles Ziel, nämlich schulischen Erfolg (den man – Höhepunkt der Unaufrichtigkeit – auch noch sozial definieren kann, damit die Individualität des Ziels „Sozialverhalten“ nicht so auffällt), der sich in individuellen Noten manifestiert. Schü-lerinnen und Schüler in Schulklassen haben bestenfalls ein „common fate“, ein gemein-sames Schicksal, sind aber ansonsten Ansammlungen, plurels (Hofstätter 1957), mit zahllosen psychologischen Nachteilen.

Schulklassen haben Nachteile. Historisch wurden sie eingerichtet, weil man gleich-zeitig vielen dasselbe beibringen wollte (Jenzer 1991). Schulklassen sind ein Finanztrick, keine psychologisch oder pädagogisch sinnvolle Problemlösung, sondern bestenfalls eine problemproduzierende Problemlösung. Schulklassen können iatrogene Katastrophen sein, wenn man ihren zwangsläufigen Nachteilen nicht durch Soziales Lernen, also der Erziehung zu Disziplin und Frustrationstoleranz, begegnet.

Die sozialpsychologische, experimentelle Kleingruppenforschung hat eine Reihe von Nachteilen von Gruppen gesichert. Die Gruppenleistung – so eine Formel – ist gleich der potentiellen Leistung minus Motivationsverlust und Prozessverlust (Wilke und van Knippenberg 1992). Das bedeutet, dass Gruppen ihre potentielle Leistung wegen einer Reihe von sozialpsychologischen Mechanismen nicht erreichen. In Gruppen lässt die Motivation zur Anstrengung meistens nach und die Gesamtleistung wird dadurch gemin-dert. Ebenso wird sie dadurch gemindert, dass es Koordinationsprobleme gibt, d. h. eine Vollbeschäftigung im Unterricht.

Eine kleine Auswahl von Leistung und Entscheidungsnachteilen von Gruppen (nach Wilke und van Knippenberg 1992; Wilke und Wit 2001):

1. Verstecktes Profil (hidden profile) Bei Gruppenarbeit gibt es ein verstecktes Profil der Einsichten, Kenntnisse und Fä-

higkeiten, wobei die beste Lösung für ein Problem nicht erkannt wird. Oft sind gerade jene soziometrisch-strukturell dominant, die nicht im Besitz der besten Lösung sind, sondern sich besser als andere durchsetzen können.

2. Gemeinsame Kenntnis (common knowledge) In Gruppen besteht die Tendenz, dass das gemeinsame Wissen diskutiert wird, statt

das eigene, z. T. spezifische Wissen jedes Einzelnen, so dass viele gute Ideen für Lö-sungen unerkannt bleiben.

3. Produktionsblockierung Gruppen, die Ideen entwickeln sollen, müssen sich für die Äußerung von Ideen ge-

wisse Kommunikationsregeln auferlegen. Es darf nur einer sprechen, während die anderen zuhören. Während man aber zuhört, ist man ganz auf die Ideen des Sprechen-den fixiert, muss ihm zuhören und kann deswegen keine eigenen Ideen entwickeln.

4. Trittbrettfahrereffekte (free riding). Schüler lassen andere in Gruppenarbeit arbeiten und profitieren von deren Ergeb-

nissen, indem sie diese einfach abschreiben. Sie „lassen“ gewissermaßen denken und lernen.

5. Ausnutzungseffekt (sucker effect) Schüler, die sich in Gruppenarbeit oft angestrengt haben und mit ihren Arbeiten ande-

ren helfen mussten bzw. diese daran partizipieren ließen, fühlen sich ausgenutzt und strengen sich nicht weiter an.

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6. Soziales Faulenzen (social loafing) Es gibt ein unbewusstes Nachlassen der Anstrengung, sobald Menschen in Gruppen

arbeiten. Individuelle Verantwortung erzeugt mehr Anstrengungsbereitschaft, da das Ergebnis auf den Urheber der Idee oder Leistung zurückgeführt wird. Bei Gruppen-arbeit wird die Verantwortung auf die anonyme Gruppe insgesamt attribuiert, d. h. zurückgeführt. Um in den Genuss der Vorteile dieser pauschalen Zuschreibung zu kommen, strengt man sich weniger an.

7. Soziale Hemmung (social inhibition) Andere Schüler können bei komplizierten oder ungeübten Aufgaben allein durch ihre

bloße Anwesenheit das Finden anspruchsvoller Lösungen blockieren. Mehr dazu beim Zuschaueraspekt.

8. Risikoschub Gruppen können unter bestimmten Bedingungen leichtsinniger sein als Individuen.

Auch das hängt mit der Diffusion der Verantwortung in Gruppen zusammen. Diese Leichtsinnigkeit muss sich nicht immer auf kreative oder gewagte fachliche Lösung beziehen, sondern kann sich auch normabweichend manifestieren. Beispiel: Schüler tun nichts für die eigentliche Gruppenarbeit, sondern unterhalten sich über themen-fremde Gegenstände.

Mit der Schule sind zahlreiche Frustrationen verbunden, die erstmalig schon in der zwei-ten Hälfte des 20.Jahrhunderts von Jackson und Wolfson (1968) konzipiert wurden. Im Einzelnen sind diese „Environmental force units“ EFU (= Umwelteinschränkungen; vgl. Berk 1971) Eine Auswahl:

1. Der Wunsch eines Schülers wird durch den Wunsch eines anderen Schülers beeinträchtigt.

2. Der Wunsch eines Schülers wird frustriert durch die Erwartung der Lehrer und Lehrerinnen.

3. Die Gruppe kann den Wunsch eines Schülers ohne Absicht behindern.4. Der Wunsch eines Schülers kann mit den institutionellen Regeln und Vorschriften in

Konflikt geraten und frustriert werden.5. Der Wunsch eines Schülers nach Beantwortung einer Frage wird dadurch frustriert,

dass die Lehrkraft nicht bemerkt, dass der Schüler eine wichtige Frage hat.

Diese Enttäuschungsquellen verweisen darauf, dass Schülerinnen und Schüler von Anfang an eine Menge nicht-sozialer Frustrationen ertragen müssen. Ohne Frust ist Leben und Entwicklung in Schulklassen nicht möglich.

In der öffentlichen Situation der Schulklasse ist jeder Schüler in der Lage, die Leis-tung, das Auftreten, das Selbstbewusstsein, die Fähigkeiten aller anderen Schüler wahr-zunehmen und mit seiner eigenen Leistung und seinem eigenen Auftreten zu vergleichen. Das ist Gegenstand der „social comparison theory“ nach Festinger (1954). Der amerika-nische Persönlichkeitsforscher Kenneth Gergen (1977) hat schon vor langer Zeit experi-mentell gesichert, dass sich unser Selbstkonzept in Anwesenheit von anderen Menschen und in Abhängigkeit davon, für wie kompetent, bedeutsam oder durchsetzungsfähig wir sie halten, hebt oder senkt. Dennoch, so hat Kenneth Gergen nachgewiesen, haben wir immer das Gefühl, als wenn sich unser Selbstkonzept stabil verhalten hätte. Es ist in

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Wirklichkeit nicht so. Ein niedriges Selbstkonzept eigener Begabung hat Einfluß auf die Anstrengung – sie lohnt sich dann subjektiv weniger, kann also Leistung auch senken (Meyer 1984).

Mit zunehmender Heterogenität der Zusammensetzung von Schulklassen wird die Binnendifferenzierung immer notwendiger. Dieser Zusammenhang wird von niemandem bestritten. Gerne vergessen wird allerdings, dass die Binnendifferenzierung auch ein Dis-kriminierungsrisiko sein kann. Die Zuweisung einfacher Aufgaben, das Lob für einfache Leistungen, die die anderen wesentlich besser machen (pädagogisch begründet mit der Orientierung an der Selbstnorm) sind angesichts der Öffentlichkeit allen Verhaltens in der Klasse Risiken für die Entwicklung eines negativen bzw. niedrigen Selbstkonzeptes eige-ner Leistung (Meyer 1984). Diese Maßnahmen sind psychologisch faktisch Diskriminie-rungsaktionen. In einer leistungsheterogenen Schulklasse lernen die schlechten Schüler „in jeder Sekunde“, das sie zu den schlechten Schülern gehören. Dagegen müssten sie immun sein, oder unbegrenzt leidensfähig.

Eine schier unerschöpfliche Quelle für Frustrationen durch die Schulklasse sind die entstehenden soziometrischen oder interpersonellen Beziehungen zwischen den Schü-lern und Schülerinnen. Gleichwohl die Existenz solcher Strukturen seit über 100 Jahren bekannt ist (z. B. Delitsch 1900), wurde ihre Bedeutung für das Lehren und Lernen jahr-zehntelang unterschätzt bzw. aus Datenschutzgründen wurden entsprechende Untersu-chungen bis etwa zu PISA von den Schulministerien der Bundesländer verboten. Der Frust durch die in allen Gruppen und Klassen entstehenden soziometrischen Strukturen lässt sich aufteilen in Statusfrustrationen und Strukturfrustrationen. Statusfrustrationen sind: Probleme dadurch, dass sich eine informelle Rangreihe entwickelt, dass Schüler unbeliebt sind andere beliebt, dass die individuellen Ziele nach Anerkennung und Beliebt-heit nicht erreicht werden können und dass im Extremfall, das trifft auf viele Schüler zu, Mobbing und Cybermobbing geschieht. Kürzlich musste ein schwedisches Internat wegen extremer informeller Gewalttaten und Mobbing geschlossen werden. Strukturfrus-trationen interpersoneller Netzwerke zeigen sich im Ausschließen und Ausgrenzen von Klassenkameraden, aber auch in einzelnen problematischen Beziehungen, zum Beispiel: Zuneigung wird mit Abneigung beantwortet oder nicht erwidert (vgl. Dollase 1974, 1976, 1996, 2000, 2012).

3 Warum haben Gruppen und Schulklassen soziale Nachteile?

Wie zuvor erwähnt, gilt nach Festingers „social comparison theory“ (1954): Wenn Men-schen miteinander zu tun haben, dann bekommen sie Informationen über das Verhalten und Erleben der anderen, mit denen sie ihr eigenes Verhalten und Erleben vergleichen. Soziale Vergleiche sollen zu einer realistischen Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und der eigenen sozialen Stellung führen. Das kann natürlich nicht ohne Enttäuschungen geschehen, wenn man z. B. schlechter oder unbeliebter als andere ist. Oder weil andere Menschen das Individuum selbst anders wahrnehmen und beurteilen. Und manchmal definitiv falsche Rückmeldungen geben: Nach einer Studie von Nuthall (2007) werden im Lernprozess im Kontakt mit den Mitschülern auch Informationen zur Sache erhalten, 70 % des Feedback, das Schüler bekommen, stammt von den Peers und dieses Feedback

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ist in 70 % der Fälle falsch. Der auf Selbstlernen und Gruppenlernen abgestimmte Lern-prozess wird durch falsche Informationen der Mitschüler verschlechtert.

Alle Informationen, die man über andere Menschen in einer Gruppe gewinnt, werden auch bewertet. Diese Bewertung ist abhängig von der Salienz einzelner Kriterien – man-ches ist relevant manches weniger, manches wird relevant gemacht und natürlich auch von der Komposition der Klasse. Zahlreiche Studien beschäftigen sich mit diesem sozia-len Vergleich und finden banale Vor-und Nachteile: im Vergleich mit besseren Schülern stellt sich für das Individuum ein niedrigeres Selbstkonzept eigener Begabung ein – bei Vergleichen mit schlechteren Schülern fühlt man sich besser.

In jeder Gruppe entstehen zusätzlich Sympathien und Antipathien und bilden eine soziometrische Struktur, mit Führenden und Außenseitern (mobbing), Cliquen und Paa-ren, Sympathie- und Antipathiekonflikten, informellen Diskriminierungen etc. (Dollase 1976). Man darf nicht so tun, als sei die Entstehung von Sympathien und Antipathien durch ein paar soziologische Variablen (zum Beispiel Nähe, Status, Bildungsabschluss et cetera) schon aufgeklärt – die erklärten Varianzanteile sind extrem niedrig. Auch Ähn-lichkeitstheorien, Verschiedenheitstheorien und Kompensations – Theorien zur Erklä-rung von Freundschaft haben einen geringen statistischen Erklärwert. Es gibt zu viele Ausnahmen von den nomothetischen Aussagen.

Viele der entstehenden Nachteile einer Schulklasse oder Gruppe sind durch soziale Vergleichsprozesse im Sinne der Theorie von Festinger (1954) und durch das Entstehen soziometrischer Strukturen zu erklären. Die sozialen Vergleiche bergen das Risiko, dass man sich schlechter fühlt als die anderen, demotiviert wird, weil man sich für unbegabt hält, andere beneidet, sich als „schlecht“ etikettiert fühlt. Die soziometrischen Struktu-ren bergen das Risiko, dass man sich ausgegrenzt und abgelehnt fühlt. Beides führt zu ungünstigen kognitiven und sozialen Effekten der Gruppe (Wilke und van Knippenberg 1992; Dollase 1976).

Weitere Nachteile sind mit der allseitigen Asynchronität der individuellen Verhaltens- und Erlebensweisen verbunden. Eine Reihe von Problemen entsteht immer dadurch das manche schneller, manche langsamer lernen. Oder – wenn alle was Verschiedenes lernen sollen – wird die Motivation und Kontrolle der Lernprozesse noch komplexer. Unter-forderung oder auch Überforderung kommt hinzu, auch Leerlauf, Rücksichtnahme auf Langsamere usw. – zahllose Anlässe, Beherrschtheit und Geduld zu zeigen. Die Kom-plexität von asynchronen Lernprozessen ist das zentrale Problem, das in der Vergangen-heit mit selbstständigem, kooperativem oder individualisiertem Lernen versucht wurde zu lösen – als rein gedankliche Lösungen sind sie nachvollziehbar, allerdings benötigen Schüler ein erhebliches Ausmaß an Disziplin und Frustrationstoleranz, damit diese Ver-fahren funktionieren.

4   Welche Fähigkeiten brauchen Schüler um die Nachteile von Schulklassen  und Gruppen zu ertragen?

Das Soziale Lernen wird, wie oben angedeutet, gerne mit dem Hinweis auf die Notwen-digkeit soziale Verhaltensweisen zu entwickeln begründet, die im späteren Leben von Relevanz sind. Nun gibt es im Berufsleben kaum ein ähnliches soziales Aggregat wie

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die Schulklasse. Pseudogruppen, in der alle ein individuelles Ziel verfolgen und in der es nur ausnahmsweise wie in der Schule (z. B. bei Projektwochen, Schulaufführungen und Fußballturnieren) eine echte Gruppe mit positiver Abhängigkeit der Interaktion vom Gruppenziel gibt, sind im Berufsleben äußerst selten.

Das Soziale Lernen ist ein Lernen für die Schule, es ist scoliform. Es bleibt also der Spruch von Seneca in der Urfassung richtig: „Non vitae sed scholae discimus“ (und nicht die verdrehte Fassung „Non scholae sed vitae discimus“). Das Soziale Lernen ist ein Lernen für eine relativ singuläre soziale Organisation, die sich Schulklasse nennt. In der Industrie sind die Gruppen deutlich kleiner, man ist wirklich aufeinander angewiesen und Gruppen sind selten größer als 7 Personen. Außerdem werden Gruppen sorgfältig zusam-mengesetzt, damit die Mitglieder auch fachlich und persönlich zueinander passen. All das, was in der Wirtschaft und Industrie üblich ist, wird in der Schulklasse nicht gemacht, bzw. kann nicht durchgeführt werden. Schulklassen sind wie Jenzer (1991) analysiert, zwecks „kollektivem Einzelunterricht“ eingerichtet worden.

Trotz der bekannten multifaktoriellen Verursachung des Unterrichtserfolges (Lehrer, Lerhmethode, Fachdidaktik etc. vgl. Hattie 2009), sollen hier die geforderten Eigen-schaften bzw. Erlebens- und Verhaltensweisen von Schülern und Schülerinnen analysiert werden, die zur Überwindung der sozialen Nachteile von Schulklassen nötig sind (ins-besondere: emotional focused coping). Dadurch soll der potentielle Beitrag des Schü-lerinvestments deutlich werden. Schülerinvestment ist die Anstrengung, die der Schüler erbringen muss, damit schulische Lernprozesse im Kollektiv gelingen können.

Drei Fähigkeiten sind unverzichtbar:

1. Indolenz, d. h. Schmerzfreiheit gegenüber Ablehnung und ungünstigen Vergleichen, Störungen, Verlieren. Der Schüler muss unempfindlich werden gegen Schulversagen, desensibilisiert, er darf sich über das Verlieren, die ausbleibende Anerkennung oder das Ausgrenzen nicht aufregen. Er muss es stoisch ertragen können oder aber seine Frustration beherrschen. Abneigungen gegen andere Schüler, Ärger über Beleidigun-gen muss er schnell vergessen oder aber perfekt beherrschen können.

2. Willigkeit, d. h. Schülern und Schülerinnen müssen sich führen lassen können, sie sind führbar, sie lassen sich begeistern, sie tun das, was man ihnen sagt, sie sind gehorsam und sie sind formbar. Unterricht kann nur wirken, wenn die Schüler mitmachen.

3. Geduld, d. h. sie müssen warten können, sie müssen Rücksicht nehmen können, sie müssen Leerlauf ertragen können, sie müssen asynchrone Vorgänge erdulden können, sie müssen mit Unterforderung aber auch mit Überforderung zurechtkommen, sie müssen Bedürfnisse aufschieben. Leerlauf dürfen sie nicht nutzen um zu stören.

Die drei Anforderungen klingen so, wie man sie gerne wohl auch im 19. oder 20. Jahr-hundert gewünscht hätte, und wie man sie sich in einer autoritären Pädagogik immer auch gewünscht hat. Es darf niemanden stören, dass heute dieselben Anforderungen nötig sind. Selbstdisziplin in der Schule war immer auch eine funktionale Notwendigkeit und nicht nur ein Unterdrückungsinstrument. Man sagt heute statt Indolenz eher „anger manage-ment“, man sagt statt Willigkeit eher „Aufgeschlossenheit und Engagement“ und man drückt Geduld vermutlich mit den Vokabeln „Toleranz und Rücksichtnahme“ aus. Genau diese vokabuläre und sprachliche Verschleierung der tatsächlichen Anforderungen ist gefährlich, weil sie eine authentische und transparente Kommunikation verunmöglicht.

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5 Was folgt aus dem anderen Blick auf das soziale Lernen?

Die Formulierung von Anforderungen an soziales Verhalten von Schülerinnen und Schü-lern ist zunächst einmal nur eine Sollvorstellung, der sich die Frage anschließt, wie man diese Eigenschaften durch Soziales Lernen herstellen kann. Um diese Frustrationstole-ranz gegenüber den Nachteilen von Schulklassen und Gruppen herzustellen, gibt es eine ganze Reihe von wohlmeinenden und zum Teil wohl auch evaluierten Trainingsprogram-men (Dollase 2010, 2012). Diese tun allerdings so, als seien diese Anforderungen an den Schüler durch Förderung herstellbar. Man könnte diesen Glauben auch „erzieherischen Machbarkeitswahn“ bzw. die „Förderungsillusion“ nennen. Es ist durch nichts bewiesen, dass diese pädagogische Arbeit an den Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler nachhaltige und erhebliche Wirkungen zeigen könnte (Signifikanz reicht nicht, es ist Relevanz gefordert). Es ist deshalb einfacher und besser zu fordern, dass der Schüler diese Voraussetzungen zeigen muss, es ist Pflicht dieses zu tun, er muss investieren im Sinne der Investmenttheorie von Dollase (2012), damit Unterricht funktionieren kann. Das wäre ein Gegensatz zu Helmkes „Angebot – Nutzer Modell“ (2006), das sich an die Medienforschung anschließt („Uses and gratification approach“), und perfekt mit einer Art „Kundenorientierung“ des Schulsystems korrespondiert.

Was bringt die Forderung nach Investment seitens der Schüler und Eltern anderes als ein Förderprogramm? Es ist eine Aufteilung der Verantwortung: im Förderprogramm erwartet der Kunde, dass er bedient wird – im Zustand der Investmentnotwendigkeit trägt er Mitverantwortung. Eine Analogie zur Psychotherapie gibt es: Wer sich z. B. nicht an die Regeln einer Suchttherapie hält, wird entlassen.

Es ist keine Frage, dass es Schulklassen gibt, in denen alle Schüler aufgrund von Erzie-hung oder Veranlagung, so genau hat das niemand untersucht, dieses Investment zum Gelingen des Unterrichtes zeigen. Um der unangenehmen Frage auszuweichen, warum manche Schüler kein Investment zeigen, verweist man gerne auf andere Faktoren als Schule. Dabei kann das, was für die Bewältigung der Nachteile von Schulklassen not-wendig ist, nicht direkt im Elternhaus geübt werden, weil es diese spezifische Sozial-Konstellation dort nicht gibt. Geübt wird dort wohl etwas anderes: z. B. die Invalidität von Beherrschungsregeln, sofortige Bedürfnisbefriedigung, Anstrengungsvermeidung, Antipathie als Grund für Ausgrenzung, Unterdrückung Andersartiger statt Toleranz.

Die Umdeutung des Sozialen Lernens als Kompensation der Nachteile von Schul-klassen und stattdessen die Favorisierung einer Investment Forderung an Schülerinnen und Schüler, sich im Unterricht nach bestimmten Prinzipien zu verhalten, ist beispiels-weise der Kundenorientierung des öffentlichen Schulsystems massiv entgegengesetzt. Bei der Kundenorientierung oder auch Adressatenorientierung hat man den Eindruck, dass Schule auch mit dem vollständigen Mangel an Voraussetzungen für die Schule fertig werden muss. Jeder Schüler ist willkommen, der Elternwille vorherrschend, ein Invest-ment von Seiten der Schüler und der Eltern in das Funktionieren von Schule und Unter-richt wird nicht erwogen.

Auch der Glaube, dass man mit bestimmten Unterrichtsverfahren die Nachteile der Schulklasse beheben könnte, oder die Fähigkeiten zu ihrer Kompensation herstellen könne, etwa durch Gruppenlernen, kooperatives, selbstständiges Lernen, ist an kei-ner Stelle bewiesen. Tatsache ist, dass in der internationalen Zusammenstellung von

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Metaanalysen durch Hattie (2009) lehrerzentrierte Unterrichtsverfahren wesentlich bes-ser abschneiden (z. B. direct instruction, d = 0,59, nonoverlap ca. 38 %) als z. B. „stu-dents control over learning“ (d = 0,04, nonoverlap ca. 0,0 %). Diese Zusammenstellung betrifft allerdings nur Leistungsvariablen – in Untersuchungen zum Classroom Manage-ment erweist sich die Lehrperson mit ihrer Fähigkeit, alle Vorgänge in der Klasse richtig wahrzunehmen und mehrere gleichzeitig steuernd zu umfassen, allerdings ebenfalls als herausragend besser (z. B. withitness d = 1,2, nonoverlap ca. 62 %). Vermutlich ist der lehrerzentrierte Unterricht eine bessere Möglichkeit, die schädlichen Einflüsse der Klasse zu mildern, weil die chaotischen und keineswegs positiven Einflüsse der Klasse leichter kontrolliert werden können.

Macht also die Umdeutung des Sozialen Lernens als Anforderungen an Selbstdisziplin Sinn? Als Argument gegen die Kundenorientierung auf jeden Fall. Aber auch als Beitrag zur Verbesserung der Forschung über Unterricht. Ein Beispiel: Die Schulklassengröße gilt als wenig bedeutsam. Hattie (2009) findet ein d von 0,21, was immerhin einem nicht überlappenden Anteil von zwei normalverteilten Variablen von 14,7 % entspricht. Die Forschung zur Schulklassengröße ist bis auf eine Ausnahme nicht experimentell ange-legt, ist also im strengen Sinne kausal nicht zu interpretieren. Darüber hinaus ist das Bedingungsgeflecht zur Schulklassengröße meist auch sehr schlecht kontrolliert, weil die entscheidenden Variablen, zum Beispiel Dauer der Existenz einer kleineren Gruppe oder aber auch das Investment der Schüler und Lehrer nicht kontrolliert worden ist. Die Höhe des Investments im Sinne von Schülereigenschaften, die die Nachteile von Schulklas-sen ertragen, kann einen deutlichen Aufschluss darüber geben, ob kleinere oder größere Klassen noch funktionieren. Bei hoher Indolenz, hoher Willigkeit und einem gehörigen Maß an Geduld, Rücksichtnahme und Toleranz, sind auch größere Schulklassen optimal zu handhaben.

Von großer Bedeutung wäre die Berücksichtigung des Schülerinvestments auch bei der Frage, ob die zunehmende Heterogenität von Schulklassen, die durch den demogra-phischen Knick, durch Schulzusammenlegung, finanzielle Vorbehalte gegenüber kleinen Schulen, durch Inklusion, durch Zuwanderung bedingt ist, den Schülern noch mehr an Selbstbeherrschung abverlangt.

Wenn es nicht gelingen sollte, das Schülerinvestment im Sinne einer erheblichen Selbstdisziplinierung zu steigern, könnten sämtliche Methoden der neuen Lernkultur aber auch das gemeinsame Lernen und die Heterogenität als Lernchance bald Makulatur wer-den. Ohne ein Mehr an Selbstdisziplin der Schüler wird es keine weiteren Veränderungen in Richtung Komplexitätssteigerung geben dürfen.

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