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ein AlpenveilcHen streifte...ISBN 978 3 9820692 2 7 Man hat die Nase voll von der Lore. Man schiebt...

Date post: 18-Feb-2020
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RomanAus dem Norwegischen von Ebba D. DrolshagenMit einem Nachwort von Nicole Seifert

Weil VenUs bei

meiner GebUrt

ein AlpenveilcHen

streifteMona Høvring

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Mona Høvring, geboren 1962 in Norwegen, vielgerühmt für ihr Sprachtalent, ist Lyrikerin und Romanautorin. Von ihr gibt es zahlreiche Gedichtbände und vier Romane. Bereits der erste von 2004 stieß in Norwegen auf begeisterte Resonanz und ist auf Deutsch bei edition fünf unter dem Titel »Was helfen könnte« herausgekommen. Seither folgten drei wei­tere hochgelobte und in mehrere Sprachen übersetzte Roma­ne: 2012 »Venterommet i Atlanteren« (Das Wartezimmer im Atlantik), 2013 »Camillas lange netter« (Camillas lange Näch­te) und 2018 der hier vorliegende »Weil Venus bei meiner Ge­burt ein Alpenveilchen streifte« (»Fordi Venus passerte en alpefiol den dagen jeg blei født«), der mit dem renommierten Kritikerprisen für den besten norwegischen Roman des Jahres ausgezeichnet wurde. Für ihre Werke erhielt Mona Høvring diverse weitere Preise, u. a. den Språklig samlings litteratur-pris für ihr Gesamtschaffen.

Ebba D. Drolshagen beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Übersetzen: Einerseits übersetzt sie Romane und Sachbü­cher aus dem Norwegischen und Englischen ins Deutsche, andererseits vergessene oder übersehene Themen in erzäh­lende Sachbücher. Das begann mit den Engelsfiguren auf den Gräbern des 19. Jahrhunderts und reicht über Schönheit, Krieg, Liebe und verwegene Seefahrer bis zu einer Kultur­geschichte des Handstrickens.

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Die Übersetzung dieses Buches wurde von NORLA gefördert

1. Auflage Originalausgabe 2019

© 2019 Verlag Silke Weniger, Gräfelfing /Hamburg im Vertrieb bei Edition Nautilus, Hamburg

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Aus dem Norwegischen von Ebba D. Drolshagen

Titel der Originalausgabe: Fordi Venus passerte en alpefiol den dagen jeg blei født © Forlaget Oktober as, 2018 Published in agreement with Oslo Literary Agency

Lektorat: Karen Nölle Gestaltung, Satz und Herstellung: Kathleen Bernsdorf Cover: Kathleen Bernsdorf Schriften: FF Tisa, Futura, Musetta Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg Printed in Germany

ISBN 978­3­9820692­2­7

www.editionfuenf.de

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Man hat die Nase voll von der Lore. Man schiebt sie in ein Gewirr von Dornensträuchern, wo sie das Gleichgewicht verliert und sich auf die Seite legt, aber langsam, da sie vom Geflecht der Zweige aufgefangen wird. Monique Wittig, Opoponax

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Das ALPENDORF

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 Aufgrund eines kleinen Sprachfehlers, den ich seit meiner Kindheit hatte, verwechselte ich die Aussprache des Nach­

namens des Schriftstellers Stefan Zweig mit dem deutschen Wort schweig – sei still. Nicht dass ich so belesen wäre, wie ich es wünschte, und mein Deutsch ist eher dürftig, aber ich bewundere Zweig schon lange, ich verschlinge seine Bücher und lese alles über ihn, was ich finden kann. Ach, was für ein trauriges Ende dort in Rio de Janeiro, und dieser herzzerrei­ßende Abschiedsbrief, in dem er schrieb: »aus freiem Willen und mit klaren Sinnen«. Immer wenn ich mich an eigenes Schreiben wage, an meine eigenen Versuche, die Welt zu ver­stehen, ist er als stille Erinnerung da – Verwirrung der Gefühle.

Diese Geschichte beginnt damit, dass meine Schwester und ich spätnachmittags in einem Alpendorf ankommen. Es war Winter. Der Zug hielt an einer Station, die halb zu schwe­ben, halb zu schlafen schien und sich in ihrer selbstbewuss­ten Höhe über dem Meer darbot.

Meine Schwester machte nicht die geringsten Anstalten, beim Heraustragen der Koffer mit anzupacken. Sie blieb teil­nahmslos auf dem Bahnsteig stehen, während der Schaffner mir mit unserem schweren Gepäck half. Fast hätte ich erklärt, dass sie krank und gerade aus der Klinik entlassen worden sei, begnügte mich aber damit, ihm die Hand zu schütteln und zu sagen, dass ich seine Umsicht zu schätzen wisse. Be­vor er auf seiner Trillerpfeife pfiff und wieder einstieg, zwin­kerte er mir zu und wünschte mir alles Gute. Aus Mitleid? Hatte er etwas erfasst, das ich nicht erfasste, etwas gesehen, das ich nicht sah?

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Meine Schwester verschwand hinter dem Bahnhofsgebäu­de. So musste ich alles allein schleppen und rollen, das war anstrengend.

In den Tagen vor unserem Aufbruch von zu Hause hatte ich mich in Phantasien verloren. Ich studierte die verführeri­schen Hochglanzbroschüren, die man uns zugeschickt hatte. Auf den Bildern hatte der Himmel einen Ton, der an das Licht und die Farben alter Filme erinnerte, die Berge schimmer­ten in sonderbarem Rosa, sie schienen mir in einer fremden Sprache zuzuflüstern. Ich stellte mir eine exotische Winter­landschaft vor, träumte von Skipisten, Hallenbädern und raffinierten Menüs, zubereitet von europäischen Meister­köchen. Es war wie ein Verwandlungsrausch. Ich stellte mir eine andere Epoche vor.

Aber wir stiegen gar nicht in einem Dorf einer mitteleuro­päischen Alpenmonarchie aus, nein, weil meine Schwester nicht gern flog, besuchten wir nur ein einfaches norwegi­sches Dorf. Es lag in einem kleinen Durchlass am Fuß eines steilen Bergs, und die Menschen dort sprachen nicht unver­ständlich, sondern nur einen eigenartigen, leicht schleppen­den Dialekt.

Ich fand meine Schwester an der Bushaltestelle wieder. Sie hatte sich neben eine ältere Dame und einen Jungen gestellt und wirkte wie eine ganz normale Reisende – nichts zeugte von Ungleichgewicht, nichts verriet Hysterie oder Zusam­menbruch. Es wirkte, als habe sie Zeit und Ort unter Kontrol­le, und obwohl ihr Benehmen mich ärgerte, munterte mich ihre überzeugende Beherrschung auf, ja tat mir richtig gut.

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Aber ich konnte ihr für die Gelassenheit, die sie ausstrahlte, nicht danken und sie nicht kommentieren, sondern musste meine Gedanken für mich behalten. Meine Schwester zu loben war, als übertrage man ihr eine Aufgabe, eine Ver­pflichtung. Ich befürchtete, dass die geringste Anspielung auf Verantwortung ihre Ängstlichkeit, wenn nicht gar ihre Widerborstigkeit aufstacheln könnte. Nein, ihr zu danken würde alles kaputt machen.

Von der Haltestelle aus konnten wir das Hotel sehen. Es lag ziemlich weit oben am Berg. Es erinnerte an einen goldenen Kristallvogel, der seine mächtigen Schwingen über die stei­len Hänge spannte. Ich rechnete damit, dass es jetzt ebenso verschlissen wie versoffen war, seine Zeiten mondäner Ele­ganz längst vergangen waren. Dennoch besaß das Gebäude, wie es in dem frivolen Sonnenuntergang dalag und blinkte, eine betörende Pracht. Ausnahmslos alles dort oben am Berg lockte mich – harmonisch, ebenbürtig und unangefochten. Und doch ließ es mich, nicht ohne einen gewissen Groll, an die Ärztin denken, die uns diese Reise nahegelegt, und an un­sere Mutter, die so leichthin angeboten hatte, den Aufenthalt zu bezahlen, als könnte sie sich einfach freikaufen. Wovon?

Doch in diese Frage verstrickte ich mich nicht weiter, die großartige Landschaft stimmte mich versöhnlich.

Ich sah meine Schwester an. Sie stand so rank und schlank da, fast elegant. Der hellgraue Wollmantel und die große rus­sische Pelzmütze. Diese ästhetischen Pluspunkte, die sie be­wusst hervorhob, bewusst schützte. Sie war schön, das wuss­te sie, auf eine bestimmte Art schön.

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– Diese Luft kann Kranke heilen, sagte ich, Meine Schwester lächelte. Ihr Lächeln ähnelte dem un­

bändigen Lächeln unserer Mutter, wenn sie zu wenig zu tun hatte.

Mir war, als könnte das Hotel dort oben in der Höhe ver­zagten Seelen Lebensmut einflößen. Das war ein grandioser Gedanke.

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 Der Busfahrer stellte sich über die Lautsprecheranlage vor und versicherte, das Fahren im steilen Gebirge sei nicht

gefährlich, man müsse nur das Tempo konstant halten und sich dem Rhythmus der Kurven anpassen. Er war einer von der gesprächigen Sorte, saß vorgelehnt und wippte in dem weichen Fahrersitz auf und ab, eine Hand am Steuerrad, die andere am Mikrofon. Er erinnerte mich an Vater, er hatte die gleiche vertrauensselige Einstellung zur Welt. So wirkte es. Vater heißt Roger. Roger Hartmann. Nach Ansicht von Mut­ters Eltern war Roger ein simpler und geschmackloser Name. Mutter hieß Karlotta, ihr Taufname lautete Karlotta Kornelia Adelheid.

Als Mutter schwanger war, ging sie auf den Friedhof. Stun­denlang spazierte sie zwischen Gräbern umher, immer hin und her, bis sie endlich Namen für uns fand, leicht verständ­liche Namen, die, wie sie meinte, zu ihrer Vorstellung davon passten, wie wir aussehen, wie wir sein würden.

Meine Schwester heißt Martha. In fluoreszierendem Licht sehen ihre Haare weiß aus. Wie heiße ich? Ich heiße Ella. Ich heiße Ella, und meine Augen sind fast grün. In einem Heft notiere ich, was vermutlich im nächsten Jahr passieren wird, und am letzten Tag des Jahres schreibe ich auf, was passiert ist.

Martha saß mit geschlossenen Augen und verschränkten Armen da. Ich musterte sie. Sie war genau ein Jahr älter als ich, aber ich war größer, nicht viel, nur gerade so viel, dass Martha sich ständig darüber ärgerte. Wir hatten am gleichen Tag Geburtstag, dem achtzehnten Oktober. Wir lebten wie Zwillinge. Wir hingen ständig zusammen, wir schliefen noch

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in einem Bett, als wir schon lange Teenager waren. Was also war mit Martha und mir geschehen? Ich hatte geglaubt, dass es mit uns immer so sein würde, ich hatte vor mir gesehen, dass wir zusammen studieren, dass wir uns in Männer ver­lieben würden, mit denen auch die andere gut auskam. Aber eines grauen Nachmittags kam Martha heim und verkünde­te, dass sie ihre Stelle kündigen werde. Sie arbeitete in einer Parfümerie und hatte schon lange gesagt, dass sie dazu keine Lust mehr habe, so dass es an und für sich keine erschüttern­de Neuigkeit war. Aber dann fügte sie hinzu, dass sie heiraten werde und dies der Grund sei – und das hatte niemand in der Familie kommen sehen.

– Ich ziehe nach Dänemark, sagte sie.Sie benahm sich wie verhext, als sie in ihrem Zimmer Toi­

lettensachen und Kleider in eine Reisetasche packte. Ich um­klammerte sie, hielt sie fest, schluchzte, aber sie löste meinen Griff, wirkte kühl und unzugänglich und zuckte nur die Ach­seln, wie es ihre Angewohnheit war. Und dann fuhr sie weg.

Am nächsten Tag kündigte ich ebenfalls. Unmittelbar ne­ben der Parfümerie lag ein Eisenwarengeschäft, in dem ich seit dem Abschluss des Gymnasiums fest angestellt gewesen war. Weder Mutter noch Vater versuchten, mich zum Weiter­arbeiten zu überreden. Mutter sagte, ich könne so lange zu Hause bleiben, wie ich wolle. Und ich blieb zu Hause. Nach Marthas Abreise war für mich alles irgendwie kaputt, ich konnte nicht einmal an ihrem Zimmer vorbeigehen, ohne dass mir schwindelig wurde. Wir wohnten in einer großen al­ten Holzvilla. Ja, es war ein riesiges Haus. Vater sagte immer,

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dass Martha und ich im Ostflügel regierten, während er und Mutter sich im Westflügel verschanzt hatten. Später zog Mut­ter ins Parterre, weil sie, wie sie sagte, in Ruhe schlafen wollte, aber Martha war die Erste, die unser Zuhause wirklich verließ.

Einmal, als ich an der Parfümerie vorbeiging, wurde mir so schummrig, dass ich mich auf den Bürgersteig legen muss­te, um nicht ohnmächtig zu werden. Ich muss verrückt oder betrunken gewirkt haben, wie ich dort lag. Der Anfall war unangenehm. Weil ich es nicht ertrug, die Kontrolle zu ver­lieren, mied ich Straßen, in denen ich früher gern unterwegs gewesen war. Ich blieb mehr oder weniger zu Hause, hörte Radio, las, sah mir gelegentlich einen Film an. In der verzwei­felten Hoffnung auf Linderung begann ich eine Behandlung mit homöopathischen Medikamenten, ohne im Grunde zu wissen, wogegen sie helfen sollten. Ich sagte dem Homöo­pathen, dass mir schwindelig sei. Und der Homöopath sah mir in die Augen und stellte mir eine Menge Fragen.

– Mir ist schwindelig, sagte ich. Ganz duselig. Nein, ich lief nicht Amok, aber Martha fehlte mir, es war

eine furchtbare Zeit. Mir war klar, dass ich diesen Verlust in den Griff bekommen musste. Und ich schaffte es zum Glück, ihn in den Griff zu bekommen. Ich erwies dem Verlust mei­nen Respekt, ich nahm ihn ernst. Erlaubte mir den ganzen Herbst hindurch, mich auszuruhen und mir Zeit zu nehmen, als wäre ich krank.

Was damals mit meiner Schwester los war, habe ich nie verstanden. Sie ging einfach. Es war, als hätte sie ihr Herz ausgetauscht, als wäre alles in ihr abgekühlt. Und ihre selbst­

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auslöschende Schwärmerei, diese glühende Verliebtheit, galt einem sonderbaren, wenig einnehmenden Mann, der oben­drein der Ex ihrer Chefin war. Wieso ließ sich eine junge Frau von so einem Kerl verführen, so einem billigen, aufgeblase­nen Casaubon? Es schien, als begreife Martha es selbst nicht. Auch als sie zurückkam, denn natürlich kam sie zurück, war sie verschlossen, erzählte nichts, sondern war schroff und sarkastisch, fast aggressiv. Vielleicht war das ihre Art, sich zu schämen. Ihr Benehmen machte mich traurig, aber auch neugierig. Was hatte sie ohne mich erlebt? Wo war ihre Freundlichkeit geblieben? Wo war die Liebe geblieben? Die Hingabe? Aber ich brachte es nicht über mich, sie zu fragen, sie hatte etwas Steifes, das mich zurückhielt. Und der Ab­stand zwischen uns blieb.


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