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.Fabian, Jakob, 32 Jahre alt, Beruf wechselnd, zur ZeitReklamefachmann, Schaperstraße 17 ... Was müssenSie noch wissen?« Am Beispiel des arbeitslosen Ger-manisten Jakob Fabian beschreibt Erich Kästner bissigund schonungslos den Niedergang der Weimarer Re-publik und ihrer politischen und gesellschaftlichen][deale. Die Welt steht kopf, moralische Normen ha-ben ihre Gültigkeit verloren, politische Extreme be-fehden einander — und inmitten dieses Durcheinanderssteht Fabian, der Moralist, als Beobachter und studiertdas Leben ... »Der Moralist«, schrieb Kästner in ei-nem späteren Vorwort, »pflegt seiner Epoche keinenSpiegel, sondern einen Zerrspiegel vorzuhalten. DieKarikatur, ein legitimes Kunstmittel, ist das Äußerste,was er vermag. Wenn auch das nichts hilft, dann hilftüberhaupt nichts mehr ... «

Erich Kästner, geboren am 23. Februar 1899 in Dres-den, studierte nach dem Ersten Weltkrieg Germani-stik, Geschichte und Philosophie. 1925 Promotion.Neben schriftstellerischer Tätigkeit Theaterkritikerund freier Mitarbeiter bei verschiedenen Zeitungen.Während der Nazizeit Publikationsverbot. Von 1 945bis zu seinem Tode am 29. Juli 1974 lebte Kästner inMünchen und war dort u. a. Feuilletonchef der >NeuenZeitung< und Mitarbeiter der Kabarett-Ensembles>Die Schaubude< und >Die kleine Freiheit<.

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Erich Kästner

Fabian

Die Geschichteeines Moralisten

Deutscher Taschenbuch Verlag

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Ungekürzte AusgabeNach dem Text der >Gesammelten Schriften<

(Atrium Verlag, Zürich 1959) unter Hinzuziehung derErstausgabe von 1931

Februar 198923. Auflage September 2007

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,München

www.dtv.de

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung desCecilie Dressier Verlags, Hamburg

1985 Atrium Verlag, ZürichErstveröffentlichung: Deutsche Verlags-Anstalt

Stuttgart • Berlin 1931Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlagbild: >Atelier mit Torso< (um 1946) von Raoul Dufv(VG Bild-Kunst, Bonn 2007)

Gesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany ISBN 978-3-423 -t 1oo6-8

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Inhalt

Vorwort des Verfassers 9

I. Kapitel: Ein Kellner als Orakel • Der anderegeht trotzdem hin • Ein Institut für geistigeAnnäherung I I

2. Kapitel: Es gibt sehr aufdringliche Damen •Ein Rechtsanwalt hat nichts dagegen - Bettelnverdirbt den Charakter 19

3. Kapitel: Vierzehn Tote in Kalkutta • Es istrichtig, das Falsche zu tun - Die Schneckenkriechen im Kreis

28

4. Kapitel: Eine Zigarette, groß wie der KölnerDom • Frau Hohlfeld ist neugierig • Ein mö-blierter Herr liest Descartes

4 1

5. Kapitel: Ein ernstes Gespräch am Tanzparkett •Fräulein Paula ist insgeheim rasiert • Frau Mollwirft mit Gläsern

5 2

6. Kapitel: Der Zweikampf am Märkischen Mu-seum - Wann findet der nächste Krieg statt? -Ein Arzt versteht sich auf Diagnose 6o

7. Kapitel: Verrückte auf dem Podium • Die To-desfahrt von Paul Müller • Ein Fabrikant inBadewannen

68

B. Kapitel: Studenten treiben Politik • Labude sen liebt das Leben • Die Ohrfeige an der Außen-alster 77

9. Kapitel: Sonderbare junge Mädchen • Ein To-deskandidat wird lebendig • Das Lokal heißt»Cousine« 87

io. Kapitel: Topographie der Unmoral • Die Liebehöret nimmer auf! • Es lebe der kleine Unter-schied ! 97

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I I. Kapitel: Die Überraschung in der Fabrik • DerKreuzberg und ein Sonderling • Das Leben isteine schlechte Angewohnheit 106

12. Kapitel: Der Erfinder im Schrank • Nicht ar-beiten ist eine Schande • Die Mutter gibt einGastspiel 120

13. Kapitel: Das Kaufhaus und Arthur Schopen-hauer • Das reziproke Bordell • Die zweiZwanzigmarkscheine 133

14. Kapitel: Der Weg ohne Tür • Fräulein SelowsZunge • Die Treppe mit den Taschendieben . . 146

15. Kapitel: Ein junger Mann, wie er sein soll -Vom Sinn der Bahnhöfe • Cornelia schreibteinen Brief 155

16. Kapitel: Fabian fährt auf Abenteuer • Schüsseam Wedding • Onkel Pelles Nordpark 163

17. Kapitel: Kalbsleber, aber ohne Flechsen • Ersagt ihr die Meinung • Ein Reisender verliertdie Geduld 173

18. Kapitel: Er geht aus Verzweiflung nach Hause •Was mag die Polizei wollen? • Ein traurigerAnblick 182

19. Kapitel: Fabian verteidigt den Freund • EinLessingporträt geht entzwei - Einsamkeit inHalensee 191

20. Kapitel: Cornelia im Privatauto • Der Geheim-rat weiß von nichts • Frau Labude wird ohn-mächtig 199

21. Kapitel: Juristin wird Filmstar • Eine alte Be-kannte • Die Mutter verkauft Schmierseife . . . 207

22. Kapitel: Besuch in der Kinderkaserne • Kegel-schieben im Park • Die Vergangenheit biegtum die Ecke 216

23. Kapitel: Pilsner Bier und Patriotismus - Türki-sches Biedermeier • Fabian wird gratis behan-delt 224

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24. Kapitel: Herr Knorr hat Hühneraugen • Die>Tagespost< braucht tüchtige Leute • Lerntschwimmen! 231

AnhangFabian und die Sittenrichter 239Der Herr ohne Blinddarm 242

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Vorwort des VerfassersZur Neuauflage dieses Buches

Über dieses nunmehr bald fünfundzwanzig Jahre alteBuch kursierten im Laufe der Zeit recht verschiedeneUrteile, und es wurde noch von manchen, die es lob-ten, mißverstanden! Wird man's heute besser verste-hen? Gewiß nicht! Wie denn auch? Daß im DrittenReich die Geschmacksurteile verstaatlicht, in Phrasengeliefert und millionenfach geschluckt wurden, hatGeschmack und Urteil breiter Kreise bis in unsere Ta-ge verdorben. Und heute sind, noch ehe sie sich rege-nerieren konnten, bereits neue, genauer, sehr alteMächte fanatisch dabei, wiederum standardisierte Mei-nungen — gar nicht so verschieden von den vorheri-gen — durch Massenimpfung zu verbreiten. Noch wis-sen viele nicht, viele nicht mehr, daß man sich Urteileselber bilden kann und sollte. Soweit sie sich drumbemühen, wissen sie nicht, wie man's anfängt. Undschon sind, angeblich zum Schutze der Jugend, Kura-telgesetze gegen moderne Kunst und Literatur in Vor-bereitung. Das Wort »zersetzend« steht im Vokabularder Rückschrittler längst wieder an erster Stelle. Ver-unglimpfung ist eines jener Mittel, die den Zwecknicht nur heiligen, sondern ihn, nur zu oft, auch errei-chen.

So wird heute weniger als damals begriffen werden,daß der >Fabian< keineswegs ein »unmoralisches«, son-dern ein ausgesprochen moralisches Buch ist. Der ur-sprüngliche Titel, den, samt einigen krassen Kapiteln,der Erstverleger nicht zuließ, lautete >Der Gang vor dieHunde<. Damit sollte, schon auf dem Buchumschlag,deutlich werden, daß der Roman ein bestimmtes Zielverfolgte: Er wollte warnen. Er wollte vor dem Ab-

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grund warnen, dem sich Deutschland und damit Euro-pa näherten! Er wollte mit angemessenen, und daskonnte in diesem Falle nur bedeuten, mit allen Mittelnin letzter Minute Gehör und Besinnung erzwingen.

Die große Arbeitslosigkeit, die der wirtschaftlichenfolgende seelische Depression, die Sucht sich zu betäu-ben, die Aktivität bedenkenloser Parteien, das warenSturmzeichen der nahenden Krise. Und auch die un-heimliche Stille vor dem Sturm fehlte nicht — die einerepidemischen Lähmung gleichende Trägheit der Her-zen. Es trieb manche, sich dem Sturm und der Stilleentgegenzustellen. Sie wurden beiseite geschoben. Lie-ber hörte man den Jahrmarktschreiern und Trommlernzu, die ihre Senfpflaster und giftigen Patentlösungenanpriesen. Man lief den Rattenfängern nach, hinein inden Abgrund, in dem wir nun, mehr tot als lebendig,angekommen sind und uns einzurichten versuchen, alssei nichts geschehen.

Das vorliegende Buch, das großstädtische Zuständevon damals schildert, ist kein Poesie- und Fotografie-album, sondern eine Satire. Es beschreibt nicht, waswar, sondern es übertreibt. Der Moralist pflegt seinerEpoche keinen Spiegel, sondern einen Zerrspiegel vor-zuhalten. Die Karikatur, ein legitimes Kunstmittel, istdas Äußerste, was er vermag. Wenn auch das nichthilft, dann hilft überhaupt nichts mehr. Daß überhauptnichts hilft, ist — damals wie heute — keine Seltenheit.Eine Seltenheit wäre es allerdings, wenn das den Mora-listen entmutigte. Sein angestammter Platz ist undbleibt der verlorene Posten. Ihn füllt er, so gut er kann,aus. Sein Wahlspruch hieß immer und heißt auch jetzt:Dennoch!

München, Mai 19 5o Erich Kästner

Io

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Erstes KapitelEin Kellner als Orakel • Der andere geht trotzdem hin •Ein Institut für geistige Annäherung

Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und lasdie Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luft-schiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert nebenLinsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster ge-sprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidenten-wahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal imStädtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimmein der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, DieGeschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefan-ten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffee-märkten, Skandal um Clara Bow, BevorstehenderStreik von 140 00o Metallarbeitern, Verbrecherdramain Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holz-dumping, Starhembergjäger rebellieren. Das täglichePensum. Nichts Besonderes.

Er nahm einen Schluck Kaffee und fuhr zusammen.Das Zeug schmeckte nach Zucker. Seitdem er, zehnJahre war das her, in der Mensa am Oranienburger Tordreimal wöchentlich Nudeln mit Sacharin hinunterge-würgt hatte, verabscheute er Süßes. Er zündete sicheilig eine Zigarette an und rief den Kellner.

»Womit kann ich dienen?« fragte der.»Antworten Sie mir auf eine Frage.«»Bitteschön. «»Soll ich hingehen oder nicht?«»Wohin meinen der Herr?«»Sie sollen nicht fragen. Sie sollen antworten. Soll ich

hingehen oder nicht?«Der Kellner kratzte sich unsichtbar hinter den Oh-

ren. Dann trat er von einem Plattfuß auf den andern

II

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und meinte verlegen: »Das beste wird sein, Sie gehennicht hin. Sicher ist sicher, mein Herr.«

Fabian nickte. »Gut. Ich werde hingehen. Zahlen.«»Aber ich habe Ihnen doch abgeraten?«»Deshalb geh ich ja hin! Bitte zahlen.«»Wenn ich zugeraten hätte, wären Sie nicht gegan-

gen?«»Dann auch. Bitte zahlen!»»Das versteh ich nicht«, erklärte der Kellner ärgerlich.

»Warum haben Sie mich dann überhaupt gefragt?«»Wenn ich das wüßte», antwortete Fabian.»Eine Tasse Kaffee, ein Butterbrot, fünfzig, dreißig,

achtzig, neunzig Pfennig«, deklamierte der andere.Fabian legte eine Mark auf den Tisch und ging. Er

hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Wenn man amWittenbergplatz auf den Autobus i klettert, an derPotsdamer Brücke in eine Straßenbahn umsteigt, ohnederen Nummer zu lesen, und zwanzig Minuten späterden Wagen verläßt, weil plötzlich eine Frau drinsitzt,die Friedrich dem Großen ähnelt, kann man wirklichnicht wissen, wo man ist.

Er folgte drei hastig marschierenden Arbeitern undgeriet, über Holzbohlen stolpernd, an Bauzäunen undgrauen Stundenhotels entlang, zum Bahnhof Janno-witzbrücke. Im Zug holte er die Adresse heraus, dieihm Bertuch, der Bürochef, aufgeschrieben hatte:Sch]!üterstraße 23, Frau Sommer. Er fuhr bis zum Zoo.Auf der Joachimsthaler Straße fragte ihn ein dünnbei-niges, wippendes Fräulein, wie er drüber dächte. Erbeschied das Anerbieten abschlägig, drohte mit demFinger und entkam.

Die Stadt glich einem Rummelplatz. Die Häuser-fronten waren mit buntem Licht beschmiert, und dieSterne am Himmel konnten sich schämen. Ein Flug-zeug knatterte über die Dächer. Plötzlich regnete esAluminiumtaler. Die Passanten blickten hoch, lachten

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und bückten sich. Fabian dachte flüchtig an jenes Mär-chen, in dem ein kleines Mädchen sein Hemd hoch-hebt, um das Kleingeld aufzufangen, das vom Himmelfällt. Dann holte er von der steifen Krempe eines frem-den Hutes einen der Taler herunter. »Besucht die Exo-tikbar, Nollendorfplatz 3, Schöne Frauen, Nacktpla-stiken, Pension Condor im gleichen Hause«, standdarauf. Fabian hatte mit einem Male die Vorstellung,er fliege dort oben im Aeroplan und sehe auf sich hin-unter, auf den jungen Mann in der Joachimsthaler Stra-ße, im Gewimmel der Menge, im Lichtkreis der Later-nen und Schaufenster, im Straßengewirr der fiebrigentzündeten Nacht. Wie klein der Mann war. Und mitdem war er identisch!

Er überquerte den Kurfürstendamm. An einem derGiebel rollte eine Leuchtfigur, ein Türkenjunge war es,mit den elektrischen Augäpfeln. Da stieß jemand heftiggegen Fabians Stiefelabsatz. Er drehte sich mißbilli-gend um. Es war die Straßenbahn gewesen. DerSchaffner fluchte.

»Passense auf!« schrie ein Polizist.Fabian zog den Hut und sagte: »Werde mir Mühe

geben.«

In der Schlüterstraße öffnete ein grünlivrierter Lilipu-taner, erklomm eine zierliche Leiter, half dem Besu-cher aus dem Mantel und verschwand. Kaum war derkleine Grüne weg, rauschte eine üppige Dame, be-stimmt Frau Sommer, durch den Vorhang und sagte:»Darf ich Sie in mein Büro bitten?« Fabian folgte.

»Mir wurde Ihr Klub von einem gewissen HerrnBertuch empfohlen.«

Sie blätterte in einem Heft und nickte. »Bertuch,Friedrich Georg, Bürochef, 4o Jahre, mittelgroß, brü-nett, Karlstraße 9, musikliebend, bevorzugt schlankeBlondinen nicht über fünfundzwanzig Jahre alt.«

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»Das ist er!«»Herr Bertuch verkehrt seit Oktober bei mir und

war in dieser Zeit fünfmal anwesend.«»Das spricht für Ihr Institut.«»Die Anmeldegebühr beträgt zwanzig Mark. Jeder

Besuch kostet zehn Mark extra.«»Hier sind dreißig Mark.« Fabian legte das Geld auf

den Schreibtisch. Die üppige Dame steckte die Scheinein eine Schublade, nahm einen Federhalter und sagte:»Die Personalien?»

»Fabian, Jakob, 32 Jahre alt, Beruf wechselnd, zurZeit Reklamefachmann, Schaperstraße 17, herzkrank,Haarfarbe braun. Was müssen Sie noch wissen?«

»Haben Sie hinsichtlich der Damen bestimmte Wün-sche?«

»Ich möchte mich nicht festlegen. Mein Geschmackneigt zu Blond, meine Erfahrung spricht dagegen.Meine Vorliebe gehört großen Frauen. Aber das Be-dürfnis ist nicht gegenseitig. Lassen Sie die Rubrikfrei.«

Irgendwo wurde Grammophon gespielt. Die üppigeDame erhob sich und erklärte ernst: »Ich darf Sie, be-vor wir hineingehen, mit den wichtigsten Statuten be-kanntmachen. Annäherungen der Mitglieder unterein-ander werden nicht übelgenommen, sondern erwartet.Die Damen genießen dieselben Rechte wie die Herren.Von der Existenz, der Adresse und den Gepflogenhei-ten des Instituts ist nur vertrauenswürdigen Herr-schaften Mitteilung zu machen. Den idealen Absichtendes Unternehmens ungeachtet sind die Konsumkostensofort zu begleichen. Innerhalb der Klubräume hatkeins der Paare Anspruch darauf, respektiert zu wer-den. Paare, die ungestört zu bleiben wünschen, werdengebeten, den Klub zu verlassen. Das Etablissementdient der Anbahnung von Beziehungen, nicht den Be-ziehungen selber. Mitglieder, die einander vorüberge-

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hend zu gegenseitigem Befund Gelegenheit gaben,werden ersucht, das wieder zu vergessen, da nur aufdiese Weise Komplikationen vermeidbar sind. HabenSie mich verstanden, Herr Fabian?«

»Vollkommen.«»Dann bitte ich Sie, mir zu folgen.«Dreißig bis vierzig Personen mochten anwesend

sein. Im ersten Raum wurde Bridge gespielt. Nebenanwurde getanzt. Frau Sommer wies dem neuen Mitgliedeinen freien Tisch an, sagte, daß man sich notfalls je-derzeit an sie wenden könne, und verabschiedete sich.Fabian nahm Platz, bestellte beim Kellner Kognaksodaund sah sich um. War er auf einer Geburtstagsgesell-schaft?

»Die Menschen sehen harmloser aus, als sie sind«,bemerkte ein kleines schwarzhaariges Fräulein undsetzte sich neben ihn. Fabian bot ihr zu rauchen an.

»Sie wirken sympathisch«, sagte sie. »Sie sind imDezember geboren.«

»Im Februar.«»Aha! Sternbild der Fische und ein paar Tropfen

Wassermann. Ziemlich kalte Natur. Sie kommen nuraus Neugierde?«

»Die Atomtheoretiker behaupten, noch die kleinstenSubstanzpartikel bestünden aus umeinander kreisen-den elektrischen Energiemengen. Halten Sie diese An-sicht für eine Hypothese oder für eine Anschauung,die dem wahren Sachverhalt entspricht?«

»Empfindlich sind Sie auch noch?« rief die Person.»Aber es macht nichts. Sind Sie hier, um sich eine Frauzu suchen?«

Er hob die Schultern. »Ist das ein förmlicher An-trag?«

»Unsinn! Ich war zweimal verheiratet, das genügtvorläufig. Die Ehe ist nicht die richtige Ausdrucks-form für mich. Dafür interessieren mich die Männer zu

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sehr. Ich stelle mir jeden, den ich sehe und der mirgefällt, als Ehemann vor.«

»In seinen prägnantesten Eigenschaften, will ich hof-fen.«

Sie lachte, als hätte sie den Schlucken, und legte dieHand auf sein Knie. »Richtig gehofft! Man behauptet,ich litte an stellungssuchender Phantasie. Sollten Sie imVerlauf des Abends das Bedürfnis haben, mich nachHause zu bringen, meine Wohnung und ich sind klein,aber stabil.«

Er entfernte die fremde unruhige Hand von seinemKnie und meinte: »Möglich ist alles. Und jetzt will ichmir das Lokal ansehen.« Er kam nicht dazu. Wie ersich erhob und umwandte, stand eine große, pro-grammäßig gewachsene Dame vor ihm und sagte:»Man wird gleich tanzen.« Sie war größer als er undblond dazu. Die kleine schwarzhaarige Schwadroneusebefolgte die Statuten und verschwand. Der Kellnersetzte das Grammophon in Gang. An den Tischen ent-stand Bewegung. Man tanzte.

Fabian betrachtete die Blondine sorgfältig. Sie hatteein blasses infantiles Gesicht und sah zurückhaltenderaus, als sie, ihrem Tanze nach, zu sein schien. Erschwieg und spürte, daß in wenigen Minuten jenerGrad von Schweigsamkeit erreicht wäre, der den An-fang eines Gesprächs, eines belanglosen dazu, unmög-lich macht. Glücklicherweise trat er ihr auf den Fuß.Sie wurde gesprächig. Sie zeigte ihm die zwei Damen,die einander neulich wegen eines Mannes geohrfeigtund die Kleider aufgerissen hatten. Sie berichtete, daßFrau Sommer ein Verhältnis mit dem grünen Liliputa-ner habe, und erklärte, daß sie sich diese Liaison nichtauszumalen wage. Schließlich fragte sie, ob er nochbleiben wolle; sie breche auf. Er ging mit.

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Am Kurfürstendamm winkte sie einem Taxi, nannteeine Adresse, stieg ein und nötigte ihn, neben ihrPlatz zu nehmen. »Aber ich habe nur noch zweiMark«, erklärte er.

»Das macht fast gar nichts«, gab sie zur Antwort,und dem Chauffeur rief sie zu: »Licht aus!« Es wurdedunkel. Der Wagen ruckte an und fuhr. Schon in derersten Kurve fiel sie über ihn her und biß ihn in dieUnterlippe. Er schlug mit der Schläfe gegen das Ver-deckscharnier, hielt sich den Kopf und sagte: »Aua!Das fängt gut an.«

»Sei nicht so empfindlich«, befahl sie und über-schüttete ihn mit Aufmerksamkeiten.

Ihm kam der Überfall zu plötzlich. Und der Schä-del tat ihm weh. Fabian war nicht bei der Sache. »Ichwollte eigentlich, bevor Sie mich erwürgen, noch ei-nen Brief schreiben«, röchelte er.

Sie boxte ihn vors Schlüsselbein, lachte, ohne eineMiene zu verziehen, die Tonleiter hinauf und herun-ter und strangulierte weiter. Seine Bemühung, sichder Frau zu erwehren, wurde zusehends falsch ausge-legt. Jede Wegbiegung führte zu neuen Verwicklun-gen. Er beschwor das Schicksal, dem Auto weitereKurven zu ersparen. Das Schicksal hatte Ausgang.

Als der Wagen endlich hielt, überpuderte die Blon-de ihr Gesicht, bezahlte die Fahrt und äußerte, vorder Haustür: »Erstens ist dein Gesicht voller roterFlecken, und zweitens trinkst du bei mir eine TasseTee. «

Er rieb sich die Lippenpomade von den Backen undsagte: »Ihr Antrag ehrt mich, doch ich muß morgenzeitig im Büro sein.«

»Mach mich nicht wütend. Du bleibst bei mir. DasMädchen wird dich wecken.«

»Aber ich werde nicht aufstehen. Nein, ich muß zuHause schlafen. Ich erwarte früh sieben Uhr ein drin-

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gendes Telegramm. Das bringt die Wirtin ins Zimmerund rüttelt mich, bis ich aufwache.«

»Wieso weißt du schon jetzt, daß du ein Telegrammerhalten wirst?«

»Ich weiß sogar, was drinsteht.«»Nämlich?«»Es wird heißen: >Scher dich aus dem Bett. Dein

treuer Freund Fabian.< Fabian, das bin ich.« Er blinzel-te in das Laub der Bäume und freute sich über dengelben Glanz der Laternen. Die Straße lag ganz still.Eine Katze lief geräuschlos ins Dunkel. Wenn er jetztdie grauen Häuser entlangspazieren könnte!

»Die Geschichte mit dem Telegramm ist doch nichtwahr?«

»Nein, aber das ist der pure Zufall«, sagte er.»Wozu kommst du in den Klub, wenn dir an den

Konsequenzen nichts liegt?« fragte sie ärgerlich undschloß die Tür auf.

»Ich erfuhr die Adresse und bin sehr neugierig.«»Also hopp!« sagte sie. »Der Neugier sind keine

Schranken gesetzt.« Die Tür schloß sich hinter ihnen.

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Zweites KapitelEs gibt sehr aufdringliche Damen • Ein Rechtsanwalthat nichts dagegen • Betteln verdirbt den Charakter

Im Fahrstuhl war ein Wandspiegel. Fabian zog dasTaschentuch und rieb die roten Flecken aus dem Ge-sicht. Die Krawatte saß schief. Die Schläfe brannte.Und die blasse Blondine sah auf ihn herunter. »Wis-sen Sie, was eine Megäre ist?» fragte er. Sie legte denArm um ihn. »Ich weiß es, aber ich bin hübscher.«

Am Türschild stand: Moll. Das Dienstmädchen öff-nete. »Bringen Sie uns Tee.«

»Der Tee steht in Ihrem Zimmer.«»Gut. Gehen Sie schlafen!« Das Mädchen ver-

schwand im Korridor.Fabian folgte der Frau. Sie führte ihn geradenwegs

ins Schlafzimmer, schenkte Tee ein, stellte Kognakund Zigaretten zurecht und sagte mit einer umfassen-den Geste: »Bediene dich!«

»Mein Gott, ein Tempo haben Sie am Leibe!«»Wo?« fragte sie.Er überhörte das. »Sie heißen Moll?«»Irene Moll sogar, damit Leute mit Gymnasialbil-

dung etwas zu lachen haben. Setz dich. Ich kommegleich wieder.«

Er hielt sie zurück und gab ihr einen Kuß.»Na, es wird ja langsam«, meinte sie und entfernte

sich. Er trank einen Schluck Tee und ein Glas Ko-gnak. Dann musterte er das Zimmer. Das Bett warniedrig und breit. Die Lampe gab indirektes Licht.Die Wände waren mit Spiegelglas bespannt. Er tranknoch einen Kognak und trat ans Fenster. Vergittertwar es nicht.

Was hatte die Frau mit ihm vor? Fabian war zwei-

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unddreißig Jahre alt und hatte sich nachts fleißig um-getan, auch dieser Abend begann ihn zu reizen. Ertrank den dritten Kognak und rieb sich die Hände.

Er betrieb die gemischten Gefühle seit langem ausLiebhaberei. Wer sie untersuchen wollte, mußte siehaben. Nur während man sie besaß, konnte man siebeobachten. Man war ein Chirurg, der die eigene Seeleaufschnitt.

»So, nun wird der kleine Junge geschlachtet«, sagtedie Blondine. Sie trug jetzt einen Schlafanzug ausschwarzen Spitzen. Er trat einen Schritt zurück. Sieaber rief »Hurra!« und sprang ihm derart an den Hals,daß er die Balance verlor, kippte und samt der Dameauf den Fußboden zu sitzen kam.

»Ist sie nicht schrecklich?« fragte da eine fremdeStimme.

Fabian blickte verwundert hoch. Im Türrahmenstand, mit einem Pyjama bekleidet, ein dürrer großna-siger Mensch und gähnte.

»Was wollen Sie denn hier?« fragte Fabian.»Entschuldigen Sie, mein Herr, aber ich konnte

nicht wissen, daß Sie mit meiner Frau bereits durchsZimmer kriechen.«

»Mit Ihrer Frau?«Der Eindringling nickte, gähnte verzweifelt und sag-

te vorwurfsvoll: »Irene, wie konntest du den Herrn ineine so schiefe Lage bringen! Wenn du schonwünschst, daß ich mir deine Neuerwerbungen an-schaue, kannst du sie mir wenigstens gesellschaftsfähigpräsentieren. Auf dem Teppich! Das wird dem Herrnsicher nicht recht sein! Und ich schlief so schön, als dumich wecktest ... Ich heiße Moll, mein Herr, binRechtsanwalt und außerdem«, er gähnte herzzerrei-ßend, »und außerdem der Gatte dieser weiblichen Per-son., die sich auf Ihnen breitmacht.«

Fabian schob die Blondine von sich herunter, stand

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