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Ein 11. September und die Folgen - Michael...

Date post: 13-Jul-2020
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DAS JÜDISCHE ECHO 114 PRIVATARCHIV MICHAEL GIONGO schickte Außenminister Rudolf Kirchschläger den Sonderbeauftragten Paul Leifer nach Santiago und enthob Hobel seines Amtes. Ende Oktober 1973 drängten sich im Dienstbotenzimmer und in der Ga- rage der Botschaft 35 schutzsuchende Chilenen – die Repräsentationsräume blieben ihnen weiterhin ver- schlossen. Weltweite Diaspora und Exil Weit auseinanderklaenden Schätzungen zufolge ver- ließen während der Diktatur 200.000 bis 1,5 Millio- nen Menschen Chile. Die meisten üchteten in andere lateinamerikanische Länder – bis 1976 vor allem über die Andenpässe im Süden des Landes ins benachbarte Argentinien. In Europa wurden etwa 18.500 Exilan- ten aufgenommen, hauptsächlich in der Schweiz, Bel- gien, den Niederlanden, Schweden, Dänemark, der DDR und Ungarn. Dem Schweizer Kaplan Cornelius Koch gelang es in einer großangelegten Aktion, 3000 Chilenen priva- te Unterkünfte anzubieten. Dies brachte die Schwei- zer Regierung so unter Druck, dass sie schließlich 4500 Flüchtlinge akzeptierte. In der BRD fanden 3000 bis 4000 Chilenen Zu- ucht. Die oene Aufnahme durch Schweden war den guten Beziehungen des Ministerpräsidenten Olof Palme zur Partei Salvador Allendes, Unidad Popular, zu verdanken. Anfang 1990 zählte das Land 27.635 chilenischstämmige Einwohner. Die rund 2000 Chilenen in der DDR genossen den Staatsbürgern gegenüber durchaus Privilegien: Wohnungen, auf die diese oft jahrelang gewartet hat- ten, wurden zu Exilunterkünften umgestaltet. Unter den Flüchtlingen war auch die spätere sozialistische Präsidentin Michelle Bachelet, die bereits 1979 – noch lange vor dem Ende der Diktatur – in ihre Hei- mat zurückkehrte. Nicht nur das kleine Irland zeigte anfangs Beden- ken wegen der möglichen „marxistischen“ Agitation durch die Flüchtlinge; trotzdem nahm die Insel zwölf Familien auf. Das chilenische Exil in Österreich Ein 11. September und die Folgen Von Michael Giongo Dem gegenwärtigen Boom der österreichischen La- tinoszene liegt nicht ausschließlich der freiwillige Kulturtransfer exotischer Lebensfreude nach Europa zugrunde. Während in Wien Salsalokale und mexika- nische Restaurants aus dem Boden sprießen, sind die politischen Ursprünge der hiesigen lateinamerikani- schen Präsenz nicht jedem bekannt. Am 11. September 1973 putschte in Chile das Militär mit Unterstützung der USA gegen die Regie- rung des Präsidenten Salvador Allende. Dieser hatte versucht, auf demokratischem Weg eine sozialistische Gesellschaft zu etablieren. Eine Militärjunta über- nahm nach dem Putsch die Macht, und Augusto Pi- nochet regierte das Land bis zum 11. März 1990 als Diktatur. Die Opposition wurde durch Verhaftungen, Folterungen und politische Morde ausgeschaltet, Sta- dien und Schulen funktionierten als Konzentrations- und Folterlager. Tausende Menschen wurden in die Wüsten des Nordens oder auf die Inseln im Süden des Landes verschleppt. Bis heute ist das Schicksal vieler Desaparecidos ungeklärt. 1976 erklärte sich die Militärjunta auf interna- tionalen Druck bereit, Gefangene freizulassen, wenn sie ins Exil gingen. Ein Jahr später war jeder nennens- werte Widerstand ausgeschaltet: Die Regimegegner waren ermordet, eingeschüchtert oder ins Ausland geüchtet. Vorübergehender Schutz in den Botschaften Unmittelbar nach dem Putsch versuchten viele po- litisch Verfolgte, in den Botschaften der Hauptstadt Santiago de Chile Schutz zu nden. Auch die österrei- chische Regierung hatte beschlossen, in der Botschaft Asyl anzubieten. Botschafter Adolf Hobel lehnte es jedoch ab, das Botschaftsgebäude für Flüchtlinge zu önen, und erklärte, er vertraue den Militärs und hal- te die Anhänger Allendes für Verbrecher. Daraufhin Kap.2_KORR_KoK.indd 114 18.10.2010 16:39:51 Uhr
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schickte Außenminister Rudolf Kirchschläger den Sonderbeauftragten Paul Leifer nach Santiago und enthob Hobel seines Amtes. Ende Oktober 1973 drängten sich im Dienstbotenzimmer und in der Ga-rage der Botschaft 35 schutzsuchende Chilenen – die Repräsentationsräume blieben ihnen weiterhin ver-schlossen.

Weltweite Diaspora und Exil

Weit auseinanderkla!enden Schätzungen zufolge ver-ließen während der Diktatur 200.000 bis 1,5 Millio-nen Menschen Chile. Die meisten "üchteten in andere lateinamerikanische Länder – bis 1976 vor allem über die Andenpässe im Süden des Landes ins benachbarte Argentinien. In Europa wurden etwa 18.500 Exilan-ten aufgenommen, hauptsächlich in der Schweiz, Bel-gien, den Niederlanden, Schweden, Dänemark, der DDR und Ungarn.

Dem Schweizer Kaplan Cornelius Koch gelang es in einer großangelegten Aktion, 3000 Chilenen priva-te Unterkünfte anzubieten. Dies brachte die Schwei-zer Regierung so unter Druck, dass sie schließlich 4500 Flüchtlinge akzeptierte.

In der BRD fanden 3000 bis 4000 Chilenen Zu-"ucht. Die o!ene Aufnahme durch Schweden war den guten Beziehungen des Ministerpräsidenten Olof Palme zur Partei Salvador Allendes, Unidad Popular, zu verdanken. Anfang 1990 zählte das Land 27.635 chilenischstämmige Einwohner.

Die rund 2000 Chilenen in der DDR genossen den Staatsbürgern gegenüber durchaus Privilegien: Wohnungen, auf die diese oft jahrelang gewartet hat-ten, wurden zu Exilunterkünften umgestaltet. Unter den Flüchtlingen war auch die spätere sozialistische Präsidentin Michelle Bachelet, die bereits 1979 – noch lange vor dem Ende der Diktatur – in ihre Hei-mat zurückkehrte.

Nicht nur das kleine Irland zeigte anfangs Beden-ken wegen der möglichen „marxistischen“ Agitation durch die Flüchtlinge; trotzdem nahm die Insel zwölf Familien auf.

Das chilenische Exil in Österreich

Ein 11. September und die Folgen

Von Michael Giongo

Dem gegenwärtigen Boom der österreichischen La-tinoszene liegt nicht ausschließlich der freiwillige Kulturtransfer exotischer Lebensfreude nach Europa zugrunde. Während in Wien Salsalokale und mexika-nische Restaurants aus dem Boden sprießen, sind die politischen Ursprünge der hiesigen lateinamerikani-schen Präsenz nicht jedem bekannt.

Am 11. September 1973 putschte in Chile das Militär mit Unterstützung der USA gegen die Regie-rung des Präsidenten Salvador Allende. Dieser hatte versucht, auf demokratischem Weg eine sozialistische Gesellschaft zu etablieren. Eine Militärjunta über-nahm nach dem Putsch die Macht, und Augusto Pi-nochet regierte das Land bis zum 11. März 1990 als Diktatur. Die Opposition wurde durch Verhaftungen, Folterungen und politische Morde ausgeschaltet, Sta-dien und Schulen funktionierten als Konzentrations- und Folterlager. Tausende Menschen wurden in die Wüsten des Nordens oder auf die Inseln im Süden des Landes verschleppt. Bis heute ist das Schicksal vieler Desaparecidos ungeklärt.

1976 erklärte sich die Militärjunta auf interna-tionalen Druck bereit, Gefangene freizulassen, wenn sie ins Exil gingen. Ein Jahr später war jeder nennens-werte Widerstand ausgeschaltet: Die Regimegegner waren ermordet, eingeschüchtert oder ins Ausland ge"üchtet.

Vorübergehender Schutz in den Botschaften

Unmittelbar nach dem Putsch versuchten viele po-litisch Verfolgte, in den Botschaften der Hauptstadt Santiago de Chile Schutz zu #nden. Auch die österrei-chische Regierung hatte beschlossen, in der Botschaft Asyl anzubieten. Botschafter Adolf Hobel lehnte es jedoch ab, das Botschaftsgebäude für Flüchtlinge zu ö!nen, und erklärte, er vertraue den Militärs und hal-te die Anhänger Allendes für Verbrecher. Daraufhin

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Flucht nach Österreich

Auch Österreich erklärte sich 1973 bereit, Flüchtlin-ge aus Chile aufzunehmen. Das Intergovernmental Committee for European Migration (ICEM) wählte ein Kontingent von 200 Personen aus und bezahlte die Flüge nach Schwechat. Bruno Kreisky ermöglichte es später immer wieder, über die vorgesehenen Quoten hinaus Visa für Härtefälle zu bekommen.

Bis zum 8. Dezember 1973 waren in Wien 59 Menschen aus der österreichischen Botschaft in Santi-ago eingetro!en. Im folgenden Jahr begann das ICEM, den Nachzug von Familienangehörigen zu organisie-ren. Als 1976 auch in Argentinien ein brutales Terror-regime an die Macht kam, emp#ng Österreich weitere 190 chilenische Migranten, die aus Argentinien "üch-ten mussten. 1977 war dieser Exodus weitgehend ab-geschlossen. Bis zur Mitte der 1980er-Jahre suchten nur mehr vereinzelt Chilenen aus humanitären Grün-den um österreichisches Asyl an. Schätzungen zufolge emigrierten insgesamt 1500 bis 2000 Chilenen nach Österreich.

Exotische Gäste der Regierung

Die ersten chilenischen Ankömmlinge in Österreich wurden als Gäste der Regierung betrachtet und am Schwechater Flughafen bei Minustemperaturen von freundlichen Menschen empfangen. Aktivisten der Chile-Solidaritätsfront begleiteten sie in ihre Quartiere.

Zunächst dienten das Afritsch-Heim der Volkshil-fe im Erholungsgebiet Hörndlwald in Hietzing, das Kolpinghaus in Favoriten und das Heim der YMCA in Neubau als Unterkünfte, doch Anfang 1974 wur-den alle Chilenen in das Haus des Innenministeriums in der Vorderbrühl bei Mödling übersiedelt. Dies er-schwerte die Betreuung, die Arbeitssuche und die mögliche Integration in der Großstadt. Zu Beginn noch ohne die nötigen Papiere, um legal Arbeit suchen zu können, verdienten sich viele als billige Arbeitskräf-te bei den Weinbauern der Umgebung ein zusätzliches Taschengeld.

Einige Monate nach der Ankunft der ersten Exi-lanten ließ das ö!entliche Interesse nach, und die Chile-Solidaritätsfront wurde von den Behörden nicht mehr über Neuankünfte informiert. Stattdessen wurden die Angekommenen von Uniformierten, mit denen sie sich nicht verständigen konnten, vom Flug-hafen direkt ins Flüchtlingslager Traiskirchen in Nie-derösterreich gebracht. Es gab dort keine Lagerregeln auf Spanisch, und an Übersetzern mangelte es. Die Mauern, Absperrungen und Verhöre erinnerten über-dies so manchen Insassen an die Gefangenenlager in seiner Heimat.

Auch die Familie von Ariel Tachi ging in eines der vierzig Länder, die Chile-Flüchtlinge aufnahmen

Luiz Munoz Schultz, ehemaliger Leiter der Central Bank of Chile, verabschiedet sich von seiner Frau: Er muss ins Exil nach Rumänien. Rund 9000 Menschen wurden im Herbst 1973 in Sicherheit gebracht

Ein erfolgreicher Chilene in Wien: 1976 bekam Erick Zott politisches Asyl in Österreich. Davor hatte er zwei Jahre Haft und Folter zu erdul-den. Seit 2003 betreibt er das kubanische Tanzlokal Floridita in der Wiener Innenstadt

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lange an der Macht halten, und glaubte, in wenigen Wochen wieder in die Heimat zurückkehren zu kön-nen.

Vorschläge der Chile-Solidaritätsfront an die Be-amten des Innenministeriums, wie man die Situation der Flüchtlinge verbessern könne, wurden mit dem Hinweis auf das soziale Fehlverhalten einzelner Chi-lenen abgelehnt. Vereinzelte suchten im Alkohol ihre persönliche Antidepressionsstrategie, andere kamen als chronische Patienten in die Psychiatrie oder begin-gen Selbstmord.

Ab 1974 bekamen die Flüchtlinge vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UN-HCR) Wohnungen, Arbeitsplätze und Studiensti-pendien angeboten. Die oft nicht nachvollziehbaren Entscheidungen bei der Wohnungsvergabe sorgten al-lerdings für Kon!ikte. Beru!ich war meist ein Abstieg in Kauf zu nehmen, denn auch die Nichtakademiker hatten in Chile sehr verantwortungsvolle Positionen eingenommen. Von den Behörden wurden die chi-lenischen Männer ungeachtet ihrer Verfassung und Eignung dazu gedrängt, Schweißer zu werden. So be-richtete die Maschinenfabrik Simmering-Graz-Pauker 1979, 25 „ausgezeichnete Schweißer und Fräser“ aus Chile zu beschäftigen. Die schweren Arbeiten blieben bei den oft durch die Folter körperlich beeinträchtig-ten Männern nicht ohne Folgen.

Für die meisten Österreicher war die Begegnung mit den Chilenen etwas völlig Neues. Am Arbeitsplatz hatten die Südamerikaner den Vorteil, als exotische Ausländer besser behandelt zu werden als ihre Kol-legen aus Jugoslawien oder aus der Türkei. Manche passten sich im Lauf der Zeit durch ihre beru!ichen Kontakte an die österreichische Mentalität an, andere resignierten angesichts der erlebten Ausländerfeind-lichkeit: Sie scha"ten es nicht, soziale Netzwerke auf-zubauen, und versuchten lediglich zu überleben, wie Zitate aus einer Studie von 1994 zeigen: „Weil hier bist du niemand, und in Chile bist du auch niemand. Aber trauriger ist es, in deinem eigenen Land niemand zu sein.“ Und: „Besser, ich bin still; und dann, das Le-ben geht vorbei.“

In manchen Familien lösten sich im Exil traditio-nelle Strukturen auf. Frauen arbeiteten, lernten Beru-fe, verdienten selber Geld und trennten sich in einigen Fällen von ihren Männern. Kinder, die im März 1974 in Österreich die Volksschule zu besuchen begannen, integrierten sich am leichtesten. Sie erwarben die neue Sprache in der Regel schneller als die Erwachsenen und übernahmen als Übersetzer Verantwortung für ihre Eltern. Viele von ihnen bereiteten sich später auf die Matura vor, fünf studierten 1987 bereits an der Universität. Im Gegensatz dazu wollten die meisten der Jugendlichen, die bei ihrer Ankunft zwischen 15 und 18 Jahre alt waren, arbeiten gehen.

Leben im österreichischen Exil

Ungefähr die Hälfte der Exilanten war bei der An-kunft schwerst traumatisiert. Die für die Opfer oft unaussprechbaren Erfahrungen schwerer Folter, se-xueller Gewalt, Demütigung und Ermordung von Angehörigen und Freunden konnten in der Exilsitu-ation umso weniger aufgearbeitet werden. Die me-dizinische Versorgung war nicht ausreichend, und manch ein praktischer Arzt erkannte den psycho-somatischen, exilbedingten Charakter körperlicher Krankheiten nicht.

Die o#zielle Flüchtlingspolitik Österreichs war eher an den Bedürfnissen von Osteuropäern aus dem gleichen mitteleuropäischen Kulturraum orientiert. Obwohl die Chilenen materiell versorgt und teilweise (etwa im Hörndlwald) wie Touristen behandelt (und damit quasi entmündigt) wurden, gab es für sie kei-ne soziale und psychologische Betreuung. Ein einzi-ger Beamter war für alle Belange zuständig, Spanisch sprechende Sozialarbeiter fehlten. Die angebotenen Deutschkurse waren nicht gut besucht, denn sie fan-den meist auf englischer Basis statt, orientierten sich kaum an den verschiedenen Bildungsniveaus und berücksichtigten nicht die Lernvoraussetzungen von traumatisierten Erwachsenen. Der Großteil der Chi-lenen ho"te außerdem, Pinochet würde sich nicht

Herbert Berger musste 1973 in seine österreichische Heimat zurück-kehren. Seine Chile-Erlebnisse sind in seinen Büchern nachzulesen

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Keine konkreten Zahlen

Der Großteil der in Österreich lebenden Exilanten hatte – entweder in der Absicht, endgültig hier bleiben zu wollen, oder aus Gründen der Arbeits- und Woh-nungssuche – die österreichische Staatsbürgerschaft angenommen. Deshalb ist es nicht leicht, Zahlen über die hier gebliebenen Chilenen zu gewinnen. Nach ei-ner Schätzung aus dem Jahr 1994 verblieben ungefähr tausend Chilenen in Österreich.

Einer von ihnen ist Erick Zott. Er lebt in Wien, engagiert sich für Menschenrechte und hat 2003 das kubanische Tanzlokal Floridita gegründet. Zott wur-de 1975 in Chile festgenommen und zwei Jahre lang eingesperrt und gefoltert. Ende 1976 fand er als poli-tischer Flüchtling in Österreich Asyl. Er war einer der Kronzeugen gegen den 2005 in Argentinien verhaf-teten deutschen Pinochet-Schergen, Päderasten und Gründer der Colonia Dignidad Paul Schäfer.

Wenig erinnert heute in Wien materiell an die Zeit der ersten Chilenen. Das Restaurant Macondo in Mar-gareten existiert nicht mehr. Ein in den 1960er-Jahren errichteter Gemeindebau in Simmering bekam 1976 den Namen Salvador-Allende-Hof. Eine Wohnhaus-anlage in Währing ist nach dem chilenischen Dichter Pablo Neruda benannt. Anlässlich des 30. Todestags Allendes wurde 2003 der Salvador-Allende-Weg beim Donauturm eingeweiht. Seit 2005 be$ndet sich im Donaupark eine Bronzebüste des Präsidenten.

Der Österreicher Herbert Berger, der 1973 aus Chile nach Österreich zurückkehren musste, beschreibt in seinem Buch „Solidarität mit Chile“ (2003) den Weg der österreichischen Chile-Solidaritätsfront von 1973 bis 1990. In dem von ihm und seiner Frau Sigrun he-rausgegebenen Band „Zerstörte Ho"nung – Gerettetes Leben“ (2002) erzählen 21 Flüchtlinge ihre Lebensge-schichten zwischen Chile und Österreich. %

1987 wohnte der Großteil der Chilenen (94 Familien mit insgesamt 330 Personen) in einer ehe-maligen Militärkaserne und in Fertigbau-Bungalows in der Zinnergasse in Kaiserebersdorf in Wien Sim-mering. Sie nannten das Flüchtlingslager „Macondo“ – nach dem magisch-realistischen Ort, den Gabriel García Márquez für seinen Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ erfand. Die Hälfte der in Macondo le-benden Chilenen war 1987 arbeitslos und litt unter chronischer Erkältung.

Rückkehr nach Chile?

Die irgendwann auftretende Frage nach der Rückkehr in die Heimat war für viele – genauso wie einst die „Entscheidung“ fürs Exil – eine große Belastung und Ursache für Kon!ikte. Beziehungen hatten sich ver-ändert, manch einer wollte die politische Arbeit im eigenen Land wieder aufnehmen, während seine Fa-milienangehörigen lieber in Österreich blieben.

Die ersten Remigrierten gingen in den chileni-schen Untergrund, um gegen die Militärs zu kämp-fen, und etliche wurden dabei verhaftet. Ab den 1980er-Jahren forderten viele Exilchilenen weltweit ihr „Recht auf Heimat“ ein und engagierten sich poli-tisch für die Möglichkeit zurückzukehren. Als sich das Ende der Diktatur abzuzeichnen begann, verö"ent-lichte die Militärjunta Listen von Personen, denen die Rückkehr gestattet war. 1987 wurde 5000 Chilenen die Rückkehr erlaubt – aus Anlass des Besuchs von Papst Karol Wojty&a gab sich das Regime großzügig. Bis zum 15. März 1987 reisten aus Wien zwanzig Per-sonen in ihr Land zurück.

Der diktatorischen Verfassung aus dem Jahr 1980 entsprechend wurde in Chile im Oktober 1988 eine Volksabstimmung darüber durchgeführt, ob bei den Präsidentenwahlen 1989 Augusto Pinochet der einzi-ge Kandidat sein solle. Der Diktator war sich seiner Macht zu sicher gewesen, die Abstimmung $el zu sei-nen Ungunsten aus, und bei den Wahlen löste ihn der Christdemokrat Patricio Aylwin ab. Pinochet blieb jedoch Oberbefehlshaber des Heeres und Senator auf Lebenszeit und musste sich wegen vorgeblicher Al-tersdemenz bis zu seinem Tod nicht vor Gericht ver-antworten.

Nachdem der neue Präsident für nahezu alle im Ausland lebenden Flüchtlinge das Einreiseverbot aufgehoben hatte, unterzeichnete das österreichische Innenministerium im August 1990 mit der Interna-tionalen Organisation für Migration einen Vertrag über die Repatriierung von 300 Personen nach Chile. Manche der Heimkehrer jedoch fanden das Land oder sich selbst so verändert vor, dass sie beschlossen, nach Österreich zurückzukehren.

Herbert Berger Solidarität mit ChileDie österreichische Chile-Solidaritätsfront 1973–1990Edition Volkshochschule, Wien 2003

Sigrun u. Herbert Berger (Hg.)Zerstörte Hoffnung, gerettetes LebenChilenische Flüchtlinge und ÖsterreichMandelbaum, Wien 2002, www.mandelbaum.at

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